© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 014/20 Seenotrettung durch nicht-staatliche Akteure im rechtlichen Spannungsfeld zwischen „pull-back“-Operationen der libyschen Küstenwache und dem Refoulementverbot Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Seenotrettungsleitstellen 6 2.1. Einrichtung einer libyschen Seenotrettungsleitstelle 6 2.2. Verbindlichkeit der Anweisung eines MRCC 8 2.3. Sanktionierung und Durchsetzung von Anweisungen eines MRCC 9 2.4. Rechtsaufsicht über nationale Seenotrettungsleitstellen 10 2.5. Rechtsschutz gegen Anweisungen einer nationalen Seenotrettungsleistelle 10 3. Verbringung an einen sicheren Ort 11 4. Menschen- und flüchtlingsrechtliche Überlagerung des SAR-Regimes 14 4.1. Berücksichtigung menschenrechtlicher Grundsätze, insb. des Refoulementverbots 14 4.2. Anwendungsvorrang des Völkerrechts vor nationalem Recht 16 4.3. Bindung nicht-staatlicher Akteure an das Refoulementverbot 17 5. Geltung des Refoulementverbots im nationalen Recht 20 5.1. Verfassungsrecht 20 5.2. Nationales Strafrecht 21 6. Fazit 22 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 4 1. Einführung und Gegenstand der Untersuchung Seenotrettung im Mittelmeer erfolgt in einem komplexen Rechtsrahmen, bei dem sich nationales und internationales See- und Flüchtlingsrecht, Menschenrechtskonventionen sowie nationales Straf- und Einwanderungsrecht überlappen. Die menschenrechtlichen Implikationen der Seenotrettung werden deutlich, wenn es etwa um die Frage der Rückführung1 von geflüchteten Schiffbrüchigen nach Libyen und in die libyschen Aufnahmelagern geht, über deren Zustand berichtet worden ist.2 Diskutiert wurde in den letzten Jahren zunehmend auch die Kooperation der EU3 mit der libyschen Küstenwache und der libyschen Seenotrettungsleitstelle (Maritime Rescue Coordination Centre, MRCC) sowie die Frage nach der Mitverantwortung einzelner EU-Staaten4 für die menschenrechtsverletzenden Zustände in libyschen Auffanglagern.5 So fordert u.a. der Menschenrechtskommissar des Europarats ein Überdenken der Kooperation zwischen der EU und Libyen.6 1 Geht die Rückführung der aus Libyen geflüchteten Schiffbrüchigen von Seiten libyscher Behörden aus, spricht man von sog. pull-back-Operationen, während eine aktives Zurückdrängen der Geflüchteten durch staatliche Schiffe der EU-Staaten als push-back-Operation bezeichnet werden. 2 ZEIT online vom 2. August 2018, „Es gibt dort keine Menschlichkeit"“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/libyen-migranten-eu-human-rights-watch-interview. 3 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 19. Oktober 2017, Ziff. 4: „Was die zentrale Mittelmeerroute betrifft, so bekräftigt er, wie wichtig es ist, mit den libyschen Behörden zusammenzuarbeiten“, https://www.consilium.europa.eu/media/21602/19-euco-final-conclusions-de.pdf. Kritisch insoweit die Studie von Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 40 ff. https://eu.boell.org/en/2020/02/18/places-safety-mediterranean-eus-policy-outsourcing-responsibility. Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR), “Seenotrettung und Flüchtlingsschutz“, 2. Aufl. vom 30. August 2018, S. 13 f. Hingewiesen sei auch auf die Strafanzeige gegen die EU vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), https://www.dw.com/de/menschenrechtler-verklagen-eu-wegen-fl%C3%BCchtlingspolitik/a-49035094. 4 Vgl. dazu Guiseppe Pascale, “Is Italy Internationally Responsible for the Gross Human Rights Violations against Migrants in Libya?”, in: Questions of International Law (QIL) 2019, S. 35-58, http://www.qil-qdi.org/wpcontent /uploads/2019/03/03_Externalizing-migration-control_PASCALE_FIN_mod.pdf. Giulia Ciliberto, “Libya´s Pull-Backs of Boat Migrants: Can Italy be held accountable for violations of International Law?”, in: Italian Law Journal 4 (2018), S. 489-530, http://theitalianlawjournal.it/data/uploads/4-italj-2- 2018/489-ciliberto.pdf. 5 Einschlägig ist insoweit das Recht der Staatenverantwortlichkeit, vgl. Artikelentwurf für die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln, Resolution der VN-Generalversammlung 66/100 vom 9. Dezember 2011, https://www.un.org/Depts/german/gv-66/band1/ar66100.pdf. 6 Europarat (Hrsg.), “Lives saved. Rights protected. Bridging the protection gap for refugees and migrants in the Mediterranean”, Juni 2019, Ziff. 4.2, Recommendations No. 31 f., https://rm.coe.int/lives-saved-rights-protectedbridging -the-protection-gap-for-refugees-/168094eb87. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 5 “Member states should urgently review all their co-operation activities and practices with the Libyan Coast Guard and other relevant entities, and identify which of these impact, directly or indirectly, on the return of persons intercepted at sea to Libya or other human rights violations. Such activities should be suspended until clear guarantees of full human rights-compliance are in place (…).” Abgesehen davon verdeutlichen zahlreiche Seenotrettungsoperationen – erwähnt sei der Fall Thalassa,7 der 2019 von einem italienischen Untersuchungsgericht in Trapani/Sizilien entschieden wurde8 – die rechtlichen und ethischen Dilemmata von privaten Seenotrettern und Handelsschiffkapitänen : Oftmals mit nur begrenzten Rettungskapazitäten ausgestattet und regelmäßig unter geschäftlichem Termindruck stehend navigieren Handelsschiffe in einer rechtlichen „Grauzone“9 zwischen Rettungspflicht, Anweisungen nationaler Seenotrettungsleitstellen, verweigerter Ausschiffung der Geflüchteten in europäischen Häfen und der drohenden Rückführung der Geflüchteten nach Libyen, wogegen diese sich zunehmend zu Wehr setzen. Die IMO-Entschließung MSC.167(78) vom 20. Mai 200410 umschreibt das rechtliche Spannungsfeld , in dem sich Kapitäne bei Seenotrettungseinsätzen bewegen: „Kapitäne haben verschiedene Pflichten, die sie wahrnehmen müssen, um den Schutz des menschlichen Lebens auf See zu gewährleisten, die Integrität der globalen Such- und Rettungsdienste, von denen sie ein Teil sind, zu bewahren und die humanitären und gesetzlichen Vorschriften zu erfüllen“ (Ziff. 5.1). 7 Im Fall Thalassa hatte ein unter italienischer Flagge fahrende Versorgungsschiff, die Vos Thalassa, im Juli 2018 südlich von Sizilien – d.h. innerhalb der libyschen SAR-Zone – 66 Schiffbrüchige aufgenommen, die aus Libyen geflüchtet waren. Nachdem die Crew des Versorgungsschiffes von der libyschen Küstenwache angewiesen worden war, den Kurs zu ändern und die Geretteten an die libysche Küstenwache zu übergeben, hatten sich die an Bord genommenen Schiffbrüchigen, deren Verhalten von dem Untersuchungsgericht strafrechtlich zu beurteilen war, gegen die Rückkehr des Schleppers nach Libyen offenbar gewaltsam zur Wehr gesetzt und die Crew gezwungen, den Weg nach Italien fortzusetzen, wo ihnen von den italienischen Behörden aber zunächst das Einlaufen in einen Hafen verwehrt wurde. Vgl. zum Fall Thalassa die Berichterstattung in DW vom 10. Juli 2018, „Italiens Küstenwache nimmt Flüchtlinge an Bord“, https://www.dw.com/de/italiens-k%C3%BCstenwache-nimmt-fl%C3%BCchtlinge-an-bord/a- 44601041; Fokus vom 10. Juli 2018, https://www.focus.de/politik/ausland/vos-thalassa-boot-mit-gerettetenmigranten -in-italien-abgewiesen_id_9233672.html. 8 Tribunale de Trapani – Ufficio del giudice per le indagini preliminari, Entscheidung vom 23. Mai 2019, https://www.asylumlawdatabase.eu/en/case-law/italy-tribunal-trapani-office-judge-preliminary-investigationspiero -grillo. 9 So Alexander Haneke, „Grauzonen im Mittelmeer“, FAZ vom 2. Juli 2019, S. 2, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/sea-watch-und-das-seerecht-grauzonen-im-mittelmeer- 16263583.html. 10 „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008, https://www.bsh.de/DE/THEMEN/Schifffahrt/Nautische_Informationen/Weitere_Informationen/Schifffahrtsvor schriften/Downloads_Schifffahrtsvorschriften/Internationale_Schifffahrtsvorschriften/Beilage_2009- 10.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 6 Die Wissenschaftlichen Dienste greifen in dieser Ausarbeitung unter Bezugnahme auf das Gutachten vom 13. Februar 201811 einige ebenso praxisrelevante wie rechtsdogmatische Fragen im Spannungsfeld zwischen Seevölkerrecht und Menschenrechtsschutz auf. Für Kapitäne stellt sich etwa die Frage, ob und inwieweit Anweisungen der lybischen Seenotrettungsleitstelle bzw. der libyschen Küstenwache zu befolgen sind, wenn diese unweigerlich mit der Rückführung der geretteten Schiffbrüchigen in Richtung Libyen einhergehen.12 Dieses „Dilemma“ wirft vielfältige rechtliche Fragen auf, mit denen sich die vorliegende Ausarbeitung auseinandersetzt. Rechtsdogmatisch geht es vor allem um den normativen Vorrang einander zuwiderlaufender Handlungspflichten für private Seenotretter, die aus unterschiedlichen nationalen sowie internationalen Rechtsquellen herrühren. Zu klären ist dabei nicht nur die die rechtliche Verbindlichkeit (Völkervertragsrecht oder soft law internationaler Organisationen) sondern auch der Adressat (Staaten oder auch nicht-staatliche Akteure) etwaiger Verpflichtungen. In den Blick gerät neben dem Postulat, Schiffbrüchige an einen sicheren Ort zu verbringen, auch die menschen- bzw. flüchtlingsrechtliche „Überlagerung“ des Seevölkerrechts durch das Refoulementverbot . Daneben können verfassungsrechtliche und strafrechtliche Normen im Spannungsfeld zwischen Seerecht und Menschenrechten handlungssteuernde Wirkung für staatliche Behörden sowie nicht-staatliche Akteure entfalten. 2. Seenotrettungsleitstellen 2.1. Einrichtung einer libyschen Seenotrettungsleitstelle Libyen hat im Juli 2017 der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) die Koordinaten seines Such- und Rettungsbereichs (SAR-Zone) sowie die Kontaktdaten seiner Seenotrettungsleitstelle übermittelt. Mutmaßlich aufgrund von technischen Mängeln bei der Errichtung eines libyschen MRCC wurde die Übermittlung – möglicherweise auf Empfehlung der IMO hin – zunächst wieder zurückgezogen, im Dezember 2017 aber erneut vorgenommen.13 Die IMO hat die 11 WD 2 - 3000 - 013/18 vom 13. Februar 2018, „Seenotrettung im Mittelmeer. Rechte und Pflichten von Schiffen nach der SAR-Konvention und Ausprägungen des Refoulementverbots auf Hoher See“, https://politx .de/documents/677827/bund/bundestag/wissenschaftlicher-dienst/sachstand-2018-02-22-wd-2-01318- seenotrettung-im-mittelmeer-rechte-und-pflichten-von-schiffen-nach-der-sar-konvention-und-auspragungendes -refoulement-verbots-auf-hoher-see. 12 Dieser Fragestellung widmet sich auch eine neue Studie von Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, insb. S. 36 ff., https://eu.boell.org/en/2020/02/18/places-safety-mediterranean-eus-policyoutsourcing -responsibility. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Kapitäne in einem Abwägungsprozess der Verbringung von Schiffbrüchigen an einen sicheren Ort den Vorrang einzuräumen haben gegenüber anderweitigen Verpflichtungen, die eine Rückführung der Schiffbrüchigen nach Libyen zur Folge haben können. 13 Vgl. bereits Gutachten WD 2 - 3000 - 103/18 vom 13. Juli 2018, „Einrichtung von SAR-Zonen und Seenotrettungsleitstellen “, https://www.bundestag.de/resource/blob/565680/314bc300770c6f5a3fe3b19b869f17f3/wd-2- 103-18-pdf-data.pdf; Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 24 und 41. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 7 relevanten Informationen allen Vertragsstaaten des SAR-Konvention14, darunter auch Deutschland , im Juni 2018 notifiziert.15 Die Kontaktdaten des libyschen MRCC finden sich auf einer von der kanadischen Küstenwache in Halifax betriebenen Website „Search and Rescue Contacts“.16 Nach Informationen der Bundesregierung soll die libysche Seenotrettungsleitstelle erst im Laufe des Jahres 2020 voll einsatzbereit sein. Als Ansprechpartner für das regionale MRCC in Rom, das die Seenotrettung in der libyschen SAR-Zone bislang koordiniert hat – und das bis zur vollen Einsatzbereitschaft des libyschen MRCC offenbar noch mitkoordiniert, d.h. entsprechende Informationen an die libyschen Behörden übermittelt – dient ein Lagezentrum der libyschen Küstenwache in Tripolis.17 Das SAR-Regime trifft operative Vorkehrungen im Bereich von Planung, Organisation, Ausbildung , Informationsaustausch und Koordinierung, um Seenotrettungseinsätze zu steuern und zu optimieren. Die Koordinierung der Seenotrettung ist keine zwingend-exklusive Angelegenheit eines bestimmten MRCC. Die IMO-Entschließung MSC.167(78) vom 20. Mai 2004 (Anlage 34, Ziff. 6.4) stellt klar: „Im Normalfall sollte jede Koordinierung der Suche und Rettung zwischen einem Hilfe leistenden Schiff und einem Küstenstaat über die zuständige Rettungsleitstelle erfolgen. Die Staaten können ihre jeweiligen Rettungsleitstellen bevollmächtigen, eine solche Koordinierung auf einer 24-Stunden-Basis durchzuführen, oder andere staatliche Behörden damit beauftragen, die Rettungsleitstelle bei diesen Pflichten zu unterstützen.“18 Die Bundesregierung hat die Einrichtung der libyschen SAR-Zone zur Kenntnis genommen, so dass die libysche Seenotrettungsleitstelle und die libysche Küstenwache für Schiffe unter deutscher Flagge die nach der SAR-Konvention zuständige Rettungsleitstelle darstellen.19 Im Rahmen 14 International Convention on Maritime Search and Rescue (SAR) vom 27. April 1979, http://www.imo.org/en/About/Conventions/ListOfConventions/Pages/International-Convention-on-Maritime- Search-and-Rescue-(SAR).aspx. 15 „La Libia ha dichiarato la sua zona SAR: lo conferma l’IMO”, 28. Juni 2018, http://www.vita.it/it/article/2018/06/28/la-libia-ha-dichiarato-la-sua-zona-sar-lo-conferma-limo/147392/. BT-Drs 19/4301 vom 13. September 2018, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, „Rückführung von Geflüchteten durch das italienische Schiff Asso Ventotto nach Libyen“, S. 4 (Frage 12), http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/043/1904301.pdf. 16 https://sarcontacts.info/srrs/ly_srr/. 17 BT-Drucksache 19/2021 vom 4. Mai 2018, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, „Bewaffneter Übergriff auf Seenotretter im Mittelmeer am 15. März 2018“, zu Fragen 6 und 15, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/020/1902021.pdf. BT-Drucksache 19/5387 vom 30. Oktober 2018, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, zu Frage 21, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/053/1905387.pdf. 18 „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008. IMO-Guidelines on the Treatment of Persons Rescued at Sea, IMO-Resolution MSC.167(78) vom 20. Mai 2004, MSC 78/26/Add.2, http://www.imo.org/en/OurWork/Facilitation/personsrescued/Documents/MSC.167(78).pdf. 19 So Talmon, Stefan, „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (803), https://www.mohrsiebeck.com/artikel/private-seenotrettung-und-das-voelkerrecht-101628jz-2019-0293. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 8 ihrer bestimmungsgemäßen Tätigkeit kann das Lagezentrum der libyschen Küstenwache Seenotrettungsoperationen innerhalb der entsprechend notifizierten SAR-Zone koordinieren und einen Suchleiter vor Ort (sog. on-Scene-Coordinator) bestimmen.20 2.2. Verbindlichkeit der Anweisung eines MRCC Ähnlich wie die Verpflichtung zur Seenotrettung21 ist die Verpflichtung zur Befolgung der Anweisungen eines nationalen MRCC sowohl im Völkerrecht als auch im nationalen Recht begründet . Nach Auffassung der Bundesregierung und der völkerrechtlichen Literatur haben innerhalb einer SAR-Zone die an Seenotrettungseinsätzen beteiligten Schiffe den Anordnungen der jeweiligen Rettungsleitstelle Folge zu leisten.22 Das Internationalen Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS-Übereinkommen)23 sieht in Kapitel V, Regel 33, Absatz 2, zweiter Halbsatz vor: "The (…) the search and rescue service concerned, after consultation, so far as may be possible, (…) has the right to requisition one or more of those ships as (…) the search and rescue service considers best able to render assistance, and it shall be the duty of the master (…) of the ship (…) requisitioned to comply with the requisition by continuing to proceed with all speed to the assistance of persons in distress.” 20 Vgl. Punkt 5.7.2. Annex zum SAR-Abkommen. 21 Seevölkerrechtlich einschlägig ist Art. 98 VN-SRÜ, der sich aber allein an die SRÜ-Mitgliedsstaaten richtet und eine entsprechende Gesetzgebungspflicht der Staaten begründet. Ferner gilt Kap. V, Regel 33 der SOLAS-Konvention, dessen direkte Wirkung gegenüber nicht-staatlichen Akteuren indes umstritten ist (vgl. zur Diskussion Martin Ratcovich, International Law and the Rescue of Refugees at Sea, Stockholm Univ. 2019, S. 88, https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1323140/FULLTEXT02.pdf. Einfachgesetzlich bestimmt §2 Abs. 1 der Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (SeeFSichV) vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1417): „Der Schiffsführer (…) eines auf See befindlichen und zur Hilfeleistung fähigen deutschflaggigen Schiffes, dem gemeldet wird, dass sich Menschen in Seenot befinden, hat ihnen mit größter Geschwindigkeit zu Hilfe zu eilen.“ Verstöße gegen diese Hilfsverpflichtung stellen Straftaten nach §323c StGB oder Ordnungswidrigkeiten nach §10 Abs. 1 Nr. 1 der vorgenannten Verordnung dar. 22 So Staatssekretär Michaelis (Ausw. Amt) auf eine Frage des Abg. Nouripour vom 8. August 2018, BT-Drs. 19/3762 vom 10. August 2018, S. 41 (Frage 54), https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/037/1903762.pdf. Vgl. auch Talmon, Stefan, „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (803), https://www.mohrsiebeck.com/artikel/private-seenotrettung-und-das-voelkerrecht-101628jz-2019-0293. Einschränkend Blanke, Hermann-Josef / Johr, Manoël, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (936), https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/userdocs /Voelkerrecht/Aktuelle_Publikationen/Blanke_Johr_Zivile-Seenotrettung.pdf. Gutachten WD 2 - 3000 - 013/18 vom 13. Februar 2018, „Seenotrettung im Mittelmeer. Rechte und Pflichten von Schiffen nach der SAR-Konvention und Ausprägungen des Refoulement-Verbots auf Hoher See“, S. 6. 23 International Convention for the Safety of Life at Sea vom 1. November 1974, http://www.imo.org/en/About/Conventions/ListOfConventions/Pages/International-Convention-for-the-Safetyof -Life-at-Sea-(SOLAS),-1974.aspx. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 9 Das durch die IMO-Entschließung MSC.167(78) vom 20. Mai 2004 geänderte SAR-Abkommen bestimmt hingegen in Ziff. 5.1.7, dass Kapitäne alle sachdienlichen Vorschriften der Regierung erfüllen sollen, die für den SAR-Bereich zuständig ist. Zur Bindungswirkung der Anweisungen eines MRCC schweigt die Regelung. Für Schiffe unter deutscher Flagge ergibt sich eine Befolgungspflicht dagegen ganz ausdrücklich aus §2 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (SeeFSichV):24 „Den Anordnungen der Stellen, die sich gegenüber dem Schiffsführer oder sonst für die Sicherheit Verantwortlichen als die mit der Koordinierung der Suche und Rettung in Seenotfällen nach Kapitel II der Anlage zum Internationalen Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See vom 6. November 1979 (BGBl. 1982 II S. 485) beauftragten Organisationen zu erkennen geben, ist Folge zu leisten.“ 2.3. Sanktionierung und Durchsetzung von Anweisungen eines MRCC Zuwiderhandlungen gegen §§ 2 SeeFSichV seitens von Kapitänen deutscher Schiffe stellen eine Ordnungswidrigkeit i.S.d. SeeFSichV dar.25 §15 Abs. 2 des Seeaufgabengesetzes26 sieht dabei Geldbußen in einer Höhe von bis zu 50.000 EUR vor, die von der zuständigen Generaldirektion „Wasserstraßen und Schifffahrt“ (GDWS) in Kiel verhängt werden können. Die relativ hohe Bußgeldandrohung soll nicht nur die Autorität ausländischer Seenotrettungsleitstellen stärken, sondern in erster Linie wohl dem Vorrang der Seenotrettung gegenüber anderweitigen geschäftlichen Verpflichtungen von Handelsschiffen Nachdruck verleihen.27 Demgegenüber hat die nationale libysche Küstenwache gegenüber einem Schiff unter ausländischer Flagge für den Fall einer Missachtung von Anweisungen des libyschen MRCC keine recht- 24 Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (SeeFSichV) vom 27. Juli 1993, BGBl. 1993 I, S. 1417, zuletzt geändert durch Verordnung vom 31. August 2017, BGBl. 2015 I, S. 1474, https://www.gesetze-iminternet .de/seefsichv_1993/SeeFSichV_1993.pdf. 25 Gem. §10 SeeFSichV handelt „ordnungswidrig im Sinne des §15 Abs. 1 Nr. 2 des Seeaufgabengesetzes, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen §2 Abs. 1 Satz 2 SeeFSichV einer dort genannten Anordnung nicht Folge leistet oder einer dort genannten Anforderung nicht oder nicht in der vorgeschriebenen Weise nachkommt“. 26 Gesetz über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Seeschifffahrt (Seeaufgabengesetz - SeeAufgG) vom 24. Mai 1965, https://www.gesetze-im-internet.de/bseeschg/BJNR208330965.html. 27 So Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 46: “What the legislator had in mind were not NGO vessels acting against MRCC orders with the goal of rescuing persons in distress, but rather private commercial vessels not willing to proceed to rescue persons in distress at the high seas, out of fear of risking damage to their ship or suffering financial loss.” Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 10 liche Handhabe zur gewaltsamen Durchsetzung dieser Anweisung.28 Der Grund dafür liegt darin, dass es hier um die Sanktionierung des Verhaltens Privater auf Hoher See – also innerhalb staatsfreier Räume – geht. Schiffe unter deutscher Flagge unterliegen dabei nach dem Flaggenstaatsprinzip der deutschen nicht aber der libyschen Rechtsordnung. Die Einrichtung einer SAR-Zone hat keine Auswirkungen auf die Staatsgrenzen im Meer. Zwangsbefugnisse einer nationalen Küstenwache innerhalb der SAR-Zone aber außerhalb der nationalen Küstengewässer ergeben sich weder aus dem VN-Seerechtsübereinkommen von 1982 noch aus der SAR-Konvention von 1979. 2.4. Rechtsaufsicht über nationale Seenotrettungsleitstellen Die SAR-Konvention kennt keine irgendwie geartete „Rechts- und Fachaufsicht“ der IMO über die nationalen Seenotrettungsleitstellen. Zwar kann die IMO im Wege von Richtlinien und Empfehlungen das Handeln der nationalen Seenotrettungsleitstellen menschenrechtlich einhegen (s.u. 4.1.). Gleichwohl sieht die SAR-Konvention keine Möglichkeit vor, einem SAR-Vertragsstaat eine notifiziert SAR-Zone gewissermaßen wieder zu „entziehen“, selbst wenn gegen menschenrechtliche Auflagen und Richtlinien verstoßen wird. Darüber hinaus verfügt die IMO über keine Durchgriffsrechte, um die nationalen MRCCs zu einem bestimmten Handeln anzuhalten. Als nationale Behörden stehen diese allein unter der Aufsicht der jeweiligen SAR-Mitgliedsstaaten .29 Erweist sich der „aufsichtführende“ Staat selber als failing state, läuft die nationale Rechtsaufsicht faktisch leer, ohne dass das Völkerrecht hier ersatzweise „einzuspringen“ vermag. 2.5. Rechtsschutz gegen Anweisungen einer nationalen Seenotrettungsleistelle Sieht man in den Anweisungen eines nationalen MRCC Akte der öffentlichen Gewalt, so steht der Weg zum Straßburger Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) grundsätzlich offen, sofern der verklagte Staat EMRK-Mitglied ist. Im Mai 2018 haben das Global Legal Action Network (GLAN) und die Association for Juridical Studies in Immigration (ASGI) im Namen von 17 Schiffbrüchigen Beschwerde beim EGMR erhoben.30 28 So die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 19/2021 vom 4. Mai 2018, S. 10 (zu Frage 20). Ebenso Gutachten WD 2 - 3000 - 075/17 vom 25.8.2017, „Rechtsfragen bei Seenotrettungseinsätzen innerhalb einer libyschen SAR-Zone im Mittelmeer“, S. 5 ff., https://www.bundestag.de/resource/blob/525660/e43d2ccfb3b60ecb334f9276ae0f6f6c/wd-2-075-17-pdfdata .pdf. 29 So wird etwa das deutsche MRCC in Bremen von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) betrieben. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat der DGzRS den Auftrag erteilt, die Such- und Rettungsaktivitäten im deutschen Seegebiet zu koordinieren. Die 1865 in Kiel gegründete DGzRS firmiert als sog. altrechtlicher Verein und steht unter Aufsicht des Ministeriums. 30 Guardian vom 8. Mai 2018, „Italy's deal with Libya to 'pull back' migrants faces legal challenge“, https://www.theguardian.com/world/2018/may/08/italy-deal-with-libya-pull-back-migrants-faces-legalchallenge -human-rights-violations; Sea Watch, “Legal action against Italy over its coordination of Libyan Coast Guard pull-backs resulting in migrant deaths and abuse”, 8. Mai 2018, https://sea-watch.org/en/legal-actionagainst -italy-over-its-coordination-of-libyan-coast-guard/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 11 Der Beschwerde zugrunde liegt ein Seenotrettungseinsatz, der sich am 6. November 2017 in der libyschen SAR-Zone abgespielt hat. Rechtlich ist zu klären, inwieweit Schiffbrüchige auf Hoher See bereits durch die Anweisung eines nationalen MRCC unter die effektive Kontrolle und Hoheitsgewalt (jurisdiction) des betreffenden Staates geraten können.31 3. Verbringung an einen sicheren Ort Mit der Änderung der SOLAS- und SAR-Konventionen im Jahre 200432 haben Staaten seevölkerrechtlich die Pflicht, Gerettete an einen „sicheren Ort“ zu bringen.33 Der Begriff des „sicheren Orts“ ist im SAR-Abkommen nicht definiert, wurde aber durch die IMO-Entschließung MSC.167(78) vom 20. Mai 2004 (Anlage 34, Ziff. 6.12) näher konturiert: “Ein sicherer Ort (im Sinne der Anlage des SAR-Übereinkommens von 1979, Absatz 1.3.2) ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahmen als beendet angesehen werden. Es ist auch ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung , Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden können. Es ist weiter ein Ort, von dem aus Vorkehrungen für den Transport der Überlebenden zu ihrem nächsten oder endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können.”34 31 Für eine Anwendung der EMRK spricht sich die Stellungnahme des Deutsches Instituts für Menschenrechte (DIMR), “Seenotrettung und Flüchtlingsschutz“, 2. Aufl. vom 30. August 2018, S. 12, Fn. 58, aus. Vgl. ferner Annick Pijnenburg, “From Italian Pushbacks to Libyan Pullbacks: Is Hirsi 2.0 in the Making in Strasbourg?”, in: European Journal of Migration and Law 20 (2018), S. 396-426, https://brill.com/view/journals/emil/20/4/article-p396_3.xml. Moritz Baumgärtel, “High Risk, High Reward: Taking the Question of Italy’s Involvement in Libyan ‘Pullback’ Policies to the European Court of Human Rights”, in: EJIL:talk!, 14. Mai 2018, https://www.ejiltalk.org/highrisk -high-reward-taking-the-question-of-italys-involvement-in-libyan-pullback-policies-to-the-european-courtof -human-rights/. 32 Hintergrund der Vertragsänderung war die Weigerung Australiens im August 2001, die aus Seenot geretteten boat people an Bord des norwegischen Frachters MV Tampa aufzunehmen. 33 Vgl. SOLAS-Konvention (2004) Kapitel V, Regel 33, Ziff. 1.1; SAR-Konvention (2004), Annex, Ziff. 3.1.9. In der Kommentarliteratur zur Seerechtskonvention (von 1982) wird das Verbringen an einen sicheren Ort als Bestandteil der Verpflichtung zur Hilfeleistung i.S.v. Art. 98 Abs. 1 lit. a SRÜ gesehen – so Guilfoyle, in: Proelß (Hrsg.), United Nations Convention on the Law of the Sea. A Commentary, München 2017, Art. 98 Rdnr. 10. Vgl. ausführlich Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 14 ff. Martin Ratcovich, International Law and the Rescue of Refugees at Sea, Stockholm Univ. 2019, S. 211 ff., https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1323140/FULLTEXT02.pdf. Talmon, Stefan, „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (804). Blanke, Hermann-Josef / Johr, Manoël, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (935 f.). 34 Vgl. dt. Fassung in der „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008, Ziff. 6.12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 12 Ein „sicherer Ort“ muss also primär das Überleben der Geretteten gewährleisten können – durch Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (human needs), nicht aber notwendigerweise durch eine Garantie der Menschenrechte (human rights).35 Die IMO-Entschließung vom 20. Mai 2004 stellt klar, dass bei der Verbringung an einen sicheren Ort die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen seien; bei der Auswahl eines sicheren Ortes müssten eine Vielzahl wichtiger Faktoren berücksichtigt werden (Ziff. 6.15). Dabei muss es sich nicht notwendigerweise um einen Hafen handeln. Während die (rechtlich unverbindlichen) Richtlinien des VN-Hochkommissars für Flüchtlinge offenbar davon ausgehen, dass die Verbringung an einen „sicheren Ort“ regelmäßig nur durch Ausschiffung an Land gewährleistet werden könne,36 sehen die SOLAS-/SAR- Vertragsänderungen keine Verpflichtung der Vertragsstaaten vor, einer Ausschiffung der Geretteten in einem ihrer Häfen zuzustimmen.37 Gleichwohl sollten Flaggenstaaten und Küstenstaaten nach Maßgabe der IMO-Entschließung vom 20. Mai 2004 „über wirksame Vorkehrungen verfügen , um Kapitänen rechtzeitig Hilfe zu leisten, indem sie von diesen auf See aufgenommene Personen übernehmen. (…) Die zuständigen staatlichen Behörden sollten alles unternehmen, um Vorkehrungen zur Ausschiffung von Überlebenden zu beschleunigen.“38 Zur Entlastung des Kapitäns eines Rettungsschiffes wird die Suche nach einem „sicheren Ort“ für die Geretteten der Koordinierung der nationalen Seenotrettungsleitstellen überantwortet. Die Verantwortung für die Bereitstellung eines sicheren Ortes liegt bei der Regierung, die für das SAR-Gebiet zuständig ist, in dem die Schiffbrüchigen aufgenommen wurden.39 Ein Staat kann daher gegen seine seevölkerrechtlichen Verpflichtungen verstoßen, wenn er über seine nationale Seenotrettungsleitstelle Handelsschiffe anweist, gerettete Schiffbrüchige an einen Ort zu bringen, der die Kriterien der IMO nicht erfüllt.40 35 Talmon, Stefan, „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (804). 36 “The Treatment of Persons Rescued at Sea: Conclusions and Recommendations. Report of the Office of the UN High Commissioner for Refugees to the UN General Assembly, UN Doc. A/AC.259/17 vom 11. April 2008, Ziff. 15 mit Fn. 3, https://undocs.org/pdf?symbol=en/A/AC.259/17. 37 Vgl. für viele Richard Barnes, “Refugee Law at Sea”, in: Int. & Comp. Law Quarterly (ICLQ) vol. 53 (2004), S. 47-77 (63). https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridgecore /content/view/E3CA40E44BA1E91D34404D14079D1810/S0020589300067440a.pdf/refugee_law_at_sea.pdf. 38 Vgl. „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008, Ziff. 3.1 und Ziff. 6.9 39 Vgl. „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008, Ziff. 2.5. 40 So auch Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 36, https://eu.boell.org/en/2020/02/18/places-safety-mediterranean-eus-policy-outsourcing-responsibility. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 13 Nach überwiegender Ansicht in der völkerrechtlichen Literatur – die von libyscher Seite freilich nicht geteilt wird – ist Libyen kein „sicherer Ort“ im Sinne des Seevölkerrechts.41 Diese Einschätzung teilt auch der UNHCR in seinem Bericht zur Situation in Libyen: “In light of the volatile security situation in general and the particular protection risks for third-country nationals (including detention in substandard conditions, and reports of serious abuses against asylumseekers , refugees and migrants), UNHCR does not consider that Libya meets the criteria for being designated as a place of safety for the purpose of disembarkation following rescue at sea.”42 Die Verpflichtungen aus der SAR- bzw. SOLAS-Konvention richten sich an die Vertragsstaaten .43 Die IMO-Entschließung vom 20. Mai 2004 nimmt Kapitäne nicht-staatlicher Schiffe aber insoweit in den Blick, als dass diese nach Maßgabe der Entschließung „versuchen sollten sicherzustellen “ (should seek to ensure), „dass Überlebende nicht an einem Ort ausgeschifft werden, an dem ihre Sicherheit weiter in Gefahr wäre.“44 Die Formulierung macht indes deutlich, dass es sich um keine rechtlich verbindliche Regelung handelt. Im Ergebnis lässt sich dem Seevölkerrecht keine unmittelbar an nicht-staatliche Akteure gerichtete Rechtspflicht zur Verbringung der Schiffbrüchigen an einen sicheren Ort entnehmen, welche die Befolgungspflicht des Kapitäns gegenüber den Anweisungen eines nationalen MRCC (s.o. 2.2.) rechtlich verdrängt. Zweifellos genießt ein Schiffsführer, der mit einer Seenotrettungsoperation betraut ist, bestimmte Handlungsspielräume auf See. Die SOLAS-Konvention sieht in Kap. V, Regel 34, Ziff. 3 vor: „Der Reeder, der Charterer (…) oder irgendeine andere Person dürfen den Kapitän des Schiffes nicht daran hindern, eine Entscheidung zu treffen oder auszuführen, die nach dem fachlichen Urteil des Kapitäns für eine sichere Schiffsführung und den Schutz der Meeresumwelt erforderlich ist; der Kapitän darf in seiner diesbezüglichen Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt werden.“ 41 Blanke, Hermann-Josef / Johr, Manoël, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (935) m.w.N. in Fn. 71, https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/userdocs /Voelkerrecht/Aktuelle_Publikationen/Blanke_Johr_Zivile-Seenotrettung.pdf. Matz-Lück, Nele, Seenotrettung als völkerrechtliche Pflicht: Aktuelle Herausforderungen der Massenmigrationsbewegungen über das Mittelmeer, in: VerfBlog vom 18. August 2018, https://verfassungsblog.de/seenotrettungals -voelkerrechtliche-pflicht-aktuelle-herausforderungen-der-massenmigrationsbewegungen-ueber-dasmittelmeer /. Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 22 ff. (27), https://eu.boell.org/en/2020/02/18/places-safety-mediterranean-eus-policy-outsourcing-responsibility. Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte, “Seenotrettung und Flüchtlingsschutz“ vom 31. Juli 2018, S. 11; a.A. Talmon, „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (804). 42 UNHCR, “Position on returns to Libya”, Sept. 2018, Ziff. 42, https://www.refworld.org/docid/5b8d02314.html. 43 Dies betont Talmon, Stefan, „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (803). 44 Vgl. „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008, Ziff. 5.6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 14 Der Entscheidungsspielraum eines Kapitäns erstreckt sich jedoch explizit nicht auf die Suche nach einem „sicheren Ort“ für die Geretteten. Auch lässt sich der Regelung nicht entnehmen, dass der Kapitän entsprechende Anweisungen des MRCC ignorieren dürfte, zumindest solange eine sichere Schiffsführung dadurch nicht beeinträchtigt ist. Das Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung eines Kapitäns, Anweisungen eines MRCC zu befolgen, und den ethischmenschen -rechtlichen Bedenken im Hinblick auf einen „sicheren Ort“ für die Geretteten, wird durch die genannte Regelung gerade nicht aufgelöst.45 Mangels einer klaren seevölkerrechtlichen Verpflichtung des Kapitäns, Gerettete nur an einen sicheren Ort zu verbringen, und mangels eines entsprechenden Entscheidungsspielraums, zuwiderlaufende Anweisungen eines nationalen MRCC ignorieren zu dürfen, lässt sich das ethische bzw. rechtliche „Dilemma“ also nicht im Wege einer Abwägung zwischen den seevölkerrechtlichen Regelungen auflösen. Vielmehr ist zu prüfen, ob andere – z.B. menschenrechtliche – Verpflichtungen eines Kapitäns bestehen, die seine aus dem Seerecht erwachsene Befolgungspflicht (gegenüber Anweisungen eines MRCC) überlagern bzw. verdrängen. 4. Menschen- und flüchtlingsrechtliche Überlagerung des SAR-Regimes 4.1. Berücksichtigung menschenrechtlicher Grundsätze, insb. des Refoulementverbots Die SAR-Vertragsparteien haben grundsätzlich klargestellt, dass menschen- und flüchtlingsrechtliche Aspekte außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der IMO liegen.46 Gleichwohl hat die IMO in ihren Resolutionen und Richtlinien – wenn auch für die SAR-Mitgliedsstaaten völkerrechtlich unverbindlich – deutlich gemacht, dass „international protection principles as set out in international instruments should be followed“.47 Dabei wird explizit die Berücksichtigung des Refoulementverbots eingefordert: 45 Dies versuchen aber Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 37 f., https://eu.boell.org/en/2020/02/18/places-safety-mediterranean-eus-policy-outsourcing-responsibility. 46 IMO Assembly, 23rd session, Progress Report to the Assembly, IMO-Doc. A 23/23 vom 15. Juli 2003, Ziff. 39 f., https://www.transportstyrelsen.se/contentassets/1963dd17478448a9a07091cc0b9f6b43/23-23.pdf. 47 “Principles Relating to Administrative Procedures for Disembarking Persons Rescued at Sea”, IMO-Dok. FAL.3/Circ.194 vom 22. Januar 2009, Ziff. 2.5, http://www.imo.org/en/OurWork/Facilitation/docs/FAL%20related%20nonmandatory%20instruments/FAL.3- Circ.194.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 15 “Eine Überlegung im Fall von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die auf See geborgen werden, ist die Notwendigkeit, eine Ausschiffung in Gebieten zu vermeiden, in denen das Leben und die Freiheit der Personen, die vorgeben, eine begründete Angst vor Verfolgung zu haben, in Gefahr wäre.”48 Auf die Bedeutung, Herleitung (aus dem Vertrags- und Gewohnheitsrecht) und Rezeption und Weiterentwicklung des Refoulementverbots soll an dieser Stelle nur hingewiesen werden.49 Die konkreten Ausprägungen und die Reichweite dieses Grundsatzes – insbesondere mit Blick auf seine extraterritoriale Anwendung auf Hoher See oder auf die Beteiligung Privater an Seenotrettungseinsätzen – sind dagegen immer wieder neu auszuloten. Was die Anwendung des Refoulementverbots auf Hoher See angeht, so hat z.B. die Hirsi-Rechtsprechung des EGMR50 offenbar zu einem Bewertungswandel in der vergangenen Dekade geführt.51 Nach der (völkerrechtlich aber unverbindlichen) Auffassung des VN-Hochkommissars für Flüchtlinge unterliegt das Refoulementverbot keinen geographischen Begrenzungen.52 48 „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008 49 Vgl. näher Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 791. Gilbert Gornig, Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, Wien: Braumüller, 1987. Bianca Hofmann, „Grundlagen und Auswirkungen des völkerrechtlichen Refoulement-Verbots“, Menschenrechtszentrum Potsdam, https://publishup.uni-potsdam.de/opus4- ubp/frontdoor/deliver/index/docId/4857/file/SGM03.pdf. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, §20 Rdnr. 75 ff. 50 EGMR Urteil vom 23. Februar 2012, Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien, https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001- 109231#{%22itemid%22:[%22001-109231%22]}. Vgl. dazu Maarten Den Heijer, “Reflections on Refoulement and Collective Expulsion in the Hirsi Case”, International Journal of Refugee Law, 25 (2013) S. 265-290 https://academic.oup.com/ijrl/article/25/2/265/1510318. 51 Im Jahre 2008 hielt die Bundesregierung die Anwendbarkeit der Genfer Flüchtlingskonvention auch außerhalb des Hoheitsgebiets der Vertragsstaaten noch für „umstritten“ (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucksache 16/9204 vom 15. Mai 2008, S. 5 (Frage 1), http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/16/092/1609204.pdf. Vgl. zur Staatenpraxis vor dem Hirsi-Urteil Sicco Rah, „Asylsuchende und Migranten auf See“, Heidelberg: Springer 2009, S. 177 f., https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-540-92931-4. Vgl. weiter Killian S. O´Brian, “Refugees on the High Seas: International Refugee Law Solutions to a Law of the Sea Problem”, in: Goettingen Journal of International Law 3 (2011), S. 715-732, http://www.gojil.eu/issues/32/32_article_obrien.pdf. 52 UNHCR, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, vom 26. Januar 2007, S. 13, Ziff. 28, https://www.unhcr.org/4d9486929.pdf. Für eine extraterritoriale Anwendung des Refoulementverbots auch: Blanke, Hermann-Josef / Johr, Manoël, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (935), https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/user-docs/Voelkerrecht/Aktuelle_Publikationen/Blanke_Johr_Zivile- Seenotrettung.pdf. Mariagiulia Giuffré, “State Responsibilities beyond Borders: What Legal Basis for Italy´s Push-backs to Libya”, in: International Journal of Refugee Law 2013, S. 692-734 (719), https://www.researchgate.net/publication/273024753_State_Responsibility_Beyond_Borders_What_Legal_Basis _for_Italy's_Push-backs_to_Libya. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 16 Das Refoulementverbot betrifft die Zurückweisung / Abschiebung von Geflüchteten über die Grenze hinweg in den Machtbereich des Verfolgerstaates. Das Verbot erwächst also aus einem abschiebungsrechtlichen Kontext und verpflichtet den zurückweisenden Staat, entsprechende aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu unterlassen. Das Verbot sanktioniert dogmatisch gesehen die Verantwortung des abschiebenden Staates dafür, dass der Abgeschobene in eine Situation gerät, in der für ihn eine konkrete Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung existiert. Die Foltergefahr selbst besteht dagegen in dem Verfolgerstaat, der dafür die menschenrechtliche Verantwortung trägt. Die Verantwortlichkeit des zurückweisenden Staates für die potentielle Folgen seiner Handlung resultiert dagegen (nur) aus seiner grundrechtlichen Schutzpflicht, weil er es unterlässt, den einzelnen gegen Menschenrechtsverletzungen durch Dritte (Private oder eben andere Staaten) zu schützen. Dies bedeutet mit Blick auf Libyen: Die Verbringung von Geflüchteten durch die libysche Küstenwache ins eigene Land begründet keinen Verstoß Libyens gegen das Refoulementverbot.53 Unbenommen bleibt die Prüfung einer möglichen Verletzung des Menschenrechts auf Ausreise (Art. 12 Abs. 2 VN-Zivilpakt) durch sog. pull-back-Operationen der libyschen Küstenwache.54 Nach dieser Bestimmung steht es jedermann frei, „jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen.“ Libyen ist dem VN-Zivilpakt 1970 beigetreten. 4.2. Anwendungsvorrang des Völkerrechts vor nationalem Recht Das Völkerrecht kann einer im nationalen Recht begründeten Handlungspflicht55 von Kapitänen nicht-staatlicher Schiffe entgegenstehen und einfaches nationales Recht sogar verdrängen (Anwendungsvorrang ), soweit die einschlägige Völkerrechtsnorm über Art. 25 GG ins deutsche Recht inkorporiert ist und sich unmittelbar auch an Privatpersonen richtet.56 Art. 25 GG ordnet die unmittelbare Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in der deutschen Rechtsordnung an: Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes . Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes. 53 Andere Auffassung wohl die Stellungnahme des Deutsches Instituts für Menschenrechte (DIMR), “Seenotrettung und Flüchtlingsschutz“, 2. Aufl. vom 30. August 2018, S. 13. 54 Vgl. dazu ausführlich Martin Ratcovich, International Law and the Rescue of Refugees at Sea, Stockholm Univ. 2019, S. 165 ff., https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1323140/FULLTEXT02.pdf. Nora Markard, “The Right to Leave by Sea: Legal Limits on EU Migration Control by Third Countries“, in: European Journal of International Law 2016, Vol. 27, S. 591-616 (594 ff.), https://academic.oup.com/ejil/article/27/3/591/2197244. 55 Einschlägig ist hier die SeeFSichV im Range einer Rechtsverordnung. Rechtsverordnungen sind ebenso wie Gesetze abstrakt-generelle Regelungen, die aber nicht im förmlichen Gesetzgebungsverfahren ergehen, sondern von den dazu ermächtigten Organen der vollziehenden Gewalt (vgl. Art. 80 Abs. 1 GG) erlassen werden. 56 Chr. Koenig / D. König, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, München: Beck 7. Aufl. 2018, Art. 25 Rdnr. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 17 Die Eigenschaft als „Bewohner des Bundesgebietes“ hängt nicht vom Wohnsitz ab, sondern meint alle, die der Geltung der deutschen Rechtsordnung unterworfen sind.57 Mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG58 und einhelliger Auffassung in der Literatur das universelle Völkergewohnheitsrecht gemeint. Dazu gehört unstrittig auch das sog. Refoulementverbot.59 Dabei sind staats- und drittgerichtete Völkerrechtsnormen zu unterscheiden.60 Zu den individual-gerichteten Regeln des Völkerrechts gehören insb. die gewohnheitsrechtlich geltenden Menschenrechte (wie das Sklaverei- und Folterverbot) sowie die individual-gerichteten Verbotsnormen des Völkerstrafrechts (Verbrechen gegen die Menschlichkeit , Kriegsverbrechen).61 Auffällig ist dabei, dass diese Verbotsnormen ausnahmslos eine „Entsprechung“ im nationalen Strafgesetzbuch gefunden haben. 4.3. Bindung nicht-staatlicher Akteure an das Refoulementverbot Weitgehend ungeklärt ist die sog. Drittwirkung (Individualgerichtetheit) des Refoulementverbots – also die Frage, ob auch nicht-staatliche Akteure (z.B. Kapitäne von Handelsschiffen) verpflichtet werden. In rechtlich unverbindlicher Form ist das Refoulementverbot faktisch auf private Akteure ausgeweitet worden.62 So wird in den IMO-Richtlinien vom 20. Mai 2004 „empfohlen“, dass Kapitäne gerettete Asylsuchende nicht dort an Land setzen sollen, wo ihnen Verfolgung und andere Gefahren drohen.63 57 Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Köln: Heymanns, 14. Aufl. 2018, Art. 25 Rdnr. 18 m.w.N. 58 Vgl. z.B. BVerfGE 15, 25 (34); BVerfGE 16, 27 (33); BVerfGE 23, 288 (317); BVerfGE 31, 145 (177). 59 Dies gilt auch im seerechtlichen Kontext, vgl. Yoshifumi Tanaka, The International Law of the Sea, Cambridge, 3. Aufl. 2019, S. 215. 60 Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Köln: Heymanns, 14. Aufl. 2018, Art. 25 Rdnr. 4 ff. Heintschel v. Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, München: Beck, 3. Aufl. 2020, Art. 25 Rdnr. 19 sowie 33 f. 61 Chr. Koenig / D. König, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, München: Beck 7. Aufl. 2018, Art. 25 Rdnr. 68. Heintschel v. Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, München: Beck, 3. Aufl. 2020, Art. 25 Rdnr. 33. 62 Sicco Rah, „Asylsuchende und Migranten auf See“, Heidelberg: Springer 2009, S. 180, https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-540-92931-4. 63 Vgl. Guidelines on the Treatment of Persons rescued at Sea, Annex 34, Res. MSC 167/78, Ziff. 6.17, http://www.imo.org/en/OurWork/Facilitation/personsrescued/Documents/MSC.167(78).pdf: “The need to avoid disembarkation in territories where the lives and freedoms of those alleging a well-founded fear of persecution would be threatened is a consideration in the case of asylum-seekers and refugees recovered at sea.“ Vgl. auch Ziff. 5.6: „[Ship masters should] seek to ensure that survivors are not disembarked to a place where their safety would be further jeopardized.” Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 18 Rechtlich gesehen sind nicht-staatliche Akteure nach Auffassung der Bundesregierung grundsätzlich nicht an das Refoulementverbot oder an die Anti-Folterkonvention gebunden:64 „Gemäß Artikel 3 der VN-Antifolterkonvention darf ein Vertragsstaat eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe bestehen für die Annahme, dass die Person dort der Folter ausgesetzt sein könnte. Die Antifolterkonvention bindet nur Vertragsstaaten. Nichtstaatliche Akteure sind an die VN-Antifolterkonvention als zwischenstaatliches Abkommen nicht gebunden. Ob ein Verstoß gegen Artikel 3 der VN-Antifolterkonvention vorliegt, kann nur in Kenntnis und unter Berücksichtigung der Umstände eines konkreten Falles geprüft werden.“65 Auch in der völkerrechtlichen Literatur wird ganz überwiegend die Auffassung vertreten, die Verpflichtung zur Nicht-Zurückweisung richte sich nur an Staaten.66 In Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention heißt es: „No contracting state shall expel or return a refugee“. Verpflichtungen Privater würden weder durch menschenrechtliche Verträge (EMRK, Antifolterkonvention) noch durch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) begründet. Vereinzelt ist nach Ansätzen gesucht worden, eine Drittwirkung des Refoulementverbotes zu begründen .67 Dazu reicht es nicht alleine aus, dem gewohnheitsrechtlich verankerten Refoulementverbot zusätzlich den Rang von „zwingendem Recht“ (ius cogens i.S.v. Art. 53 WVRK)68 64 Antwort von Staatssekretär Michaelis, BT-Drs. 19/3762 vom 10. August 2018, S. 41 (Frage 54), https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/037/1903762.pdf. 65 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, „Konsequenzen der Behinderung privater Seenotrettung“, BT-Drs. 19/4164 vom 5. September 2018, S. 7 (Frage 16), http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/041/1904164.pdf. 66 Pugash, James, “The Dilemma of the Sea Refugee: Rescue without Refuge”, in: Harvard International Law Journal (HILJ) 1977, S. 577-604 (599 f). Goodwin-Gill, Guy S., “The Refugee in International Law”, Oxford, 2. Aufl. 1996, S. 138. Talmon, Stefan „Private Seenotrettung und das Völkerrecht“, in: JZ 2019, S. 802-809 (805). Blanke, Hermann-Josef / Johr, Manoël, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (935) m.w.N. in Fn. 65. Matz-Lück, Nele, Seenotrettung als völkerrechtliche Pflicht: Aktuelle Herausforderungen der Massenmigrationsbewegungen über das Mittelmeer, in: VerfBlog vom 18. August 2018. 67 Vgl. von Gadow-Stephani, Inken, „Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot “, Heidelberg: Springer 2006, S. 371, https://www.springer.com/de/book/9783540305187, die davon ausgeht, dass über die Flaggenhoheit das Refoulemenverbot auch an Bord eines Schiffes für Privatpersonen gilt. 68 Zum ius cogens i.S.v. Art. 53 WVRK zählen wenige Rechtssätze des allgemeinen Völkerrechts, die von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden als Normen, von denen nicht abgewichen werden darf – dazu zählen u.a. das Gewaltverbot, das Verbot des Völkermordes, elementare Grundsätze des humanitären Völkerrechts , das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder das Sklaverei- und Folterverbot. Diese Normen entfalten erga omnes-Wirkung gegenüber allen Völkerrechtssubjekten. Vgl. näher Chr. Koenig / D. König, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, München: Beck 7. Aufl. 2018, Art. 25 Rdnr. 22. Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 288 ff. Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties. A Commentary, Vol. 2, Berlin, Heidelberg : Springer 2012, Art. 53 Rdnr. 81. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 19 zuzusprechen, wie es Teile der völkerrechtlichen Literatur sowie zuletzt auch das Untersuchungsgericht von Trapani getan haben.69 Denn auch ausschließlich staatengerichtete Normen wie das zwischenstaatliche Gewaltverbot oder der Grundsatz der Staatengleichheit gehören dem ius cogens an, ohne Drittwirkung gegenüber Privaten zu entfalten. Das grundlegende Problem mit der Annahme einer Drittwirkung des Refoulementverbots liegt vielmehr darin, dass die Erfüllung dieser Verpflichtung – insbesondere auf Hoher See – gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt: Um das Vorliegen eines menschenrechtlich bedingten Rückführungsverbots feststellen zu können , müssen dem Kapitän eines Handelsschiffes die flüchtlings- bzw. migrationsrechtlich relevanten Hintergründe des Falles – darunter auch der migrations- bzw. flüchtlingsrechtliche Status der Schiffbrüchigen – bekannt sein. Für eine Anwendung des Refoulementverbots unerlässlich sind dabei Informationen zur menschenrechtlichen Situation in dem Staat, in welchen zurückgeführt werden soll. Die Sachlage mag im Fall „Libyen“ offensichtlich sein, doch erweist sich die Anwendung des Refoulementverbots auf „Fälle“ wie Tunesien oder Marokko als vergleichsweise weniger eindeutig.70 Daran zeigt sich die Schwierigkeit, eine Drittwirkung des Refoulementverbots jenseits von Einzelfällen als Rechtssatz zu etablieren und damit zwangsläufig zu verallgemeinern . Die menschenrechtliche Lage vor Ort sowie die daraus resultierende Gefährdung für die zurückgeschobenen Geflüchteten sind für Handelsschiffkapitäne auf Hoher See nicht ohne weiteres rechtlich und faktisch zu bewerten. Sie sind dafür weder zuständig noch kompetent. Belastbare Informationen werden auf die Schnelle nicht verfügbar sein. Das Refoulementverbot bindet (nur) staatliche Organe wie Ausländerbehörden oder Verwaltungsgerichte, denn nur sie sind im Rahmen eines geordneten Verfahrens, das auf Hoher See an Bord eines Handelsschiffes nicht durchzuführen ist, in der Lage, die relevanten Informationen einzuholen, zu verifizieren und zu bewerten . Abgesehen davon würde eine Drittwirkung des Refoulementverbots die Frage aufwerfen, welche Rechtsfolgen ein Verstoß des einzelnen gegen das Verbot nach sich zieht, welche Haftung gegenüber den zurückgeführten Geflüchteten damit verbunden ist und welche Möglichkeit für den einzelnen besteht, sich zu exkulpieren. 69 Blanke, Hermann-Josef / Johr, Manoël, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (935) m.w.N. in Fn. 59. Tribunale de Trapani – Ufficio del giudice per le indagini preliminari, Entscheidung vom 23. Mai 2019, S. 37: “(…) il principio di non-refoulement ha ormai assunto rango consuetuniario e cogente”. 70 Vgl. zur Analyse einzelner nordafrikanischer Staaten Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 18-31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 20 Noch gibt es keine gefestigte Rechtsprechung eines internationalen Gerichts, das die Drittwirkung des Refoulementverbots „praxistauglich“ konturiert. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten . Womöglich zielt die Frage nach der Drittwirkung des Refoulementverbots in die falsche Richtung .71 Denn verantwortlich für das rechtliche „Dilemma“ ist allein der Staat. Geht man davon aus, dass das Refoulementverbot allein von staatlichen Behörden zu beachten ist, so stellt sich doch eher die Frage, ob Staaten es überhaupt zulassen oder gar gesetzlich anordnen dürfen, dass private Retter etwas tun (müssen), was ihnen selbst völkerrechtlich verwehrt ist. Gem. Art. 94 Abs. 4 des SRÜ ist der Flaggenstaat völkerrechtlich verpflichtet, durch nationale Gesetzgebung oder anderweitig sicherzustellen, „dass der Kapitän (…) mit den anwendbaren internationalen Vorschriften zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (…) vollständig vertraut und verpflichtet ist, sie zu beachten.“ Wie lässt sich also sicherstellen, dass Kapitäne privater Rettungsschiffe rechtlich nicht gezwungen werden, gerettete Schiffbrüchige wieder an einen Ort zu verbringen, an dem ihnen Gefahr für Leib und Leben droht? Wie lässt sich mit anderen Worten dem Refoulementverbot innerstaatlich Vorrang vor anderweitigen zuwiderlaufenden gesetzlichen Verpflichtungen verschaffen? Denkbar scheinen zwei Wege, die in der völkerrechtlichen Diskussion bislang nicht oder nur ansatzweise ausgeleuchtet wurden: Zum einen ist zu überlegen, inwieweit Staaten völker- oder verfassungsrechtlich daran gehindert sind, Regelungen zu erlassen, anzuwenden oder durchzusetzen , die im Ergebnis dazu führen, dass Kapitäne gerettete Schiffbrüchige an einen für sie gefahrvollen Ort verbringen (dazu 5.1.). Zum anderen ist zu prüfen, ob nationale Regelungen existieren , die das Verbringen von Geretteten an einen solchen Ort sanktionieren (dazu 5.2.). 5. Geltung des Refoulementverbots im nationalen Recht 5.1. Verfassungsrecht Art. 25 S. 1 GG ordnet den Vorrang des Völkergewohnheitsrechts vor einfachem nationalen Recht an. Für die deutschen Staatsorgane folgt daraus die Pflicht, die allgemeinen Völkerrechtsnormen – darunter das Refoulementverbot – zu befolgen und Verletzungen zu unterlassen.72 71 So dezidiert Anuschet Farahat / Nora Markard, „Places of Safety in the Mediterranean: The EU´s Policy of Outsourcing Responsibility“, Studie für die Böll-Stiftung, Brüssel, Februar 2020, S. 38 Fn. 215. 72 Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Köln: Heymanns, 14. Aufl. 2018, Art. 25 Rdnr. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 21 Art. 25 S. 1 GG bewirkt zudem, dass dem Grundgesetz nachrangiges Bundesrecht im Kollisionsfall verdrängt wird, bzw. – soweit möglich – völkerrechtskonform auszulegen ist.73 Die in § 2 SeeFSichV niedergelegte Pflicht, den Anweisungen eines MRCC Folge zu leisten, muss daher im Lichte des Refoulementverbots völkerrechtskonform ausgelegt werden. Ein Kapitän, der sich weigert, gerettete Schiffbrüchige – soweit im Einklang mit dem Refoulementverbot – nicht nach Libyen zurückzuführen oder an die libysche Küstenwache zu übergeben, gerät insoweit auch nicht in Konflikt mit der Befolgungspflicht aus § 2 SeeFSichV. Die SeeFSichV tritt als Bundesrecht im Konfliktfall hinter das höherrangige Völkerrecht zurück. An das Refoulementverbot gebunden ist auch die zuständige Generaldirektion „Wasserstraßen und Schifffahrt“ (GDWS) in Kiel, wenn sie die Regelungen der SeeFSichV anwendet und im Verwaltungswege durchsetzt. Ein etwaiger Bußgeldbescheid dieser Behörde – begründet mit einem Verstoß des Kapitäns gegen § 2 SeeFSichV – wäre im Ergebnis völker- und verfassungsrechtswidrig . 5.2. Nationales Strafrecht In den Blick geraten weiter (strafrechtliche) Regelungen, die das Refoulementverbot gewissermaßen ins nationale Recht „übersetzen“.74 §221 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) bestraft die sog. „Aussetzung“ und lautet: „Wer einen Menschen in eine hilflose Lage versetzt oder in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Voraussetzung der Strafbarkeit ist, dass das Opfer Gefahren für Leib oder Leben in einer bestimmten Lage hilflos ausgeliefert ist – mit anderen Worten wenn es sich gegen die Gefahr nicht mehr selbst zu schützen vermag.75 Das Tatbestandsmerkmal des „Versetzens“ (früher: „Aussetzen “) erfordert eine irgendwie geartete Veränderung der Außenwelt im Sinne einer Verschlechterung oder Intensivierung der (Gefahren-)Situation des Opfers, die auf das Verhalten des Täters zurückzuführen sein muss.76 73 Ebda., Art. 25 Rdnr. 17; sowie BVerfGE 23, 288 (316); BVerfGE 109, 38 (52). 74 Auf die Strafrechtsnorm weisen in diesem Zusammenhang auch Blanke/Johr, „Rechtliche Vorkehrungen für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer“, in: DÖV 2019, S. 929-940 (936), hin. 75 Krüger in: Leipziger Großkommentar zum StGB, hrsg. von Cirener/Radtke/Rissing-van Saan/Rönnau/ Schluckebier, Bd. 7, Berlin: Gruyter 2019, §221 StGB Rdnr. 10 und 14. 76 Ebda., §221 StGB Rdnr. 22. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 22 Die Übergabe von aus Seenot geretteter Schiffbrüchiger durch einen Handelsschiffkapitän an die libysche Küstenwache zwecks Rückführung der Geflüchteten nach Libyen erfüllt offensichtlich die genannten Tatbestandsmerkmale einer Aussetzung nach §221 StGB. Als Vorsatz (= subjektiver Tatbestand) ausreichend ist die Kenntnis der gefahrbegründenden Umstände.77 Auch dies ist einem extremen Fall wie „Libyen“ anzunehmen. Die „Aussetzung“ erfolgt stets gegen bzw. ohne den Willen des Opfers. Die geretteten Schiffbrüchigen können also gegen ihre drohende Aussetzung – also gegen die Rückführung nach Libyen – (auch gewaltsam) Notwehr i.S.v. §32 StGB üben.78 Davon ist das italienische Untersuchungsgericht im eingangs erwähnten Fall Thalassa ausgegangen. 6. Fazit Seenotrettungsoperationen im Mittelmeer erfolgen innerhalb eines vielschichtigen Rechtsrahmens aus nationalen und völkerrechtlichen Regelungen, die zum Teil nur begrenzte Regelungsund Steuerungskraft entfalten. Das Seevölkerrecht regelt im Rahmen der SAR-Konvention von 1979 die Koordination der Seenotrettung auf Hoher See. Das Funktionieren des SAR-Systems ist dabei aber nicht nur auf das Engagement und die Unterstützung durch private Seenotretter und Handelsschiffe,79 sondern in allererster Linie auf die (regelkonforme) Mitwirkung der Vertragsstaaten und ihrer Küstenwachen angewiesen. Das SAR-System lebt damit von Voraussetzungen, die es selbst rechtlich nicht garantieren kann. Problematisch erweisen sich insoweit menschenrechtliche „Defizite“ eines SAR-Mitgliedstaats wie Libyen, der durch sog. pull-back-Operationen geflüchtete Schiffbrüchige ins eigene Land zurückführt, wo ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Soweit sich diese Operationen außerhalb der Zuständigkeit des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs oder des Internationalen Seegerichtshofs bewegen,80 erweist sich eine gerichtliche Überprüfung als schwierig. 77 Ebda., §221 StGB Rdnr. 71; BGHSt 19, 352; BGHSt 36, 1 (15). 78 §32 StGB lautet: „(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“ 79 In der „Bekanntmachung der IMO-Entschließung MSC.167(78) des Schiffssicherheitsausschusses über die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen“, VkBl. 2/2009 Nr. 17, S. 64 vom 16. Dezember 2008 heißt es in Ziff. 5.1. „Such- und Rettungsdienste in der ganzen Welt sind von Schiffen auf See abhängig, die in Seenot befindlichen Personen Hilfe leisten. Es ist unmöglich, Such- und Rettungsdienste zu organisieren, die gänzlich von eigens dafür vorgesehenen landgestützten Rettungseinheiten abhängen, um rechtzeitig allen in Seenot geratenen Personen Hilfe leisten zu können.“ 80 Libyen ist weder Vertragsstaat der EMRK noch des VN-Seerechtsübereinkommens. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 014/20 Seite 23 Das Seevölkerrecht kann – wenn überhaupt – solche „Schwachstellen“ im SAR-System nur im Ansatz rechtlich einhegen oder gar beseitigen. Die völkerrechtlich unverbindlichen Resolutionen und Richtlinien der Internationalen Schifffahrtsorganisation (IMO) entfalten dabei nur eine begrenzte Steuerungskraft – zumal sie sich regelmäßig nur an die Vertragsstaaten der einschlägigen seerechtlichen Konventionen (SAR- bzw. SOLAS-Übereinkommen) und nicht an private Seenotretter oder Handelsschiffkapitäne richten. Aus deren Sicht führen pull-back-Operationen der libyschen Küstenwache und die damit verbundene Rückführung der Geflüchteten nach Libyen angesichts der Verpflichtung, den Anweisungen der libyschen Seenotrettungsleitstelle Folge zu leisten, zu einem ethischen und rechtlichen Dilemma, welches das Seevölkerrecht rechtlich nicht befriedigend aufzulösen vermag. Sobald pull-back-Operationen der Libyer einen rechtlichen Anknüpfungspunkt zum Handeln staatlicher oder nicht-staatlicher Akteure aufweisen, die der deutschen bzw. der EMRK- Rechtsordnung unterliegen, ist deren Handeln auch an menschenrechtlichen Parametern zu messen. Das Seevölkerrecht – insbesondere das SAR-System – wird dabei durch menschenrechtliche Postulate wie z.B. das gewohnheitsrechtlich geltende Refoulementverbot ergänzt und überlagert . Bei extraterritorialer Anwendung dieses Grundsatzes auf Hoher See lassen sich push-back- Operationen von EMRK-Mitgliedstaaten in Staaten, wo die Gefahr von Folter und unmenschlicher Behandlung besteht, rechtlich einhegen. Denkbar ist es, auch die Tätigkeit der europäischen Seenotrettungsleitstellen (MRCC) dem EMRK-Regime zu unterwerfen. Doch entfaltet das Refoulementverbot weder eine Drittwirkung für die private Seefahrt, noch gilt es für pull-back- Operationen von Staaten, die Schiffbrüchige ins eigene Land zurückführen. Das Refoulementverbot muss jedoch gem. Art. 25 GG als höherrangiges Recht von den deutschen Schifffahrtsbehörden beachtet werden, die für die Anwendung und Durchsetzung der SeeFSichV (z.B. mittels eines Bußgeldbescheids) zuständig sind. Damit relativiert sich die in § 2 SeeFSichV normierte Verpflichtung privater Seenotretter, den Anweisungen eines libyschen MRCC Folge zu leisten, wenn damit unweigerlich die Rückführung der Geretteten nach Libyen und somit ein Verstoß gegen das Refoulementverbot verbunden ist. Durch die Mitwirkung an pull-back-Operationen können sich private Seenotretter und Handelsschiffkapitäne möglicherweise wegen „Aussetzung“ nach § 221 StGB strafbar machen – eine Norm, die dem Gedanken des Refoulementverbots nicht nur im nationalen Recht Geltung verschafft , sondern vor allem das Handeln Privater steuern will. „Grauzonen“ oder rechtliche „Dilemmata“ dürfen das Engagement privater Rettungsschiffe, auf die das völkerrechtliche SAR-System angewiesen ist, nicht beeinträchtigen oder lähmen. Dem Gesetzgeber ist insoweit aufgegeben, den unter deutscher Flagge fahrenden Schiffen größtmögliche Handlungs- und Rechtssicherheit zu verschaffen. ***