© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 019/19 Zur Legitimität von Staatsgewalt am Beispiel von Syrien Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 2 Zur Legitimität von Staatsgewalt am Beispiel von Syrien Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 019/19 Abschluss der Arbeit: 27. Februar 2019 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Legitimität als Kriterium der Staatsgewalt 4 2. Zur Anerkennung von illegitimen Regierungen 6 3. Staatliche Reaktionsmöglichkeiten gegenüber illegitimer Staatsgewalt 7 4. Zum Fall Syrien 8 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 4 1. Legitimität als Kriterium der Staatsgewalt Zu den gewohnheitsrechtlich akzeptierten Elementen der Staatlichkeit, wie sie in Art. 1 der Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. Dezember 19331 festgeschrieben wurden, gehört neben Staatsvolk und Staatsgebiet auch die Staatsgewalt. Nach dem Grundsatz der Effektivität ist diese erst dann als existent anzusehen, wenn sie sich – gemessen an Kriterien wie Stabilität und Dauer – auch tatsächlich durchgesetzt hat.2 Das Kriterium der „Effektivität“ wird in der Völkerrechtspraxis nicht allzu streng bewertet. Beispiele von sog. failing states („zerfallende“ Staaten) zeigen, dass das Völkerrecht und die internationale Staatengemeinschaft die Fiktion von Staatlichkeit und Staatsgewalt aufrechterhalten und auch zerfallende Staaten als fortbestehend ansehen, auch wenn deren Regierungen effektive Kontrolle über weite Teile des Staatsgebietes infolge von Bürgerkriegssituationen verloren haben und die Staatsgewalt faktisch erodiert ist. Auch der „zerfallende“ Staat ist trotz Wegfalls effektiver Staatsgewalt weiterhin rechtsfähig: Aufgrund des Zusammenbruchs seiner Organe fehlt ihm lediglich vorübergehend die Handlungsfähigkeit.3 So galt auch Syrien in Hochzeiten des Bürgerkriegs und der „IS“-Besetzung als eigenständiger Staat.4 Die Rechtmäßigkeit der Staatsgewalt nach Maßgabe der eigenen Verfassung (Legalität) ist dagegen – wie die Staatspraxis zeigt – für die Existenz eines Staates grundsätzlich nicht maßgeblich. Gleiches gilt für die ordnungspolitische Legitimität von Staatsgewalt,5 also die Ausrichtung der 1 Deutscher Text unter: http://krd-blog.de/wp-content/uploads/2015/01/montevideo_dt_markiert.pdf. 2 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 140; Schweisfurth, Theodor, Völkerrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 1. Kap. Rdnr. 35; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, München: Vahlen, 13. Aufl. 2012, § 17 Rdnr. 285. 3 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 141 f. mit Beispielen wie Albanien, DR Kongo, Liberia, Ruanda, Sierra Leone, Syrien, Somalia. 4 Vgl. dazu den Beitrag von Fritz Zimmermann, „Es kann nur eine geben. Welche also ist die richtige syrische Botschaft in Berlin? Zwei Besuche“, ZEIT online vom 8.1.2015, https://www.zeit.de/2014/53/botschaft-syrienberlin . 5 Schweisfurth, Theodor, Völkerrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 1. Kap. Rdnr. 36; Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 140. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 5 Staatsgewalt an Grundwerten und -prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit einschließlich dem Respekt vor Menschenrechten und sonstigen good-governance-Strukturen.6 Der staatstheoretische Befund spiegelt sich auf völkerrechtlicher Ebene wieder. Gem. Art. 4 Abs. 1 VN-Charta können Mitglied der Vereinten Nationen alle „friedliebenden Staaten“ werden. Überlegungen, das Kriterium der Staatlichkeit mit der demokratischen Legitimation seiner Regierung in Verbindung zu bringen, haben sich bei der Ausarbeitung der VN-Charta nicht durchsetzen können, weil dies als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates gesehen wurde.7 Demgegenüber zeigt die Diskussion um die Anerkennung des venezolanischen Oppositionspolitikers Guaidó als Interimspräsidenten,8 dass heute Teile der Staatengemeinschaft eine Regierung nur dann anzuerkennen bereit sind, wenn diese auf den Willen des Staatsvolkes zurückzuführen ist und damit als „demokratisch“ und mithin als „legitim“ anzusehen ist.9 Der Fall Venezuela spiegelt indes noch keine durchgreifende Staatenpraxis wieder. Bestrebungen , nur demokratisch gewählte Regierungen anzuerkennen, finden auch im Völkerrecht bislang nur sehr verhaltenen Niederschlag.10 6 Dem Soziologen Max Weber zufolge ist Geltungsgrund einer legitimen Herrschaft die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit (Legalität) eines überkommenen Regimes, also die „Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustande gekommenen Satzungen“ (vgl. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen : Mohr 5. Aufl. 1976 (Studienausgabe), S. 122 ff.). Zum Verhältnis von Legitimität und Legalität vgl. grundlegend und geistesgeschichtlich Fernando Muñoz Hernández, Legitimität und Legalität im Völkerrecht, Diss. Univ. Tübingen 2009, online: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/43755 sowie Fink, Udo, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, in: JZ 1998 , S. 330-338. Zur Legitimität im Völkerrecht vgl. auch Petersen, Niels, „Demokratie als teleologisches Prinzip. Zur Legitimität von Staatsgewalt im Völkerrecht“, 2009, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-540-92174- 5.pdf. 7 Näher Fastenrath, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. I, Oxford Univ. Press, 3rd Edition 2012, Art. 4 Rdnr. 18. 8 Bundesregierung erkennt Übergangspräsidenten an, 4.2.2019, https://www.bundesregierung.de/bregde /suche/bundesregierungerkennt-uebergangspraesidenten-an-1576740. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 – 3000 – 016/19 vom 8.2.2019, „Völkerrechtliche Aspekte der Anerkennung eines ausländischen Staatsoberhaupts“, https://www.bundestag.de/blob/592554/87e4ecf283d8bf72635da91a34f72b09/wd-2-014-19-pdf-data.pdf. Kurzinformation WD 2 – 3000 – 018/19 v. 2.2.2019, „Zum Stand der Anerkennung einer Interimspräsidentschaft in Venezuela durch die EU-Mitgliedstaaten“. 9 In diese Richtung auch die Untersuchung von Roth, Brad R., Governmental Illegitimacy in International Law, Oxford Univ. Press 2000, S. 142 ff. 10 Vgl. aber Petersen, Demokratie, a.a.O. (Anm. 6), S. 91 (101 ff.). Die sog. Millenniums-Erklärung der VN- Generalversammlung (A/Res/55/2, 8 September 2000, Rdnr. 24 und 25), die allerdings nur völkerrechtliches soft law darstellt, bekennt sich zumindest dazu, Demokratie zu fördern. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 6 Jedenfalls führen solche Bestrebungen weder zu einem Wandel des völkerrechtlichen Staatsverständnisses ,11 noch zeichnet sich auf internationaler Ebene – d.h. außerhalb der Sphäre von EU bzw. Europarat – bereits eine irgendwie geartete völkerrechtliche Verpflichtung zur demokratischen Staatsform ab. 2. Zur Anerkennung von illegitimen Regierungen Effektivität und Legitimität von Staatsgewalt sind wesentliche Kriterien für die völkerrechtliche Anerkennung von Staaten bzw. Regierungen.12 Nach einhelliger Auffassung in der Völkerrechtswissenschaft hat die Anerkennung nur deklaratorische aber keine konstitutive Wirkung. Die bloße Anerkennung verleiht einer (neuen) Regierung daher keine Legitimität.13 Die Anerkennung liegt zudem weitgehend im souveränen Ermessen des anerkennenden Staates.14 Diese Spielräume können – wie das Beispiel Venezuela zeigt – sich u.a. in einer unterschiedlichen Anerkennungspraxis der Staaten gegenüber derselben Regierung niederschlagen. Die völkerrechtliche Anerkennung von diktatorisch geführten Staaten ist gängige Staatspraxis. Aus dem Völkerrecht können sich gleichwohl Einschränkungen / Verbote hinsichtlich der Anerkennung eines staatlichen Gebildes ergeben. So hatte etwa der VN-Sicherheitsrat im Fall Rhodesiens15 und der Türkischen Republik Nordzypern16 explizit zu kollektiver Nichtanerkennung von territorialen Gebilden aufgerufen.17 Im Fall Rhodesien verurteilte der Sicherheitsrat die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die weiße Minderheit in Südrhodesien und bezeichnet die von Ian Smith geführte Regierung als „unrechtmäßiges rassistisches Minderheitsregime“ (illegal racist minority régime). 11 Stein/von Buttlar, Völkerrecht, München: Vahlen, 13. Aufl. 2012, § 17 Rdnr. 284. 12 Petersen, Demokratie, a.a.O. (Anm. 6), S. 148. 13 Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 – 3000 – 016/19 vom 8.2.2019, „Völkerrechtliche Aspekte der Anerkennung eines ausländischen Staatsoberhaupts“, S. 4 m.w.N. 14 Schaller, Christian, Sezession und Anerkennung, SWP-Studie Nr. 33, Dezember 2009, S. 18, online unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2009_S33_slr_ks.pdf. 15 Vgl. Resolution 216 (1965) v. 12.11.1965, in der es heißt “The Security Council decides to call upon all States not to recognize this illegal racist minority régime in Southern Rhodesia and to refrain from rendering any assistance to this illegal régime.” 16 Vgl. Resolution 550 (1984) v. 11.5.1984, in der es heißt: „Der Sicherheitsrat wiederholt seinen Appell an alle Staaten, die durch sezessionistische Handlungen errichtete sogenannte ´Türkische Republik Nordzypern` nicht anzuerkennen“. 17 Vgl. ausführlich Talmon, Stefan, Kollektive Nichtanerkennung illegaler Staaten, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, S. 48 ff. (zu Nordzypern) und S. 147 ff. (zu Rhodesien). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 7 Weitestgehend Einigkeit herrscht darüber, dass eine völkerrechtliche Anerkennung von Rechtsverhältnissen oder Territorien, die unter Verstoß gegen das Gewaltverbot – also etwa durch eine Annexion – zustande gekommen sind, unzulässig sind (sog. „Stimson-Doktrin“).18 Illegitimer Herrschaft ist damit unter bestimmten Umständen – insb. im Falle gewaltsamen Territorialerwerbs – die Anerkennung zu versagen. Ein Beispiel dafür ist die 2014 von Russland annektierte Krim. Als illegitim und daher nicht staatlich wurde auch die Herrschaft des sog. „Islamischen Staates“ auf syrischem bzw. irakischem Boden angesehen. Der „Islamische Staat“ – obwohl er sich in Syrien vorübergehend territorial verfestigt hatte – ist niemals als Staat im völkerrechtlichen Sinne anerkannt worden.19 Weitere Beispiele illegitimer Regierungsherrschaft sind in der völkerrechtlichen Literatur diskutiert worden.20 3. Staatliche Reaktionsmöglichkeiten gegenüber illegitimer Staatsgewalt Zweifellos erodiert sowohl die innen- als auch außenpolitische Legitimität von Staatsgewalt in dem Maße, wie ein Regime verfassungsrechtliche oder internationale Normen missachtet, also Menschenrechte verletzt, Wahlergebnisse fälscht, Terroristen oder Korruption unterstützt, Kriegsverbrechen begeht (z.B. durch Einsatz von Massenvernichtungswaffen) oder internationale Verträge bricht. 18 Vgl. Dawidowicz, Martin, The Obligation of Non-Recognition of an Unlawful Situation in: Crawford/Pellet (Hrsg.), The Law of International Responsibility, Oxford Commentaries on International Law 2010, S. 677-686, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law/9780199296972.001.0001/law-9780199296972-chapter-59. Dieser Nichtanerkennungsgrundsatz, der auf die nach dem ehemaligen US-Außenminister Henry L. Stimson benannte „Stimson-Doktrin“ von 1932 zurückgeht, ist vom Internationalen Gerichtshof in seinem Namibia- Gutachten von 1971 bestätigt worden, vgl. näher Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 32 ff. 19 Zum „IS“ vgl. näher: Interview mit dem finnischen Völkerrechtler Martti Koskenniemi, “Eine absurde Vorstellung”, in: ZEIT online v. 10.12.2015, online unter: https://www.zeit.de/2015/48/voelkerrecht-islamischer-staat-krieg-friedeninterview /komplettansicht: „Die internationale Gemeinschaft ist einfach nicht willens, das Verständnis von Staatlichkeit lediglich auf die Kontrolle über ein Gebiet zu beschränken. Staatlichkeit ist und war immer an ein gewisses Maß an Legitimität gebunden.“ Goertz, Stefan, Der "Islamische Staat": sein Aufstieg, sein Niedergang, seine Zukunft, in: Österreichische militärische Zeitschrift (ÖMZ) 2018, S. 205-210. Steinberg, Guido, „Das Ende des IS?“, SWP-Studie Nr. 20 (September 2018), online unter: https://www.swpberlin .org/fileadmin/contents/products/studien/2018S20_sbg.pdf. 20 Vgl. z.B. Roth, Brad R., Governmental Illegitimacy in International Law, Oxford Univ. Press 2000. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 8 Im Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften existieren offenbar methodische Ansätze zur Analyse von politischer Legitimität und Legitimitätsverlust autoritärer Regime – einschließlich Indikatoren zur Legitimitätsmessung.21 Juristisch lässt sich dagegen der Verlust an Legitimität von Staatsgewalt kaum messen bzw. quantifizieren. Es existiert auch keine gerichtliche Instanz, die einen Legitimationsverlust von Staatsgewalt feststellen könnte. Bei mutmaßlichen Verstößen gegen Menschenrechte, internationale Verträge etc. sieht das Völkerrecht rechtsförmige Verfahren zur Sachverhaltsaufklärung durch Gerichte, Ausschüsse, Schiedsgerichte, vertraglich eingerichtete Panels etc. vor. Ansonsten hängt vieles auch von der politischen Bewertung einer Situation (z.B. die internationale Anerkennung von Wahlen) oder des Verhaltens eines Regimes durch die internationale Staatengemeinschaft ab. Ein völkerrechtlich vorgegebenes „Reaktionsmuster“ gegenüber illegitimer Staatsgewalt existiert nicht. Denkbar sind rhetorische („Achse des Bösen“ oder Schurkenstaaten), diplomatisch -politische (Abbruch der diplomatischen Beziehungen), rechtliche (von Einreiseverboten für Regierungsmitglieder bis hin zur Verhängung von politischen / wirtschaftlichen Sanktionen, wobei völkerrechtliche Gegenmaßnahmen nicht ohne weiteres zulässig sind), forensische (Anklagen beim Internationalen Strafgerichtshöfen) oder militärische Antworten (von der zulässigen Selbstverteidigung über die umstrittene humanitäre Intervention bis hin zu völkerrechtswidrigen „Vergeltungsschlägen“ oder „Regime Change“-Operationen). Die Staaten sind – ungeachtet des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – im Bereich unterhalb der Gewaltanwendung weitgehend politisch (ermessens-)frei, illegitime Regierungen politisch zu isolieren oder zu „sanktionieren“, sofern dafür der politische Wille bzw. ein politischer Konsens im VN-Sicherheitsrat besteht. 4. Zum Fall Syrien Im aktuellen Ranking des jährlichen Berichts von Freedom House zum Stand der globalen Demokratisierung (Freedom in the World)22 belegt Syrien den letzten Platz von 193 untersuchten Staaten. Über eine desolate Menschenrechtssituation in Syrien berichtet Amnesty 21 Vgl. etwa Maier, Markus Albert, Politische Legitimität in autoritären Regimen. Eine Untersuchung des Legitimitätsverlustes des Mubarak-Regimes in Ägypten zwischen 2000 und 2010, Bachelorarbeit 2012, Münchener Beiträge zur Politikwissenschaft, online unter: https://epub.ub.uni-muenchen.de/13141/1/BAA_Maier.pdf; Sapper, Manfred, Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft : eine Studie zum Legitimitätsverlust des Militärischen in der Perestroika, Münster [u.a.]: Lit, 1994. 22 Freedom House (Hrsg.), Democracy in Retreat, Bericht 2019 https://freedomhouse.org/sites/default/files/Feb2019_FH_FITW_2019_Report_ForWeb-compressed.pdf; „Weltkarte der Demokratie“ https://freedomhouse.org/report/freedom-world/freedom-world-2019/map. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 9 International.23 Ähnlich beunruhigend stellt der Bericht des Komitees vom Internationalen Roten Kreuz die Lage in Syrien dar.24 Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft gegen das Assad-Regime in Syrien waren und sind vielfältig: Am 14. April 2018 erfolgten militärische Luftschläge seitens der USA, Frankreichs und Großbritanniens gegen Giftgas-Fazilitäten des Assad-Regimes.25 Am 28. Mai 2018 hat der Rat der EU seine restriktiven Maßnahmen der EU gegen das syrische Regime bis zum 1. Juni 2019 verlängert.26 Diskutiert wird seit längerem über die Möglichkeit einer Befassung internationaler Strafgerichte mit den Völkerrechtsverbrechen des Assad-Regimes u.a. in Syrien.27 23 Jahresbericht von Amnesty International 2017/18, https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/syrien. 24 ICRC, Syria in Focus, 2018, https://www.icrc.org/en/where-we-work/middle-east/syria. 25 Vgl. dazu näher das Gutachten WD 2 - 3000 - 048/18 vom 18.4.2018 „Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch -britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien“, https://www.bundestag.de/blob/551344/f8055ab0bba0ced333ebcd8478e74e4e/wd-2-048-18-pdf-data.pdf. 26 Vgl. Pressemitteilung des Rates, https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/05/28/syria-euextends -sanctions-against-the-regime-by-one-year. Zu den Sanktionen gegen Syrien zählen u. a. ein Erdölembargo, Restriktionen bei bestimmten Investitionen, das Einfrieren der in der EU gehaltenen Vermögenswerte der syrischen Zentralbank, Ausfuhrbeschränkungen für Ausrüstung und Technologie, die zur internen Repression verwendet werden können sowie für Ausrüstung und Technologie zur Überwachung oder zum Abhören des Internets und von Telefongesprächen. Der Rat hat außerdem die Liste aktualisiert, auf der nun 259 Personen und 67 Einrichtungen stehen, die mit einem Reiseverbot belegt und deren Vermögenswerte eingefroren sind. Vgl. zur Antwort der EU auf die Syrienkrise: EU Kommission. Fact Sheet. The EU and the crisis in Syria, 24.9.2018, https://cdn5- eeas.fpfis.tech.ec.europa.eu/cdn/farfuture/QOkycSoc8XGBYa39qUmCB3dJBv4nTys9chKUO4n_90w/mtime:153 7796898/sites/eeas/files/2018_09_24_syria_factsheet.pdf. 27 „Syrien-Konflikt soll vor Strafgerichtshof“, Deutsche Welle vom 15.1.2013; Jan Herbermann, „UN-Kommission prangert Kriegsverbrechen an“, in: Tagesspiegel vom 6.3.2018, https://www.dw.com/de/syrien-konflikt-soll-vor-strafgerichtshof/a-16521440; https://www.tagesspiegel.de/politik/konflikt-in-syrien-un-kommission-prangert-kriegsverbrechenan /21041304.html; „Ehemalige UNO-Chefanklägerin Carla del Ponte: Warum kein Syrien-Tribunal in Sicht ist“, in: Deutschlandfunk Kultur vom 11.6.2018, https://www.deutschlandfunkkultur.de/ehemalige-uno-chefanklaegerin-carla-delponte -warum-kein.1008.de.html?dram:article_id=420086 „Syrien. Anklagen gegen Kriegsverbrecher in Sicht“, in: Tagesschau online vom 20.9.2018, https://www.tagesschau.de/ausland/del-ponte-103.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 10 Bereits 2011 sprachen die USA dem syrischen Assad-Regime die Legitimation ab.28 Ähnlich äußert sich heute auch die türkische Regierung.29 Völkerrechtlich entfalten solche „Ansagen“ zunächst einmal keine Rechtswirkungen – zumindest solange sie nicht von Sanktionen begleitet sind; dies macht der Fall Maduro in Venezuela einmal mehr deutlich.30 Der frühe „Abgesang“ auf das syrische Regime31 hat sich bis heute nicht bewahrheitet: Nach dem Abzug der US-Truppen aus Syrien,32 der Zurückdrängung des sog. „Islamischen Staates“33 aus Syrien und mit der Unterstützung Russlands sitzt Präsident Assad militärisch und politisch fester im Sattel denn je. Eine politische Gestaltung der Nachkriegsordnung in Syrien an Assad vorbei erscheint kaum denkbar34 – auch wenn sein Regime während des achtjährigen Bürgerkriegs seine Glaubwürdigkeit und Legitimität bei großen Teilen der Staatengemeinschaft verspielt haben mag. 28 „USA sprechen Assad Legitimität ab“, ZEIT online vom 12.7.2011, https://www.zeit.de/politik/ausland/2011- 07/usa-assad-clinton; „Clinton: Assad hat keine Legitimität mehr“, FAZ online vom 12.7.2011, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/syrien-clinton-assad-hat-keine-legitimitaet-mehr- 1367.html. 29 „Präsidentensprecher Kalın: Assad-Regime besitzt keine Legitimation“, Daily Sabah (Istanbul), 5.2.2019, https://www.dailysabah.com/deutsch/politik/2019/02/05/praesidentensprecher-kalin-assad-regime-besitztkeine -legitimation. 30 Vgl. etwa die Rede von Bundesaußenminister Heiko Maas in der Aktuellen Stunde des Bundestages „Aktuelle Entwicklungen in Venezuela – schnellstmögliche Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, 30.1.2019, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-bundestag-venezuela/2184556: „Um es klar zu sagen: Nicolás Maduro fehlt jede demokratische Legitimation.“ Vgl. zur Anerkennung Guaidós durch die Bundesregierung die Mitteilung auf der Webseite der deutschen Bundesregierung , Bundesregierung erkennt Übergangspräsidenten an, 4.2.2019, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/bundesregierung-erkennt-uebergangspraesidenten-an-1576740 31 Mohns, Erik, „Der Anfang vom Ende? Das Assad-Regime in Syrien steht mit dem Rücken zur Wand“, Center for Mellemøststudier, Syddansk Universitet, Analyse Juni 2011 (online). 32 „US-Abzug aus Syrien hat begonnen“, Tagesschau.de vom 11.1.2019, https://www.tagesschau.de/ausland/usabzug -syrien-107.html. 33 Vgl. dazu Steinberg, Guido, „Das Ende des IS?“, SWP-Studie Nr. 20 (September 2018), online unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S20_sbg.pdf. 34 „Russland will Nachkriegsordnung für Syrien festlegen“, SZ vom 31.7.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/diplomatie-russland-will-nachkriegsordnung-fuer-syrien-festlegen- 1.4075730. Kristin Helberg, „Assads Sieg in Syrien. Das Schlimmste, was passieren konnte“, Deutschlandfunk vom 27.1.2019, https://www.deutschlandfunk.de/assads-sieg-in-syrien-das-schlimmste-was-passierenkonnte .724.de.html?dram:article_id=439412. Susanne Güsten/ Thomas Seibert, „Bashar al Assad hat allen Grund zur Freude. Ist eine Zukunft ohne ihn überhaupt noch möglich?“ Der Tagesspiegel online vom 16.4.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/kriegin -syrien-baschar-al-assad-hat-allen-grund-zur-freude/21180740.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 019/19 Seite 11 Deutschland unterhält derweil über die syrische Botschaft in Berlin politische Kanäle zum Assad-Regime.35 Völkerrechtlich erkennt die Bundesregierung nur Staaten, nicht aber Regierungen, ausdrücklich an.36 Ein völkerrechtlicher Hinderungsgrund, die syrische Nachkriegsordnung auch unter Einschluss des Assad-Regimes zu gestalten, besteht nicht. Über den Stand der Verhandlungen mit Syrien informiert das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste „Der Syrienkrieg – Akteure und Verhandlungen.“37 *** 35 Zu den deutsch-syrischen Beziehungen vgl. die Homepage des Auswärtigen Amtes, https://www.auswaertigesamt .de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/-/204264. 36 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 18/6962 (vom 4.12.2015), Frage 12; http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/069/1806962.pdf. 37 WD 2 - 3000 - 043/17 vom 1.6.2017, online unter: https://www.bundestag.de/blob/515094/6add202f3f24cc5c6295548c897f0d07/wd-2-043-17-pdf-data.pdf.