© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 010/21 Zu Abschiebungen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 – 010/21 Seite 2 Zu Abschiebungen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien Aktenzeichen: WD 2 - 3000 – 010/21 Abschluss der Arbeit: 4. Februar 2021 (zugleich letzter Zugriff auf Internet-Quellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 – 010/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Anerkennung des türkischen Besatzungsregimes bei Durchführung von Abschiebungen 4 3. Zum Refoulementverbot nach Art. 3 EMRK 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 – 010/21 Seite 4 1. Einleitung Zur gegenwärtigen militärischen und menschenrechtlichen Situation in Nordsyrien sowie zu der völkerrechtlichen der dortigen türkischen Militärpräsenz haben die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vor kurzem eine Ausarbeitung verfasst: WD 2 - 3000 - 108/20, Zur gegenwärtigen Situation in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien, 20. Januar 2021. Im Rahmen dieser Ausarbeitung wurde auch die völkerrechtliche Zulässigkeit von Abschiebungen anhand des Refoulementverbots nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zum Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) erläutert.1 Die Voraussetzungen der Abschiebungen nach Nordsyrien aus Sicht des Europarechts wurden ebenfalls vor kurzem durch den Fachbereich Europa des Bundestages in der folgenden Ausarbeitung erläutert: PE 6 – 3000 - 109/20, Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit von Abschiebungen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, 29. Dezember 2020. Dieser Sachstand behandelt weitere Fragen zu den Abschiebungen in den türkisch besetzten Teil von Nordsyrien. 2. Zur Anerkennung des türkischen Besatzungsregimes bei Durchführung von Abschiebungen Sofern eine Abschiebung eines syrischen Staatsangehörigen nach den einschlägigen deutschen und europäischen Vorschiften zulässig ist und auch im Einzelfall nicht gegen Art. 3 EMRK verstößt ,2 so stellt sich immer noch die Frage, wie eine Abschiebung praktisch vollzogen werden könnte. Kommt der Ausreisepflichtige der Ausreiseaufforderung nicht nach und reist nicht freiwillig aus, so wird die Abschiebung dadurch vollzogen, dass er in das Zielland gebracht wird, im Regelfall per Flugzeug in Begleitung der Bundespolizei.3 Da die von der Türkei kontrollierten Gebiete im Norden Syriens über keinen funktionierenden Flughafen verfügen, wäre eine Abschiebung dorthin entweder über Damaskus oder auf dem Landweg über die Türkei bzw. über die von der kurdischen PYD kontrollierten Gebiete möglich und würde dementsprechend eine Kooperation mit einem dieser Akteure erfordern. Da Deutschland zurzeit weder zu Damaskus noch zu der 1 Siehe die Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 108/20, S. 16 ff. 2 Siehe die Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 108/20, S. 18 f. 3 Zur praktischen Durchführung von Abschiebungen siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 13. April 2018, WD 3 - 3000 - 103/18, Fragen zur Durchführung von Abschiebungen durch Bundesbehörden, S. 6, https://www.bundestag.de/resource /blob/560924/b8e207f4b17091f425ad87785045594c/WD-3-103-18-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 – 010/21 Seite 5 PYD diplomatische Beziehungen unterhält,4 erscheint die Abschiebung über die Türkei wohl als der einzige praktikable Weg. Zwischen der Europäischen Union und der Türkei ist gegenwärtig ein Rückübernahmeabkommen in Kraft, welches jedoch die Weiterbeförderung von Ausreisepflichtigen in die Drittländer wie Syrien nur in einigen Ausnahmefällen erfasst.5 Die EU bzw. Deutschland könnten aber ggf. durch Nachverhandlung dieses Abkommens oder auch durch informelle Absprachen mit der Türkei erreichen, dass die Türkei sich zur Weiterbeförderung von syrischen Staatsangehörigen in die von ihr kontrollierten Gebiete bereit erklärt und zudem sicherstellt, dass keine Kettenabschiebungen in andere Teile Syriens erfolgen. Solche Nachverhandlungen bzw. informellen Absprachen würden jedoch im Falle ihres Erfolges nicht eine völkerrechtliche Anerkennung des türkischen Besatzungsregimes in Nordsyrien oder der Syrischen Übergangsregierung bedeuten,6 sondern vielmehr der Tatsache Rechnung tragen, dass die Türkei gegenwärtig die militärische Kontrolle über die Gebiete ausübt und ggf. sicherstellen kann, dass syrische Staatsangehörige dorthin überführt werden können. Die Pflichten der Besatzungsmacht aus Art. 47 ff. des IV. Genfer Abkommens7 obliegen der Türkei unabhängig von dem Verhalten anderer Staaten. Auch die syrische Zentralregierung unter Baschar al-Assad könnte sich bei Durchführung von solchen Abschiebungen nicht auf die Verletzung der Souveränität durch Deutschland oder die EU berufen, da es allein darum geht, syrische Staatsangehörige auf syrisches Staatsgebiet einreisen zu lassen. Eine Einreise von eigenen Staatsbürgern auf eigenes Staatsgebiet könnte die Assad- Regierung selbst kaum verweigern. Ferner zeigt die neuste Rechtsprechung des VG Augsburg zu der Zulässigkeit von Abschiebungen in die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, dass eine dauerhafte Besetzung einer Region durch einen anderen Staat für sich genommen keine Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Abschiebungen dorthin haben.8 4 Zu den diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der syrischen Assad-Regierung siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der AfD vom 26. Juli 2019, BT-Drs. 19/11964, S. 6 f., https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/119/1911964.pdf. 5 Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 7. Mai 2014, Amtsblatt der Europäischen Union L 134/3, https://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A22014A0507%2801%29. 6 Siehe zur Anerkennung von Staaten und Regierungen Volker Epping, in: Ipsen, Knut, Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, § 5 Rn. 165 ff. 7 Siehe hierzu ausführlich die Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 108/20, S. 15. 8 VG Augsburg, Urteil vom 19. Mai 2020 – Au 6 K 18.30779, Rn. 46 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 – 010/21 Seite 6 3. Zum Refoulementverbot nach Art. 3 EMRK Der türkischen Armee gelang es zwischen 2016 und 2020 mit der Unterstützung der Rebellengruppen der Syrischen Nationalarmee (SNA) die Gebiete um Afrin, Dscharabulus, Azaz, al-Bab sowie zwischen Ras al-Ayn und Tall Abyad unter ihre Kontrolle zu bringen, die militärische Lage zu stabilisieren und dort eine von ihr kontrollierte Verwaltung aufzubauen.9 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es nicht abzusehen, dass diese Gebiete etwa von den kurdischen YPG-Einheiten oder von Assad-Truppen zurückerobert werden oder dass die Türkei ihre Armee von dort komplett abzieht. Keine der Parteien hat ein solches Vorgehen zum jetzigen Zeitpunkt angekündigt. Insofern bleibt es bei der Feststellung, dass die gegenwärtige Situation in den genannten Gebieten Syriens mangels einer „extremsten Situation allgemeiner Gewalt“ kein pauschales Abschiebeverbot , aber sehr wohl eine genaue Einzelfallbetrachtung bei den Abschiebungen erfordert, um den Anforderungen an das Refoulementverbot aus Art. 3 EMRK gerecht zu werden. *** 9 Siehe hierzu ausführlich die Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 108/20, S. 6 ff.