© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 023/21 Zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie deren Umsetzung in ausgewählten Mitgliedsstaaten des Europarats Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 2 Zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie deren Umsetzung in ausgewählten Mitgliedsstaaten des Europarats Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 023/21 Abschluss der Arbeit: 9. April 2021 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Anwendungsbereich von Art. 39 VerfO 5 2.1. Vorläufige Maßnahmen in Abschiebungs- und Auslieferungsfällen 5 2.2. Weitere Fallgruppen 7 3. Einstweilige Maßnahmen durch den EGMR 2016 - 2020 8 3.1. Überblick 8 3.2. Anordnung einstweiliger Maßnahmen aufgeschlüsselt nach Konventionsstaaten 9 3.3. Anordnung einstweiliger Maßnahmen aufgeschlüsselt nach Konventions- und Zielstaaten bei drohenden Abschiebungen 11 4. Umsetzung der einstweiligen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten 14 4.1. Überwachung der Umsetzung 15 4.2. Verstöße 15 4.2.1. Abschiebungs- und Auslieferungsfälle 16 4.2.2. Fälle zur medizinischen Versorgung von Inhaftierten 18 4.3. Deutschland 21 4.4. Frankreich 22 4.5. Griechenland 23 4.6. Russland 23 4.7. Türkei 23 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 4 1. Einführung Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann nach Artikel 39 seiner Verfahrensordnung (Art. 39 VerfO/Rule 39) gegenüber jedem Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einstweilige Maßnahmen anordnen. Hierbei handelt es sich um Eilmaßnahmen , die jedoch nur dann erlassen werden, wenn eine unmittelbare ernsthafte Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für den Beschwerdeführer droht.1 Die Entscheidungen des EGMR über vorläufige Maßnahmen werden – anders als die Urteile – nicht durch den Gerichtshof veröffentlicht, sondern nur in die Statistik der jährlichen Berichte des Gerichtshofs aufgenommen .2 In besonderen Fällen veröffentlicht der Gerichtshof jedoch eine Pressemitteilung und gibt einen kurzen Überblick über die Hintergründe seiner Entscheidung.3 Die Zahl der Anträge für entsprechende Maßnahmen hat in den letzten fünfzehn Jahren erheblich zugenommen. Eine Vielzahl der Fälle betraf dabei die (vorübergehende) Aussetzung von Abschiebungen oder Auslieferungen. Die vorliegende Arbeit zeigt die Entwicklung der Entscheidungen des EGMR betreffend einstweilige Maßnahmen in den Jahren 2016 bis 2020 auf. Während der erste Teil einen zahlenmäßigen Überblick zu den Entscheidungen des Gerichtshofs über vorläufige Maßnahmen – aufgeschlüsselt nach den Mitgliedstaaten – skizziert (3.), widmet sich der zweite Teil der Frage nach der Umsetzung einstweiliger Maßnahmen durch die betroffenen Mitgliedstaaten (4.). Nach einem kurzen Überblick zur Überwachung der Einhaltung der Anordnungen werden Fälle aufgezeigt, in denen die betroffenen Staaten einstweilige Maßnahmen nicht umgesetzt haben. Nach hiesigem Kenntnisstand gibt es keine öffentlich zugängliche Statistik, die Aufschluss über die Umsetzung oder Nichtumsetzung der vorläufigen Maßnahmen in den betreffenden Mitgliedsstaaten gibt. Daher wurden Informationen von der Bibliothek des EGMR sowie von der Pressestelle des Europarates eingeholt. Schließlich werden einstweilige Maßnahmen des EGMR gegen die Europaratsstaaten Deutschland (5.), Frankreich (6.), Griechenland (7.), Russland (8.) und der Türkei (9.) näher betrachtet. Zu diesem Zweck wurden Informationen aus den genannten Staaten erfragt und – soweit verfügbar – verwendet. 1 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EMRK, München: 2. Aufl. 2015, Art. 34 Rdnr. 101. 2 Vgl. Andrea Saccucci, „Interim Measures at the European Court of Human Rights: Current Practice and Future Challenges“, in: Palombino/Virzo/Zarra (Hrsg.), “Provisional Measures Issued by International Courts and Tribunals ”, Den Haag: T.M.C. Asser Press 2021, S. 215-252 (248). 3 Für ein aktuelles Beispiel dieser Praxis siehe: EGMR, Pressemitteilung Nr. 063 vom 17. Februar 2021, https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22sort%22:[%22kpdate%20Descending%22],%22itemid%22:[%22003- 6942319-9334365%22]}. Danach beschloss der Gerichtshof am 16. Februar 2021 eine vorläufige Maßnahme gemäß Art. 39 VerfO anzuordnen, wonach die russische Regierung den russischen Oppositionsführer Alexander Nawalny unverzüglich aus der Haft freilassen solle. Siehe auch: EGMR, Pressemitteilung Nr. 240 vom 25. Juni 2019, https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22fulltext %22:[%22interim%20measure%22],%22sort%22:[%22kpdate%20Descending %22],%22itemid%22:[%22003-6443361-8477507%22]}. Der Gerichtshof kam dem Eilantrag der Sea-Watch 3, in Italien anlegen zu dürfen, nicht nach, da sich auf dem Boot keine Menschen mehr befunden hätten, die auf dem Schiff gefährdet seien. Kinder und schwangere Frauen hätten bereits zuvor die Erlaubnis bekommen, in Italien an Land zu gehen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 5 Der Analyse voraus geht ein kurzer Überblick zum Anwendungsbereich von Art. 39 VerfO (2.). 2. Anwendungsbereich von Art. 39 VerfO Weder die EMRK noch Art. 39 VerfO enthalten konkrete Vorgaben, auf welche Fallgruppen Art. 39 VerfO Anwendung findet.4 In der Praxis werden vorläufige Maßnahmen nur in bestimmten , beschränkten Bereichen durch den Gerichtshof erlassen. Ein Informationsblatt des Gerichtshofs zu vorläufigen Maßnahmen stellt die wesentlichen Anwendungsfälle von Art. 39 VerfO dar.5 Vorläufigen Rechtsschutz gewährt der Gerichtshof danach in der Regel nur in Fällen von möglichen Verletzungen des Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK, des Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 EMRK und in Ausnahmefällen bei drohender Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK sowie der Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK.6 2.1. Vorläufige Maßnahmen in Abschiebungs- und Auslieferungsfällen Der überwiegende Teil der Anträge ist auf die (vorübergehende) Verhinderung der Abschiebung oder der Auslieferung des Beschwerdeführers gerichtet.7 In der Regel betreffen die Anträge Fälle, in denen die Ausweisung oder Auslieferung des Antragstellers in ein Land erfolgen soll, in welchem die begründete Annahme besteht, dass der Antragsteller einer Gefahr für sein Leben ausgesetzt ist oder Opfer von Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung werden kann. Mit Blick auf die im Zielstaat drohende Risiken, die im Falle einer Ausweisung oder Auslieferung entstehen, erlässt der Gerichtshof insbesondere einstweilige Maßnahmen, 4 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EMRK, München: 2. Aufl. 2015, Art. 34 Rdnr. 101. 5 Vgl. EGMR, Factsheet, Interim Measures, Stand: März 2021, https://echr.coe.int/Documents/FS_Interim _measures_ENG.pdf. Zusammenfassend siehe: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 7. Aufl. 2021, § 12 Rdnr. 102-104. Für eine ausführliche Analyse siehe: Andrea Saccucci, „Interim Measures at the European Court of Human Rights: Current Practice and Future Challenges“, in: Palombino/Virzo/Zarra (Hrsg.), “Provisional Measures Issued by International Courts and Tribunals”, Den Haag: T.M.C. Asser Press 2021, S. 215-252 (218-234). 6 Siehe dazu auch: EGMR, Mamatkulov und Askarov gegen Türkei, Urteil vom 4. Februar 2005, Nr. 46827/99 und 46951/99, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22002-4000%22]}. Nach der gegenwärtigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kommt Art. 39 VerfO dagegen nicht zur Anwendung bei einer Verhinderung des drohenden Abrisses einer Immobilie, einer drohenden Insolvenz, der Vollstreckung einer Verpflichtung zum Militärdienst, bezüglich der Haftentlassung des Beschwerdeführers während des Verfahrens vor dem EGMR betreffend die Fairness des Verfahrens, sowie um die Durchführung eines Referendums sicherzustellen oder um die Auflösung einer politischen Partei zu verhindern. 7 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 7. Aufl. 2021, § 12 Rdnr. 1 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 6 wenn die Gefahr einer Verfolgung aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen8 oder die Gefahr besteht, im Zielland zum Tode oder zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt9 zu werden. Ferner wurde einstweiliger Rechtsschutz durch den Gerichtshof in Fällen gewährt, bei denen die Gefahr drohte, aufgrund der sexuellen Orientierung misshandelt zu werden, da im Zielland Homo- und Bisexuelle allgemein verfolgt und/oder bestraft werden.10 Auch hat der Gerichtshof einstweilige Maßnahmen in Fällen angeordnet, in denen Beschwerdeführerinnen im Zielland des Ehebruchs beschuldigt11 wurden, bei Einzelausweisungen von Frauen nach Afghanistan ohne ihre Familie12, bei dem Risiko einer weiblichen Genitalverstümmelung 13 sowie dem Risiko sexueller Ausbeutung.14 Vorläufige Maßnahmen kommen ferner in Ausweisungs- und Auslieferungsfällen in Betracht, in denen ein besonders schweres Risiko für die Gesundheit des Beschwerdeführers durch die Ausweisung oder Auslieferung selbst oder ihre Folgen besteht.15 In Ausnahmefällen hat der Gerichtshof in Abschiebungs- und Auslieferungsfällen auch in Bezug auf die Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK die Gefahr eines irreparablen Schadens anerkannt und vorläufige Maßnahmen angeordnet.16 Art. 39 VerfO kam zudem bei einer möglichen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK zur Anwendung, wenn durch die Ausweisung bzw. 8 Vgl. EGMR, Y.P. und L.P. gegen Frankreich, Urteil vom 1. September 2010, Nr. 32476/06, https://www.asylumlawdatabase .eu/en/content/yp-and-lp-v-france-no-3247606-2-september-2010; EGMR, M.A. gegen Schweiz, Urteil vom 18. November 2014, Nr. 52589/13, https://www.asylumlawdatabase .eu/en/content/ecthr-ma-v-switzerland-application-no-5258913; EGMR, F.G. gegen Schweden, Urteil vom 23. März 2016, Nr. 43611/11, https://hudoc .echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-140020%22]}. 9 Siehe z.B. EGMR, Babar Ahmad u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 10. April 2012, Nr. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09 und 67354/09, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001- 110267%22]}. 10 Siehe z.B. EGMR, M.E. gegen Schweden, Urteil vom 8. April 2015, Nr. 71398/12, https://hudoc .echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-153914%22]}. 11 EGMR, Jabari gegen Türkei, Urteil vom 11. Juli 2000, Nr. 40035/98, https://hudoc .echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-58900%22]}. 12 EGMR, Hossein Kheel gegen Niederlande, Entscheidung vom 16. Dezember 2008, Nr. 34583/08, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-90883%22]}. 13 EGMR, Sow gegen Belgien, Urteil vom 19. Januar 2016, Nr. 27081/13, https://hudoc .echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-160213%22]}. 14 EGMR, M.V. gegen Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 1. Dezember 2009, Nr. 16081/08, https://hudoc .echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-96462%22]}. 15 Siehe dazu auch die einstweiligen Anordnungen, die der Gerichtshof am 21. August 2020 im Fall von Aleksey Navalny erlassen hat, um seiner Familie und Ärzten Zugang zu ihm zu gewähren und festzustellen, ob er für einen Transport zur weiteren Behandlung in Deutschland geeignet ist. EGMR, Pressemitteilung Nr. 235 vom 21. August 2020, https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-6770533-9044388%22]}. 16 Siehe u.a. EGMR, B. gegen Belgien, Urteil vom 10. Juli 2012, Nr. 4320/11, https://hudoc.echr.coe.int/engpress #{%22itemid%22:[%22003-4015778-4681499%22]}. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 7 Auslieferung die Gefahr einer offensichtlichen Verweigerung eines fairen Verfahrens im Zielland bestand.17 In Einzelfällen wurden vorläufige Maßnahmen nach Art. 39 VerfO durch den Gerichtshof erlassen, um die Ausweisung in einen anderen Konventionsstaat auszusetzen.18 2.2. Weitere Fallgruppen Neben der Anordnung einstweiliger Maßnahmen in Zusammenhang mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, hat der Gerichtshof vorläufige Maßnahmen auch in anderen Fallgruppen angeordnet . So wurden einstweilige Anordnungen nach Art. 39 VerfO bereits mehrfach hinsichtlich der Haftbedingungen des Beschwerdeführers gewährt, wenn dieser eine dringend notwendige medizinische Versorgung benötigte.19 Darüber hinaus kam Art. 39 VerfO zur Anwendung, um die Vernichtung entscheidender Beweise für einen anhängigen Fall zu verhindern.20 Ferner hat der Gerichtshof in Ausnahmefällen vorläufige Maßnahmen angeordnet, um sicherzustellen, dass der Beschwerdeführer eine angemessene Vertretung im Gerichtsverfahren erhält.21 Eine einstweilige Anordnung erließ der Gerichtshof zudem im Zusammenhang mit dem Abbruch einer Behandlung bei einem Koma-Patienten, die das Leben künstlich erhält.22 17 Siehe dazu: EGMR, Othman (abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 17. Januar 2012, Nr. 8139/09, https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-4015778-4681499%22]}. 18 Zu dieser Sondersituation siehe: EGMR, Fact Sheet, „Dublin“ cases, Stand: Juni 2016, https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Dublin_ENG.pdf. 19 Siehe z.B. EGMR, Salakhov und Islyamova gegen Ukraine, Urteil vom 14. März 2013, Nr. 28005/08, (Fehlen einer angemessenen medizinischen Versorgung eines Häftlings, der zwei Wochen nach seiner Entlassung aus der Haft an AIDS starb), https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-117134%22]}; EGMR, Paladi gegen Moldawien, Urteil vom 13. März 2009, Nr. 39806/05, (Verhinderung den Beschwerdeführer , der an einer neurologischen Störung erkrankt war, von einer Spezialklinik zurück ins Gefängniskrankenhaus zu verlegen), https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22003-2664621-2906501%22]}. 20 EGMR, Evans gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 10. April 2007, Nr. 6339/05, (Verweigerung der Zustimmung des Mannes zur Einpflanzung künstlich befruchteter Eizellen bei seiner früheren Partnerin und drohende Zerstörung der in-vitro gezeugten Embryonen) https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001- 80046%22]}. 21 Siehe beispielsweise: EGMR, X. gegen Kroatien, Urteil vom 17. Juli 2008, Nr. 11223/04, (Anordnung an die kroatische Regierung, einen Anwalt für die Beschwerdeführerin zu bestimmen, da dieser nach kroatischem Recht aufgrund ihrer Erkrankung an schizophrener Paranoia nicht erlaubt war einen Vertreter zu bestimmen), https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%2211223/04%22],%22itemid%22:[%22001-87644%22]}. 22 Siehe: EGMR, Lambert u.a. gegen Frankreich, Urteil vom 5. Juni 2015, Nr. 46043/14, (Aussetzung der Vollstreckung eines Urteils des französischen Conseil d'État, mit dem die Entscheidung des behandelnden Arztes für rechtmäßig erklärt wurde, die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr eines Koma-Patienten abzubrechen ), NJW 2015, 2715. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 8 Schließlich gewährte der EGMR einstweilige Maßnahmen auch bei einer drohenden Zwangsräumung der Beschwerdeführer aus einem unrechtmäßig besetzten Gebäude23 sowie der bevorstehenden Räumung einer nicht genehmigten Roma-Siedlung.24 3. Einstweilige Maßnahmen durch den EGMR 2016 - 2020 3.1. Überblick Die vom EGMR auf seiner Internetpräsenz jährlich veröffentlichten Berichte “Analysis of Statistics “25 geben in dem Teilabschnitt „Requests for interim measures“ jeweils detaillierten Aufschluss über die innerhalb eines Jahres ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs zu einstweiligen Maßnahmen und werden im Folgenden für die Jahre 2016 bis 2020 dargestellt. Im Jahr 2016 hat der EGMR insgesamt 2.286 Entscheidungen über Anträge auf den Erlass vorläufiger Maßnahmen getroffen. 2015 waren es noch 1.470 Entscheidungen, so dass ein Anstieg um 56 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen ist. Der Gerichtshof gab den Anträgen für vorläufige Maßnahmen in 129 Fällen statt (Verringerung um 20 Prozent gegenüber den 169 Anträgen im Vorjahr 2015) und lehnte sie in 1.103 Fällen ab (75 Prozent mehr als die 629 abgelehnten Anträge in 2015). Die restlichen Anträge lagen außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 39 VerfO. Bei 67 Prozent der Anträge, denen stattgegeben wurde, handelte es sich um Fälle die Abschiebungen zum Gegenstand hatten.26 Die Gesamtzahl der Entscheidungen über vorläufige Maßnahmen nach Art. 39 VerfO des Gerichtshofs ist im Jahre 2017 gegenüber dem Vorjahr um 28 Prozent gesunken und belief sich auf insgesamt 1.669 Fälle.27 Der Gerichtshof gab den Anträgen in 117 Fällen statt (10 Prozent weniger gegenüber dem Vorjahr) und lehnte 533 Fälle ab (52 Prozent weniger als im Vorjahr 2016). Die übrigen Anträge fielen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 39 VerfO. Bei 70 Prozent der Anträge, denen stattgegeben wurde, handelte es sich Ausweisungs- oder Einwanderungsfälle. 23 Siehe z.B.: EGMR, A.M.B. u.a. gegen Spanien, Urteil vom 28. Januar 2014, Nr. 77842/12, (betreffend die Räumung der Beschwerdeführerin aus einer unrechtmäßig besetzten Wohnung, die einem Institut für sozialen Wohnungsbau gehörte), https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-4677396-5671692%22]}. 24 Siehe: EGMR, Yordanova u.a. gegen Bulgarien, Urteil vom 24. April 2012, Nr. 25446/06, Anordnung an die bulgarische Regierung, dass die Beschwerdeführer nicht aus ihren Häusern vertrieben werden sollten, bis der Gerichtshof detaillierte Informationen über etwaige Vorkehrungen der Behörden zur Sicherstellung von Wohnraum für die betroffenen Kinder, Senioren, Kranken oder anderweitig schutzbedürftigen Personen erhalten hat), https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%2225446/06%22],%22itemid%22:[%22001-110449%22]}. 25 EGMR, Statistics, https://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=reports&c. 26 Vgl. EGMR, Analysis of Statistics 2016, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2016_ENG.pdf. 27 Vgl. EGMR, Analysis of Statistics 2017, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2017_ENG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 9 Im Jahr 2018 hat der Gerichtshof insgesamt 1540 Entscheidungen über vorläufige Maßnahmen getroffen (8 Prozent weniger als im Jahre 2017).28 143 Anträgen wurde stattgegeben (ein Anstieg um 22 Prozent im Vergleich zu 2017) und 486 Anträge wurden abgelehnt (9 Prozent weniger als 2017). Die übrigen Fälle fielen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 39 VerfO. 59 Prozent der Anträge, denen stattgegeben wurde, betrafen Ausweisungs- oder Einwanderungsfälle. Die Gesamtzahl der Entscheidungen über vorläufige Maßnahmen des EGMR blieb im Jahr 2019 mit insgesamt 1570 Fällen gegenüber dem Vorjahr (1540) auf gleichem Niveau.29 145 Anträgen wurde stattgegeben (Anstieg um 1 Prozent im Vergleich zu 2018) und in 544 Fällen wurde ein entsprechender Antrag abgelehnt (Anstieg von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Die übrigen Fälle fielen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 39 VerfO. 49 Prozent der Anträge, denen stattgegeben wurde, betrafen Ausweisungs- oder Einwanderungsfälle. Im Jahr 2020 stieg die Gesamtzahl der Entscheidungen des Gerichtshofs über vorläufige Maßnahmen gegenüber dem Vorjahr um 29 Prozent auf 2.024 Anträge.30 253 Anträgen für den Erlass einstweiliger Maßnahmen wurde stattgegeben (ein Anstieg von 74 Prozent gegenüber 2019) und 712 Anträge wurden abgelehnt. Die restlichen Anträge lagen außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 39 VerfO. 65 Prozent der Anträge aus dem Jahr 2020, denen stattgegeben wurde, betrafen keine Abschiebungen oder Auslieferungen. 3.2. Anordnung einstweiliger Maßnahmen aufgeschlüsselt nach Konventionsstaaten Zugleich veröffentlicht der Gerichtshof auf seiner Internetseite Statistiken über Antrags- und Erfolgszahlen zu vorläufigen Maßnahmen, die nach Vertragsstaaten aufgeschlüsselt sind. Zugänglich sind die entsprechenden Zahlen für die Jahre 2018 bis 2020, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden. Für die Jahre 2016 und 2017 sind diese Daten nicht verfügbar. Eine Anfrage durch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bei der Bibliothek des Gerichtshofs hat ergeben, dass die entsprechenden Zahlen zeitnah wieder auf der Internetpräsenz des EGMR zugänglich gemacht werden sollen. 28 Vgl. EGMR, Analysis of Statistics 2018, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2018_ENG.pdf. 29 Vgl. EGMR, Analysis of Statistics 2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2019_ENG.pdf. 30 Vgl. EGMR, Analysis of Statistics 2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2020_ENG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 10 Anträge nach Art. 39 VerfO in den Jahren 2018 - 2020 nach Mitgliedsstaaten:31 Land Außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 39 VerfO Abgelehnt durch EGMR Stattgegeben durch EGMR G es am t 2 0 1 8 /2 0 2 0 Albanien 15 2 0 17 Andorra 2 0 0 2 Armenien 23 16 4 43 Aserbaidschan 14 13 55 82 Belgien 16 25 2 43 Bosnien-Herzegowina 15 2 1 18 Bulgarien 27 17 12 56 Dänemark 4 24 1 29 Deutschland 242 29 1 272 Estland 23 2 1 26 Finnland 38 49 5 92 Frankreich 226 189 48 463 Georgien 22 16 0 38 Griechenland 34 86 116 236 Irland 1 2 0 3 Island 10 3 1 14 Italien 91 73 12 176 Kroatien 17 4 2 23 Lettland 10 2 0 12 Lichtenstein 0 0 0 0 Litauen 7 5 1 13 Luxemburg 5 3 0 8 Malta 2 3 3 8 Republik Moldau 10 6 0 16 Monaco 0 0 0 0 Montenegro 3 3 1 7 Niederlande 69 88 25 182 Nordmazedonien 11 5 1 17 Norwegen 8 15 0 23 Österreich 71 46 4 121 Polen 46 21 12 79 Portugal 14 1 1 16 Rumänien 13 4 0 17 31 Die Angaben sind einer entsprechenden tabellarischen Übersicht des EGMR entnommen: „Rule 39 requests granted and refused in 2018, 2019 and 2020 by respondent State“, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_art_39_01_ENG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 11 Russische Föderation 393 182 113 688 Russland und Ukraine 7 2 42 51 San Marino 1 0 0 1 Serbien 11 6 0 17 Slowakei 11 3 0 14 Slowenien 14 3 0 17 Spanien 96 54 2 152 Schweden 61 205 9 275 Schweiz 130 61 2 193 Tschechische Republik 19 6 0 25 Türkei 667 306 18 991 Ukraine 127 82 11 220 Ungarn 18 9 32 59 Vereinigtes Königreich 199 64 3 226 Zypern 8 5 0 13 Gesamt 2851 1742 541 5.134 3.3. Anordnung einstweiliger Maßnahmen aufgeschlüsselt nach Konventions- und Zielstaaten bei drohenden Abschiebungen Ferner veröffentlicht der Gerichtshof seit dem Jahr 2011 gesonderte Statistiken über Antragszahlen und Erfolgszahlen (stattgegebene Anträge) im Hinblick auf drohende Abschiebungen, die nach Konventionsstaat und Zielstaat aufgeschlüsselt sind.32 Verfügbar sind aktuell die entsprechenden Zahlen für das Jahr 2020. 32 Siehe dazu auch: Nora Markard, „Die Rule 39 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vorläufige Maßnahmen des EGMR bei drohenden Abschiebungen“, Asylmagazin 2012, https://www.asyl.net/fileadmin/user _upload/beitraege_asylmagazin/Beitraege_AM_2012/AM2012-1-2-S3-Markard.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 12 Anträge nach Mitgliedsstaat und Zielland vom 1. Januar bis 31. Dezember 2020, denen der EGMR stattgegeben hat:33 33 Die Angaben sind einer entsprechenden tabellarischen Übersicht des EGMR entnommen: „Interim measures accepted, By respondent State and destination (if applicable) from 1 January to 31 December 2020“, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_art_39_02_ENG.pdf. A b sc h ie b u n g n ac h Ta ji ki st an U sb ek is ta n R u ss la n d Sy ri en Tü rk ei U SA It al ie n N o rd ko re a V en ez u el a G ri ec h en la n d Ir ak G eo rg ie n P ak is ta n P h ili p p in en Li b ye n Se rb ie n Sr i L an ka Tu rk m e n is ta n G u in ea M ex ik o K ir gi st an A n d er e G es am t Griechenland 2 93 95 Aserbaidschan 53 53 Russland 4 6 6 1 3 1 15 36 Frankreich 3 2 1 1 1 5 13 Russland/ Ukraine 9 9 Ungarn 1 7 8 Niederlande 2 2 2 1 7 Polen 2 3 1 6 Bulgarien 1 1 2 4 Italien 4 4 Ukraine 1 2 3 Schweden 1 1 0 2 UK 2 0 2 Finnland 2 0 2 Türkei 1 1 2 Malta 1 1 Schweiz 1 0 1 Montenegro 1 0 1 Österreich 1 0 1 Dänemark 1 0 1 Armenien 1 1 Litauen 1 0 1 Gesamt 8 7 6 6 4 3 3 3 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 195 253 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 13 Anträge nach Mitgliedsstaat und Zielland vom 1. Januar bis 31. Dezember 2020, die der EGMR abgelehnt hat:34 34 Die Angaben sind einer entsprechenden tabellarischen Übersicht des EGMR entnommen: „Interim measures refused, By respondent State and destination (if applicable) from 1 January to 31 December 2020“, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_art_39_02_ENG.pdf. A b sc h ie b u n g n ac h R u ss la n d A fg h an is ta n Ir an It al ie n Tü rk ei Ir ak Sy ri en B el ar u s N ig er ia Ta kj ik is ta n U kr ai n e A lg er ie n A se rb ai d sc h an U SA U K M ar o kk o A n d er e G es am t Türkei 1 3 1 2 218 225 Schweden 2 18 6 6 2 3 3 2 1 23 66 Griechenland 7 57 64 Frankreich 6 3 3 3 2 2 36 55 Italien 1 3 1 1 43 49 Russland 2 2 3 1 1 36 45 Ukraine 2 1 23 27 Schweiz 1 3 2 1 2 2 13 24 Niederlande 7 1 9 17 Deutschland 2 1 1 12 16 Finnland 2 3 2 1 3 1 1 13 Österreich 2 1 1 1 2 2 1 1 11 Dänemark 2 1 2 2 2 9 Bulgarien 2 1 1 1 4 9 UK 2 6 8 Norwegen 1 2 1 3 7 Polen 2 1 4 7 Armenien 1 6 7 Belgien 1 1 4 6 Spanien 1 5 6 Andere 8 0 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 1 1 1 0 28 41 Gesamt 36 26 19 15 15 14 7 7 6 6 6 5 4 4 4 4 534 712 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 14 4. Umsetzung der einstweiligen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten Vorläufige Maßnahmen sind für die Vertragsstaaten bindend. In seiner richtungsweisenden Entscheidung Mamatkulov und Askarov gegen Türkei aus dem Jahre 2005 stellte der Gerichtshof erstmals fest, dass einstweilige Maßnahmen für die Vertragsstaaten verbindlich sind, da die Missachtung der Maßnahmen die wirksame Ausübung des Individualbeschwerderechts verhindern könne und folglich die Nichtbeachtung eine Verletzung von Art. 34 EMRK darstelle.35 Dabei ist es unerheblich, ob der Schaden trotz Nichtbefolgung der Maßnahme nicht eingetreten ist, oder aus welchen Gründen der betreffende Staat die Anordnung missachtet hat.36 Ein Verstoß gegen Art. 34 EMRK liegt daher nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs immer dann vor, wenn die Behörden eines Vertragsstaates nicht alle Schritte unternommen haben, die vernünftigerweise hätten ergriffen werden können, um der vom Gerichtshof angeordneten Maßnahme nachzukommen .37 Eine Ausnahme hiervon erkennt der Gerichtshof nur an, wenn ein objektives Hindernis bestand, das die Einhaltung der einstweiligen Verfügung verhinderte und die Regierung alle angemessenen Schritte unternommen hat, um dieses Hindernis zu beseitigen. 38 Zugleich muss der Gerichtshof über die Situation laufend informiert werden. Kein objektives Hindernis stellen jedoch entgegenstehende internationale Verpflichtungen dar, die sich z.B. aus Auslieferungsverträgen ergeben.39 In der Praxis werden die betroffenen Beschwerdeführer und Regierungen über die Entscheidungen des Gerichtshofs hinsichtlich der Eilanträge durch ein Schreiben informiert, in dem darauf hingewiesen wird, dass jede Nichteinhaltung der einstweiligen Maßnahmen durch die betroffenen Regierungen zu einer Verletzung von Art. 34 EMRK führen kann. Das Schreiben enthält in der Regel keine nähere Begründung für den Erlass der Maßnahme.40 35 EGMR, Mamatkulov and Askarov gegen Türkei, Urteil vom 4. Februar 2005, Nr. 46827/99 und 46951/99, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22002-4000%22]}; William A. Schabas, The European Convention on Human Rights: A Commentary, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 749 f. 36 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EMRK, München: 2. Aufl. 2015, Art. 34 Rdnr. 106. 37 Siehe dazu: EGMR, Paladi gegen Moldawien, Urteil vom 13. März 2009, Nr. 39806/05, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-91702%22]}. 38 Siehe dazu: EGMR, Paladi gegen Moldawien, Urteil vom 13. März 2009, Nr. 39806/05, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-91702%22]}; William A. Schabas, The European Convention on Human Rights: A Commentary, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 751. 39 Marti Keller, “Interim Relief Compared: Use of Interim Measures by the UN Human Rights Committee and the European Court of Human Rights”, ZaöRV 2013, S. 325-370 (367). 40 Kritisch dazu: Andrea Saccucci, „Interim Measures at the European Court of Human Rights: Current Practice and Future Challenges“, in: Palombino/Virzo/Zarra (Hrsg.), “Provisional Measures Issued by International Courts and Tribunals”, Den Haag: T.M.C. Asser Press 2021, S. 215-252 (248 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 15 4.1. Überwachung der Umsetzung Nach der Anerkennung der Bindungswirkung von einstweiligen Maßnahmen gemäß Art. 34 EMRK obliegt es der Kontrolle des Gerichtshofs festzustellen, ob die Vertragsstaaten ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der vorläufigen Maßnahmen nachgekommen sind.41 Der EGMR hat in einer Reihe von Verfahren im Stadium der Begründetheit eine eigenständige Verletzung von Art. 34 EMRK festgestellt, weil die Staaten einstweilige Anordnungen des Gerichtshofs nicht umgesetzt haben (siehe 4.2.). Darüber hinaus kann sich der EGMR aber auch bereits in einem früheren Stadium des Verfahrens zur Umsetzung einer Maßnahme äußern, etwa wenn er eine Anordnung, die noch nicht umgesetzt wurde, gegenüber der betreffenden Regierung wiederholt oder für den Fall, dass die Nichteinhaltung bereits zu einem irreparablen Schadens für den Beschwerdeführer geführt hat, dies gegenüber der betreffenden Regierung schriftlich zu beklagen.42 Nach Art. 46 Abs. 2 EMRK überwacht das Ministerkomitee des Europarates (MK) die Umsetzung der EGMR-Urteile durch die betroffenen Staaten.43 Im Rahmen dieser Aufgabe, befasst sich das MK auch mit der Überwachung der Ausführung von Gerichtsurteilen, bei denen eine Verletzung von Art. 34 EMRK aufgrund der Nichtbeachtung von vorläufigen Maßnahmen festgestellt wurde. Nach Art. 39 Abs. 2 VerfO kann der Gerichtshof das Ministerkomitee bereits bei Erlass der Anordnung umgehend über die in einer bestimmten Rechtssache ergriffenen vorläufigen Maßnahmen informieren, soweit dies angebracht erscheint. 4.2. Verstöße Nach Auskunft der Pressestelle des Europarates hat der EGMR in dem hier untersuchten Zeitraum zwischen 2016 und 2020 in den folgenden 18 Verfahren eine Verletzung von Art. 34 EMRK festgestellt, da die betroffenen Staaten einstweilige Anordnungen nicht entsprechend umgesetzt haben. Im Folgenden wird jeweils nur auf die Gründe des Gerichtshofs für die Feststellung der fehlenden Umsetzung der einstweiligen Maßnahme in den entsprechenden Verfahren eingegangen. 41 Andrea Saccucci, „Interim Measures at the European Court of Human Rights: Current Practice and Future Challenges“, in: Palombino/Virzo/Zarra (Hrsg.), “Provisional Measures Issued by International Courts and Tribunals ”, Den Haag: T.M.C. Asser Press 2021, S. 215-252 (250). 42 Näher dazu: Marti Keller, “Interim Relief Compared: Use of Interim Measures by the UN Human Rights Committee and the European Court of Human Rights”, ZaöRV 2013, S. 325-370 (369). 43 Ausführlich zur Rolle des Ministerkomitees des Europarates siehe: Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Zur innerstaatlichen Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie zur Durchsetzung und Wirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Deutschland, Frankreich, Italien und Russland, im Vereinigten Königreich und in der Türkei“, WD 2 - 3000 - 104/16 vom 12. Oktober 2016, https://www.bundestag.de/resource /blob/482672/f9ace5e6e53fc37be870a3bbccbb85ed/wd-2-104-16-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 16 4.2.1. Abschiebungs- und Auslieferungsfälle - Yusopov gegen Russland, Urteil vom 1. Dezember 2020 (Abschiebung nach Usbekistan) Gründe des Gerichtshofs: 44 Die Abschiebung des Antragstellers nach Usbekistan, entgegen einer Anordnung des Gerichtshofs nach Art. 39 VerfO, sei nicht auf die angebliche Verspätung des Antragstellers oder den Mangel an Bearbeitungszeit zurückzuführen, wie die Regierung behauptete. Der Gerichtshof stellte mindestens zwei ungerechtfertigte Verzögerungen durch die inländischen Behörden im Verfahren fest, die dem Beschwerdeführer nicht zugerechnet werden können (u.a. die Versäumnis dem Beschwerdeführer rechtzeitig eine Kopie der Abschiebungsanordnung zukommen zu lassen). - M.K. u.a. gegen Polen, Urteil vom 23. Juli 2020 (Zurückweisung Schutzsuchender aus Weißrussland am Grenzübergang zu Polen) Gründe des Gerichtshofs:45 Der Gerichtshof stellte fest, die Beschwerdeführer seien wiederholt am Grenzübergang zwischen Weißrussland und Polen von den polnischen Grenzbeamten nach Weißrussland zurückgeschickt worden, ohne ihre Asylanträge ordnungsgemäß zu prüfen. Entgegenstehende einstweilige Anordnungen des Gerichtshofs seien mehrfach nicht beachtet worden. - R.A. gegen Russland, Urteil vom 9. Juli 2019 (Abschiebung nach Usbekistan) Gründe des Gerichtshofs:46 Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die russischen Behörden keine förmliche Entscheidung zur Abschiebung des Beschwerdeführers getroffen hätten. Die Regierung habe behauptet der Beschwerdeführer sei freiwillig nach Usbekistan gereist. Nach Ansicht des Gerichtshofs sei die Darstellung des Beschwerdeführers jedoch überzeugend, die stark auf eine Beteiligung der russischen Behörden an der Überstellung des Beschwerdeführers nach Usbekistan hindeutete. Die Regierung habe diese Behauptungen nicht entkräften können. Daher kam der Gerichtshof zu dem Schluss, die russischen Behörden hätten gegen die vom Gerichtshof gemäß Art. 39 VerfO angeordnete Aussetzung der Abschiebung verstoßen. 44 EGMR, Yusopov gegen Russland, Urteil vom 1. Dezember 2020, Nr. 30227/18, Rdnr. 68-76, https://laweuro .com/?p=13125. 45 EGMR, M. K. u.a. gegen Polen, Urteil vom 23.7.2020, Nr. 40.503/17, 42.902/17 und 43.643/17, NLMR 2020, 260. 46 EGMR, R.A. gegen Russland, Urteil vom 9. Juli 2019, Nr. 2592/17, Rdnr. 45-53, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-194319%22]}. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 17 - S.S. und B.Z. gegen Russland, Urteil vom 11. Juni 2019 (Auslieferung nach Usbekistan und Tajikistan) Gründe des Gerichtshofs:47 Der Gerichtshof stellte fest, die russischen Behörden seien ihrer Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung zur Aussetzung der Auslieferung nicht nachgekommen. Ein Vertreter aus Russland beim EGMR sei mindestens vierundzwanzig Stunden vor der Auslieferung ordnungsgemäß von der einstweiligen Maßnahme in Kenntnis gesetzt worden. - O.O. gegen Russland, Urteil vom 21. Mai 2019 (Abschiebung nach Usbekistan) Gründe des Gerichtshofs:48 Trotz einstweiliger Maßnahmen des EGMR nach Art. 39 VerfO zur Aussetzung der Abschiebungsanordnung sei der Beschwerdeführer nach Usbekistan abgeschoben worden. Ein Zeitraum von 48 Stunden an zwei Werktagen sei ausreichend gewesen, um alle zuständigen Behörden davon in Kenntnis zu setzen, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Usbekistan vom Gerichtshof ausgesetzt wurde. - A.S. gegen Frankreich, Urteil vom 19. April 2018 (Ausweisung nach Marokko) Gründe des Gerichtshofs:49 Der Gerichtshof stellte fest, dass die Regierung dem wegen Terrorvorbereitung verurteilten Beschwerdeführer nicht genügend Zeit gelassen habe, sich gegen seine Abschiebung zu wehren. Die französischen Behörden wiesen ihn aus, obwohl der Gerichtshof noch Bedenkzeit gefordert hatte. Der Gerichtshof sei sich bewusst, dass es manchmal notwendig sei eine Ausweisungsverfügung effizient und zügig zu vollstrecken, wies aber zugleich darauf hin, die Bedingungen für eine solche Vollstreckung dürften nicht dazu führen, dass die betroffene Person keinen einstweiligen Rechtsschutz mehr beantragen kann. 47 EGMR, S.S. und B.Z. gegen Russland, Urteil vom 11. Juni 2019, Nr. 35332/17; 79223/17, Rdnr. 41-50, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%2235332/17%22],%22itemid%22:[%22001-193613%22]}. 48 EGMR, O.O. gegen Russland, Urteil vom 21. Mai 2019, Nr. 36321/16, Rdnr. 54-61, https://hudoc.echr.coe.int/spa#{%22itemid%22:[%22001-193071%22]}. 49 EGMR, A.S. gegen Frankreich, Urteil vom 19. April 2018, Nr. 46240/15, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung /detail/egmr-keine-entschaedigung-fuer-abgeschobenen-terror-verurteilten. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 18 - M.A. gegen Frankreich, Urteil vom 1. Februar 2018 (Ausweisung nach Algerien) Gründe des Gerichtshofs:50 Der Gerichtshof stellte fest, die französischen Behörden hätten den Beschwerdeführer, der wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in Frankreich verurteilt wurde, nur sieben Stunden vor dem Vollzug über seine Ausweisung nach Algerien informiert. Dadurch habe man eine Situation geschaffen, in der es schwierig für den Beschwerdeführer gewesen sei, einstweilige Maßnahmen gegen die Ausweisung zu beantragen. Zugleich betonte der Gerichtshof, er sei sich bewusst, dass die Behörden in bestimmten Fällen eine Ausweisungsverfügung schnell und effektiv umsetzen müssten. 4.2.2. Fälle zur medizinischen Versorgung von Inhaftierten Weitere Fälle in denen der Gerichtshof zwischen 2016 und 2020 eine fehlende Umsetzung der einstweiligen Maßnahmen durch die betroffenen Staaten feststellte, betrafen die Gefahr eines irreparablen Schadens für das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Inhaftierten aufgrund ihres Gesundheitszustandes. - Kadagishvili gegen Georgien, Urteil vom 14. Mai 2020 Gründe des Gerichtshofs:51 Der EGMR stellte fest, die Regierung habe es versäumt dem Gerichtshof die relevanten medizinischen Dokumente zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zur Verfügung zu stellen. Es fehle zudem ein Nachweis, dass eine angemessene medizinische Behandlung des Beschwerdeführers ohne die Verlegung in ein Spezialkrankenhaus sichergestellt wurde. Daher habe die Regierung gegen die vom Gericht angeordnete einstweilige Maßnahme verstoßen. - Osioenkov gegen Ukraine, Urteil vom 29. Januar 2019 Gründe des Gerichtshofs:52 Der Gerichtshof stellte fest, die Behörden hätten dafür Sorge tragen müssen, dass der Beschwerdeführer unverzüglich und unter Bedingungen, die seinen Gesundheitszustand berücksichtigten, 50 EGMR, M.A. gegen Frankreich, Urteil vom 1. Februar 2018, Nr. 9373/15, Pressemitteilung Nr. 044 vom 1. Februar 2018, https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-5992944-7672731%22]}. 51 EGMR, Kadagishvili gegen Georgien, Urteil vom 14. Mai 2020, Nr. 12391/06, Rdnr, 190-203, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-202435%22]}. 52 EGMR, Osioenkov gegen Ukraine, Urteil vom 29. Januar 2019, Nr. 31283/17, Rdnr. 33-40, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-189592%22]}. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 19 zu einer spezialisierten medizinischen Einrichtung transportiert wird. Dort hätte er sich den erforderlichen medizinischen Untersuchungen unterziehen können. - Khuseynov gegen Russland, Urteil vom 17. Oktober 2017 Gründe des Gerichts:53 Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, die Regierung habe den Beschwerdeführer erst sieben Wochen nach Erlass der einstweiligen Anordnung in die medizinische Abteilung des Gefängnisses verlegt. Weitere Schritte, um der einstweiligen Anordnung nachzukommen, seien nicht erfolgt. Zudem hätten die Ausführungen der Regierung keine Analyse der Angemessenheit der medizinischen Versorgung des Beschwerdeführers und der Vereinbarkeit der Bedingungen seiner Inhaftierung mit seinem Gesundheitszustand geliefert. - Semenova gegen Russland, Urteil vom 3. Oktober 2017 Gründe des Gerichtshofs:54 Der Gerichtshof stellte fest, die Behörden hätten es entgegen der einstweiligen Anordnung des Gerichtshofs versäumt, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um eine angemessene medizinische Versorgung der Beschwerdeführerin während der Haft sicherzustellen. - Konovalchuk gegen Ukraine, (Urteil vom 13. Oktober 2016 Gründe des Gerichtshofs:55 Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Regierung die relevanten Informationen betreffend den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin entsprechend der vorläufigen Anordnung mitgeteilt habe. Die Behörden hätten es jedoch später unterlassen, dafür Sorge zu tragen, dass die notwendige Behandlung der Beschwerdeführerin unverzüglich durchgeführt wird. Es habe eine Verzögerung von mindestens zwanzig Tagen gegeben. 53 EGMR, Khuseynov gegen Russland, Urteil vom 17. Oktober 2017, Nr. 1647/16, Rdnr. 40-48, https://www.bailii.org/eu/cases/ECHR/2017/910.html. 54 EGMR, Semenova gegen Russland, Urteil vom 3. Oktober 2017, Nr. 11788/16, Rdnr. 53-62, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%22Semenova%20v.%20Russia %20(no.%2011788/16)%22],%22itemid%22:[%22001-177233%22]}. 55 EGMR, Konovalchuk gegen Ukraine, Urteil vom 13. Oktober 2016, Nr. 31928/15, Rdnr. 71-91, https://www.bailii.org/eu/cases/ECHR/2016/882.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 20 - Pivovarnik gegen Ukraine, Urteil vom 6. Oktober 2016 Gründe des Gerichtshofs:56 Der Gerichtshof stellte fest, die Behörden hätten nach der angeordneten medizinischen Untersuchung des Beschwerdeführers nicht die empfohlenen weiteren Untersuchungen durchgeführt und somit gegen eine entsprechende Anordnung des Gerichtshofs nach Art. 39 VerfO verstoßen. - Klimov gegen Russland, Urteil vom 4. Oktober 2016, Nr. 54436/1457 - Maylenskiy gegen Russland, Urteil vom 4. Juni 2016, Nr. 12646/15 58 - Kondrulin gegen Russland, Urteil vom 20. September 2016, Nr. 12987/15 59 - Andrey Lavrov gegen Russland, Urteil vom 1. März 2016, Nr. 66252/14 60 Gründe des Gerichtshofs: Der Gerichtshof stellte in diesen vier Verfahren fest, dass entgegen der Anordnungen des Gerichtshofs nach Art. 39 VerfO keine unabhängige Untersuchung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführer durch vom Strafvollzugssystem unabhängige medizinische Experten erfolgt sei. Der Gerichtshof stellte ferner fest, die Regierung habe selbst auf Fragen geantwortet, die in den einstweiligen Maßnahmen gestellt wurden. Damit habe die Regierung den Zweck der einstweiligen Maßnahmen vereitelt. Der Gerichtshof könne nur auf der Grundlage unabhängiger medizinischer Gutachten effektiv auf die mögliche Gefährdung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführer reagieren. 56 EGMR, Pivovarnik gegen Ukraine, Urteil vom 6. Oktober 2016, Nr. 29070/15, Rdnr. 47-62, https://www.bailii.org/eu/cases/ECHR/2016/824.html. 57 EGMR, Klimov gegen Russland, Urteil vom 4. Oktober 2016, Nr. 54436/14, Rdnr. 45-50, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%22klimov%22],%22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAM- BER%22,%22CHAMBER%22],%22itemid%22:[%22001-166944%22]}, 58 EGMR, Maylenskiy gegen Russland, Urteil vom 4. Juni 2016, Nr. 12646/15, Rdnr. 28-40, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-166945%22]}. 59 EGMR, Kondrulin gegen Russland, Urteil vom 20. September 2016, Nr. 12987/15, Rdnr. 35-48, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%22kondrulin%22],%22documentcollectionid2%22:[%22GRAND- CHAMBER%22,%22CHAMBER%22],%22itemid%22:[%22001-166744%22]}. 60 EGMR, Andrey Lavrov gegen Russland, Urteil vom 1. März 2016, Nr. 66252/14, Rdnr. 27-40, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-161004%22]}. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 21 - Yunusova gegen Aserbaidschan, Urteil vom 2. Juni 2016, Nr. 59620/14 Gründe des Gerichtshofs:61 Der EGMR kam zu dem Schluss, die Regierung habe es versäumt dem Gerichtshof die relevanten medizinischen Dokumente zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zur Verfügung zu stellen. Die monatlichen Informationsberichte an den Gerichtshof über den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin enthielten keine medizinischen Dokumente, sondern nur allgemeine Feststellungen. Daher sei es für den Gerichtshof nicht möglich gewesen zu beurteilen, ob die Beschwerdeführerin eine angemessene medizinische Behandlung im Gefängnis erhielt, oder ob sie in ein Spezialkrankenhaus hätte verlegt werden sollen. 4.3. Deutschland Nach den Angaben des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) hat es zwischen 2016 und 2020 zwei Anordnungen des EGMR nach Art. 39 VerfO gegen Deutschland gegeben. Die folgenden Informationen sind der Antwort des BMJV auf eine entsprechende Anfrage der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages entnommen. Im Fall X. gegen Deutschland (Nr. 54646/17) erging eine einstweilige Anordnung am 31. Juli 2017.62 Der Fall betraf eine Abschiebung nach Russland. Der Gerichtshof bat zugleich um Informationen zum Fall. Diese wurden umgehend übermittelt. Am 29. August hob der Gerichtshof die Maßnahme auf und wies die Beschwerde am 30. November 2017 als unzulässig ab. Im Fall A. gegen Deutschland (Nr. 31709/19) ging es um eine Auslieferung nach Russland. Der Gerichtshof erließ eine einstweilige Anordnung am 18. Juni 2019 und bat ebenfalls um Informationen. Die bereits geplante Auslieferung wurde daraufhin nicht vollzogen. Am 14. November 2019 wurde die Beschwerde durch Einzelrichterentscheidung für unzulässig erklärt. Darüber hinaus wurde die Bundesregierung im Rahmen einer gegen Griechenland erlassenen einstweiligen Anordnung nach Art. 39 VerfO um Informationen gebeten, die ebenfalls umgehend übermittelt wurden (J. gegen Griechenland u. Deutschland, Nr. 58162/19). Eine vom Beschwerdeführer beantragte einstweilige Maßnahme gegen Deutschland wurde vom Gericht ausdrücklich abgelehnt. Auch die Maßnahme gegen Griechenland wurde aufgehoben und die Beschwerde bisher nicht zugestellt. 61 EGMR, Yunusova gegen Aserbaidschan, Urteil vom 2. Juni 2016, Nr. 59620/14, Rdnr. 104-120. https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-163330%22]}. 62 EGMR, X. g. Deutschland, Entscheidung vom 7. November 2017, Nr. 54646/17, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-188058%22]}. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 22 4.4. Frankreich Nach Angaben der französischen Nationalversammlung wurden zwischen 2018 und 2020 48 einstweilige Anordnungen nach Art. 39 VerfO gegen Frankreich erlassen. Die Nationalversammlung hat auf drei Beispiele verwiesen, die im Folgenden kurz dargestellt werden. In dem Verfahren M.K. gegen Frankreich63 hat der EGMR am 24. Juli 2018 beschlossen, die französische Regierung gemäß Art. 39 VerfO aufzufordern, die Versorgung der Beschwerdeführerin und ihrer drei Töchter sicherzustellen, indem ihnen Zugang zu einer Notunterkunft gewährt wird. In dem zugrundeliegenden Fall wurden die Antragsteller, drei obdachlose Familien mit Asylbewerberstatus, trotz ihrer Anrufe beim Telefondienst, nicht in eine Notunterkunft aufgenommen . Unter diesen Familien befanden sich fünf Kinder und eine schwangere Frau. In dem Verfahren S.M.K. gegen Frankreich64 verhängte der EGMR am 15. März 2019 einstweilige Schutzmaßnahmen gegen Frankreich für eine junge Frau aus Kamerun. Diese hatte behauptet minderjährig zu sein, wurde aber nach einer Begutachtung als volljährig eingestuft und erhielt daher keine Betreuung. Der Gerichtshof ordnete die sofortige Unterbringung der Antragstellerin bis zum Vorliegen einer gerichtlichen Entscheidung an. In dem Verfahren X. gegen Frankreich65 erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf einen Eilantrag hin am 30. März 2020 einstweilige Maßnahmen. Der Antrag betraf einen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen. Der Gerichtshof ordnete an, dass dem Antragsteller Unterkunft und Verpflegung durch die französischen Behörden für die Dauer des Verfahrens gewährt werden soll. Der EGMR stellte in zwei Verfahren gegen Frankreich einen Verstoß gegen Art. 34 EMRK aufgrund der fehlenden Umsetzung einer vorläufigen Maßnahme fest (siehe 4.2.1.). 63 EGMR, M.K. v. Frankreich, Entscheidung vom 24. Juli 2018, Nr. 34349/18, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%22no.%2034349/18%22],%22itemid%22:[%22001-187849%22]}. 64 EGMR, S.M.K. v. Frankreich, Entscheidung vom 28. März 2019, Nr.14356/19, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22languageisocode %22:[%22FRE%22],%22appno%22:[%2214356/19%22],%22documentcollectionid2%22:[%22COMMUNI- CATEDCASES%22],%22itemid%22:[%22001-193831%22]}. 65 EGMR, Mitteilung vom 31. März 2020, Nr. 15457/20, http://www.infomie.net/IMG/pdf/mesure_provisoire _cedh_covid19_page1.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 023/21 Seite 23 4.5. Griechenland Laut Statistik des EGMR (siehe 3.2) hat es zwischen 2018 und 2020 insgesamt 116 vorläufige Maßnahmen gegen Griechenland gegeben. Davon erließ der Gerichtshof im Jahr 2020 95 einstweilige Anordnungen gegen Griechenland in Abschiebungsfällen.66 4.6. Russland Im Zeitraum zwischen 2018 und 2020 hat es 113 einstweilige Anordnungen gegen Russland gegeben (siehe 3.2.). Davon erließ der Gerichtshof im Jahr 2020 insgesamt 36 einstweilige Anordnungen gegen Russland in Abschiebungsfällen (siehe 3.3). Der EGMR stellte zwischen 2016 und 2020 in zehn Fällen einen Verstoß Russlands gegen Art. 34 EMRK fest, da die russischen Behörden einstweilige Maßnahmen des Gerichtshofs nicht umgesetzt haben (siehe 4.2).67 4.7. Türkei Zwischen 2018 und 2020 erließ der Gerichtshof 18 einstweilige Anordnungen gegen die Türkei (siehe 3.2.). Davon betrafen zwei Anordnungen aus dem Jahr 2020 Abschiebungsfälle (siehe 3.3.).68 *** 66 Eine Anfrage der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zu Art und Umsetzung der einstweiligen Maßnahmen gegen Griechenland wurde bislang noch nicht beantwortet. 67 Eine Anfrage der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zu Art und Umsetzung der einstweiligen Maßnahmen gegen Russland wurde bislang noch nicht beantwortet. 68 Eine Anfrage der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zu Art und Umsetzung der einstweiligen Maßnahmen gegen die Türkei wurde bislang noch nicht beantwortet.