© 2018 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 010/18 Der türkische Militäreinsatz in Nordsyrien Völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands für die Lieferung von Leopard 2-Panzern Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 2 Der türkische Militäreinsatz in Nordsyrien Völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands für die Lieferung von Leopard 2-Panzern Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 010/18 Abschluss der Arbeit: 2. Februar 2018 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Die Lieferung von türkischen Leopard 2 - Panzern als Beihilfe zum völkerrechtlichen Delikt 5 3. Die türkische Militäroffensive in Nordsyrien als Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 VN-Charta („Haupttat“) 8 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 4 1. Einleitung Am 20. Januar 2018 startete das türkische Militär die Operation „Olivenzweig“ im nordsyrischen Gebiet um die Stadt Afrîn, um gegen die kurdischen Volksschutzeinheiten Yekîneyên Parastina Gel (YPG) vorzugehen. Die YPG kontrolliert die Region um Afrîn weitgehend autonom, seitdem Assad seine Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hat. Die YPG wird zudem von den USA im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat ausgerüstet.1 Aus Sicht der Türkei ist sie jedoch Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.2 Nach Medienberichten erfolgte die Offensive zunächst mit Luftschlägen und Artilleriebeschuss sowie seit dem 21. Januar 2018 auch mit Bodentruppen und Unterstützung der pro-türkischen Freien Syrischen Armee.3 Ziel der Offensive war laut türkischem Ministerpräsident Binali Yılıdrım die Einrichtung einer 30 Kilometer breiten Sicherheitszone an der türkisch-syrischen Grenze.4 Über die Zahl der in Folge der türkischen Offensive getöteten Menschen fehlen bis dato verlässliche Angaben. Die Vereinten Nationen (VN) sprechen von einigen Zivilisten.5 Die türkische Armee behauptet, insgesamt 260 Kämpfer der YPG und des sogenannten Islamischen Staates getötet zu haben.6 Bereits am 20. Januar 2018 hatte die Türkei gegenüber dem Präsidenten des VN-Sicherheitsrates und dem VN-Generalsekretär förmlich erklärt, der Einsatz sei als Akt der Selbstverteidigung nach Art. 51 VN-Charta gerechtfertigt, da Raketenangriffe aus der Region Afrîn auf die türkischen Provinzen Hatay und Kilis zugenommen hätten.7 1 Oweis, The West’s Darling in Syria, (2015) 47 SWP Comments, S. 1; Die ZEIT vom 25. Januar 2018, S. 4 “Wo soll das hinführen?“. 2 Ibid. 3 Vereinte Nationen, “Daily Press Briefing by the Office of the Spokesperson for the Secretary-General” vom 23. Januar 2018, abrufbar unter: https://www.un.org/press/en/2018/db180123.doc.htm (zuletzt abgerufen am 26. Januar 2018). 4 SZ.de vom 21. Januar 2018 „Türkische Panzer stoßen nach Syrien vor“, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche .de/politik/kurden-konflikt-tuerkische-panzer-stossen-nach-syrien-vor-1.3834592?reduced=true (zuletzt abgerufen am 26. Januar 2018). 5 Vereinte Nationen, “Daily Press Briefing by the Office of the Spokesperson for the Secretary-General” vom 23. Januar 2018, abrufbar unter: https://www.un.org/press/en/2018/db180123.doc.htm (zuletzt abgerufen am 26. Januar 2018). 6 Süddeutsche Zeitung vom 25. Januar 2018, S. 5 “Ausweitung der Kampfzone”. 7 Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, “Identical Letters dated 20 January 2018 from the Chargé d’affaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the United Nations” vom 22. Januar 2018, VN-Dok. S/2018/53; Regierungspressekonferenz vom 22. Januar 2018, „Militäreinsatz der Türkei in der Grenzregion zu Syrien“, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2018/01/2018-01-22-regpk.html (zuletzt abgerufen am 31. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 5 Am 22. Januar 2018 hielt der VN-Sicherheitsrat eine Sondersitzung zu Syrien ab, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Während die syrische Regierung die Militäroperation öffentlich als „eklatante türkische Aggression“ gegen syrisches Staatsgebiet verurteilte,8 zeigte sich die Staatengemeinschaft in ihrer Reaktion indes zurückhaltend und warnte eher allgemein vor dem Risiko weiterer Eskalationen. Die Bundesregierung gab bislang keine völkerrechtliche Einschätzung der türkischen Militäroffensive ab, da die „komplexe und fluide Lage“ und das (noch) unvollständige Lagebild eine solche nicht zuließen.9 Auch der Einsatz von Leopard 2 - Panzern könne anhand der den Medien vorliegenden Bilder nicht bestätigt werden.10 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland für den Einsatz von aus Deutschland gelieferten Waffensystemen (insbesondere Leopard 2-Panzern) und Rüstungsgütern durch die Türkei gegen die YPG in Nordsyrien völkerrechtlich verantwortlich ist. Eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit könnte sich aus Art. 16 der sog. Draft Articles der International Law Commission (ILC) zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen von 2001 (ILC Draft Articles)11 wegen Beihilfe zum völkerrechtlichen Delikt ergeben. 2. Die Lieferung von türkischen Leopard 2 - Panzern als Beihilfe zum völkerrechtlichen Delikt Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt stellt selbst ein völkerrechtliches Delikt dar, welches die völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates auslöst. Nach Art. 16 der ILC Draft Articles ist ein Staat, der einem anderen Staat bei der Begehung einer völkerrechtswidrigen Handlung Beihilfe leistet oder Unterstützung gewährt, dafür völkerrechtlich verantwortlich, a) wenn er dies in Kenntnis der Umstände der völkerrechtswidrigen Handlung tut und b) wenn die Handlung völkerrechtswidrig wäre, wenn er sie selbst beginge. 8 Syrian Arab News Agency vom 20. Januar 2018, „Syria strongly condemns Turkish aggression on Afrin“, abrufbar unter: https://sana.sy/en/?p=124986 (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2018). 9 Regierungspressekonferenz vom 22. Januar 2018, „Militäreinsatz der Türkei in der Grenzregion zu Syrien“, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2018/01/2018-01-22- regpk.html (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2018). 10 Ibid. 11 VN, Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Anlage der Resolution Nr. 56/83 der VN-Generalversammlung vom 12. Dezember 2001, verfügbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english /draft_articles/9_6_2001.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. Januar 2018). Die Draft Articles werden allgemeinhin als Kodifizierung des bestehenden Völkergewohnheitsrechts zur Staatenverantwortlichkeit angesehen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 6 Art. 16 ILC Draft Articles verlangt demnach für das Vorliegen einer völkerrechtlich relevanten Beihilfe neben einer „Haupttat“ zusätzlich eine Beihilfehandlung in Kenntnis der völkerrechtswidrigen Handlung,12 einen Zusammenhang zwischen Unterstützungshandlung und Erleichterung der Begehung der Haupttat (aid or assistance with a view to facilitate the commission of an international wrongful act)13 sowie die Verletzung von Pflichten, an die der sich beteiligende Staat auch selbst gebunden ist. Eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands könnte sich aus den ILC Draft Articles wegen der Lieferung von Leopard 2 - Panzern also nur dann ergeben, wenn überhaupt eine völkerrechtswidrige Handlung der Türkei („Haupttat“) vorliegt (siehe unten 3.). Eine Beihilfehandlung muss nicht unerlässlich zur Begehung der Haupttat sein. Es genügt, dass sie eine signifikante Wirkung auf die Begehung der Haupttat hat.14 So führt die ILC in ihrer Kommentierung zu Art. 16 ILC Draft Articles aus: “Article 16 deals with the situation where one State provides aid or assistance to another with a view to facilitating the commission of an internationally wrongful act by the latter. Such situations arise where a State voluntarily assists or aids another State in carrying out conduct which violates the international obligations of the latter, for example, by knowingly providing an essential facility […].15 Vor diesem Hintergrund könnte in der Lieferung von Panzern eine Unterstützungshandlung der Bundesrepublik liegen (zwischen 2006 und 2011 hat Deutschland insgesamt 354 Leopard 2 - Panzer an die Türkei geliefert16). Wenn diese im Rahmen der aktuellen türkischen Militäroffensive in Nordsyrien tatsächlich zum Einsatz gekommen sein sollten, wäre deren Lieferung als völkerrechtlich relevante Beihilfehandlung zu werten. Ferner wäre für das Vorliegen einer völkerrechtlich relevanten Beihilfe entscheidend, ob die Bundesregierung Kenntnis von einer (noch zu beweisenden) völkerrechtswidrigen Militäroperation der Türkei hatte. Eine positive Kenntnis oder ein wissentliches Inkaufnehmen dürfte nicht nachweisbar sein. Damit stellt sich die Frage nach dem Vorwurf einer fahrlässigen Unkenntnis. Anders als im 12 Siehe auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sachstand vom 3. März 2014 „Ausübung militärischer Gewalt durch ausländische Militärbasen in Deutschland“ – WD 2 - 3000 - 034/14, S. 8. 13 Vereinte Nationen, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with Commentaries (2001), S. 66 Rn. 3, abrufbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries /9_6_2001.pdf (zuletzt abgerufen am 31. Januar 2018). 14 Ibid., S. 66, Rn. 5. 15 Ibid., Rn. 1. 16 Regierungspressekonferenz vom 22. Januar 2018, „Militäreinsatz der Türkei in der Grenzregion zu Syrien“, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2018/01/2018-01-22- regpk.html (zuletzt abgerufen am 31. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 7 deutschen Strafrecht begründen die ILC Draft Articles keinen Fahrlässigkeitsvorwurf gegenüber einem Beihilfe leistenden Staat, sondern statuieren ausdrücklich, dass eine Unterstützungshandlung nur dann eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit auslöst, wenn diese zielgerichtet und bewusst erfolgt17: „State practice supports assigning international responsibility to a State which deliberately participates in the internationally wrongful conduct of another [State]”18; “the particular circumstances of each case must be carefully examined to determine whether the aiding State by its aid was aware of and intended to facilitate the commission of the internationally wrongful conduct”19; “the assisting State is responsible for its own act in deliberately assisting another State”.20 Die bloße Belieferung mit Rüstungsmaterial als solche begründet daher noch keinen Völkerrechtsverstoß . In diesem Zusammenhang vertritt die ILC die Auffassung, dass ein Staat, der einem anderen Staat materielle Unterstützung bereitstellt, nicht davon ausgehen muss, dass diese Unterstützung zur Begehung von Völkerrechtsverstößen ausgenutzt wird: “A State providing material […] assistance or aid to another State does not normally assume the risk that its assistance or aid may be used to carry out an internationally wrongful act. If the assisting or aiding State is unaware of the circumstances in which its aid or assistance is intended to be used by the other State, it bears no international responsibility.”21 Selbst vorangegangene oder wiederholte Zwischenfälle begründen – zumindest in Friedenszeiten – keine irgendwie gearteten juristischen Nachforschungspflichten des liefernden Staates, solange sich nicht der Verdacht von Völkerrechtsverletzungen durch den belieferten Staat eklatant aufdrängt . Unterhalb dieser Offensichtlichkeitsschwelle dürfte der betroffene Staat einen weiten außenpolitischen Entscheidungsspielraum genießen.22 17 So auch Lanovoy, Complicity, in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, 2015, Rn. 21 f., abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e2180?rskey=WF4RTc&result=1&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am 25. Januar 2018); Klein, Beihilfe zum Völkerrechtsdelikt , in Von Münch (Hrsg.), Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer , 1981, S. 425 (432). 18 Vereinte Nationen, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with Commentaries (2001), S. 66 Rn. 7, abrufbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries /9_6_2001.pdf (zuletzt abgerufen am 31. Januar 2018). 19 Ibid., S. 67 Rn. 9. 20 Ibid., S. 67 Rn. 10. 21 Ibid., S. 66, Rn. 4. 22 Siehe auch BVerwG, Urteil vom 5. April 2016 – 1 C 3/15, NVwZ 2016, S. 1176 (1178), Rn. 24; BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1983 – 2 BvR 1160/83 u. a., NJW 1984, S. 601 (602). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 8 3. Die türkische Militäroffensive in Nordsyrien als Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 VN-Charta („Haupttat“) Art. 2 Abs. 4 VN-Charta statuiert ein striktes Verbot der Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt gegen einen anderen Staat. Dieses sogenannte Gewaltverbot ist Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts und gilt als zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens).23 Damit sind alle Staaten unmittelbar verpflichtet, insbesondere die territoriale Unversehrtheit und die politische Unversehrtheit jedes anderen Staates zu achten. Ausnahmen von dieser als „Grundpfeiler der modernen Völkerrechtsordnung“24 bezeichneten Norm bestehen zum ersten dann, wenn der betroffene Staat in den Einsatz fremden Militärs auf eigenem Staatsgebiet einwilligt.25 Dies ist von syrischer Seite nicht geschehen. Ferner sieht die VN-Charta zwei geschriebene Ausnahmen zu Art. 2 Abs. 4 VN-Charta vor: Der VN-Sicherheitsrat kann, wenn er einen Friedensbruch oder eine Friedensgefährdung i. S. d. Art. 39 VN-Charta förmlich festgestellt hat, die Anwendung militärischer Gewalt beschließen und bestimmte Staaten zu deren Durchführung ermächtigen. Eine solche Ermächtigung der Türkei durch den VN-Sicherheitsrat lag nicht vor (und wurde auch von der türkischen Regierung nicht als Rechtfertigung angeführt). Die Türkei beruft sich indes auf das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs,26 welches in Art. 51 VN-Charta kodifiziert wurde. Der Begriff des bewaffneten Angriffs ist völkerrechtlich nicht abschließend geregelt, wird aber unter Hinzuziehung von Art. 1 und 3 der sogenannten Agressionsdefinition der VN- Generalversammlung von 197427 definiert als der „gegen einen anderen Staat gerichtete Einsatz regulärer Streitkräfte oder bewaffneter Gruppen, der in seinem Ausmaß und seinen Wirkungen über den bloßen Grenzzwischenfall hinausgeht“.28 23 Dörr, Use of Force, Prohibition of, in: Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, 2015, Rn. 1, abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e427?rskey=RfAyF1&result=2&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am 25. Januar 2018). 24 Ibid. 25 Peters, in: FAZ.net vom 23. Januar 2018, „Verstößt die Türkei gegen das Völkerrecht?“ abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/syrien-verstoesst-die-tuerkei-gegen-das-voelkerrecht-15412253.html (zuletzt abgerufen am 29. Januar 2018). 26 Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, “Identical Letters dated 20 January 2018 from the Chargé d’affaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the United Nations” vom 22. Januar 2018, VN-Dok. S/2018/53. 27 Generalversammlung der Vereinten Nationen, Res. A/RES/29/3314, Annex (14. Dezember 1974). 28 Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, S. 1081, Rn. 7 mit Verweis auf IGH, Urteil vom 27. Juni 1986 – Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), (1986) ICJ Reports, S. 14 (103), Rn. 195. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 9 In zeitlicher Hinsicht muss der Angriff bereits erfolgt sein oder gerade erfolgen.29 In der völkerrechtlichen Diskussion wird seit dem Caroline-Fall von 183730 auch immer wieder ein sogenanntes präventives Selbstverteidigungsrecht (preemptive strike) thematisiert, da es angesichts der Zerstörungskraft moderner werdenden Waffen und der immer kürzer werdenden Vorwarnzeiten nicht zumutbar sei, den ersten, womöglich verheerenden Waffeneinsatz des Gegners abzuwarten .31 Maßstab sei hierbei eine Gefahrenlage, die „gegenwärtig und überwältigend“ ist, „keine Wahl der Mittel und keinen Augenblick zur Überlegung lässt“ („instant, overwhelming, leaving no choice of means and no moment for deliberation“, sogenannte Webster-Formel).32 Doch sowohl eine entsprechende Weiterentwicklung des Art. 51 VN-Charta als auch des parallelen Völkergewohnheitsrechts hin zu einem präventiven Selbstverteidigungsrecht bleibt umstritten. Denn hierfür fehlen sowohl eine übereinstimmende Staatenpraxis wie auch eine gemeinsame Rechtsüberzeugung im Sinne einer opinio iuris.33 Des Weiteren geht das klassische Verständnis des Art. 51 VN-Charta davon aus, dass sich das Selbstverteidigungsrecht allein gegen Staaten richtet.34 Dies begründet sich aus dem systematischen Zusammenhang der Art. 51 und Art. 2 Abs. 4 VN-Charta. Hiernach muss der Angriff grundsätzlich von den bewaffneten Streitkräften eines „anderen Staates“ vorgenommen werden. Angriffe, die nicht von den nationalen Streitkräften, sondern etwa von bewaffneten Banden, Söldnern oder Freischärlern herrühren, fallen nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nur dann unter den Begriff des bewaffneten Angriffs i. S. v. Art. 51 VN-Charta, wenn die Angriffshandlungen einem bestimmten Staat zugerechnet werden können – etwa in Fällen, in denen sich ein Staat privater Banden bedient: “[…] it may be considered to be agreed that an armed attack must be understood as including not merely action by regular armed forces across an international border, but also ‘the sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to’ (inter alia) an actual armed attack conducted by regular forces […]” (Hervorhebung hinzugefügt).35 29 BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2005 – WD 12/04, NJW 2006, S. 77 (95). 30 Greenwood, Caroline, The in: Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, 2015, Rn. 1, abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e261?rskey=M3Gq2E&result=1&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am 31. Januar 2018). 31 Ibid., Rn. 5; BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2005 – WD 12/04, NJW 2006, S. 77 (95), m. w. N. 32 Ibid. 33 Ibid. 34 Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, S. 1088, Rn. 24. 35 IGH, Urteil vom 27. Juni 1986 – Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), (1986) ICJ Reports, S. 14 (103), Rn. 195. Greenwood stellt fest, dass der IGH in einigen Fällen zu argumentieren scheint, dass Terroranschläge, welche keinem Staat zurechenbar seien, keine bewaffneten Angriffe i. S. d. Art. 51 VN-Charta darstellen könnten (ibid., Self-Defence in Wolfrum (Hrsg.), Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 10 Mit anderen Worten handelt es sich in diesen Fällen um mittelbare Angriffe durch Staaten. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 markieren für zahlreiche Stimmen aus Wissenschaft und Praxis jedoch eine Zeitenwende weg vom klassischen, staatszentrierten Begriffsverständnis hin zu der Ansicht, dass es Staaten möglich sein muss, sich auch gegen massive nichtstaatliche bewaffnete Angriffe zur Wehr setzen zu können.36 In der Folgezeit wurde insbesondere diskutiert, ob ein Selbstverteidigungsrecht auch dann besteht, wenn die Zurechnung einer Angriffshandlung gegenüber einem anderen Staat nicht möglich ist. Paradebeispiel für eine solche Nichtzurechenbarkeit sind jene Situationen, in denen ein Staat unfähig oder unwillig ist („unable or unwilling“), nichtstaatliche Akteure auf seinem Territorium zu kontrollieren.37 Befürworter dieser Ansicht argumentieren u.a., dass nichtstaatliche Akteure mit der völkerrechtlich anerkannten Rechtsfigur des de-facto-Regimes vergleichbar seien, wenn sich ihre Herrschaft zumindest vorübergehend territorial verfestigt hätte und der „Belegenheitsstaat“ die Kontrolle über das entsprechende Gebiet verloren habe.38 Folglich würden Selbstverteidigungshandlungen die (dann nur noch formal bestehende) territoriale Integrität eines Staates, in welchem die nichtstaatlichen Akteure verfestigt sind, nicht verletzen, wenn mit dem betroffenen Staat vorab Verhandlungen geführt wurden und dieser trotz dessen nicht willens oder in der Lage ist, bewaffnete Angriffe zu verhindern.39 Auf Rechtsfolgenseite müssten sich die Selbstverteidigungshandlungen unmittelbar gegen die nichtstaatlichen Akteure richten und nicht gegen die Einrichtungen desjenigen Staates, auf dessen Territorium sie vorgenommen wurden. Weiterhin müssten sie verhältnismäßig sein. Letztendlich beruht dieses Verständnis auf realpolitischen Erwägungen zum Umgang mit neuen Gewaltakteuren, welche die Mütter und Väter der VN-Charta nicht unbedingt im Blick hatten. Die Gegner einer extensiven Auslegung des Selbstverteidigungsrechts argumentieren demgegenüber rechtspositivistisch, also eng an Wortlaut, Sinn und Zweck des Art. 51 und Art. 2 Abs. 4 VN-Charta orientiert.40 Die Vorschriften seien klassischerweise auf Staaten ausgerichtet. Eine Encyclopedia of Public International Law, 2011, Rn. 16, abrufbar unter: http://opil.ouplaw .com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e401?rskey=Nbxxer&result=1&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am 25. Januar 2018). 36 Starski, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor, ZaöRV Band 75 (2015), S. 455 (456-458), bezugnehmend etwa auf die öffentlichen Äußerungen der USA, Israels und Russlands. 37 Finke, Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Akteure, Archiv des Völkerrechts Band 55 (2017), S. 1 (13 ff.). 38 IGH, Urteil vom 19. Dezember 2005 – Armed Activities on the Territory of the Congo (The Democratic Republic of the Congo v. Uganda) (Separate Opinion Judge Simma), (2005) ICJ Reports, S. 168 (337 f.), Rn. 12 f.; ibid. (Separate Opinion Judge Koijmans), S. 313 ff., Rn. 25 ff. 39 Finke, Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Akteure, Archiv des Völkerrechts Band 55 (2017), S. 1 (34). 40 Starski, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor, ZaöRV Band 75 (2015), S. 455; van Steenberghe , The Law of Self-Defence and the New Argumentative Landscape on the Expansionists’ Side, (2016) 29 Leiden Journal of International Law, S. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 11 Ausweitung auf nichtstaatliche Akteure wäre contra legem und würde einem potentiell angegriffenen Staat in der Praxis einen weiten Selbsteinschätzungsspielraum hinsichtlich essentieller Fragen der Gewaltanwendung eröffnen.41 Damit würde das grundlegende, strikte Gewaltanwendungsverbot des Art. 2 Abs. 4 VN-Charta verwässert und das ausbalancierte Friedenssicherungsrecht der VN-Charta destabilisiert. Gleichzeitig würde das Grundprinzip staatlicher Souveränität abgewertet werden. Zwar erkennen die Kritiker an, dass die wissenschaftliche Diskussion aktuell im Fluss ist; jedoch habe die extensive Auslegung des Selbstverteidigungsrechts noch nicht den Status von geltendem Recht erreicht. So habe selbst der Internationale Gerichtshof trotz der Diskussion im Anschluss an den 11. September 2001 keine Veranlassung gesehen, das Selbstverteidigungsrecht in eine entsprechende Richtung fortzuentwickeln.42 Logische Konsequenz dieser Ansicht wäre, dass jeder militärische Akt gegen nichtstaatliche Akteure ohne die Einwilligung des „Belegenheitsstaates“ völkerrechtswidrig wäre. Damit ist die Diskussion bis dato ungeklärt.43 Sie dürfte auch Aspekte des aktuell beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Organstreitverfahrens der Fraktion DIE LINKE gegen den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung zum Syrien-Einsatz der Bundeswehr gegen den sogenannten Islamischen Staat betreffen.44 Im Zusammenhang mit der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien bleiben letztlich eine Vielzahl von tatsächlichen und juristischen Zweifelsfragen offen, die eine verlässliche Bewertung der Vorfälle ausschließen. Folgt man der Ansicht, aus Art. 51 VN-Charta oder geltendem Völkergewohnheitsrecht lasse sich ein Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Akteure herleiten, wäre zu klären, ob tatsächlich ein bewaffneter Angriff der YPG gegen türkisches Staatsgebiet vorgelegen hat, der nach Ausmaß und Wirkung über einen bloßen Grenzzwischenfall hinausging. In diesem Fall dürfte eine Selbstverteidigung seitens der Türkei völkerrechtmäßig sein, solange und soweit sie in ihrer Durchführung verhältnismäßig wäre und die Regeln des Humanitären Völkerrechts eingehalten würden. Folgt man hingegen der Ansicht, nach dem aktuellen Stand des Völkerrechts existiere kein solches Selbstverteidigungsrecht gegen private Akteure, die nicht vom „Belegenheitsstaat“ 41 Starski, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor, ZaöRV Band 75 (2015), S. 455 (497 f.). 42 Starski, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor, ZaöRV Band 75 (2015), S. 455 (461 f.) zeichnet dies anhand der Rechtsprechung des IGH in folgenden Fällen nach: Urteil vom 6. November 2003 – Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), (2003) ICJ Reports, S. 161 (186 f.), Rn. 51; Advisory Opinion vom 9. Juli 2004 – Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory , (2004) ICJ Reports, S. 136 (194), Rn. 139; Urteil vom 19. Dezember 2005, Armed Activities on the Territory of the Congo (The Democratic Republic of the Congo v. Uganda), (2005) ICJ Reports, S. 168 (222 f.), Rn. 146. 43 Greenwood, Self-Defence, in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, 2011, Rn. 18, abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e401?rskey=Nbxxer&result=1&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am 25. Januar 2018); Starski, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor, ZaöRV Band 75 (2015), S. 455 (456). 44 BVerfG – 2 BvE 2/16. Ein Link zur Antragsschrift der LINKEN vom 31. Mai 2016 ist abrufbar unter: https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/16-118-antragsschrift-scan-kompaktespdf .pdf (zuletzt abgerufen am 25. Januar 2018), S. 111 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 010/18 Seite 12 instrumentalisiert wurden, dürfte die türkische Militäroffensive ein Verstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 VN-Charta darstellen. In diesem Fall würde auch ein Verstoß gegen Art. 1 NATO-Vertrag45 vorliegen. Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 VN-Charta und Art. 1 NATO-Vertrag dürfte wiederum eine völkerrechtswidrige Handlung i.S.d. Art. 2 der sogenannten Draft Articles der International Law Commission (ILC) zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen von 2001 (ILC Draft Articles)46 darstellen und damit die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Türkei auslösen. *** 45 Art. 1 NATO-Vertrag lautet: Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, daß der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist. 46 Vereinte Nationen, Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Anlage der Resolution Nr. 56/83 der Generalversammlung vom 12. Dezember 2001, abrufbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english /draft_articles/9_6_2001.pdf (zuletzt abgerufen am 31. Januar 2018). Die Draft Articles werden allgemeinhin als Kodifizierung des bestehenden Völkergewohnheitsrechts zur Staatenverantwortlichkeit angesehen.