Deutscher Bundestag Zur Vereinbarkeit von Verboten des Minarettbaus sowie des religiös motivierten Tragens von Kopftüchern und Burkas mit internationalen Menschenrechten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 - 014/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 2 Zur Vereinbarkeit von Verboten des Minarettbaus sowie des religiös motivierten Tragens von Kopftüchern und Burkas mit internationalen Menschenrechten Aktenzeichen: WD 2 – 3000 - 014/10 Abschluss der Arbeit: 16. April 2010 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Religionsfreiheit im internationalen Menschenrechtsschutz 4 3. Minarettverbot 5 4. Religiös motivierte Bekleidung 6 4.1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 6 4.1.1. Kopftuch einer Grundschullehrerin: Dahlab gegen die Schweiz 7 4.1.2. Kopftuch an staatlichen Universitäten: Leyla Şahin gegen die Türkei 7 4.1.3. Kopftuch in der Schule und im Sportunterricht: Dogru gegen Frankreich 8 4.1.4. Tragen religiöser Kleidung im öffentlichen Raum: Arslan u.a. gegen die Türkei 9 4.1.5. Kerngehalte der bisherigen Rechtsprechung 9 4.1.6. Burkaverbote 10 4.2. Praxis des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 4 1. Einleitung Nach der erfolgreichen schweizerischen Volksinitiative für ein Minarettverbot und die Diskussionen in Frankreich über ein Verbot der Burka im öffentlichen Raum ist auch die Frage nach der Vereinbarkeit solcher Regelungen mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verstärkt Gegenstand der Aufmerksamkeit. Da die Gewährleistungen der internationalen Menschenrechtsverträge strukturell nicht über den Gehalt der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG hinausgehen, wird im Folgenden insbesondere darauf eingegangen, inwieweit die hier angesprochenen Fragen Gegenstand von Verfahren vor den für ihre Auslegung zuständigen Organen waren oder die internationalen Gewährleistungen in den entsprechenden nationalen Diskussionen Bedeutung erlangt haben. In prozessualer Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass auch das gerichtsförmige Kontrollsystem EMRK keine Normenkontrolle kennt. Beschwerdebefugt im Rahmen der Individualbeschwerde sind daher nur Personen, die behaupten, selbst in einem der Rechte aus der EMRK oder ihrer Protokolle verletzt zu sein. Solche Beschwerden sind regelmäßig nur zulässig, wenn der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft wurde. Insofern bliebe bei jeder mittelbaren Überprüfung einer gesetzlichen Regelung des Minarettbaus oder von Bekleidungsvorschriften die Anwendung in der Praxis von erheblicher Bedeutung für die Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit der EMRK. Gerade wenn keine Totalverbote in Rede stehen, sind mögliche Regelungen zudem im Einzelfall zu würdigen . Die folgenden Ausführungen können demgegenüber nur auf grundsätzliche Gesichtspunkte , die für die Frage der Vereinbarkeit mit den internationalen menschenrechtlichen Gewährleistungen eine Rolle spielen, eingehen. 2. Religionsfreiheit im internationalen Menschenrechtsschutz Art. 9 EMRK schützt unter anderem die Religionsfreiheit. Diese umfasst auch die Ausübungsfreiheit , wobei vier Formen ausdrücklich erwähnt werden: Gottesdienst, Unterricht, Praktizieren von Bräuchen und von Riten. Eine Beschränkung der Religionsfreiheit ist insofern gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, einen in der in Art. 9 Abs. 2 EMRK vorgesehen Zwecke verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist. Als legitime Eingriffzwecke werden die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Moral sowie die Recht anderer genannt . Dies umfasst insbesondere das Ziel, der Wahrung des Religionsfriedens in einem Staat.1 Die Religionsfreiheit wird auch durch Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) geschützt. Sie darf eingeschränkt werden, soweit dies zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und –freiheiten 1 R. Zimmermann, Zur Minarettsverbotsinitiative in der Schweiz, ZaöRV 69 (2009), 829, 845. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 5 anderer erforderlich ist (Art. 18 Abs. 3 IPbpR). Der Schutzgehalt von Art. 18 IPbpR entspricht insoweit inhaltlich den Gewährleistungen von Art. 9 EMRK.2 3. Minarettverbot Der Gerichtshof hat sich soweit ersichtlich bisher nur vereinzelt mit baurechtlichen Fragen der Religionsfreiheit befasst. Allerdings lässt sich aus der Entscheidung Manoussakis gegen Griechenland 3 ableiten, dass die Religionsfreiheit grundsätzlich auch das Recht umfasst, sich Räumlichkeiten zur Ausübung der Religion einzurichten.4 Aus der Entscheidung Johannische Kirche u. Peters gegen Deutschland ergibt sich, dass bauplanungsrechtliche Vorschriften grundsätzlich zur Beschränkung der Religionsfreiheit dienen können.5 Ein Minarettbauverbot stellt nach überwiegender Ansicht in der völkerrechtlichen Literatur einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit dar.6 Dagegen wird insbesondere in der politischen Diskussion eingewandt, dass ein Minarett nicht zu den zentralen Glaubensinhalten des Islam gehöre, was sich insbesondere daran zeige, dass es zahlreiche Moscheen ohne Minarette gäbe. Allerdings ist in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt, dass die Religionsgemeinschaft selbst darüber befinden kann, welche Verhaltensweisen Bestandteil der eigenen Religion sind.7 Selbst wenn einige Strömungen des Islam ein Minarett für entbehrlich hielten, soll dies nach der überwiegenden Ansicht nicht zu einer Verkürzung des Schutzbereichs führen.8 So hat auch der schweizerische Bundesrat in seiner Stellungnahme zur Volksinitiative für ein Minarettverbot ebenfalls angenommen, dass diese in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK eingreift.9 Zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit wird in der politischen Diskussion angeführt , das Minarettbauverbot diene dem Schutz des religiösen Friedens. Dahinter liegt die Annahme , dass Minarette politische Machtansprüche symbolisierten. In der völkerrechtlichen Literatur wird ein Totalverbot von Minaretten demgegenüber ganz überwiegend jedenfalls als unver- 2 Zimmermann (Anm. 1), 850 f.; Schweizerischer Bundesrat, Botschaft zur Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ vom 27.08.2008, 08.061, S. 7640 f. 3 EGMR, Urteil vom 26.09.1996, Manoussakis ./. Griechenland, Nr. 18748/91. 4 Zimmermann (Anm. 1), 837 f. 5 EGMR, Entscheidung vom 10.07.2001, Johannische Kirche u. Peters ./. Deutschland, Nr. 41754/98. 6 Zimmermann (Anm. 1), 844; vgl. auch D. Thürer, zitiert in NZZ v. 01.12.2009. 7 EGMR, Urteil vom 13.02.2003, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. ./. Türkei, Nr. 41340/98. § 91 mit weiteren Nachweisen. 8 Zimmermann (Anm. 1), 843 f. 9 Schweizerischer Bundesrat, Botschaft zur Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ vom 27.08.2008, 08.061, S. 7631. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 6 hältnismäßig angesehen. Selbst wenn man das Ziel, den Religionsfrieden zu sichern, im Grundsatz als gegeben ansehen wollte, könnte dies durch Regelungen erreicht werden, die weniger stark in die Religionsfreiheit eingreifen. Weiterhin dürfte die Rechtfertigung eines ausnahmslosen Verbots von Minaretten zweifelhaft sein, da sich anführen ließe, dass sie in ihrer Wirkung nicht neutral ist.10 Das Gebot der Neutralität bei der Wahrung des Religionsfriedens leitet der Gerichtshof schon aus der Religionsfreiheit selbst ab.11 Darüber hinaus wird im völkerrechtlichen Schrifttum ganz überwiegend angenommen, dass ein Minarettbauverbot das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 9 EMRK verletzt.12 Dabei wird angenommen, dass ein Minarettbauverbot in zweifacher Hinsicht eine Diskriminierung darstelle. Zum einen liegt eine Benachteiligung gegenüber anderen Religionen vor. Zum anderen werden islamische Gruppen, die ein Minarett als notwendigen Teil ihrer Religionsausübung ansehen, gegen über solchen Strömungen des Islam benachteiligt, die dies nicht tun. Letzteres sei insbesondere unter dem Aspekt problematisch, dass Strömungen, die auf ein Minarett verzichten würden, ansonsten intoleranter eingestellt sein könnten und den Religionsfrieden damit im Ergebnis stärker gefährden. 4. Religiös motivierte Bekleidung Im Folgenden sollen insbesondere Bekleidungsvorschriften untersucht werden, die zwei Formen von Bekleidung betreffen, für die eine religiöse Motivation angeführt wird. Dies sind zum einen das Kopftuch, zum anderen die sogenannte Burka. Da nur zu Regelungen, die das Tragen von Kopftüchern betreffen, eine umfänglichere Rechtsprechungspraxis vorliegt, wird auf diesen Aspekt zunächst eingegangen. 4.1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in jüngerer Zeit insbesondere in vier Leitentscheidungen mit Bekleidungsvorschriften beschäftigt. Diese betrafen insbesondere Verbote des Tragens von Kopftüchern an staatlichen Bildungseinrichtungen. Zuletzt hatte eine Kammer des Gerichtshofs über die Anwendung von Bekleidungsvorschriften außerhalb von staatlichen Einrichtungen zu entscheiden. Diese Entscheidung ist noch nicht endgültig. 10 Zum Ganzen Zimmermann (Anm. 1), 847 f.; Schweizerischer Bundesrat (Anm. 9), 7633. 11 C. Walter, Kap. 17 – Religions- und Gewissensfreiheit, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar EMRK/GG, Rn. 134 f. 12 Zimmermann (Anm. 1), 848 f.; Schweizerischer Bundesrat (Anm. 9), 7638 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 7 4.1.1. Kopftuch einer Grundschullehrerin: Dahlab gegen die Schweiz In dem Verfahren Dahlab gegen die Schweiz entschied der Gerichtshof, dass die Religionsfreiheit einer Regelung nicht entgegen stehe, die Lehrerinnen an staatlichen Schulen das Tragen eines Kopftuches untersagt. Der Gerichtshof hat dies damit begründet, dass ein solches Verbot durch den Schutz der Grundrechte anderer und im Schutz der öffentlichen Ordnung legitimiert sei. Den schweizerischen Behörden wird ein Einschätzungsspielraum zugestanden, der nicht überschritten worden sei. Insbesondere durften die Behörden annehmen, dass ein Kopftuch mit den Prinzipien der Toleranz und der Gleichberechtigung in Konflikt stünde. Weiterhin hat der Gerichtshof die Annahme der schweizerischen Stellen nicht beanstandet, dass von einem Kopftuch eine bekehrende Wirkung ausgehen könne. Dies gelte insbesondere, wenn es vor Kindern im Grundschulalter getragen werde.13 4.1.2. Kopftuch an staatlichen Universitäten: Leyla Şahin gegen die Türkei In der Leitentscheidung im Verfahren Leyla Şahin gegen die Türkei hat die Große Kammer des Gerichtshofs entschieden, dass die Regelungen an staatlichen türkischen Universitäten, die das Tragen von Kopftüchern auf dem Universitätsgelände und in Lehrveranstaltungen verbieten, im Einklang mit der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) stehen.14 Die Große Kammer bestätigt damit die einstimmige Kammerentscheidung aus dem Jahr 2004.15 Insbesondere verweist der Gerichtshof darauf, dass sich der Umgang mit religiösen Bekleidungsvorschriften in Europa in erheblichem Maße unterscheide. Da zum Verhältnis von Kirche und Staat in einer demokratischen Gesellschaft in hohem Maße unterschiedliche, aber dennoch vernünftige Ansichten vertreten werden könnten, sei die Entscheidung der jeweiligen nationalen Stellen in besonderem Maße zu respektieren. Daher bestehe ein weiter Spielraum der nationalen Stellen.16 Dieser sei im vorliegenden Fall nicht überschritten.17 Auch im europäischen Vergleich finden sich Beispiele dafür, dass das Bestreben, Schüler vor äußerem Druck durch im Vergleich zur Hauptströmung einer Religion extremere Bekleidungsvorschriften zu schützen, als legitimes Ziel anerkannt wird.18 13 EGMR, Urteil vom 15.02.2001, Nr. 42393/98. 14 EGMR (GK), Urteil vom 10.11.2005, Leyla Şahin ./. Türkei, Nr. 44774/98. 15 EGMR, Urteil vom 29.06.2004, Leyla Şahin ./. Türkei, Nr. 44774/98. 16 EGMR (GK), Leyla Şahin ./. Türkei (Anm. 14), § 109. 17 Zur Legitimität des Ziels § 112 ff; zur Verhältnismäßigkeit § 117 ff. 18 A. v. Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa, 2008, S. 300. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 8 Die Entscheidung ist mit Blick auf Art. 9 EMRK mit 16 zu 1 Stimmen, im Hinblick auf Art. 14 EMRK einstimmig ergangen. Der Entscheidung beigefügt ist eine abweichende Meinung des Richters Tulkens, der insbesondere die Zubilligung eines weiten Beurteilungsspielraums für die nationalen Stellen im konkreten Fall kritisiert. 4.1.3. Kopftuch in der Schule und im Sportunterricht: Dogru gegen Frankreich In der Entscheidung Dogru gegen Frankreich19 hat der EGMR entschieden, dass ein Verbot, während des Sportunterrichts ein Kopftuch zu tragen, insbesondere nicht gegen die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) verstößt. In allgemeiner Form verweist der Gerichtshof auf seine bisherige Rechtsprechung zum Umgang mit religiös motivierten Bekleidungsformen. Als Rechtfertigungsgründe werden sowohl die Sicherheit der betroffenen Person als auch die der Allgemeinheit genannt. Ausführlich wird zudem wiederum auf den Gedanken der Toleranz und des friedliches Zusammenlebens der Religionen eingegangen. Dies unterstreicht, dass der Gerichtshof diese Argumentation nicht auf die speziellen Umstände in der Türkei beschränkt sieht. Auf den konkreten Fall bezogen hat der Gerichthof zudem festgestellt, dass die Annahme französischen Behörden, das Tragen eines Kopftuches während des Sportunterrichts müsse aus Gründen der Gesundheit und Sicherheit verboten werden, nicht irrational sei. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es sich nicht um ein allgemeines Kopftuchverbot, sondern um eine funktional beschränkte Regelung handele. Der Ausschluss der Schülerin sei weiterhin nicht auf ihre religiösen Überzeugungen zurückzuführen, sondern das Resultat des Verstoßes gegen die Schulregeln, über die sie ordnungsgemäß informiert gewesen sei.20 Zudem lehnt der Gerichthof es ab, die Disziplinarmaßnahmen , die zur Durchsetzung der Schulregeln ergriffen worden sind, im Einzelnen zu überprüfen. Dies sei Sache der fachlich zuständigen Stellen vor Ort.21 Diese Rechtsprechung ist zuletzt in einer Entscheidung, in der eine Reihe von Beschwerden für offensichtlich unbegründet und damit unzulässig erklärt wurden, bestätigt worden.22 Die Entscheidung betraf das französische Gesetz vom 15. März 2004, das das Tragen von religiösen Kleidungsstücken in staatlichen Schulen und Universitäten allgemein verboten hat.23 Insofern kommen die im Urteil Dogru gegen Frankreich angeführten Rechtfertigungsgründe, die über die spezielle Situation des Sportunterrichts hinausweisen, zum Tragen. 19 EGMR, Entscheidung vom 4. Dezember 2008, Nr. 27058/05. 20 EGMR, Dogru ./. Frankreich (Anm. 19), § 73. 21 EGMR, Dogru ./. Frankreich (Anm. 19), § 75. 22 EGMR, Entscheidung vom 30.06.2009, 43563/08 u.a., Aktas./.Frankreich u.a. 23 Zu diesem Gesetz v. Ungern-Sternberg (Anm. 18), S. 126 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 9 4.1.4. Tragen religiöser Kleidung im öffentlichen Raum: Arslan u.a. gegen die Türkei Das Verfahren Ahmet Arslan u.a. gegen die Türkei24 hatte die strafrechtliche Verurteilung von Mitgliedern einer religiösen Gruppe in der Türkei zum Gegenstand, die vor einem Gericht entsprechend den Bekleidungsvorschriften ihrer Gruppe aufgetreten waren und somit als Angehörige dieser Gruppe erkennbar waren. Darin lag nach Auffassung der türkischen Gerichte ein Verstoß gegen Regelungen, die das Tragen religiöser Kleidung in der Öffentlichkeit außer im Kontext von religiösen Veranstaltungen untersagen. Der Gerichtshof unterstrich zwar, dass das Prinzip des Laizismus und der staatlichen Neutralität grundsätzlich ein legitimer Grund für die Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt. In diesem Einzelfall sah er aber einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit, da die Gerichte das Gesetz zu mechanistisch angewandt hätten.25 Zudem verweist der Gerichtshof darauf, dass die Verurteilung nicht das Verhalten in öffentlichen Bildungsanstalten, sondern im allgemein zugänglichen öffentlichen Raum betraf. Daher solle die Rechtsprechung zum weiten Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers bei der Regelung von Bekleidungsvorschriften in öffentlichen Bildungseinrichtungen keine Anwendung finden.26 Die Ausführungen des Gerichtshofs könnte man als Indiz dafür anführen, dass bei allgemeinen Bekleidungsvorschriften die Begründungslast für den Staat und die Prüfungsdichte durch den Gerichtshof höher sind. Insbesondere entfaltet der Rechtfertigungsgrund des Prinzips des Laizismus nicht das gleiche Gewicht wie im Kontext von Bildungseinrichtungen. Hierfür ließe sich möglicherweise als Begründung anführen, dass das Verhältnis von Staat und Kirche durch allgemeine Bekleidungsvorschriften weniger berührt ist als durch Vorschriften, die religiöse Äußerungen gerade an staatlichen Einrichtungen betreffen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da die Dreimonatsfrist zur Anrufung der Großen Kammer des EGMR noch nicht abgelaufen ist (vgl. Art. 44 Abs. 2 EMRK). Insoweit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Große Kammer gegebenenfalls eine andere Bewertung vornimmt, insbesondere hinsichtlich der anzulegenden Prüfungsdichte. 4.1.5. Kerngehalte der bisherigen Rechtsprechung Der Gerichthof hat bisher in ständiger Rechtsprechung den Konventionsstaaten einen nicht unerheblichen Entscheidungsspielraum eingeräumt, wenn das Verhältnis von Staat und Kirche betroffen ist. Dies ist in der Literatur ganz überwiegend begrüßt worden, da der Gerichtshof in poli- 24 EGMR, Urteil vom 23.02.2010, Nr. 41135/98. 25 EGMR, Arslan u.a. ./. Türkei (Anm. 24), Rn. 46. 26 EGMR, Arslan u.a. ./. Türkei (Anm. 24), Rn. 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 10 tisch umstrittenen Fragen kaum eine Vorreiterrolle übernehmen könne.27 Insbesondere wäre er mit einer Bewertung des jeweiligen nationalen Religionsverfassungsrechts wohl überfordert.28 Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich Kopftuchverboten insbesondere im spezifischen Kontext staatlicher Bildungseinrichtungen beschäftigt. Inwieweit diese Rechtsprechung auf Fälle übertragbar ist, die Bekleidungsvorschriften in einem allgemeinen Kontext betreffen, ist noch nicht abschließend geklärt. Insoweit bleibt insbesondere abzuwarten, inwieweit sich die die Große Kammer der Begründung der Kammer im Urteil Arslan u.a. gegen die Türkei anschließt oder nicht. Gelegentlich ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs so gedeutet worden, dass die Entscheidungen zur Türkei möglicherweise eine Sondersituation beträfen.29 Dagegen ließe sich anführen, dass die die Entscheidungen zu den französischen Fällen zeigen, dass der weite Beurteilungsspielraum generell zu einer stark zurückgenommenen Prüfungsdichte führt.30 Dies würde in aller Regel dazu führen, dass gegen Beschränkungen, die mit Art. 4 GG vereinbar sind, auch von Seiten der EMRK nichts zu erinnern ist. 4.1.6. Burkaverbote Bekleidungsvorschriften, die das Tragen einer Burka verbieten, waren soweit ersichtlich noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des EGMR. Allerdings wird man jedenfalls annehmen dürfen , dass in den Konstellationen, in denen ein Kopftuchverbot mit der EMRK in Einklang steht, auch ein Burkaverbot möglich ist. Insofern ließe sich anführen, dass im Vergleich zu einem Kopftuch von einer Burka sogar eine erheblich stärkere Symbolwirkung ausgehen kann. Darüber hinaus lassen sich zur Rechtfertigung eines Burkaverbots weitere Gründe anführen. So mag in bestimmten Situationen die Identifizierung einer Person, die von einer Burka verhüllt wird, nicht möglich sein. Dies ließe sich zum Beispiel als Begründung für ein Burkaverbot mit Blick auf staatliche Behörden verwenden. Auch Sicherheitsinteressen können insoweit für ein abstrakt formuliertes, grundsätzliches Vermummungsverbot in bestimmten öffentlichen Räumen sprechen. So hat der EGMR entschieden, dass Sikhs bei einer Sicherheitskontrolle am Flughafen auch ihren Turban ablegen müssen.31 Vergleichbares gilt für Sicherheitskontrollen an anderen besonders gefährdeten Orten, wie zum Beispiel Konsultaten.32 Sicherheitsvorschriften, die als 27 C. Walter, Kap. 17 – Religions- und Gewissensfreiheit, in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK/GG, 2006, Rn. 114. 28 A. Weber, Anmerkung, DVBl. 2006, 174. 29 K. Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, EuGRZ 2005, 12, 16. 30 In diese Richtung v. Ungern-Sternberg (Anm. 18), 128 f. 31 EGMR, Phull ./. Frankreich, Entscheidung vom 11.01.2005, Nr. 357/03. 32 EGMR, El Morsli ./. France, 04.03.2008, Nr. 15585/06. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 11 Vermummungsverbot ausgestaltet sind, enthalten daher mittelbar auch ein Burkaverbot. In diesem Sinne hat auch der französische Staatsrat in seinem Gutachten darauf hingewiesen, dass mittelbare Burkaverbote mit der EMRK in Einklang stehen könnten.33 Zudem dürfte sich anführen lassen, dass eine Burka einer kommunikativen Lernatmosphäre entgegensteht , so dass der in den Schulgesetzen der Länder niedergelegten Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht erfüllt werden könnte. Daraus folgt, dass sich ein Burkaverbot auch für Schülerinnen bzw. Studentinnen begründen lässt, wenn man einem Kopftuchverbot skeptisch gegenübersteht .34 Der französische Staatsrat (Conseil d’Etat) hat kürzlich in einem Gutachten angenommen, dass die Vereinbarkeit eines umfassenden Verbots des Tragens einer Burka im öffentlichen Raum mit der EMRK zweifelhaft sei.35 Dies könne insbesondere nicht auf den Grundsatz des Laizismus gestützt werden.36 Dabei verweist er auf das kürzlich ergangene Urteil im Verfahren Arslan u.a. gegen die Türkei. 4.2. Praxis des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen Der unter dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte eingesetzte Menschenrechtsausschuss hat sich soweit ersichtlich bisher lediglich in einem Individualbeschwerdeverfahren mit religiös motivierten Bekleidungsregeln beschäftigt. Der Menschenrechtsausschuss kann anders als ein Gericht keine verbindlichen Entscheidungen treffen, sondern nur eine unverbindliche Entschließung über seine Rechtsansicht annehmen. In einem Verfahren gegen Usbekistan stellte der Menschenrechtsausschuss mehrheitlich fest, dass der Ausschluss einer ein Kopftuch tragenden Studentin von der Universität die Religionsfreiheit nach Art. 18 IPbpR verletze. Begründet wurde dies insbesondere damit, dass der betroffene Vertragsstaat keine spezifischen Rechtfertigungsgründe vorgetragen habe.37 Dies ließe sich dagegen anführen, aus der Empfehlung Rückschlüsse über die allgemeine (Un-)zulässigkeit von Vorschriften abzuleiten, die das Tragen religiös konnotierter Bekleidung beschränken. Zudem scheint nicht geklärt worden, ob das Tragen eines einfachen Kopftuchs oder auch eines Ge- 33 Conseil d’Etat, Etude relative aux possibilités juridiques d’interdiction du port du voile intégral, 25.03.2010, verfügbar unter (16.04.2010) , S. 30 ff. 34 G. Britz, Das verfassungsrechtliche Dilemma doppelter Fremdheit: Islamische Bekleidungsvorschriften für Frauen und Grundgesetz, Kritische Justiz 2003, S. 95, 97, Fn. 15. 35 Conseil d’Etat (Anm. 33). 36 Conseil d’Etat (Anm. 33), S. 17 f. 37 Human Rights Committee, Rechtsansicht vom 5. November 2004, Hudoyberganova ./. Usbekistan, Mitteilung Nr. 931/2000, UN Dok. CCPR/C/82/D/931/2000, Punkt 6.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 014/10 Seite 12 sichtsschleiers Gegenstand des Verfahrens war. So hat ein Ausschussmitglied darauf hingewiesen , dass jedenfalls das Verbot eines Gesichtsschleiers zulässig sein kann, wenn damit eine kommunikative pädagogische Atmosphäre geschützt werden soll.38 38 Human Rights Committee (Anm. 37), Individual Opinion of R. Wedgwood.