© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 010/17 Die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 2 Die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 010/17 Abschluss der Arbeit: 24. Februar 2017 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Historische Entwicklung 4 2.1. Herausbildung von Nationalstaaten und Verlust der Unabhängigkeit 5 2.2. Ansiedlung von Russen zur Zeit der Sowjetunion 7 2.3. Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1990 9 2.4. Entwicklung der russischen Minderheiten in den baltischen Staaten 10 3. Estland 12 3.1. Zahlen und Relationen 12 3.2. Rechtlicher Status 14 3.2.1. Estnische Staatsbürgerschaft 14 3.2.2. „Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit“ 15 3.2.3. Erwerb der estnischen Staatsbürgerschaft 16 3.3. Politische Repräsentation der russischen Minderheit in Estland 17 3.4. Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Estland 18 4. Lettland 21 4.1. Zahlen und Relationen 21 4.2. Rechtlicher Status und Erwerb der Staatsangehörigkeit 22 4.3. Politische Repräsentation der russischen Minderheit in Lettland 24 4.4. Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Lettland 25 5. Litauen 27 5.1. Zahlen und Relationen 27 5.2. Rechtlicher Status 27 5.3. Politische Repräsentation der russischen Minderheit in Litauen 28 5.4. Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Litauen 28 6. Schlussbemerkungen 31 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 4 1. Einführung In der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen Aspekte der Situation der russischen Minderheiten in Estland, Lettland und Litauen dargestellt. Nach einem kurzen Überblick über den historischen Hintergrund werden für jedes einzelne Land die Größe, der rechtliche Status, die politische Repräsentation sowie die soziopolitische Lage, d.h. der Stand der Integration in die Mehrheitsgesellschaft und die sie beeinflussenden Faktoren, erläutert. Ziel ist ein umfassender, aber kompakter Überblick. Da sich das vorliegende Datenmaterial von Land zu Land hinsichtlich Detailliertheit und Verfügbarkeit unterscheidet, können einige Unterpunkte nur für jeweils ein Land in Gänze ausgeführt werden. Zur Begriffsklärung: in dieser Arbeit werden zur Bezeichnung der russischen Minderheiten vornehmlich die Begriffe „Russischstämmige“ und vereinzelt „Russen“ verwendet. Die Gruppe ist keineswegs einheitlich, insbesondere unterteilt sie sich in Menschen mit der Staatsangehörigkeit des jeweiligen Landes und solche ohne. Wird der Begriff „Minderheit“ benutzt, dann stets im geläufigen Sinne, d.h. bezogen auf die Größe der Bevölkerungsgruppe, jedoch nicht im juristischen Sinne. In Estland z.B. sind die „Russen“ zahlenmäßig eine Minderheit, der Staat erkennt sie aber nicht als nationale Minderheit im Sinne einer alteingesessenen ethnischen Gruppe an, sondern betrachtet sie als Menschen mit Migrationshintergrund. Zur Beschreibung der jeweiligen Titularnation wird zumeist der Begriff „ethnische Esten / Letten / Litauer“ benutzt, zum Teil auch, zur Bezeichnung der alteingesessenen Bevölkerung (nationale Minderheiten eingeschlossen), der Begriff „Autochthone.“ 2. Historische Entwicklung Obwohl Estland, Lettland und Litauen oft unter dem Rubrum „Baltikum“ oder „baltische Staaten“ zusammengefasst werden, unterscheiden sie sich im Hinblick auf Geschichte, Sprache und ihre aktuelle Entwicklung deutlich voneinander. Auch in der Selbstwahrnehmung bilden die drei Länder keineswegs eine Einheit. Während Litauen im Mittelalter und der frühen Neuzeit zusammen mit Polen eine Großmacht im nordosteuropäischen Raum war, entstanden Estland und Lettland deutlich später als Staatswesen. Während Lettisch und Litauisch als baltische Sprachen eng verwandt sind, ist das Estnische als finno-ugrische Sprache dem Finnischen sehr ähnlich. Die sprachlich-kulturelle sowie geographische Nähe zu Finnland hat Estlands Entwicklung in der jüngeren Zeit deutlich geprägt. Litauen dagegen war stets Polen eng verbunden. Weitere Unterschiede ergeben sich aus der jeweils vorherrschenden Religion: Litauen ist weitgehend katholisch, Lettland und Estland evangelisch-lutherisch bzw. konfessionslos. Die russischen Minderheiten wiederum sind hauptsächlich russisch-orthodox. Bis in die jüngere Vergangenheit standen die Gebiete, aus denen die drei modernen baltischen Staaten hervorgehen sollten, unter wechselnder Herrschaft. Das Großfürstentum (Polen-)Litauen, der Deutsche Orden, das Schwedische Reich, das Königreich Preußen und das Königreich Polen beherrschten das Baltikum zumindest in Teilen bis in die späte Neuzeit. Am längsten währte die Herrschaft des Zarenreiches, zu dem der größte Teil des Baltikums bis vom Ende des Nordischen Krieges im Jahre 1721 bis zur Russischen Revolution im Jahre 1917 gehörte. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 5 Vor allem in Estland und Lettland hielt sich bis ins 20. Jahrhundert eine in vier Ritterschaften1 organisierte deutsche Adelsschicht sowie eine nichtadelige deutsche Minderheit als Ergebnis der mittelalterlichen Ostsiedlung sowie der deutschen Dominanz innerhalb der Hanse, zu der auch viele baltische Städte gehörten. Die Deutschbalten stellten die Elite und dominierten die lokale Politik, Kultur, Kirche und Wirtschaft. In Litauen lebte ebenfalls eine deutsche Minderheit, die Oberschicht war aber eher polnisch geprägt. Gemeinsamkeiten Estlands, Lettlands und Litauens sind die erzwungene Angliederung an die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, die Deportation tausender Menschen und der stalinistische Terror in den Nachkriegsjahren, aber auch die gemeinsame Befreiung von der Sowjetherrschaft und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit. 2.1. Herausbildung von Nationalstaaten und Verlust der Unabhängigkeit Trotz der wechselnden Oberhoheit über die drei Länder behielten die autochthonen Bevölkerungen über alle Zeitläufte hinweg ihre eigenen Sprachen und die jeweilige Kultur bei. Die Wurzeln der Eigenstaatlichkeit der baltischen Länder liegen wie die vieler anderer europäischer Staaten im 19. Jahrhundert, in welchem die Idee des Nationalstaates entwickelt wurde. In den baltischen Staaten wurde der Nationalstaatsgedanke vor allem durch den Widerstand gegen die unter der Zarenherrschaft forcierte Russifizierung von Verwaltung, Bildung und Wirtschaft, einhergehend mit einer Marginalisierung der jeweiligen Landessprache2, -kultur und vorherrschenden Konfession geprägt.3 Die estnischen und lettischen Nationalisten wandten sich ebenso gegen die kulturelle und politische Dominanz der Deutschbalten. Erst mit der Russischen Revolution im Jahre 1917 konnten sich die nationalistischen Bewegungen frei entfalten. Mit dem (vorläufigen) Sieg des Deutschen Reiches über Russland im Jahre 1917 und dem Frieden von Brest-Litowsk wurde der Weg für die Unabhängigkeitsbewegungen der drei Länder geebnet. In unterschiedlich intensiv geführten Konflikten4 erkämpften Estland, Litauen 1 Die Ritterschaften von Kurland, Livland, Oesel und Estland, wobei letztere die älteste ist und bis ins frühe 13. Jahrhundert zurückging. Siehe Verband der Baltischen Ritterschaften, e.V., Die Ritterschaften, https://www.baltische-ritterschaften-de.de/ritterschaften/ (zuletzt abgerufen am 17. Februar 2017). 2 Die in allen drei Ländern nicht nur die jeweilige „baltische“ Sprache, sondern in Adel und Oberschicht auch das Deutsche war. 3 Estonica.org, Russification Period, http://www.estonica.org/en/History/1850- 1914_National_awakening/Russification_period/ (zuletzt abgerufen am 7. Februar 2017). 4 Im Rahmen dieser Arbeit können die einzelnen geschichtlichen Ereignisse und Abläufe nicht ausführlich dargestellt werden. Allen Unabhängigkeitskämpfen ist gemeinsam, daß sie sich gegen die UdSSR, das Deutsche Reich und den deutschbaltischen Adel richteten und von unterschiedlichen Ländern (zum Teil mit Truppen) unterstützt wurden. In Lettland kam es auf Anweisung Lenins zur Gründung einer kurzlebigen Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (Rätelettland), die aber von der (größtenteils deutschbaltischen) Baltischen Landeswehr mit militärischer Unterstützung durch die Republik Estland gestürzt wurde. Das Deutsche Reich erkannte nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg die drei Republiken zuerst als Staaten an. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 6 und Lettland sich in den darauffolgenden Jahren die Eigenstaatlichkeit und wurden 1920 zu souveränen Staaten.5 Die Unabhängigkeit der drei neuen Republiken ging bereits 20 Jahre später wieder verloren. Im zweiten geheimen Zusatzprotokoll des „Hitler-Stalin-Paktes“ von 1939 teilten das nationalsozialistische Deutsche Reich und die stalinistische UdSSR das Baltikum unter sich auf. Litauen sollte Teil der deutschen Interessenssphäre werden. Estland, Lettland sowie das damals als zum Baltikum gehörig betrachtete Finnland sollten Teil der sowjetischen werden. Obwohl der Plan so nie verwirklicht wurde6, besiegelte der Pakt das Ende der Unabhängigkeit der drei Länder. Der UdSSR gelang es noch im selben Jahr, mittels erzwungener bilateraler „gegenseitiger Beistandsabkommen“ in allen baltischen Staaten Militärstützpunkte zu errichten.7 Im Juni 1940 bediente sich die UdSSR dieser Militärstützpunkte, um unter dem Vorwand, die ausgehandelten Beistandspakte seien gefährdet, das Baltikum zu besetzen und dann nach Inszenierung von prosowjetischen Demonstrationen, „sozialistischen Revolutionen“ und Pseudo- Wahlen, „auf Wunsch der Bevölkerung“ zu annektieren.8 9 Im Kriegsjahr 1941 besetzte Deutschland fast die gesamten baltischen Gebiete, was ihm unter anderem durch die Mithilfe zahlreicher Einheimischer, die die Wehrmacht als Befreierin von den Sowjets begrüßten, gelang. Ab 1943 wurden Esten und vor allem Letten für die Waffen-SS verpflichtet, viele davon freiwillig.10 In Lettland (Kurland) kämpften eingeschlossene Wehrmachtsverbände noch bis zum 31. März 1945 zusammen mit lettischen Freiwilligenverbänden gegen die Rote Armee. Diese Kollaboration mit dem Dritten Reich war 5 Allerdings nicht ganz innerhalb der heutigen Grenzen. Das Memelland fiel z.B. erst 1924 an Litauen; die 1945 von der UdSSR der Russischen SSR angegliederten ehemals estnischen Gebiete sind auch heute noch Teil Russlands. 6 Unter anderem gab es Änderungen, in denen Deutschland Teile Litauens im Austausch gegen polnische Gebiete der UdSSR „abtrat.“ Siehe Ingeborg Fleischhauer, Der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag von 1939 - Die deutschen Aufzeichnungen über die Verhandlungen zwischen Stalin, Molotov und Ribbentrop in Moskau, Institut für Zeitgeschichte, Jahrgang 39 (1991), Heft 3, http://www.ifzmuenchen .de/heftarchiv/1991_3_5_fleischhauer.pdf (zuletzt abgerufen am 6. Februar 2017). 7 Die erpresste Annexion, Der Standard am 20. Oktober 2003, sowie Das baltische Beispiel. Wie Litauen, Lettland und Estland sowjetisiert wurden, Ostpreussen-Warte, Februar 1956, S. 1-2, http://archiv.preussischeallgemeine .de/ow1956/1956_02_01_02.pdf (zuletzt abgerufen am 6. Februar 2017) sowie als Beispiel Beistandspakt zwischen der UdSSR und Litauen vom 10. Oktober 1939, Monatshefte für Auswärtige Politik 6 (1939), http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19391010-1.pdf (zuletzt abgerufen am 6. Februar 2017). 8 Horst Schützler, Der Anschluß der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland an die Sowjetunion 1940 und seine Folgen, Rosa-Luxemburg-Stiftung, UTOPIE kreativ, H. 95 (September) 1998, S. 24-29, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/95/95_Schuetzler.pdf (zuletzt abgerufen am 6. Februar 2017). 9 Im Baltikum wird der Anschluss der Krim an Russland als eindeutige Parallele zur damaligen Annexion der baltischen Staaten durch die UdSSR wahrgenommen: "Die Angst kommt ja nicht von ungefähr", Deutschlandradio Kultur am 7. März 2015, http://www.deutschlandradiokultur.de/baltische-staaten-die-angstkommt -ja-nicht-von-ungefaehr.1008.de.html?dram:article_id=313571 (zuletzt abgerufen am 6. Februar 2017). 10 Litauer wurden nicht verpflichtet, da die nationale Widerstandsbewegung zu einem Boykott aufgerufen hatte. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 7 später einer der Gründe für die Ansiedelung der heutigen russischen Minderheiten im Baltikum (siehe nächster Abschnitt „Ansiedlung von Russen zur Zeit der Sowjetunion“). Während der deutschen Besatzung wurden fast alle Juden und Roma in den baltischen Staaten ermordet, die Polen und Russen vertrieben oder ermordet, die Estlandschweden repatriiert. Die Deutschbalten waren zu großen Teilen schon zu Beginn des Krieges auf Druck des Deutschen Reiches in die eroberten polnischen Gebiete umgesiedelt worden, nachdem ihnen die deutsche Regierung den Verlust der Volkszugehörigkeit für den Fall des Verbleibens in Estland bzw. Lettland angedroht hatte. Die meisten verbliebenen Volksdeutschen flüchteten spätestens beim erneuten Vorrücken der Roten Armee in das Deutsche Reich aus dem Baltikum. Tatsächlich waren die baltischen Staaten zum Zeitpunkt des deutschen Rückzuges ethnisch so homogen wie nie zuvor.11 2.2. Ansiedlung von Russen zur Zeit der Sowjetunion Zwar hatten schon seit Jahrhunderten Russen im Baltikum gelebt (insbesondere in den östlichen Gebieten)12, doch sind die meisten der heutigen „russischen Balten“ nicht deren Nachfahren, sondern von Russen, die während der Sowjetzeit dort angesiedelt wurden. Diese An- bzw. Umsiedlungen wurden möglich, nachdem die Sowjetunion die baltischen Staaten nach Ende des Zweiten Weltkrieges angliederte. Insbesondere in Estland und Lettland wurden tausende Russen angesiedelt. Ihre neuen Siedlungsgebiete konzentrierten sich auf einige größere Industriezentren vor allem im Osten der beiden Länder, außerdem übernahmen zahlreiche Russen Posten in der Verwaltung. Zum Teil zogen sie in Städte und Dörfer, deren vorherigen Bewohnern (Esten bzw. Letten, die zusammen mit der Wehrmacht vor dem Vormarsch der Roten Armee geflohen waren) die Rückkehr verboten worden war. Ziel der UdSSR war, aus den drei agrarisch geprägten Ländern Industriezentren zu machen. Da es unter der einheimischen Bevölkerung zu wenig Industriearbeiter gab, wurden diese aus Russland ins Baltikum entsandt und dort mit ihren Familien angesiedelt.13 Die Kollaboration mit Deutschland während des Krieges lieferte den politischen Anlass, um durch die Ansiedlungspolitik die unter Generalverdacht stehenden Esten und Letten zu Minderheiten im eigenen Land zu machen. Dem diente auch die Bildungspolitik: bis 1957 durften Estnisch, Lettisch und Litauisch sowie die jeweilige Landesgeschichte nicht an den 11 Vgl.: Karsten Brüggemann, Kleine Geschichte der baltischen Staaten, in: APuZ 8/2017 Estland, Lettland, Litauen sowie in derselben Ausgabe: Eva-Clarita Pettai, Erinnerungsdiskurse und Geschichtspolitik in den baltischen Staaten. 12 Abgesehen von den seit Jahrhunderten in grenznahen Gebieten lebenden Russen kam es vor 1940 zu mindestens zwei kleineren Einwanderungswellen von Russen ins Baltikum: im 17. Jahrhundert flüchteten mehrere tausend Altgläubige vor religiöser Verfolgung aus dem Zarenreich, 1917 wiederum mehrere tausend Russen vor der Revolution. Vor 1940 überstieg der Anteil von Russen an der Bevölkerung in keinem der drei baltischen Staaten sieben Prozent. In Estland sank der Anteil nach der Angliederung des Gebietes Ivangorod an die Russische SSR im Jahre 1945 sogar kurzzeitig auf beinahe null. 13 William Hernád, The Russian Minority in Estonia, S. 2, Institute of Cultural Diplomacy, http://www.culturaldiplomacy.org/pdf/case-studies/russian-minority.pdf (zuletzt abgerufen am 7. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 8 Schulen unterrichtet werden.14 Zugleich wurden zehntausende Angehörige der Oberschicht, tatsächliche und vermeintliche Widerstandskämpfer15, Nationalisten, vermeintliche Dissidenten, Akademiker, Landbesitzer sowie Angehörige ethnischer Minderheiten (vor allem die noch verbliebenen Deutschen und Finnen) in das sowjetische Kernland (Sibirien und Kasachstan) deportiert.16 Erst nach Stalins Tod konnten viele der Überlebenden zurückkehren, waren aber nach wie vor Repressalien ausgesetzt und durften weder ihren Wohnort frei wählen noch ihr konfisziertes Eigentum zurückerhalten.17 Auch nach der Wiederaufnahme der Lehre der jeweiligen Landessprache wurden Sprache und Kultur der einheimischen Bevölkerungen weiterhin marginalisiert. Estnisch, Lettisch und Litauisch wurden zwar gepflegt, doch geschah dies primär im Rahmen von Veranstaltungen der in der gesamten UdSSR verbreiteten Kulturhäuser sowie in Museen und bei volkstümlichen Aufführungen anlässlich von Feiertagen. An den Schulen, Universitäten und auf Ämtern wurde Russisch faktisch zur beherrschenden Sprache. Russischkenntnisse waren für den Aufstieg unverzichtbar. Die jeweilige Landessprache zu beherrschen, war dagegen nicht zwingend notwendig, was zu ihrer soziokulturellen Abwertung führte.18 Die Entwicklung in Lettland veranschaulicht dies: nachdem Chruschtschow im Jahre 1961 die Führung der „nationalkommunistischen“ lettischen KP abgesetzt hatte, kam es nie wieder zu einer Rede eines führenden lettischen KP-Sekretärs in lettischer Sprache. Die Ersten Sekretäre der lettischen KP, Augusts Voss und Boriss Pugo, sprachen, obwohl lettischer Abstammung, in offizieller Funktion nie Lettisch.19 Insgesamt kann man auch – und gerade – während der Sowjet-Ära eine Russifizierung der baltischen Länder feststellen.20 Im Baltikum lebende Russen erfuhren sich selbst als normal im Sinne von „normsetzend“: Russisch war die Standardsprache, Kyrillisch 14 David James Smith, Estonia: Independence and European Integration, S.37 – 38, Routledge 2001 15 In allen drei Ländern, vor allem in Litauen, gab es mit den „Waldbrüdern“ (estn. metsavennad, lett. meža brāļi, lit. miško broliai) bis etwa 1953 eine bewaffnete Widerstandsbewegung gegen die Sowjets. Siehe Estonica.org, Deportation of March 1949, http://www.estonica.org/en/Deportation_of_March_1949/ und Forest Brothers, http://www.estonica.org/en/Forest_Brothers/ sowie The post-WW II armed resistance to Soviet power in Estonia, http://www.estonica.org/en/The_post-WW_II_armed_resistance_to_Soviet_power_in_Estonia/ (zuletzt abgerufen am 7. Februar 2017). 16 Allein aus Estland mindestens 33.000 Menschen. Siehe Leo Õispuu, NAME LIST OF PERSONS DEPORTED FROM ESTONIA 1945–1953, Estonian Repressed Persons Records Bureau (ERPRB), The State Archives of Estonia, Estonian Association of Illegally Repressed Persons MEMENTO, 2014, http://www.memento.ee/memento_materjalid/memento_raamatud/memento_r_8-3.pdf (zuletzt abgerufen am 2. Februar 2017). 17 Estonica.org, Deportation of March 1949 (Anm. 15). 18 Analog etwa zur Abwertung des Niederdeutschen in der öffentlichen Wahrnehmung hin zu einer Sprache für humoreskes Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 19 Aldis Purs, Baltic Facades: Estonia, Latvia and Lithuania since 1945, S. 71, Reaktion Books 2013 20 In einigen Quellen wird auch von unverhohlener Diskriminierung von Russen gegenüber Alteingesessenen und ihrer Sprache berichtet. Siehe z.B. Thibault Muzergues, Russia and the nation-state building in Latvia, Sens Public (Université de Montréal), 20. September 2004, http://www.senspublic .org/article.php3?id_article=90&lang=fr (zuletzt abgerufen am 11. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 9 Standardschrift, russische Kultur und Sitten waren prägend.21 Zwar waren die Russen vor Ort eine zahlenmäßige Minderheit, bezogen auf die gesamte UdSSR aber Mehrheit. Es gab keine politische, soziale, kulturelle oder emotionale Notwendigkeit für sie, sich an die Kultur ihrer Umgebung anzupassen. In Litauen wurden sehr viel weniger Russen angesiedelt, weshalb das Land heute eine viel kleinere russische Minderheit hat als die beiden anderen Staaten. Tatsächlich ist die polnische Minderheit Litauens größer als die russische. 2.3. Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1990 In den drei Staaten wird die Zeit, in der Litauen, Lettland und Estland „unabhängige“ Republiken der Sowjetunion waren, d.h. 1945 – 1990, bis heute als sowjetische Besatzung wahrgenommen und auch meist so bezeichnet. Die Verschleppung zehntausender Esten, Letten und Litauer in die Gulags der UdSSR, die meist einem Todesurteil gleichkam, sowie die Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten und die als Degradierung wahrgenommene Einstufung der Nationalsprachen als „Minderheitensprachen“ haben zu einer tiefen Abneigung gegenüber der Sowjetunion und auch dem mit ihr assoziierten Russland bzw. den Russen geführt. Die drei Länder waren die ersten, die sich von der UdSSR lossagten. Anders als die meisten anderen ehemals sowjetischen Staaten wurden sie nicht erst durch die Auflösung der UdSSR im Jahre 1991 unabhängig, sondern erkämpften sich diese bereits 1990 unter Opferung von Menschenleben. Die drei Republiken waren nie Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), da sie sich von Anfang an als jeweils identisch mit dem vor der sowjetischen Besatzung bestehenden Staat betrachteten. Das Jahr 1990 ist im öffentlichen Bewusstsein der baltischen Staaten nicht das Jahr der Staatsgründung, sondern das Jahr der Befreiung von der Fremdherrschaft. Das hat auch ganz konkrete Auswirkungen auf den Status der Russen, die zum Zeitpunkt der Befreiung in den drei Ländern lebten, denn gemäß Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention ist die Einwanderung in besetzte Gebiete illegal.22 Da sich in jedem der drei Länder die Auffassung durchsetzte, man sei von der UdSSR besetzt gewesen, gestaltete sich auch der rechtliche und soziale Status der in dieser Zeit angesiedelten Russen schwierig.23 Darüber hinaus sei noch einmal darauf verwiesen, dass sich Russen vor der Unabhängigkeit als Mehrheit empfanden und keineswegs als Minderheit. Dies änderte sich logischerweise mit der Unabhängigkeit der baltischen Länder. Schlagartig wurden die Russen nicht nur zur zahlenmäßigen, sondern auch zur politischen, sprachlichen, kulturellen und sozialen Minderheit. Der völlige Statusverlust des „Russischseins“ nach der Unabhängigkeit könnte 21 Juris Rozenvalds, The Soviet Heritage and Integration Policy Development Since the Restoration of Independence, S.36, in: How Integrated is Latvian Society? An Audit of Achievements, Failures and Challenges, Nils Muižnieks (Ed.), Universität von Lettland, 2010. 22 „Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln“, Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, Art. 49, Abs. 5. 23 Vgl.: Thibault Muzergues (Anm. 20). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 10 einen Ansatzpunkt für die Entfremdung insbesondere, aber nicht nur, älterer russischstämmiger Menschen (die diesen Statusverlust bewusst erlebten) von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft liefern. Noch im Jahre 2007 führte der Entschluss, ein sowjetisches Kriegerdenkmal in Tallinn zu versetzen, zu teils gewalttätigen Protesten von russischstämmigen Jugendlichen. Umfragen kurz nach den Ereignissen ergaben, dass fast die Hälfte der russischstämmigen Menschen in Estland die Gruppe der Russischstämmigen (aber nicht zwingend sich persönlich) als marginalisiert und diskriminiert empfand.24 Zwar hat sich dies bis heute verbessert, doch bleibt die unterschiedliche Bewertung der Sowjetzeit ein Autochthone und Russischstämmige trennender Faktor. Während sich Esten, Letten und Litauer an die Sowjetzeit als Ära der Unterdrückung erinnern, ist unter den Russischstämmigen das „neosowjetische“ Narrativ verbreitet, dass den Sieg über das faschistische Deutschland in den Mittelpunkt stellt, die angebliche Notwendigkeit der Annexion des Baltikums behauptet und den stalinistischen Terror der Nachkriegsjahre als unumgängliche Maßnahme gegen „faschistische Kollaborateure“ interpretiert.25 2.4. Entwicklung der russischen Minderheiten in den baltischen Staaten Die Situation der russischen Minderheiten im Baltikum ist je nach Land unterschiedlich. Dies zeigt sich schon im Hinblick auf deren Größe. Wie erwähnt, ist die russische Minderheit Litauens deutlich kleiner als die von Lettland und Estland. Auch der jeweilige rechtliche Status sowie die Entwicklungen hinsichtlich der Integration der Russen in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft variieren. Im Folgenden wird daher jedes Land gesondert betrachtet. Allerdings gibt es auch gewisse Gemeinsamkeiten. So nahm in allen drei Ländern nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit zunächst die Zahl der im Lande lebenden Russen ab, und zwar durch die Rückbeorderung von (seinerzeit noch sowjetischen) Soldaten sowie den freiwilligen Umzug russischstämmiger Zivilisten nach Russland. Seither hat die Auswanderung nach Russland aus allen drei Staaten sich jedoch deutlich verringert. Die Auswanderungsrate insgesamt erhöhte sich jedoch – alle baltischen Staaten haben in den letzten Jahrzehnten eine starke Abwanderung erfahren, insbesondere nach dem Beitritt zur EU im Jahre 2004 sowie nach der Bankenkrise von 2009.26 Tendenziell verhalten sich autochthone Mehrheiten und russischstämmige Minderheiten bezüglich der Abwanderung gleich, wobei die durchschnittlich etwas besser qualifizierten Autochthonen etwas häufiger abwandern. Zumindest in Estland scheint sich dieser Trend mittlerweile abzuschwächen. Das Land ist 24 Triin Vihalemm und Veronika Kalmus, Cultural Differentiation of the Russian Minority, Journal of Baltic Studies, Vol. 40, Iss.1, März 2009. Neuere Umfragen ergeben zumindest unter jüngeren Russischstämmigen ein etwas positiveres Bild (siehe Abschnitt 3.3 „Soziopolitische Lage der russischen Minderheit in Estland“). 25 Eva-Clarita Pettai (Anm. 11). Pettai führt aus, wie sich die Erinnerungskultur in den drei Staaten unterscheidet und wie sehr sie zum Teil staatlich institutionalisiert wird. 26 Stratfor, In the Baltics, Emigration and Demographic Decline, 10. Juli 2013, https://www.stratfor.com/analysis/baltics-emigration-and-demographic-decline (zuletzt abgerufen am 17. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 11 inzwischen auch Ziel von Migranten – die größte Gruppe hierbei bilden Russen aus Russland.27 In allen drei Ländern nimmt die Bevölkerung aufgrund von niedrigen Geburtenraten jedoch weiterhin ab.28 In allen baltischen Ländern wird versucht, die Integration in die Mehrheitsgesellschaft über den Erwerb der jeweiligen Titularsprachen zu stärken. Dies führte allerdings auch zu einer faktischen Abwertung der Minderheitensprachen (wenn z.B. die jeweilige Titularsprache neben dem Englischen alleinige Unterrichtssprache an staatlichen Universitäten und ihre Beherrschung Zugangsvoraussetzung für höhere Bildung ist). Dies wird von einigen Angehörigen von Minderheiten als Diskriminierung empfunden und von einigen wissenschaftlichen Quellen als sozial spaltend interpretiert.29 Schlussendlich sei darauf hingewiesen, dass in allen drei baltischen Staaten das Konzept der Staatlichkeit ethnisch aufgeladen ist. Die jeweilige Titularnation – Esten, Letten, Litauer – ist das Staatsvolk und „eigentlicher“ Träger dessen, was die Nation zur Nation macht. Dies führt dazu, dass Angehörige ethnischer Minderheiten es schwerer haben, von der Mehrheitsgesellschaft als gleichberechtigte Staatsbürger wahrgenommen zu werden und sich auch selbst als solche zu sehen.30 27 Estnisches Statistikamt, Emigration from Estonia decreased last year, 22. Mai 2015, http://www.stat.ee/newsrelease -2015-057 (zuletzt abgerufen am 17. Februar 2017). 28 Stratfor (Anm. 26). 29 So z.B. von Ada-Charlotte Regelmann, Minderheitenintegration in den baltischen Staaten. Eine Frage der Sprache?, Bundeszentrale für politische Bildung: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 8/2017, 2. Februar 2017, http://www.bpb.de/apuz/242513/minderheitenintegration-in-den-baltischen-staaten?p=1 (zuletzt abgerufen am 20. Februar 2017). 30 Ada-Charlotte Regelmann, S.3, (Anm.29). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 12 3. Estland Estland hat von allen drei baltischen Staaten die zweitgrößte russische Minderheit. Etwa 25 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Russen. Zählt man die im Alltag faktisch russischsprachigen Ukrainer und Weißrussen dazu, so liegt der Anteil der primär russischsprachigen Menschen in Estland bei fast 31 Prozent der Gesamtbevölkerung.31 Zu den gesetzlichen Besonderheiten, die für sie gelten, siehe Abschnitt 3.2 (Rechtlicher Status). 3.1. Zahlen und Relationen Anfang 2016 lebten in Estland offiziellen Zahlen zufolge knapp 1,32 Millionen Menschen. Davon waren 330.263 ethnische Russen,32 davon 148.430 Männer und 181.833 Frauen.33 Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung russischstämmiger Menschen auf die Landkreise in Estland Ende 2016. Landkreis Russischstämmige Harju 180.477 …davon Tallinn 155.263 Ida-Viru 106.664 Tartu (Kreis) 17.572 …davon Tartu (Stadt) 13.651 Pärnu 6.373 Lääne-Viru 5.472 Valga 3.730 Jõgeva 2.216 Lääne 1.851 Viljandi 1.215 Võru 1.176 Rapla 1.108 Põlva 1.088 Järva 807 Saare 284 Unbekannt 261 31 Hernád (Anm. 13). 32 Estnisches Statistikamt (Statistics Estonia), Population by sex, ethnic nationality and county, Februar 2017, http://pub.stat.ee/pxweb .2001/Dialog/varval.asp?ma=PO0222&path=../I_Databas/Population/01Population_indicators_and_composit ion/04Population_figure_and_composition/&lang=1 (zuletzt abgerufen am 8. Februar 2017). 33 Estnisches Statistikamt (Anm. 32). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 13 Die russischstämmige Bevölkerung ist demnach ungleich auf die 16 Landkreise verteilt. Die meisten Russen leben im Landkreis Harju mit der Hauptstadt Tallinn. Ein weiterer Schwerpunkt ist der an Russland grenzende Landkreis Ida-Viru mit der Industrie- und Grenzstadt Narva. Die russische Minderheit lebt also vor allem in den Städten. Zu berücksichtigen ist, daß es noch weitere offiziell erfasste Ethnien in Estland gibt (Ukrainer, Polen, Letten, Finnen, Tartaren, Juden, Letten, Litauer und Deutsche sowie „unbekannt“), zu denen insgesamt 68.122 Menschen (ca. 6 Prozent der Gesamtbevölkerung) zählen. Ethnische Esten (905.805 Menschen) machen 68,83 Prozent der Bevölkerung aus; die Bevölkerungsmehrheit zählt also nicht einmal dreimal so viele Menschen wie die größte ethnische Minderheit. Seit 2012 hat die Zahl der in Estland lebenden ethnischen Russen um ca. 5.000 Personen abgenommen. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der im Land lebenden ethnischen Esten um ca. 9.200 Menschen ab.34 Durch Zuwanderung und leichte Zunahme bei anderen Ethnien sank die Gesamtbevölkerung in diesem Zeitraum allerdings nur um ca. 11.200 Personen. Tendenziell verringert sich die Anzahl ethnischer Esten schneller als die der Angehörigen anderer Ethnien.35 Unter den Russischstämmigen gibt es seit 2010 einen starken Überhang von Senioren (älter als 65) gegenüber Kindern unter 15 Jahren. Laut estnischen Angaben liegt dies zum Teil an Auswanderung, aber vor allem an der bereits seit 50 Jahren deutlich geringeren Geburtenrate von ethnischen Russen im Vergleich zu den ethnischen Esten. Eine russischstämmige Frau in Estland bekommt im Durchschnitt 1,3 Kinder, eine ethnische Estin 1,65 Kinder. Zwar nimmt auch die Zahl der ethnischen Russen seit einigen Jahren ab, doch zeigt der Blick in die Geschichte, wie schnell sich diese Minderheit zuvor vergrößert hatte: im Jahre 1947, nach Angliederung von Ivangorod an die Russische SSR, lag der Anteil Russischstämmiger an der Gesamtbevölkerung bei unter einem Prozent.36 Dabei bestand die damalige russischstämmige Minderheit fast ausschließlich aus den Nachfahren der im 17. Jahrhundert an das Westufer des Peipus-Sees geflüchteten orthodoxen Altgläubigen. Die heutige russische Minderheit besteht demnach fast ausschließlich aus den Russen, die zu Sowjetzeiten in Estland angesiedelt wurden, bzw. deren Nachfahren. Dieser Umstand führt zu 34 Von 1990 bis 2016 nahm die Zahl der ethnischen Esten insgesamt um fast 60.000 Menschen ab (Estnisches Statistikamt). Für andere Ethnien konnte die Zahl nicht ermittelt werden – allerdings nahm die Gesamtbevölkerung in diesem Zeitraum um 252.802 Personen ab, was primär an der negativen Geburtenrate liegt. 35 Abhängig von den Gründen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail geklärt werden konnten, könnte dies aber auch ein Indikator für den wachsenden Wohlstand bzw. Bildungsgrad ethnischer Esten sein: besser ausgebildete und wohlhabendere Menschen sind zumeist eher willens und in der Lage, im Ausland Arbeit zu finden. Dessenungeachtet deuten wirtschaftliche Daten darauf hin, dass Menschen, die die estnische Sprache beherrschen, in Estland wirtschaftlich erfolgreicher sind, was den ethnischen Esten folglich einen Vorteil verschafft. 36 Smith, S. 37 (Anm. 14). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 14 besonderen gesetzlichen und sozialen Gegebenheiten, die die russische Minderheit Estlands und das Verhältnis der estnischen Mehrheitsgesellschaft zu ihr bis heute prägen. Etwa die Hälfte der russischstämmigen Menschen in Estland hat seit der Unabhängigkeit die estnische Staatsangehörigkeit angenommen. (mehr dazu siehe Abschnitt „Erwerb der estnischen Staatsbürgerschaft“). Die Hälfte der noch nicht eingebürgerten russischstämmigen Ansässigen, also etwa ein Viertel aller Russischstämmigen, hat sich für die russische Staatsangehörigkeit entschieden und damit aktiv gegen die Annahme der estnischen.37 3.2. Rechtlicher Status Verschiedene Gesetze haben einen Einfluss auf den rechtlichen und sozialen Status der russischen Minderheit. Dies sind insbesondere das Staatsbürgerschaftsgesetz und das Sprachengesetz. Darüber hinaus ist Estland laut eigener Auskunft einer Reihe von Konventionen und Abkommen zum Schutze von Minderheiten gegen Diskriminierung beigetreten: dem Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („VN-Sozialpakt“) sowie zahlreichen anderen Verträgen, die die Rechte ethnischer Minderheiten schützen. Estland engagiert sich darüber hinaus in zahlreichen internationalen Organisationen, die auch dem Minderheitenschutz verpflichtet sind, d.h. EU, VN, UNESCO, Europarat, Nordischer Rat (als Beobachter) etc. 3.2.1. Estnische Staatsbürgerschaft Die bestehende Gesetzgebung kennt vier gesetzliche Kategorien für in Estland lebende Menschen: estnische Staatsbürger, Bürger anderer Staaten, Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit (s.u.) sowie nichtdokumentierte Personen (sans-papiers).38 Staatsbürger sind alle Personen, die vor dem 16. Juni 1940 die estnische Staatsangehörigkeit besaßen, sowie Kinder, deren Eltern die estnische Staatsangehörigkeit besitzen. Damit sind nahezu alle Russischstämmigen nicht automatisch Staatsbürger. Jedoch haben alle, die legal in Estland leben, die grundsätzliche Möglichkeit, die estnische Staatsangehörigkeit zu beantragen und zu erlangen. Alleine von 1990 bis 1998 wurden so über 100.000 Menschen die Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung verliehen. 37 Ada-Charlotte Regelmann (Anm.29). 38 Europäisches Parlament, Themenpapier Nr. 42: Die russische Minderheit in den Baltischen Staaten und die Erweiterung der EU, 3. Mai 1999, http://www.europarl.europa.eu/enlargement/briefings/42a2_de.htm#3 (zuletzt abgerufen am 10. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 15 Bis heute hat so mehr als die Hälfte der in Estland lebenden „Russen“ die estnische Staatsbürgerschaft angenommen.39 Eine doppelte Staatsangehörigkeit ist außer in Sonderfällen nicht möglich.40 3.2.2. „Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit“ Die russischstämmigen Menschen in Estland41 werden von der Regierung nicht als ethnische Minderheit im eigentlichen Sinne (d.h. als seit jeher in Estland lebende Minderheit) betrachtet, sondern soziopolitisch als Einwanderer der ersten und zweiten Generation42 und, sofern sie die estnische Staatsangehörigkeit nicht erworben haben (s.u.), als „Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit.“ Dabei handelt es sich um eine Art „post-sowjetischer Staatenlosigkeit.“ Diese Kategorie existiert aus zwei Gründen. Zum einen die oben erwähnte völkerrechtliche Regel, nach der eine Besatzungsmacht nicht das Recht hat, in besetzten Gebieten eigene Bürger anzusiedeln. Zum anderen der im estnischen Staatsbürgerschaftsgesetz niedergelegte Grundsatz der Verhinderung von doppelten Staatsbürgerschaften. Diese wiederum könnten aus dem Staatsbürgerschaftsrecht der Russischen Föderation resultieren, das allen ehemaligen Bürgern der UdSSR die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft auf Verlangen garantiert.43 Anders als in den meisten Staaten haben ständig und legal in Estland ansässige Menschen ohne estnische Staatsbürgerschaft das Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen.44 Sie sind zur Teilnahme berechtigt, wenn sie ihre Aufenthaltserlaubnis vor dem 12. Juli 1995 beantragt haben.45 Damit haben auch fast alle estnischen „Russen“ die prinzipielle Möglichkeit, am politischen Leben an ihrem Wohnort teilzunehmen.46 Anders als männliche Staatsbürger sind sie 39 Wayne C. Thompson, Citizenship and borders: Legacies of Soviet empire in Estonia, Journal of Baltic Studies, Band 29, Ausgabe 2, Sommer 1998 , S. 109 – 134. 40 Republik Estland, Gesetz über die Staatsbürgerschaft, § 3 Abs. 1, 2. 41 Mit Ausnahme derjenigen, auf die die Kriterien für die Erlangung der estnischen Staatsangehörigkeit durch Geburt zutreffen, d.h. also z.B. die estnischen Russen, die die Nachfahren der oben erwähnten Altgläubigen sind. 42 Europäisches Parlament (Anm. 38). 43 Wayne C. Thompson (Anm. 38). 44 Europäisches Parlament (Anm. 38). 45 Europäisches Parlament (Anm. 38). 46 Europäisches Parlament (Anm. 38). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 16 nicht zum Wehrdienst verpflichtet.47 Ihnen stehen ebenfalls sämtliche Sozialleistungen des estnischen Staates zu. „Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit“ besitzen einen Pass, der sie zur Einreise und zum Aufenthalt im Schengen-Raum berechtigt. Wie estnische Staatsbürger auch sind sie berechtigt, überall in der EU zu arbeiten. Sie verfügen damit über bedeutend mehr Rechte als Ausländer und sind aus Perspektive des EU-Rechtes fast vollberechtigte EU-Bürger. 3.2.3. Erwerb der estnischen Staatsbürgerschaft48 Eine Person, die die estnische Staatsangehörigkeit erwerben will, muss mindestens 15 Jahre alt sein und mindestens fünf Jahre vor dem Datum, zu dem der Antrag gestellt wird, sowie ein Jahr nach dem Datum der Registrierung des Antrags mit ständigem Wohnsitz in Estland gelebt haben. Die Bedingung des fünfjährigen bzw. einjährigen ständigen Wohnsitzes in Estland gilt nicht für Personen, die vor dem 1. Juli 1990 in Estland gelebt haben und die vor dem 30. April 1996 eine Aufenthaltserlaubnis beantragt haben. Gemäß den Anforderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes muss der Antragsteller auch über Kenntnisse der estnischen Sprache verfügen. Der Sprachtest für den Erwerb der estnischen Staatsangehörigkeit wurde entsprechend den Empfehlungen und Ratschlägen von europäischen Sachverständigen vereinheitlicht. Informationen zu den sprachlichen Anforderungen werden vom Nationalen Prüfungs- und Qualifikationszentrum kostenlos bereitgestellt. Auf Wunsch kann dort jeder eine Vorprüfung ablegen und eine kostenfreie Beratung in Anspruch nehmen. Darüber hinaus steht Lehrern, Antragstellern und Prüfern ein kostenfreies Handbuch zur Verfügung. Bei den Sprachtests ist ein minimales Konversationsniveau nachzuweisen; geprüft werden verstehendes Hören, verstehendes Lesen sowie die schriftlichen und mündlichen Fertigkeiten. Besondere Bestimmungen gelten für vor dem 1. Januar 1930 geborene Antragsteller, die vom Nachweis der schriftlichen Fertigkeiten freigestellt sind, sowie für behinderte Bewerber. Von der Sprachprüfung freigestellt sind Antragsteller, die eine Grundschul-, Oberschul- oder Hochschulausbildung auf Estnisch absolviert haben. Das geprüfte Sprachniveau entspricht also faktisch dem eines Grundschulabgängers. Des Weiteren gilt: - Die Antragsteller müssen Kenntnisse der estnischen Verfassung und des Staatsbürgerschaftsrechts nachweisen. - Die Antragsteller müssen ein ständiges rechtmäßiges Einkommen in ausreichender Höhe besitzen, um den Lebensunterhalt von sich und ihren Unterhaltsberechtigten zu sichern (Arbeitslosengeld, Renten und Pensionen werden ebenfalls als rechtmäßiges Einkommen betrachtet). 47 Gesetz über die Staatsbürgerschaft (Anm. 40). 48 Alle Informationen dieses Abschnittes sind, sofern nicht anders vermerkt, direkt dem Gesetzestext (Anm. 40) entnommen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 17 - Sie müssen einen Treueeid auf den Staat Estland schwören, der besagt: „Mit der Beantragung der estnischen Staatsangehörigkeit schwöre ich, der verfassungsmäßigen Ordnung Estlands treu zu sein.“ - Menschen, die ihre Staatsangehörigkeit mit Geburt erwerben, kann die Staatsbürgerschaft nicht aberkannt werden. Bei allen anderen kann sie beim Vorliegen einer Reihe von Tatbeständen49 wieder verloren gehen. - Männliche Staatsbürger sind zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet. Von 1992 bis Anfang 2017 hat sich der Anteil von Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit laut estnischen Angaben von 32 Prozent auf 5,9 Prozent verringert. Auswanderung und eine niedrigere Geburten- als Sterberate sind teilweise der Grund, der Hauptgrund ist allerdings die Einbürgerung. Vor dem 30. März 1993 waren Einbürgerungen nicht möglich. Das 1991 verabschiedete Gesetz sah diese Frist vor, um der Titularnation, d.h. den ethnischen Esten, nach Erlangung der Unabhängigkeit ihr Vorrecht, über fundamentale politische und institutionelle Weichenstellungen der jungen Staaten zu entscheiden, zu sichern.50 3.3. Politische Repräsentation der russischen Minderheit in Estland Es gibt in Estland derzeit keine Partei, die spezifisch die Anliegen der russischstämmigen Menschen vertritt. Die frühere „Russische Partei in Estland“ ging im Jahre 2012 in der Sozialdemokratischen Partei auf. Derzeit wird Estland von einer Koalition aus der Zentrumspartei, den Sozialdemokraten und der rechtskonservativen Union Pro Patria und Res Publica (Isamaa ja Res Publica Liit; IRL) regiert. Die Zentrumspartei, der auch der jetzige Premierminister und frühere Tallinner Oberbürgermeister Juri Ratas angehört, wird regelmäßig von russischstämmigen Wählern am stärksten unterstützt. Analysten warnen die Partei jedoch vor dem möglichen Verlust dieser Unterstützung, da die zum ersten Mal an der Regierung befindliche Partei ihre im Wahlkampf 2015 russlandfreundlichen Töne mittlerweile zugunsten eines klaren Bekenntnisses zu NATO und EU abgemildert hat.51 Mit der rechten Konservativen Volkspartei von Estland (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond, EKRE) ist im Riikikogu, dem estnischen Parlament, auch eine Partei vertreten, die sich dezidiert für die Belange der ethnischen Esten starkmacht. 49 Unter anderem Dienst in fremden Streitkräften, Landesverrat, falsche Angaben bei Erwerb der estnischen Staatsangehörigkeit, Umsturzversuche etc. 50 Ada-Charlotte Regelmann (Anm. 29). 51 Richard Martyn-Hemphill, Estonia’s New Premier Comes From Party With Links to Russia, New York Times am 20. November 2016. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 18 3.4. Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Estland Estland führt laut eigenen Angaben alle zwei Jahre ein umfassendes Monitoring der Situation von ethnischen Minderheiten, Immigranten und Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit durch. Dabei werden verschiedene Indikatoren erfasst, um die Integration dieser Menschen zu untersuchen und gegebenenfalls zu verbessern sowie etwaigen Diskriminierungen entgegenwirken zu können. In einigen Publikationen, insbesondere russischen, wird eine Diskriminierung russischstämmiger Staatsbürger und Bürger ungeklärter Staatsangehörigkeit beklagt. Oft wird angeführt, der Sprachtest, der zur Einbürgerungsprozedur gehört, sei zu schwierig. Auch seien „Russen“ auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Des Weiteren wird soziale Diskriminierung beklagt. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, dies in Gänze zu untersuchen. Fest steht, dass die „Russen“ in Estland überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Auch verdienen sie durchschnittlich weniger. Am stärksten betroffen sind nicht-estnischstämmige Frauen: sie verdienen im Schnitt nur 55 Prozent dessen, was estnisch-stämmige Männer verdienen.52 Diese Tatsachen können ihre Wurzeln in der Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft haben. Andere mögliche Gründe sind: schlechtere Beherrschung des Estnischen und eine durchschnittlich geringere Qualifizierung (beides erschwert die Aufnahme anspruchsvollerer Tätigkeiten), ein Strukturwandel am Arbeitsmarkt und damit ein damit verbundener Wegfall der Arbeitsplätzen, die zu Sowjetzeiten primär von Russen besetzt waren (vor allem in der Industrie). Grundsätzlich gibt es im Estnischen keine klare Unterscheidung zwischen „Este bzw. Estin“ und „Staatsbürger/in Estlands“, wobei die erste Bezeichnung gemeinhin mit der Ethnie gleichgesetzt und stark mit der Beherrschung des Estnischen assoziiert wird. Kurzgesagt: Este ist nicht schon, wer einen estnischen Pass besitzt, sondern wer estnischer Herkunft ist und estnisch spricht.53 Damit ist es für Immigranten sowie Minderheiten wie den russischstämmigen Bürgern schwer, von der (ethnisch-) estnischen Mehrheitsgesellschaft als „echte“ Esten anerkannt zu werden. Es ist naheliegend, hier (wie auch in jedem anderen Land, in dem ungeachtet der tatsächlichen Rechtslage sprachlich und/oder kulturell Staatsbürgerschaft gemeinhin mit Ethnie gleichgesetzt oder assoziiert wird, z.B. in Deutschland) von zumindest einer prinzipiellen Grundlage für soziale Diskriminierung auszugehen. Unbestritten sinkt die Rate der Einbürgerungen seit 2006. Während viele Russischstämmige dies auf die Schwierigkeiten bei der Einbürgerungsprozedur zurückführen, sehen estnische 52 Tatjana Evas, Integration and ethnic cohesion of the Estonian society, Eesti Inimõiguste Keskus (Estnisches Zentrum für Menschenrechte), 2010, https://humanrights.ee/en/human-rights-estonia/annual-human-rightsreport /human-rights-in-estonia-2010-2/integration-and-ethnic-cohesion-of-the-estonian-society/ (zuletzt abgerufen am 15. Februar 2017). 53 Vgl. dazu Gigi Mihăiţă und Mihai Sebe, Estonia’s Non-Citizens, Citizens of the European Union?, S.4-7, CitizenRights 2015, https://citizenrights.euroalter.com/wp-content/uploads/2016/01/Mihaita-and-Sebe- Estonia%E2%80%99s-Non-Citizens-Citizens-of-the-European-Union-2015.pdf (zuletzt abgerufen am 14. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 19 Soziologen und Politikwissenschaftler den Grund auch in der als Zurückweisung erfahrenen Haltung der estnischen Mehrheitsgesellschaft. Die Russischstämmigen hätten mehrheitlich das Vertrauen in eine Zukunft als gleichgestellte estnische Staatsbürger verloren, deswegen bemühten sich viele gar nicht mehr um die Staatsbürgerschaft. Dazu wird die Tatsache herangezogen, dass die Zustimmung zu den Werten der Demokratie als solche unter Russischstämmigen genauso hoch ist wie unter den ethnischen Esten. Das Vertrauen in die Demokratie in Estland ist unter den Russischstämmigen aber deutlich geringer. Dies gilt allerdings nicht für die Jüngeren, bei denen sich im Hinblick auf das Vertrauen in die Werte und Institutionen Estlands kein Unterschied zu gleichaltrigen ethnischen Esten feststellen lässt. Darüber hinaus hat sich die Mehrheit der Russischstämmigen bereits einbürgern lassen. Es ist also auch denkbar, dass unter jenen, die diesen Schritt nicht getan haben, entweder nicht die Fähigkeiten für das Bestehen der Sprachprüfung vorhanden sind oder eines der anderen Kriterien nicht erfüllt ist. Darüber hinaus schützt auch die Einbürgerung nicht per se vor Diskriminierung aufgrund der Ethnie, bietet aber ansonsten, zusätzlich zu den den Nicht-Bürgern zugestandenen umfassenden Rechte (siehe vorhergehender Abschnitt), durchaus Vorteile. Es ist anhand der vorliegenden Informationen jedenfalls kein einzelner, eindeutiger Grund dafür zu identifizieren, sich nicht einbürgern zu lassen. Unter Umständen kann ein Blick auf die in dieser Hinsicht besser untersuchte russische Minderheit in Lettland hier Ansatzpunkte liefern (siehe unten Abschnitt 4.4, „Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Lettland“). Im Hinblick auf Russland unterscheiden sich die Ansichten vieler Russischstämmiger deutlich von denen der meisten ethnischen Esten. So halten z.B. 78 Prozent der estnischstämmigen Bevölkerung die NATO-Mitgliedschaft für die beste Sicherheitsgarantie. Bei den „Russen“ sind dies 41 Prozent. Nur 18 Prozent der ethnischen Esten, aber 53 Prozent der Russischstämmigen meinen, die Zusammenarbeit mit Russland sei das bessere Sicherheitskonzept. Hinsichtlich des Medienkonsums unterscheiden „Russen“ und Esten sich deutlich: 81 Prozent der Russischstämmigen geben an, russischen Medien zu vertrauen, aber nur 26 Prozent der ethnischen Esten.54 Der Anteil der Menschen ohne jegliche Estnischkenntnisse ist seit der Unabhängigkeit deutlich zurückgegangen, während sich der Anteil der Estnischsprecher stark erhöht hat. Unter den Befragten gaben 37 Prozent an, aktiv Estnisch sprechen zu können, 48 Prozent hatten zumindest ein passives Verständnis der Sprache. Nur 15 Prozent gaben an, überhaupt kein Estnisch zu verstehen bzw. zu sprechen. Insgesamt ist die russische Gemeinschaft in Estland jedoch heterogen. Die estnische Sozialforschung hat hier fünf Teil-Cluster identifiziert, die sich im Hinblick auf ihren rechtlichen Status, die politische Einstellung und die sprachliche und wirtschaftliche Integration unterscheiden: demzufolge sind 16 Prozent „russischsprachige estnische Patrioten“, 21 Prozent „erfolgreich Integrierte“, 13 Prozent sind kritisch sowohl gegenüber der estnischen als auch der 54 BBG Gallup, Role of Russian Media in the Baltics and Moldova, 2015, https://www.bbg.gov/wpcontent /media/2016/02/BBG-Gallup-Russian-Media-pg2-02-04-164.pdf (zuletzt abgerufen am 20. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 20 russischen Politik und identifizieren sich trotz guter Estnischkenntnisse nur schwach mit Estland. Etwa die Hälfte der Russischstämmigen ist schlecht oder gar nicht integriert.55 Ende 2014 verabschiedete die Regierung laut Angaben aus Estland die bis heute gültige Integrationsstrategie „Estland Integrieren 2020.” Die Strategie verfolgt drei Ansätze: 1) Eine stärkere Öffnung der Gesellschaft und Stärkung der mit vertiefter Integration verbundenen Einstellungen, 2) Fortführung der Unterstützung von Langansässigen, die bisher nur kleinere Fortschritte bei der Integration in die estnische Mehrheitsgesellschaft gemacht haben, 3) Förderung der Fähigkeiten von Immigranten, sich anzupassen und zu integrieren. „Estland Integrieren 2020“ legt anders als vorherige Konzepte ein starkes Gewicht auf sozioökonomische , kulturelle und bildungspolitische Faktoren sowie auf verstärkte Kontakte zwischen den Menschen in Estland, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Integration wird als gesamtgesellschaftliche Herausforderung betrachtet. Unbestritten unternimmt die Republik Estland also Schritte, um die Integration von russischstämmigen Esten und Nicht-Bürgern in die Gesellschaft zu verbessern. 55 Informationen dieses Absatzes aus: Kai-Olaf Lang, Die baltischen Staaten und ihr schwieriges Verhältnis zu Russland, APuZ 8/2017, Estland, Lettland, Litauen, 20. Februar 2017. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 21 4. Lettland In Lettland stellt sich die Situation der ethnischen Russen und ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft etwas anders dar als in Estland. Die „russische Minderheit“ (die, siehe unten bzw. analog zu Estland, vom lettischen Gesetz nicht als ethnische Minderheit im engeren Sinne anerkannt wird), ist mit ca. 27 Prozent geringfügig stärker als die in Estland. Das Staatsbürgerschaftsrecht sowie andere gesetzliche Faktoren ähneln den entsprechenden Gesetzen in Estland. Anders als Estland verfügt Lettland aber über zwei russlandfreundliche Parteien in seinem nationalen Parlament („Harmonie“, die zwei Mal hintereinander die größte Fraktion bilden konnte, sowie „Von Herzen Lettland“)56 und die politische Debatte über den Umgang mit den Russischstämmigen wird bedeutend lebhafter geführt. 4.1. Zahlen und Relationen Lettland hat eine Gesamtbevölkerung von ca. 2 Millionen. Ungefähr 520.000 davon sind russischstämmig.57 Weitere faktisch russischsprachige Gruppen sind Ukrainer und Weißrussen. Insgesamt sind fast 38 Prozent der Bevölkerung nicht lettischer Abstammung. Die meisten Russischstämmigen, nämlich rund 70 Prozent, leben in Städten. In der Hauptstadt Riga sind knapp 40 Prozent der Bevölkerung „Russen“ (ca. 699.000 Einwohner insgesamt), in der Industriestadt Daugavpils (Dünaburg) sind es 54 Prozent (ca. 97.000 Einwohner insgesamt). Daugavpils ist damit die größte mehrheitlich russischsprachige Stadt der Europäischen Union. Der Bürgermeister von Riga, Nils Ušakovs, ist russischer Abstammung.58 Etwa 65 Prozent der Russischstämmigen leben in und um Riga, jeweils etwa zehn Prozent leben in den Regionen Latgale (Lettgallen), Zemgale (Semgallen) und Kurzeme (Kurland), und etwa vier Prozent in der Region Vidzeme (Livland).59 Demografisch ähnelt die russischstämmige Bevölkerung der der ethnischen Letten; die größte Altersgruppe ist die der über Vierzigjährigen.60 Die Gruppe der russischstämmigen Menschen in Lettland (bzw. die gesamte nichtlettischstämmige Bevölkerung) weist eine geringere Geburtenrate auf als die Gruppe der ethnischen Letten. Zwar sinkt die Bevölkerung aufgrund von Abwanderung und generell 56 Shaun Walker, Riga mayor: 'I'm a Russian-speaking Latvian and patriot of my country', The Guardian am 15. Juni 2015, https://www.theguardian.com/world/2015/jun/15/riga-mayor-im-a-russian-speaking-latvian-patriotnils -usakovs (zuletzt abgerufen am 14. Februar 2017). 57 Lettisches Statistikamt, Latvijas iedzīvotāju sadalījums pēc nacionālā sastāva un valstiskās piederības, 1. Januar 2016, http://www.pmlp.gov.lv/lv/assets/documents/statistika/IRD2016/ISVN_Latvija_pec_TTB_VPD.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Februar 2017). 58 Shaun Walker (Anm. 56). 59 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave, Analysis of integration of Latvian non-citizens, S. 17 – 19, Baltic Institute of Social Sciences, 2014. 60 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave (Anm. 59). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 22 niedrigeren Geburtenraten, doch (anders als in Estland) nimmt die Zahl der ethnischen Letten langsamer ab als die der Russischstämmigen. Dafür ist auch die Altersstruktur verantwortlich: die Gruppe der Russischstämmigen ist durchschnittlich älter, hat demnach eine tendenziell höhere Sterbe- und niedrigere Geburtenrate.61 4.2. Rechtlicher Status und Erwerb der Staatsangehörigkeit Lettland ist einer Reihe von Konventionen und Abkommen zum Schutze von Minderheiten gegen Diskriminierung beigetreten: dem Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („VN-Sozialpakt“) sowie zahlreichen anderen Verträgen, die die Rechte ethnischer Minderheiten schützen. Lettland engagiert sich darüber hinaus in zahlreichen internationalen Organisationen, die auch dem Minderheitenschutz verpflichtet sind, d.h. EU, VN, UNESCO, Europarat, Nordischer Rat (als Beobachter) etc. Laut Verfassung ist der lettische Staat zur Unterstützung nationaler Minderheiten verpflichtet. Staatsbürgerschaftsgesetz, Sprachengesetz und verschiedene Gesetze und Regelungen bezüglich Bildungswesen und Kulturpflege können ebenfalls einen Einfluss auf die verschiedenen Minderheiten sowie ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft haben. Zwar ist z.B. den Minderheiten der Betrieb eigener Schulen gestattet, zu deren Unterstützung der litauische Staat verpflichtet ist62, an staatlichen Schulen und Universitäten ist jedoch einzig das Lettische Unterrichts- und Prüfungssprache (abgesehen von einzelnen bilingualen Kursen internationaler Ausrichtung, die dann zumeist auf Englisch stattfinden).63 Wie auch in Estland erhielten die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Lande lebenden Russen nicht automatisch die Staatsbürgerschaft. Automatisch erhalten diese nur Menschen, die vor dem 17. Juni 1940 (dem Datum der Annexion durch die UdSSR) lettische Staatsbürger waren, bzw. deren Nachkommen. Die während der Sowjetzeit in Lettland angesiedelten Russen und ihre Nachkommen hatten bzw. haben, wie in Estland, das Recht, in Lettland zu leben und sich um die Staatsbürgerschaft zu bewerben. 61 Alle Informationen hierzu aus: Vladimir Buzayev, Legal and social situation of the Russian-speaking minority in Latvia, S. 23 – 25, Latvijas Cilvēktiesību komiteja, 2013. 62 Außenministerium der Republik Lettland, Facts regarding society integration in Latvia, 3. Februar 2016, http://www.mfa.gov.lv/en/policy/society-integration/facts-regarding-society-integration-in-latvia (zuletzt abgerufen am 21. Februar 2017). 63 Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa – Lettland, S. 20 – 37, Universität Köln 2012, http://www.uni-koeln.de/jurfak /ostrecht/minderheitenschutz/Vortraege/Estland,%20Lettland,%20Litauen/Lettland_Schmidt.pdf (zuletzt abgerufen am 20. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 23 Im Lande ansässige Russen ohne lettische Staatsbürgerschaft haben einen rechtlichen Status, der dem der „Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit“ in Estland entspricht (die amtliche Bezeichnung lautet nepilsoņi, wörtlich Nicht-Bürger). Die Gesetze und Regelungen bezüglich Staatsangehörigkeitserwerb, Wahlrecht, Wehrpflicht und EU-Reisefreiheit durch ethnische Russen sind heute weitgehend identisch mit denen Estlands, so dass hier auf eine erneute ausführliche Darstellung verzichtet wird. Ein fundamentaler Unterschied zur Rechtslage in Estland: die in Lettland geborenen Kinder von Nicht-Bürgern erhalten bis zu ihrem 15. Lebensjahr die lettische Staatsbürgerschaft auf Antrag der Eltern ohne Vorbedingungen.64 Eine weitere signifikante Abweichung von der estnischen Regelung ist, dass nichtlettische frühere Mitglieder der Roten Armee keine Staatsbürger werden dürfen. Die Rote Armee war laut offizieller lettischer Geschichtsschreibung eine Besatzungsarmee. In der zum Erwerb der Staatsbürgerschaft notwendigen Prüfung der Kenntnisse der lettischen Geschichte wird regelmäßig erwartet, dass Prüflinge die Sowjetzeit als Besatzungszeit verstehen. Von den ca. 520.000 in Lettland lebenden Menschen russischer Abstammung sind ca. 354.000 inzwischen lettische Staatsbürger, d.h. ca. 68 Prozent haben sich einbürgern lassen.65 Ähnlich wie in Estland sah das kurz nach Erlangung der Unabhängigkeit verabschiedete Gesetz über die Staatsbürgerschaft eine Frist bis zum Inkrafttreten bzw. bis zum Beginn der Einbürgerungen vor. Diese Frist war allerdings deutlich länger und darüber hinaus mit einer Quote verbunden: erst ab dem Jahr 2000 sollten die Einbürgerungen möglich sein und darüber hinaus auf maximal 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerungszahl pro Jahr beschränkt bleiben. Es liegt auf der Hand, dass im Falle der Realisierung dieser Regelungen bis heute ein Großteil der Russen in Lettland keine Staatsbürger wären, wobei die Quote auch vielen von jenen, die die geforderten Qualifikationen (d.h. vor allem die Beherrschung des Lettischen) erfüllt hätten, den Weg zur Staatsbürgerschaft verwehrt hätte. Erst auf Druck der EU anlässlich der Beitrittsverhandlungen kam es zu einer Änderung des Gesetzes. Die Einbürgerungen nahmen im Übrigen sprunghaft zu, als der EU-Beitritt Lettlands feststand. Offenbar hat die EU-Mitgliedschaft Lettlands die Annahme der lettischen Staatsangehörigkeit für viele Russen deutlich attraktiver gemacht.66 Anders als in Estland, wo etwa die Hälfte der jetzt noch nicht eingebürgerten Russischstämmigen die russische Staatsangehörigkeit angenommen hat, haben in Lettland kaum Menschen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.67 Innerhalb der Gruppe der Russischstämmigen sind die meisten Nicht-Bürger in der 64 Außenministerium der Republik Lettland (Anm. 62). 65 Lettisches Statistikamt (Anm. 57). 66 Alle Informationen dieses Absatzes: Ada-Charlotte Regelmann (Anm. 29). 67 Ada-Charlotte Regelmann (Anm. 29). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 24 Altersgruppe der 45 – 80jährigen zu finden. Von denen, die nach der Unabhängigkeit geboren wurden, sind fast alle lettische Staatsbürger.68 4.3. Politische Repräsentation der russischen Minderheit in Lettland Anders als in Estland und Litauen befinden sich mit der Sozialdemokratischen Partei „Harmonie“ (lett.: Sociāldemokrātiskā Partija "Saskaņa", SDPS) und der eher konservativen kleinen Partei „Von Herzen für Lettland“ (lett.: No sirds Latvijai) zwei prinzipiell russlandfreundliche und den Angelegenheiten der russischstämmigen Minderheit eher zugeneigte Parteien im Parlament. „Harmonie“ konnte bereits zwei Mal die größte Fraktion in der Saeima (dem lettischen Parlament) bilden. Dennoch war sie nie an einer Regierung beteiligt, da sich mehrere kleinere Fraktionen, die zusammen auf mehr Stimmen als „Harmonie“ kommen, bisher stets auf eine Koalition einigen konnten. Die entsprechenden Parteien sind politisch eher lettisch-national einzuordnen und teilen ein außenpolitisches Konzept, zu dem das Misstrauen gegenüber Russland und die Anbindung an den Westen und die NATO gehören. Der Wahlkampf gegen „Harmonie“ wurde auch mit dem Verweis auf deren angebliche Russlandfreundlichkeit und Appellen an den ethnisch-lettischen Nationalismus geführt.69 Der Vorsitzende von „Harmonie“, Nils Ušakovs, ist russischer Abstammung und Oberbürgermeister von Riga.70 Eine Partei, die sich ausdrücklich als politische Vertretung der russischstämmigen Menschen im Lande versteht, ist die sozialdemokratische Union Lettischer Russen (lett.: Latvijas Krievu savienība, russ.: Russkij Sojus Latvii). Sie ist allerdings seit zwei Legislaturperioden nicht mehr in der Saeima vertreten, und hat 2014 auch ihre Sitze in der Stadtverordnetenversammlung von Riga verloren.71 Hinsichtlich der grundsätzlichen Minderheitenpolitik gibt es in Lettland auf verschiedener Ebene fünf staatlich bestellte Sachverständigenräte für nationale Minderheiten: den Sachverständigenrat für Nationale Minderheiten beim Präsidenten, den Sachverständigenrat für Bildung bei nationalen Minderheiten im Ministerium für Bildung und Wissenschaft, den Rat der Vertreter von Nichtregierungsorganisationen von nationalen Minderheiten (Kulturministerium), 68 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave (Anm. 59). 69 Shaun Walker, Latvians fear elections could let Kremlin in by back door, The Guardian am 4. Oktober 2014, https://www.theguardian.com/world/2014/oct/04/latvia-russia-putin-crimea-riga-ukraine-voting (zuletzt abgerufen am 17.-Februar 2017). 70 Vgl. Shaun Walker (Anm. 56). 71 Vgl. Latvian Russian Union, The Party, http://www.rusojuz.lv/en/ (zuletzt abgerufen am 17. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 25 Sachverständigenrat für die Integration von Roma (Kulturministerium) sowie den Sachverständigenrat für die Integration von Ausländern (Kulturministerium).72 4.4. Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Lettland Wie auch in Estland sind russischstämmige Menschen in Lettland häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als die autochthone Bevölkerung. Der Unterschied ist jedoch geringfügiger als beim Nachbarn im Norden. Im Jahre 2002 betrug die Arbeitslosenquote bei ethnischen Letten zehn Prozent, bei den nichtlettischen Menschen 15 Prozent. Mit dem EU-Beitritt Lettlands im Jahre 2004 begann sich der Unterschied jedoch zu verringern: durch die Abwanderung zahlreicher lettischer Bürger in andere EU-Staaten entspannte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt und viele freigewordene Stellen wurden nun unter anderem auch durch Russischstämmige besetzt.73 Laut Angaben der lettischen Regierung, die wiederum auf die „Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung“ der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 200974 verweist, fühlten sich nur fünf Prozent der Russischstämmigen in Lettland diskriminiert, dies sei der geringste Wert von allen EU-Ländern.75 Als Gründe für die Ablehnung der Einbürgerung wird Erhebungen zufolge am weitaus häufigsten die Nichtbeherrschung des Lettischen genannt, gefolgt von der Befürchtung, den obligatorischen Geschichtstest nicht zu bestehen. Von denjenigen, die keine Einbürgerung anstreben, geben 36 Prozent an, keine Notwendigkeit für die Erlangung der lettischen Staatsbürgerschaft zu erkennen. Immerhin ein Drittel (33 Prozent) betrachtet die Einbürgerungsprozedur als demütigend, 23 Prozent gaben an, sich dem Staat Lettland nicht verbunden zu fühlen. Insgesamt sagte eine große Mehrheit der Nicht-Bürger, dass sie in der Zukunft Erleichterungen bei der Einbürgerung erwarte und sowohl aus diesem Grund als auch grundsätzlich keinen großer Druck verspüre, sich einbürgern zu lassen.76 Andere Umfragen deuten ebenfalls darauf hin, dass ein Teil der Nicht- Bürger relativ zufrieden mit ihrem Rechtsstatus ist und daher keine große Motivation zu einer Einbürgerung empfindet.77 Auf Alltagsebene macht ihr besonderer Rechtsstatus für die meisten 72 Regierung der Republik Lettland, Ethnic Composition and the Protection and Promotion of the Cultural Identity of National Minorities, 15. Januar 2015, http://www.mfa.gov.lv/en/policy/society-integration/integration-policyin -latvia-a-multi-faceted-approach/ethnic-structure-and-promotion-of-national-minorities-cultural-identity (zuletzt abgerufen am 20. Februar 2017). 73 Alle Informationen hierzu aus: Vladimir Buzayev, Legal and social situation of the Russian-speaking minority in Latvia, S.137 – 151, Latvijas Cilvēktiesību komiteja, 2013. 74 Abrufbar unter: http://fra.europa.eu/de/publication/2012/eu-midis-bericht-ber-die-wichtigsten-ergebnisse (zuletzt abgerufen am 21. Februar 2017). 75 Außenministerium der Republik Lettland (Anm. 62). 76 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave, S. 27 – 34, (Anm. 59). 77 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave (Anm.59). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 26 Nicht-Bürger tatsächlich keinen spürbaren Unterschied. Für diejenigen, die oft nach Russland reisen, ist er sogar vorteilhaft, da sie kein Visum für Russland benötigen.78 Unter denen, die eine Einbürgerung anstrebten, antworteten die weitaus Meisten auf die Frage nach ihrem Hauptgrund: Lettland sei Wohnort und Lebensmittelpunkt, die lettische Staatsbürgerschaft darum prinzipiell praktisch und sinnvoll (96 Prozent). Etwas weniger nannten als zweiten Grund das Gefühl der Zugehörigkeit zum Staat Lettland (87 Prozent). Deutlich wurde, dass, je besser die Beherrschung der lettischen Sprache, die Motivation, sich einbürgern zu lassen, umso größer ist.79 Zahlreiche Nicht-Bürger antworteten auf die Frage, wie sie ihren Status empfänden, dass sie ihn, ungeachtet der relativ geringen Auswirkungen auf ihren persönlichen Alltag, als grundsätzlich abwertend und diskriminierend wahrnehmen.80 Die meisten Russischstämmigen hegen weniger gegenüber Lettland als Ganzem als vielmehr gegenüber ihrem Wohn- oder Geburtsort Heimatgefühle.81 Viele gaben an, sich als Teil einer „lettisch-russischen Gemeinschaft“ und als solche als verschieden von den „russischen Russen“ zu empfinden. Russland selbst betrachteten die meisten keineswegs als Heimat.82 Russische Medien werden von fast 60 Prozent der Russischstämmigen konsumiert jedoch nur von 15,7 Prozent der ethnischen Letten.83 Dies ist insoweit relevant, als russische Medien den Staat Lettland regelmäßig negativ darstellen. Insbesondere wird Lettland als „faschistisch“, „russenfeindlich“ und „heruntergewirtschaftet“ dargestellt. Dem stimmt allerdings nur eine geringe Minderheit der Russischstämmigen zu. Hier wirkt die russische Propaganda offenkundig nur wenig. Anders sieht es im Hinblick auf die russische Außenpolitik aus. Bei der Bewertung der Ereignisse in der Ukraine stimmt die Mehrheit der Russischstämmigen der Annexion der Krim zu und teilt hinsichtlich des Hybridkrieges im Donbass eher die Linie des Kreml und seiner Medien.84 Die Propaganda der russischen Medien wird von Lettland immerhin als so bedrohlich wahrgenommen, dass in der Vergangenheit mehrere russische Sender wegen Volksverhetzung zeitweise aus dem Netz genommen wurden.85 78 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave, S. 39 – 40 (Anm. 59). 79 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave (Anm. 59). 80 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave, S. 41 – 46, ohne quantitative Angaben (Anm. 59). 81 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave, S. 81 - 84 (Anm. 59). 82 Inese Šūpule, Iveta Bebriša und Evija Kļave, S. 81 (Anm. 59). 83 Nationale Verteidigungsakademie von Lettland, Ieva Bērziņa (Hrsg.), The Possibility of Societal Destabilization in Latvia: Potential National Security Threats, S. 16, 2016. 84 Alle Informationen dieses Abschnittes: Nationale Verteidigungsakademie von Lettland, S. 17 – 20 (Anm. 83). 85 Una Bergmane, Latvia’s Debate About Russian Propaganda, Foreign Policy Research Institute am 6. Juli 2016, http://www.fpri.org/article/2016/07/latvias-debate-russian-propaganda/ (zuletzt abgerufen am 21. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 27 5. Litauen Von allen baltischen Staaten hat Litauen die wenigsten russischstämmigen Bewohner. Sie bilden die zweitgrößte Minderheit nach den im Lande lebenden Polen. Anders als in Estland und Lettland werden sie als Minderheit im engeren Sinne verstanden, wobei das im Jahre 2010 ausgelaufene Gesetz zum Schutz nationaler Minderheiten bislang noch nicht durch ein neues Gesetzeswerk ersetzt wurde. Die Verfassung verpflichtet den Staat jedoch in jedem Fall zum Schutz nationaler Minderheiten. Eine dem estnischen und lettischen Nicht-Bürger entsprechende gesetzliche Kategorie existiert in Litauen nicht. 5.1. Zahlen und Relationen Angaben aus Litauen zufolge lebten zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung im Jahre 2011 176.913 russischstämmige Menschen im Land, das sind 5,8 Prozent von einer Gesamtbevölkerung von ca. 2,956 Millionen. Die meisten russischstämmigen Bewohner Litauens leben in den Städten. In der Hauptstadt Vilnius haben sie einen Anteil von 13 Prozent an der Gesamtbevölkerung, in Klaipėda (Memel) sind es 28 Prozent und in der zu Sowjetzeiten für die Arbeiter eines Atomkraftwerkes errichteten Stadt Visaginas 56 Prozent. In Kleinstädten und Dörfern leben nur sehr wenige Russischstämmige. Seit der Unabhängigkeit hat sich die Zahl der russischstämmigen Menschen im Land stetig verringert. Im Jahre 1989 lebten 344.455 von ihnen im Lande, was 9,4 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung ausmachte. Bereits im Jahre 2001 war der Anteil auf 6,4 Prozent gesunken, wobei die Gesamtbevölkerung Litauens sich ebenfalls seit Jahren durch niedrige Geburtenziffern und Abwanderung verringert. Einer der Hauptgründe für den Weggang vieler Russen war zunächst der Abzug des sowjetischen Militärs, später kam die Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen (sowohl in die Russische Föderation als auch in den Westen) hinzu. Wie bei allen Bevölkerungsgruppen Litauens sinkt auch bei den Russischstämmigen die Geburtenrate. 5.2. Rechtlicher Status Das im Jahre 1989 verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz garantiert laut Angaben aus Litauen allen (zum damaligen Zeitpunkt) permanent in Litauen Ansässigen den Erwerb der litauischen Staatsangehörigkeit, unabhängig von Abstammung, Dauer des Aufenthaltes in Litauen und Kenntnis der litauischen Sprache. Damit besteht keine rechtliche Kategorie wie die estnische bzw. lettische „Person ungeklärter Staatsangehörigkeit.“ Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Sowjetzeit nicht auch in Litauen gemeinhin als Besatzungszeit wahrgenommen wird, was die Einstellung zahlreicher Litauer zu der russischstämmigen Minderheit prägt (s.u.). Die Verfassung von 1992 enthält Artikel, die die Rechte von Minderheiten explizit erwähnen und Diskriminierung verbieten. Ethnische Minderheiten haben ein Recht auf Pflege ihrer Sprache, Traditionen und Kultur, ungeachtet der Tatsache, dass das Gesetz das Litauische als alleinige Amtssprache vorsieht. Sie können auch eigene Schulen und Wohltätigkeitseinrichtungen sowie Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 28 Vereine und Kultureinrichtungen betreiben. Der Staat ist verpflichtet, nationale Minderheiten zu unterstützen. Litauen hat zahlreiche internationale Abkommen und Konventionen zum Schutz nationaler Minderheiten unterzeichnet, inklusive des Rahmenabkommens über den Schutz nationaler Minderheiten. Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen hat Litauen jedoch noch nicht ratifiziert. Im Juli 2011 trat ein neues Bildungsgesetz in Kraft. Es stärkt die Rolle der litauischen Sprache an Minderheitenschulen mit dem ausdrücklichen Ziel, die Integration von Minderheiten in die höhere Bildung und den Arbeitsmarkt zu verbessern. Im selben Jahr wurde Litauisch als einzige Sprache für die landesweit einheitlichen Abschlussprüfungen der weiterführenden Schulen eingeführt. Die bis dahin geltenden Sonderregelungen für Schüler mit einer anderen Muttersprache wurden abgeschafft. Wegen Kritik86 an der relativ kurzen Übergangsphase wurden Lehrer an Minderheitenschulen gesondert geschult, damit sie und ihre Schüler die geänderten Anforderungen bewältigen konnten. 5.3. Politische Repräsentation der russischen Minderheit in Litauen Im Seimas, dem litauischen Parlament, hat die Union litauischer Russen (lit.: Lietuvos rusų sąjunga, LRS, russ.: Sojus russkich Litvij) derzeit keinen Sitz. In früheren Wahlkämpfen bildete sie stets eine Allianz mit der Wahlaktion der Polen in Litauen (lit.: Lietuvos lenkų rinkimų akcija, LLRA, poln.: Akcja Wyborcza Polaków na Litwie, AWPL). In Vilnius hat die Zählgemeinschaft aus LLRA und LRS bei den letzten Kommunalwahlen 10 Sitze im Stadtrat gewonnen.87 Im umliegenden Landkreis Vilnius, in dem die polnische und die russische Minderheit zusammen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, hält die Zählgemeinschaft (die sogenannte Wahlgruppe Tomaševski) derzeit 20 von 30 Sitzen im Kreistag. In Klaipėda (Memel) bilden beide Parteien keine Zählgemeinschaft, die Union litauischer Russen hat hier einen von 30 Sitzen. Die rechtspopulistische Litauische Volkspartei (lit.: Lietuvos liaudies partija, LLP), die kurz nach der Gründung im Jahre 2003 eine Kooperationsvereinbarung mit der russischen Partei Einiges Russland unterzeichnete, hat keinen Sitz im Seimas und kommt landesweit nur auf 7 Sitze in Kommunalparlamenten. 5.4. Soziopolitische Situation der russischen Minderheit in Litauen Angaben aus Litauen zufolge ergeben zahlreiche soziologische Studien zur Situation der „Russen“, dass sich zwar Tendenzen identifizieren, aber keine abschließenden Urteile für die 86 Diese Kritik kam im Übrigen nicht nur von den Minderheiten selbst, sondern auch von der polnischen Regierung, die die Rechte der polnischen Minderheit in Litauen berührt sah. Siehe Ada-Charlotte Regelmann (Anm. 29). 87 TrueLithuania, Lithuanian Municipality election 2015 results, 2. März 2015, http://www.truelithuania.com/lithuanian-municipality-election-2015-results-5804 (zuletzt abgerufen am 21. Februar 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 29 gesamte Minderheit bilden lassen. Auch hier gilt, dass die Russischstämmigen keine homogene Gruppe bilden. Der größte Teil der „Russen“ bezeichnet sich als „litauische Russen“ bzw. „Russen Litauens“, sieht sich also Litauen verbunden. Hierbei gibt es geringfügige Unterschiede zwischen denen, die in Litauen und jenen, die in einem anderen Land geboren wurden. Erstere identifizieren sich stärker mit Litauen. Überpersönliche emotionale Bindungen, d.h. das, was im Deutschen als Heimatgefühl bezeichnet würde, haben die meisten Russischstämmigen an ihren unmittelbaren Wohnort (81,5 Prozent), an Litauen (80,6 Prozent) und an die eigene Volksgruppe (78 Prozent). Hierin ähnelt die Minderheit denen in Lettland. Eine große Mehrheit (75,5 Prozent) ist der Ansicht, dass es sehr wichtig sei, dass die eigenen Kinder Erziehung und Schulbildung in russischer Sprache erhielten. Nahezu alle Russischstämmigen beherrschen das Russische (98,1 Prozent), eine große Mehrheit (79,9 Prozent) erklärt, das Litauische zu beherrschen. Jene, die angaben, kein Litauisch zu sprechen, sind überwiegend älter als 50 Jahre (85,2 Prozent). Dagegen sprechen fast alle, die nach der Unabhängigkeit die Schule besucht haben, sowohl Russisch als auch Litauisch sowie eine dritte Sprache. Zuhause sprechen 71 Prozent der „Russen“ russisch, 21,3 Prozent sprechen russisch und litauisch und 5,6 Prozent vorrangig litauisch.88 Hinsichtlich der Bereitschaft, Litauen zu verlassen und im Ausland zeitweise oder dauerhaft zu arbeiten, unterscheiden sich die Russischstämmigen nicht von anderen Litauern. Grundsätzlich ist die Bereitschaft relativ hoch (fast 60 Prozent aller Befragten sind sich zumindest nicht sicher, Litauen niemals verlassen zu wollen), wobei junge Menschen und solche mit Arbeit eine höhere Offenheit hinsichtlich der Auswanderung aufweisen. Staatsangehörigkeit, ethnischer Hintergrund oder Geschlecht haben dagegen keinen signifikanten Einfluss. Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und russischer Minderheit ist letztere gespalten: 47 Prozent meinen, es gebe gewisse Spannungen und 10 Prozent, es gäbe starke Spannungen – doch 41 Prozent meinen, es gäbe überhaupt keine Spannungen. Die Mehrheit aller Befragten gab an, selbst keine Diskriminierung aufgrund der Ethnie erfahren zu haben. Während die russischstämmige Jugend weitgehend gut integriert ist, zeigen sich sowohl mit Blick auf die Sowjetvergangenheit als auch auf die aktuelle Politik Russlands divergierende politische Bewertungen. In einer im Sommer 2016 veröffentlichten Untersuchung mit 500 Befragten aus ethnischen Minderheiten im Alter von 18 bis 78 stimmten mehr als die Hälfte – 52,8 Prozent – der Aussage zu, Russlands Vorgehen in der Ukraine sei angesichts des Verhaltens der USA und der NATO angemessen. Darüber hinaus vertraten 42,8 Prozent die Ansicht, die Annexion der Krim sei legal erfolgt. Dem Zitat des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, stimmten 42,8 Prozent zu. Russland wird von 66,1 Prozent der befragten litauischen Russen als freundlich gesonnenes Land eingestuft, 72 Prozent von ihnen haben eine gute 88 Darüber hinaus geben große Teile der polnischen Minderheit Litauens an, zu Hause Russisch zu sprechen und russische Medien zu konsumieren. Siehe Kai-Olaf Lang (Anm. 55). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 30 Meinung von Präsident Putin. Dagegen halten laut anderen Umfragen 71,4 Prozent der Gesamtbevölkerung Russland für ein Litauen feindlich gesonnenes Land. Die oben erwähnte Studie unter Minderheiten ergab, dass die Angehörigen der russischen Minderheit bis auf wenige Ausnahmen stark von den russischen Medien beeinflusst werden. Russen mit geringerem Einkommen hatten eine stärkere Tendenz, Russland, seine Politik und Präsident Putin positiv zu betrachten. Dasselbe traf auf jene zu, die Informationen meist aus russischen Medien bezogen und auf die, die vorrangig Nostalgiegefühle für die Sowjetunion hegten. Darüber hinaus gibt es starke Abweichungen zwischen Russen und ethnischen Litauern hinsichtlich der Bewertung der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges sowie der Rolle der Sowjetunion. Angaben aus Litauen zufolge könnten die oben geschilderten Unterschiede hinsichtlich der Bewertung der Sowjetvergangenheit und insbesondere der aktuellen Politik Russlands ein signifikantes Hindernis bei der Integration der russischen Minderheit in die litauische Mehrheitsgesellschaft darstellen. Insgesamt sind Fragen von Ethnizität und Identität in der Politik in Litauen aber deutlich weniger wichtig als in Estland und Lettland. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 010/17 Seite 31 6. Schlussbemerkungen Die russischstämmigen Menschen im Baltikum sind keine homogene Gruppe, ebenso wie das Baltikum keine homogene Region ist. Obwohl die heutigen russischstämmigen Minderheiten in den drei baltischen Staaten einen gemeinsamen historischen Ursprung in der Zeit der Sowjetisierung haben, und obwohl sie in allen drei Ländern vornehmlich in den Städten leben und vergleichbare Demografien aufweisen, unterscheiden sie sich mittlerweile voneinander und bilden auch untereinander keine einheitliche Gruppe. Am ehesten zu vergleichen sind noch die Russischstämmigen von Estland und Lettland, die zahlenmäßig weitaus größere Gruppen sind als ihr Äquivalent in Litauen. Estland und Lettland haben für ihre russischstämmigen Einwohner jeweils einen besonderen Rechtsstatus geschaffen. Dieser Rechtsstatus wird zwar von einigen als grundsätzlich diskriminierend empfunden, gesteht den russischstämmigen Nicht-Bürgern aber deutlich mehr Rechte zu, als sie Ausländern (auch in anderen Staaten) gewährt werden. Eine systematische, gar politisch gewollte, Diskriminierung Russischstämmiger kann nicht pauschal festgestellt werden. Prinzipiell steht den weitaus meisten Russischstämmigen die Einbürgerung offen, und mehr als die Hälfte von ihnen hat diese Möglichkeit seit der Einbürgerung auch genutzt. In Lettland ist nahezu jeder Russischstämmige unter 20 inzwischen lettischer Staatsbürger. Alle drei Staaten verfügen über staatliche Institutionen, politische Strategien und Mechanismen, um den Minderheitenschutz zu gewährleisten und die Integration aller Minderheiten zu verbessern. Regelmäßige Studien im Auftrag der Regierungen und darauf folgende Anpassungen der Minderheitenpolitik zeigen, dass die baltischen Staaten grundsätzlich an einer Integration der Russischstämmigen interessiert sind. Zahlreiche Russischstämmige empfinden zwar ihre Gruppe als diskriminiert, aber der Anteil jener, die angeben, persönlich Diskriminierung erfahren zu haben, ist deutlich geringer. In allen drei Staaten werden Sprache und Kultur der Minderheiten gesetzlich geschützt, gleichzeitig ist die Beherrschung der jeweiligen Titularsprache (wie in fast jedem Land) die Voraussetzung für die Erlangung der vollen Staatsbürgerschaft sowie der vollen Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft. Probleme ergeben sich aus der unterschiedlichen Interpretation historischer Ereignisse und der aktuellen Politik Russlands. Die russischstämmigen Menschen im Baltikum tendieren dazu, vor allem russische Medien zu konsumieren und zeigen in der Regel deutlich mehr Verständnis für die russische Außenpolitik. Diese wird von der autochthonen Bevölkerung regelmäßig sehr viel kritischer betrachtet. In Wahlkämpfen und politischen Debatten lässt sich deswegen in Abhängigkeit von der gerade aktuellen russischen Politik eine gewisse Lagerbildung entlang ethnischer Linien feststellen. Diese hat jedoch bislang kaum zu echten Problemen geführt. Grundsätzlich lässt sich auch keine besonders starke Loyalität der Russischstämmigen gegenüber Russland feststellen – zu vorteilhaft ist die Zugehörigkeit zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zu eng sind die Bindungen gerade der jungen Generation der baltischen Russen an das Land, in dem sie leben. ***