© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 022/15 Die EU als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 2 Die EU als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 022/15 Abschluss der Arbeit: 5. Februar 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Begriff des kollektiven Sicherheitssystems 4 2. Praktische Konsequenzen 5 3. Die EU als kollektives Sicherheitssystem ? 5 3.1. Rechtsprechung des BVerfG 5 3.2. Interpretation des Urteils 6 3.3. Auffassungen in der Literatur 8 4. Ergebnis 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 4 1. Begriff des kollektiven Sicherheitssystems Der Begriff des „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ wird in Art. 24 Abs. 2 GG erwähnt, aber dort nicht näher definiert. In der Literatur ist der Begriff bis heute nicht abschließend geklärt . Der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes lässt sich nur entnehmen, dass die Vereinten Nationen (VN) ein solches System darstellen sollen.1 In der Literatur besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich der Zweck eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit keineswegs in der militärischen Abschreckung eines möglichen Aggressors erschöpft. „Kollektive“ Sicherheit setzt vielmehr voraus, dass sich die Mitglieder eines solchen Systems untereinander zur Friedenswahrung verpflichten. Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ist ferner gekennzeichnet durch die Gewährung militärischer Sicherheit (materielles Element) sowie durch den Aufbau einer besonderen Organisationsstruktur (formales Element), so dass das System über die erforderlichen Fähigkeiten und Mechanismen verfügt, die Einhaltung der materiellen Rechtspflichten zu gewährleisten.2 Das BVerfG hatte in seiner AWACs-Entscheidung von 1994 Gelegenheit, sein (weites) Verständnis von kollektiver Sicherheit deutlich zu machen: „Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG ist dadurch gekennzeichnet, daß es durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründet , der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt. Ob das System dabei ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll, ist unerheblich . Auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung können Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG sein, wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind.“3 Entscheidend ist danach nicht der Ursprung der Friedensbedrohung, sondern allein die strikte Verpflichtung zur Friedenswahrung. Dies bedeutet, dass auch ein Verteidigungsbündnis ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit darstellt, soweit es auch eine wechselseitige Verpflichtung seiner Mitglieder zur friedlichen Streitbeilegung beinhaltet. 1 JöR 1951, S. 225. 2 Heinschel v. Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2013, Art. 24, Rdnr. 31. 3 BVerfGE 90, 286, 349 „Auslandseinsatz der Bundeswehr“ = NJW 1994, 2207. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 5 2. Praktische Konsequenzen Das Begriffsverständnis des kollektiven Sicherheitssystems entfaltet vor allem dann eine praktische Folgewirkung, wenn eine Militäroperation der Bundeswehr über kein VN-Mandat verfügt. Völkerrechtlich ist dies nicht durchweg erforderlich, etwa wenn Einsätze auf „Einladung“ eines betroffenen Staates stattfinden (z.B. Irakeinsatz der Bundeswehr 2015). Verfassungsrechtlich dagegen müssen Bundeswehreinsätze, solange sie nicht der „Verteidigung“ dienen, in kollektive Sicherheitsstrukturen eingebettet sein. Auf verfassungsrechtlicher Ebene bewirkt daher die Einstufung eines regionalen Bündnisses (z.B. NATO, EU oder OSZE) als „kollektives Sicherheitssystem“, dass Art. 24 Abs. 2 GG eine hinreichende , verfassungsrechtliche Rechtsgrundlage für den Bundeswehreinsatz darstellt.4 Eine Verneinung des kollektiven Sicherheitscharakters eines regionalen Bündnisses würde hingegen dazu führen, dass Militäreinsätze ohne VN-Mandat verfassungswidrig wären.5 Allerdings hat es bislang noch keinen Präzedenzfall eines GSVP-Einsatzes ohne ein zugrunde liegendes VN-Mandat gegeben. Die GSVP-Einsätze der Vergangenheit (z.B. Atalanta) waren insoweit verfassungsgemäß, ohne dass es einer Klärung bedurft hätte, ob die EU ein „kollektives Sicherheitssystem“ i.S.v. Art. 24 Abs. 2 GG darstellt. 3. Die EU als kollektives Sicherheitssystem ? 3.1. Rechtsprechung des BVerfG Während das BVerfG sowohl die Vereinten Nationen als auch die NATO (sowie die 2011 aufgelöste WEU) explizit als kollektives Sicherheitssystems qualifiziert,6 hat es sich bei der Beurteilung der EU mit Blick auf ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) eher zurückgehalten. Im Lissabon-Urteil von 2009 heißt es dazu: 4 Hierzu Nolte, Georg, Bundeswehreinsätze in kollektiven Sicherheitssystemen, in: ZaöRV 54 (1994), S. 652 (660). 5 Dazu näher Frenz, Walter, deutsche Streitkräfte bei EU-Missionen und gemeinsame Verteidigung nach Lissabon, in: NZWehrR 2010, S. 187-198; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 7. Aufl. 2014, Art. 24, Rdnr. 63a und 63b, der eine mögliche Rechtsgrundlage für EU-Operationen auch in Art. 23 Abs. 1 GG sieht (in diese Richtung auch Faßbender, Militärische Einsätze der Bundeswehr, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. XI (Internationale Bezüge), Heidelberg: Müller, 3. Aufl. 2013, §244, Rdnr. 74). 6 BVerfGE 90, 286 (350 f.) - AWACs; E 121, 135 (156) – AWACs II. Diese Charakterisierung hat in der Literatur mittlerweile weitgehend Zustimmung erfahren (für viele: Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 7. Aufl. 2014, Art. 24, Rdnr. 62, 63; Rojahn, in: v.Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, München: Beck, 6. Aufl. 2012, Art. 24, Rdnr. 97). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 6 „Der Ratifikationsvorbehalt verdeutlicht, dass der Schritt der Europäischen Union zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit durch die geltende Fassung des Primärrechts und durch die Rechtslage nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch nicht gegangen wird.“7 3.2. Interpretation des Urteils Das BVerfG hat seine Aussage über die Nichteinstufung der EU als kollektives Sicherheitssystem nicht weiter begründet. Über die Motive für die Zurückhaltung des Gerichts, auch die EU als ein solches System anzuerkennen, ist in der Literatur spekuliert worden. Womöglich befürchtete das Gericht, die Konturen des ursprünglich auf die Vereinten Nationen zugeschnittenen Begriffs zu sehr zu verwischen, nachdem es in der AWACs-Entscheidung von 1994 großzügig der NATO und auch der WEU die entsprechende Qualität zugesprochen hatte.8 Bewertet man die einschlägige Passage über die EU nicht isoliert, sondern im Gesamtkontext des Urteils, stellt man fest, dass es dem BVerfG an dieser Stelle (vgl. Rdnr. 381 ff. des Lissabon- Urteils) vordringlich um die Wahrung des Parlamentsvorbehalts im Zuge der europäischen Integration ging. Ausgangspunkt waren Überlegungen des Gerichts zu einer (supranationalen) Einsatzverpflichtung für nationale Streitkräfte auf Geheiß der EU. Das Gericht kommt im Ergebnis zu der Überzeugung, dass die GSVP auch nach dem Vertrag von Lissabon nicht dem supranationalen Recht unterfällt (Rdnr. 390 des Urteils). Zur Begründung dieser Kernthese macht das BVerfG Ausführungen zum fehlenden „Durchgriff“ der GSVP-Organe auf die Bundeswehr (Rdnr. 388 des Urteils) sowie zur Bindungswirkung der kollektiven Beistandspflicht der EU-Mitgliedstaaten (Rdnr. 384 f. des Urteils). In diesem Kontext fällt dann die entsprechende Randbemerkung über die Nichteinstufung der EU als kollektives Sicherheitssystem. Bei Lichte betrachtet wäre die Bemerkung des BVerfG über die Nichteinstufung der EU als kollektives Sicherheitssystem gar nicht nötig gewesen, um die (unbestrittene) Kernaussage („GSVP nicht supranational“) zu begründen. Die Begründung überzeugt aber auch rechtlich nicht: Immerhin unterfällt auch die VN nicht dem supranationalen Recht; sie ist also keine „zwischenstaatliche Einrichtung“ i.S.v. Art. 24 Abs. 1 GG, wohl aber ein kollektives Sicherheitssystem nach Art. 24 Abs. 2 GG. 7 BVerfGE 123, 267 (361, 425 f.), Urt. v. 30.9.2009 - „Lissabon“ (Rdnr. 390). 8 So die Vermutung von Faßbender, Militärische Einsätze der Bundeswehr, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. XI (Internationale Bezüge), Heidelberg: Müller, 3. Aufl. 2013, § 244, Rdnr. 73. Sollte diese Vermutung wirklich zutreffen, so könnte eine heutige Bewertung der EU durch das BVerfG durchaus anders ausfallen als im Jahre 2009, da sich die WEU im Jahre 2011 aufgelöst hat und deren wesentliche Funktionen durch die EU faktisch übernommen wurden (auch wenn die EU kein formaler Rechtsnachfolger der WEU ist). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 7 Ungeachtet dessen wird man die (insoweit zumindest missverständliche) Randbemerkung des BVerfG über die Charakterisierung der EU zumindest nicht als tragenden Entscheidungsgrund, sondern nur als obiter dictum9 ansehen können,10 dem bereits formal-rechtlich keine Bindungswirkung zukommt und das auch aus inhaltlichen Gründen neu zu diskutieren wäre (siehe dazu unten 3.3). Das BVerfG hat sich nämlich mit der Konsequenz, die aus der Nichteinstufung der EU als kollektives Sicherheitssystem für die Einsatzpraxis der Bundeswehr folgt, gar nicht auseinandergesetzt . Es ist daher durchaus möglich, dass das BVerfG mit seiner Aussage über den Charakter der EU die Handlungsspielräume der Bundeswehr im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 GG gar nicht verengen wollte. In diesem Zusammenhang muss man sich zudem vergegenwärtigen, dass die militärische Einsatzpraxis der GSVP zum Zeitpunkt des Lissabon-Urteils begrenzter war als heute und eigenständige EU-Militäroperationen ohne VN-Mandat dem Gericht (noch) nicht vor Augen standen.11 Auch gab es 2009 noch die WEU, die sich erst 2011 aufgelöst hat, und deren wesentliche Funktionen von der EU übernommen wurden. Ob das BVerfG aus heutiger Perspektive eine vom Lissabon-Urteil (2009) abweichende Bewertung der EU als „kollektives Sicherheitssystem“ vornehmen würde, lässt sich in diesem Zusammenhang nur mutmaßen. Ungeachtet dessen lässt sich die Auffassung vertreten, dass die Bemerkungen des BVerfG über die Nichteinstufung der EU als kollektives Sicherheitssystem ein obiter dictum darstellen und daher mit Blick auf (mögliche) GSVP-Einsätze der Bundeswehr ohne VN- Mandat keine verfassungsrechtliche „Sperrwirkung“ entfalten. 9 Obiter dicta sind beiläufige, nicht entscheidungserhebliche Rechtsansichten des Gerichts, die an der Rechtskraft der Entscheidung nicht teilnehmen. Die gem. § 31 BVerfGG angeordnete Verbindlichkeit der Entscheidungen des BVerfG erstreckt sich nur auf die tragenden Entscheidungsgründe, nicht jedoch auf obiter dicta (vgl. Bethge, in: BVerfGG-Kommentar, München: Beck, Loseblatt, 43. Erg.-Lfg. (Stand Febr. 2014), § 31, Rdnr. 57 ff.). 10 So Thym, Daniel, Verfassungsrechtliche Grundlagen der deutschen Beteiligung an der gemeinsamen Sicherheits - und Verteidigungspolitik (GSVP), in: EuR-Beiheft 2010, S. 171-193 (184ff.), der von „missverständlichen“ Urteilsgründen spricht. Eher auf der Linie der BVerfG-Rechtsprechung dagegen Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG- Kommentar, München: Beck, 7. Aufl. 2014, Art. 24, Rdnr. 63a und 63b. 11 Bis zum Urteil 2009 abgeschlossen waren die EU-Militäroperation Concordia in Mazedonien (2003) und die Militäroperation EUFOR im Kongo (2006). Die Operation Atalanta zur Pirateriebekämpfung vor der Küste Somalias konnte in der Lissabon-Rechtsprechung des BVerfG offenbar noch keinen Niederschlag finden, da sich die Operation erst in den Jahren nach 2009 militärisch richtig entfaltet hat. Für alle EU-Operationen gab es ein VN-Mandat. Zu den GSVP-Einsätzen vgl. die Aufstellung unter http://eeas.europa.eu/csdp/missions-andoperations /index_en.htm. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von NATO-Einsätzen ohne VN-Mandat vgl. BVerfGE 121, 135 (156) – Luftraumüberwachung Türkei / Irak-Krieg (Entsch. v. 7. 5. 2008). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 8 3.3. Auffassungen in der Literatur Große Teile der Literatur haben – ungeachtet des Diktums des BVerfG – eigenständige Bewertungen des Charakters der EU entwickelt. Dabei ist im neueren Schrifttum eindeutig die Tendenz zu erkennen, die EU als kollektives Sicherheitssystem i.S.v. Art. 24 Abs. 2 GG zu bezeichnen.12 Zwar nimmt die GSVP in gewisser Weise eine Art „umgekehrte“ Entwicklung als NATO und WEU, die ihre Schwerpunktsetzung bei der Kollektivverteidigung erst nach 1990 durch Krisenmanagementaufgaben (sog. „Petersberger Aufgaben“) ergänzten.13 Für die GSVP begründen nämlich Krisenmanagement-Einsätze (Art. 43 Abs. 1 EUV) den Ausgangspunkt, der erst mit dem Lissabon -Vertrag um eine kollektive militärische Beistandspflicht (Art. 42 Abs. 7 EUV) ergänzt wird.14 Jedenfalls die Einführung dieser Beistandspflicht bewirkt nunmehr eine Annäherung der GSVP an die etablierte BVerfG-Rechtsprechung zur NATO als kollektives Sicherheitssystem. Das BVerfG gibt in diesem Zusammenhang zwar zu bedenken, dass durch den Lissaboner-Vertrag der Schritt zur gemeinsamen Verteidigung noch nicht vollzogen, sondern nur vorbereitet werde .15 Für die Qualifizierung einer Organisation als „kollektives Sicherheitssystem“ ist die Existenz einer kollektiven Beistandspflicht aber nicht konstitutiv16 – das BVerfG selbst trifft die Entscheidung für ein weites Begriffsverständnis der kollektiven Sicherheit, wenn es dazu ausführt: „Ob das System dabei ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll, ist unerheblich .“17 12 Thym, a.a.O., EuR-Beiheft 2010, S. 186; Faßbender, a.a.O. (Anm. 9), HBdStR Bd. XI, § 244, Rdnr. 74; Hobe, in: Berliner Kommentar zum GG, Losebl., 37. Erg.-Lfg. Art. 24, Rdnr. 57; Heinschel v. Heinegg, in: Epping /Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2013, Art. 24, Rdnr. 33.3.; Fährmann, Ingo, Die Bundeswehr im Einsatz für Europa, Baden-Baden: Nomos 2010, S. 207 f.; Röben, Volker, Der Einsatz der Streitkräfte nach dem Grundgesetz, in: ZaöRV 2003, S. 585-603 (590); Frenz, Walter, deutsche Streitkräfte bei EU-Missionen und gemeinsame Verteidigung nach Lissabon, in: NZWehrR 2010, S. 187-198 (192); zurückhaltender noch Schmahl, in: Sodan (Hrsg.), GG-Kompakt-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2011, Art. 24, Rdnr. 20. 13 Zur Erweiterung der Aufgaben in den 1990er-Jahren Nolte, Georg, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, ZaöRV 54 (1994), S. 95 (96 ff.). 14 Diese EU-Beistandspflicht entspricht eher der umfassenden Verpflichtung des alten WEU-Vertrages (Art. V) und nicht so sehr dem (eher weicher formulierten) Art. 5 des NATO-Vertrages. Die rechtliche Bindung dieser Beistandspflicht ist vom BVerfG im Lissabon-Urteil allerdings in Frage gestellt worden (kritisch dazu Frenz, Walter, deutsche Streitkräfte bei EU-Missionen und gemeinsame Verteidigung nach Lissabon, in: NZWehrR 2010, S. 187-198 (197)). 15 BVerfGE 123, 267, 425 f. - Lissabon. 16 So Heinschel v. Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2013, Art. 24, Rdnr. 33.3.; Faßbender, a.a.O. (Anm. 9), HBdStR Bd. XI, § 244, Rdnr. 73. 17 St. Rechtspr. BVerfGE 90, 286, 350 - AWACs; 104, 151, 209 - NATO-Konzept. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 9 Die EU verfügt heute mittlerweile über das erforderliche Potential, militärische Maßnahmen jenseits ihrer Außengrenzen zu ergreifen, die auch die (äußere) Sicherheit ihrer Mitglieder gewährleisten sollen. Das für ein System kollektiver Sicherheit erforderliche militärische Element findet sich in den Krisenmanagementaufgaben der GSVP (die sog. „Petersberg-Aufgaben“) und in den für ihre Umsetzung geschaffenen Institutionen. Dies sind neben dem Hohen Vertreter für die GASP (Art. 27 EUV) das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (Art. 38 EUV), der Militärausschuss sowie der Militärstab. Somit weist die EU sowohl in materieller als auch in formaler Hinsicht die für ein System kollektiver Sicherheit kennzeichnenden Charakteristika auf.18 Auch verfügt die EU im Rahmen ihrer GSVP (ähnlich wie die NATO) über Militärstrukturen und Battle-Groups unter Einschluss multinational integrierter Streitkräfteverbände (Art. 42 Abs. 3 UAbs. 1 EUV), die für kollektive Sicherheitseinsätze zur Verfügung gestellt werden können. Die tatsächliche Fähigkeit zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben hat die Europäische Union erstmals durch ihre Beteiligung an der Piraterie-Bekämpfung vor der Küste von Somalia (Operation Atalanta) unter Beweis gestellt.19 Überdies setzt sich die EU „im Rahmen der Vereinten Nationen für multilaterale Lösungen bei gemeinsamen Problemen ein“ (vgl. Art. 21 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EUV) und erfüllt (vielleicht noch deutlicher als die NATO) die für ein kollektives Sicherheitssystem charakteristische „strikte Verpflichtung zur gegenseitigen Friedenswahrung“.20 Gem. Art. 3 Abs. 5 EUV gehört zu den Zielen u.a. die „Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“. 18 Heinschel v. Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2013, Art. 24, Rdnr. 33.3. 19 Zu den EU-Militäreinsätzen vgl. z.B. Herdegen, Matthias, Europarecht, München: Beck, 16. Aufl. 2014, § 28, Rdnr. 13 ff.; zur Operation Atalanta vgl. Hobe, in: Berliner Kommentar zum GG, Losebl., 37. Erg.-Lfg. Art. 24, Rdnr. 58. Da die EU-geführte Operation Atalanta vom VN-Sicherheitsrat autorisiert wurde, war die Verfassungsmäßigkeit im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 GG nicht wirklich problematisch (vgl. zur Diskussion Fischer- Lescano/Tohidipur, NJW 2009, S. 1243 (1246); Schmahl, in: AöR 136 (2011), S. 44 (83 f.); Wiefelspütz, in: NZWehrR 2009, S. 133 (137 ff.)). 20 Hierzu näher Röben, Volker, Außenverfassungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 250 f., Scherrer, Philipp, Das Parlament und sein Heer, Berlin: Duncker 2010, S. 32 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 022/15 Seite 10 4. Ergebnis Die EU ist weder als ein klassisches System kollektiver Sicherheit noch als ein Verteidigungsbündnis im engeren Sinn gegründet worden. Doch dient die zunehmende Integration der Mitgliedstaaten auch dazu, den Frieden untereinander zu fördern und innereuropäische Kriege zu verhindern – dies war sogar einst der Hauptzweck der Gründungsverträge.21 Dieses Ziel wurde bislang ohne militärische Mittel erreicht. Mit dem Vertrag von Lissabon begründet die Union – ganz im Sinne der Kriterien des BVerfG22 – durch ein „friedensicherndes Regelwerk“ (EUV) und den „Aufbau einer eigenen Organisation“ (GSVP) einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit, der „wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt.“ Dabei postuliert Art. 42 Abs. 7 EUV (ähnlich wie Art. 5 NATO-Vertrag oder der ehemalige WEU- Vertrag) eine gegenseitige militärische Beistandspflicht. Überdies nimmt die EU/GSVP (ebenso wie die NATO oder ehemals die WEU) militärische Krisenmanagementaufgaben (Art. 43 EUV) unter der Ägide der VN wahr. Insoweit erscheint eine kategorielle Unterscheidung der GSVP von der NATO oder der WEU, die das BVerfG explizit als kollektives Sicherheitssystem bezeichnet hat, kaum zu rechtfertigen. Anders als das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil spricht sich der überwiegende Teil der Literatur dafür aus, die EU als kollektives Sicherheitssystem zu bewerten. Es ist aber nicht auszuschließen , dass auch das BVerfG aus heutiger Perspektive eine vom Lissabon-Urteil (2009) abweichende Bewertung der EU als kollektives Sicherheitssystem vornehmen würde. Das Diktum des BVerfG im Lissabon-Urteil über die Nichteinstufung der EU als kollektives Sicherheitssystem ist ein obiter dictum, dem formal-rechtlich keine Bindungswirkung zukommt. Mit Blick auf eine künftige Einsatzpraxis der Bundeswehr im Rahmen der GSVP entfaltet das Diktum des BVerfG insoweit keine verfassungsrechtliche „Sperrwirkung“. 21 Hobe, in: Berliner Kommentar zum GG, Losebl., 37. Erg.-Lfg. Art. 24, Rdnr. 57. 22 BVerfGE 90, 286 (LS 5a, S. 349).