Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen zum ISAF-Einsatz in Afghanistan - Ergänzung zu WD 2-240/06 - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 2 – 014/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser: Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen zum ISAF-Einsatz in Afghanistan – Ergänzung zu WD 2-240/06 Ausarbeitung Abschluss der Arbeit: 17.01.2007 Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Internationales Recht, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Die Aufgaben der ISAF 4 3. Die Tätigkeit von ISAF und ihre Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Afghanistan 5 3.1. Die gegenwärtigen Tätigkeitsfelder von ISAF 5 3.2. Die bisherigen Erfolge nach Regierungseinschätzung 6 3.3. Die Sicherheitslage in Afghanistan 6 4. Rechtliche Schlussfolgerungen 7 4.1. Die Vereinbarkeit des ISAF-Einsatzes mit den Resolutionen des Sicherheitsrates 7 4.2. Die Vereinbarkeit des ISAF-Einsatzes mit deutschem Verfassungsrecht 7 - 4 - 1. Einleitung Die folgende Ausarbeitung geht ergänzend zu den Ausführungen in WD 2-240/06 auf die Frage ein, ob sich der ISAF-Einsatz der NATO vor dem Hintergrund der aktuellen inneren und äußeren Sicherheitslage in Afghanistan im Rahmen der einschlägigen Resolutionen der Vereinten Nationen bewegt bzw. den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Urteil vom 22. November 2001 entspricht. Zur Beantwortung dieser Frage wird im folgenden zunächst noch einmal auf die Aufgabenbeschreibung des ISAF-Einsatzes durch die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und – in Bezug auf die Bundeswehr – durch die Beschlüsse des Deutschen Bundestags eingegangen (unter 2.). Anschließend wird die tatsächliche Ausführung des Mandats durch die ISAF-Kräfte vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan dargestellt (unter 3.). Zum Abschluss erfolgt die rechtliche Prüfung der eingangs gestellten Fragen (unter 4.). 2. Die Aufgaben der ISAF Nach der Resolution 1510 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 13. Oktober 2003 ist es die Aufgabe des ISAF-Einsatzes „… to support the Afghan Transitional Authority and its successors in the maintenance of security in areas of Afghanistan outside of Kabul and its environs , so that the Afghan Authorities as well as the personnel of the United Nations and other international civilian personnel engaged, in particular, in reconstruction and humanitarian efforts, can operate in a secure environment, and to provide security assistance for the performance of other tasks in support of the Bonn Agreement." Bestätigt wurde dieser Auftrag unter anderem durch die Resolution 1707 des Sicherheitsrates vom 12. September 2006. In dieser Resolution wurde, wie schon in den vorausgegangenen einschlägigen Resolutionen, auf die Bemühungen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus Bezug genommen und die Situation in Afghanistan als „threat to international peace and security“ eingeschätzt. In ihrem Antrag vom 13. September 2006 zur Fortsetzung der militärischen Beteiligung der Bundeswehr am ISAF-Einsatz der NATO führt die Bundesregierung aus: „Der ISAF-Einsatz hat unverändert das Ziel, Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen und anderes internationales Zi- - 5 - vilpersonal, insbesondere solches, das dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgeht, in einem sicheren Umfeld arbeiten können.“1 3. Die Tätigkeit von ISAF und ihre Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Afghanistan 3.1. Die gegenwärtigen Tätigkeitsfelder der ISAF-Einsatzkräfte Nach Angaben der NATO nehmen die ISAF-Kräfte zur Zeit folgende konkrete Aufgaben wahr2: Durch ständige Patrouillenfahrten durch das gesamte Gebiet Afghanistans möchte die ISAF in deutlich wahrnehmbarer Weise Präsenz zeigen. So werden pro Woche nach Angaben der NATO ungefähr 600 Patrouillenfahrten durchgeführt , ca. 100 davon gemeinsam mit der afghanischen Nationalpolizei und der afghanischen Nationalarmee. Im Rahmen des ISAF-Mandats wurden die so genannten „Provincial Reconstruction Teams“ (PRTs) aufgestellt. Dabei handelt es sich um kleine Teams, die sowohl aus militärischem wie auch aus zivilem Personal bestehen und die in den einzelnen Provinzen Afghanistans die Sicherheit der internationalen Hilfsgruppen bei ihrer Arbeit vor Ort gewährleisten und diese bei ihrer konkreten Arbeit unterstützen sollen. Innerhalb von ISAF erfolgt die Ausbildung von Mitgliedern der afghanischen Nationalpolizei und der Nationalarmee. Besonderes Augenmerk wird hier auf die Ausbildung von afghanischen Offizieren gelegt, um diese zu befähigen, in Zukunft eigenverantwortlich afghanische Sicherheitskräfte auszubilden. Die ISAF unterstützt die afghanische Regierung bei der Beseitigung der militärischen Hinterlassenschaften vergangener Kriege. Dazu gehören das Aufspüren , Einsammeln und Verwahren von schwerem Kriegsgerät ebenso wie die Demobilisierung der ehemals Kriegsbeteiligten und der Angehörigen bewaffneter , illegaler Gruppen. Zusätzlich beteiligt sich die ISAF an der Suche nach und Zerstörung von „Blindgängern“. Die ISAF kontrolliert den Internationalen Flughafen von Kabul, die wichtigste Verkehrsverbindung Afghanistans in den internationalen Raum. 1 Antrag der Bundesregierung vom 13.09.2006, BT/Drs. 16/2573, S. 1. 2 Die Aufgabenwahrnehmung ist entnommen der aktualisierten Internetrepräsentanz der NATO (Stand: 17. Januar 2007): http://www.nato.int/issues/isaf/in_practice.htm. - 6 - ISAF-Truppen haben die afghanischen Behörden bei der Sicherung verschiedener politischer Großereignisse unterstützt, so etwa bei den Sitzungen der Loya Jirga vom 14. Dezember 2003 bis zum 4. Januar 2004, bei der Präsidentenwahl im Oktober 2004 und beim Zusammentritt der Nationalversammlung und des Rates der Provinzen im Jahr 2005. 3.2. Die bisherigen Erfolge der ISAF-Mission Die Wahrnehmung der durch die Resolutionen des Sicherheitsrates übertragenen Aufgaben durch die ISAF-Staaten hat nach Einschätzung der Bundesregierung, die sie in ihrem Antrag vom 13. September 2006 zur Fortsetzung des militärischen Engagements der Bundeswehr in Afghanistan zum Ausdruck gebracht hat, bereits zu Erfolgen geführt . So sei es der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan insgesamt gelungen, eine auf demokratischen Grundsätzen basierende politische Ordnung zu etablieren und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass das Land nicht erneut zu einem sicheren Hafen für internationale Terroristen wird.3 Als exemplarische Erfolge des ISAF- Einsatzes werden der Zusammentritt des afghanischen Parlaments zu seiner konstituierenden Sitzung am 19. Dezember 2005 und die Verabschiedung des „Afghanistan Compact“ im Rahmen der Afghanistan-Konferenz am 31. Januar 2006 genannt. 3.3. Die Sicherheitslage in Afghanistan Eine sachlich fundierte eigenständige Lageeinschätzung in Afghanistan ist durch die Wissenschaftlichen Dienste nicht zu leisten. Im Folgenden wird die Einschätzung der Bundesregierung zugrunde gelegt. Nach dieser Einschätzung ist die Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere im Süden und Osten des Landes, als „instabil“ zu bezeichnen.4 Grund zur Sorge bereiteten neben einer signifikanten Zunahme des Drogenanbaus in Teilen des Landes vor allem die Versuche militanter Oppositionsgruppen, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und die Autorität der afghanischen Regierung herauszufordern. Die instabile Sicherheitslage bleibt aus Sicht der Bundesregierung unverändert die größte Herausforderung für die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft.5 Im Afghanistan-Konzept der Bundesregierung vom 12. September 20066 wird auch darauf hingewiesen, dass die defizitäre Sicherheitslage in Afghanistan teilweise auf kriminelle Handlungen von Personen innerhalb des afghanischen Regierungsapparates zurückzuführen sei: So seien bei der Besetzung hoher Regierungs- und regierungsnaher Ämter in den Provinzen zum Teil Personen berücksichtigt worden, „denen erhebliche Verstrickungen in kriminelle 3 Antrag der Bundesregierung vom 13.09.2006, BT/Drs. 16/2573, S. 2. 4 Antrag der Bundesregierung vom 13.09.2006, BT/Drs. 16/2573, S. 2. 5 Antrag der Bundesregierung vom 13.09.2006, BT/Drs. 16/2573, S. 2. 6 http://www.geopowers.com/Machte/Deutschland/facts_ger/Afghanistan-Konzept_2006.pdf. - 7 - Aktivitäten, insbesondere in den Drogenhandel, oder schwere Menschenrechtsverletzungen aus der Bürgerkriegszeit nachgesagt würden“ und die nicht „die Gewähr für eine unparteiliche, professionelle und gesetzeskonforme Ausübung ihres Amtes böten“.7 Auch die afghanische Regierung, so heißt es weiter, räume mittlerweile ein, dass es in ihren Reihen Korruption gebe und sie besondere Anstrengungen zu ihrer Beseitigung unternehmen müsse.8 Die Bekämpfung von Korruption und Machtmissbrauch wird als eines der dringendsten Handlungsfelder bezeichnet.9 4. Rechtliche Schlussfolgerungen 4.1. Die Vereinbarkeit des ISAF-Einsatzes mit den Resolutionen des Sicherheitsrates Die Hauptaufgabe des ISAF-Einsatzes ist es, entsprechend den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ein sicheres Umfeld zu gewährleisten, in dem sowohl die afghanischen Behörden als auch internationale Hilfsgruppen gemeinsam den Wiederaufbau des Staates vorantreiben können. Um diese Ziele zu erreichen, hat die NATO die oben dargestellten Maßnahmen ergriffen. Die bisherigen Erfahrungen im Rahmen des ISAF-Einsatzes lassen nicht den Schluss zu, dass diese Maßnahmen ihren Zweck, die Sicherheitslage in Afghanistan dauerhaft zu stabilisieren, verfehlt hätten. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die ISAF-Maßnahmen vollkommen wirkungslos oder gar kontraproduktiv sind. Wenn durch vereinzelte ISAF-Maßnahmen tatsächlich Personen profitieren sollten, die den Zielen von ISAF entgegenwirken, so dürfte dies den Gesamtcharakter von ISAF nicht in Frage stellen. Insofern ist nicht davon auszugehen, dass der ISAF-Einsatz sich außerhalb des Mandats der Vereinten Nationen bewegt. 4.2. Die Vereinbarkeit des ISAF-Einsatzes mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2001 Was die Frage der Vereinbarkeit der Bundeswehr-Beteiligung am ISAF-Einsatz in Afghanistan mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 22. November 2001 angeht, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich das Urteil und damit auch die Leitsätze Nr. 3 und 4 auf die Frage bezogen, ob die Zustimmung der damaligen Bundesregierung zum neuen Strategischen Konzept der NATO im Rahmen des Nordatlantikrates am 23./24. April 1999 eines Zustimmungsgesetzes nach Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 59 Abs. 2 GG bedurfte. Das Bundesverfassungsgericht lehnte dies ab, da es in dem neuen Strategischen Konzept keine Änderung des NATO-Vertrags sah, sondern 7 Afghanistan-Konzept vom 12. September 2006, S. 7 f. 8 Afghanistan-Konzept vom 12. September 2006, S. 7 f. 9 Afghanistan-Konzept vom 12. September 2006, S. 23. - 8 - eine – nicht die Zustimmungspflichtigkeit nach Art. 59 Abs. 2 GG auslösende – Erweiterung des Vertrages. Eine Überprüfung des konkreten Einsatzes der NATO bzw. der Bundeswehr in Afghanistan an den Vorgaben des Gerichts in seinem Urteil vom 22. November 2001 kann daher nur unter der Fragestellung geschehen, ob der gegenwärtige NATO-Einsatz eine faktische Änderung des NATO-Vertrages darstellt, die ein Zustimmungsgesetz der dafür vorgesehenen Gesetzgebungsorgane nach Art. 59 Abs. 2 GG erfordern würde. Unabhängig von der Frage, unter welchen Voraussetzungen allgemein von einer faktischen Änderung eines völkerrechtlichen Vertrages ausgegangen werden kann, ist hierzu festzustellen, dass die ISAF-Mission der NATO in Afghanistan sich unter Punkt 31 des neuen Strategischen Konzepts von 1999 subsumieren lässt und als „Krisenreaktionseinsatz“ anzusehen ist. Da das neue Strategische Konzept vom Bundesverfassungsgericht in seinem erwähnten Urteil gebilligt wurde, scheidet somit auch ein Verstoß des gegenwärtigen ISAF-Einsatzes gegen Art. 24 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 59 Abs. 2 GG aus.