© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 009/19 Zur völkerrechtlichen Anerkennung Palästinas Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 2 Zur völkerrechtlichen Anerkennung Palästinas Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 009/19 Abschluss der Arbeit: 4. Februar 2019 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Kriterien der Staatlichkeit Palästinas nach der Montevideo-Konvention 6 3. Rechtliche und politische Bedeutung der völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten 9 4. Aufnahme Palästinas in internationale Organisationen 10 4.1. Vereinte Nationen 10 4.2. UNESCO 11 4.3. Internationaler Strafgerichtshof 11 4.4. Zwischenergebnis 12 5. Völkerrechtliche Einschränkungen der Anerkennung von Staaten 13 5.1. Stimson Doktrin 13 5.2. Vorzeitige Anerkennung 13 5.3. Israelische Rechtsauffassung zur Anerkennung Palästinas 15 5.4. Auffassung der Bundesregierung 16 5.5. Resolutionen des VN-Sicherheitsrats 17 5.6. Road Map to Peace 18 5.7. Oslo II-Abkommen 18 5.8. Zwischenergebnis 19 6. Mitverantwortung der Staatengemeinschaft für angebliche Verletzungen des Nahost-Friedensprozesses durch Palästina 20 6.1. Völkerrechtliche Verpflichtungen aus dem Oslo-II-Abkommen 20 6.2. Völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staatengemeinschaft 22 7. Resümee 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 4 1. Einführung Der völkerrechtliche Status Palästinas ist in der Rechtswissenschaft seit Bestehen des Nahostkonflikts kontrovers diskutiert worden. Im Mittelpunkt vieler Untersuchungen standen Fragen nach der Staatlichkeit und der staatlichen Anerkennung Palästinas, die seit der Ausrufung eines Palästinenserstaates durch die PLO (Palestine Liberation Organisation) im Jahre 1988 unterschiedlich bewertet und dementsprechend politisch gehandhabt wurden. So haben derzeit (Stand: Januar 2019) von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (VN) 137 Staaten Palästina als unabhängigen Staat anerkannt, darunter aber kaum europäische oder nordamerikanische Staaten.1 Die Bundesrepublik Deutschland hat Palästina bislang nicht offiziell anerkannt. Auch die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte geht davon aus, dass es keinen eigenständigen Staat Palästina gibt.2 Das Europäische Parlament hat Palästina – anders als einige Parlamente der EU-Mitgliedstaaten3 – nicht explizit als Staat anerkannt; es unterstützt aber grundsätzlich die Anerkennung der palästinensischen Eigenstaatlichkeit und die Zwei-Staaten-Lösung in Verbindung mit fortgesetzten Friedensverhandlungen.4 Seit Anfang der 2010er Jahre ist die Rolle Palästinas erneut in das Blickfeld des völkerrechtlichen Interesses gerückt, als die Palästinensische Autonomiebehörde (Palestinesian Authority) unter Präsident Abbas eine Reihe von konzertierten politischen Demarchen unternommen hat, um die Stellung Palästinas in der internationalen Gemeinschaft zu stärken und zur vollständigen Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit beizutragen. Öffentliche Beachtung fanden dabei vor allem der Aufnahmeantrag Palästinas bei den Vereinten Nationen und der UNESCO. 1 Über 80 Anerkennungen erfolgten bereits 1988 (darunter Anerkennungen durch viele arabische Staaten sowie durch Russland und China); die jüngste Anerkennung erfolgte im August 2018 durch Kolumbien. Bislang völkerrechtlich nicht anerkannt ist der Staat Palästina von den meisten westeuropäischen Staaten (einschließlich Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien) sowie den USA und Kanada. 2 Vgl. z.B. VG Düsseldorf, Entscheidung vom 14.9.2007 – 21 K 2318/07, Rdnr. 74, online unter: https://openjur.de/u/125783.html; VGH Mannheim, Urteil vom 5.4.2006 – A 13 S 302/05, Rdnr. 36, online unter: https://openjur.de/u/373968.html; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, S. 788. Gegen die Staatsqualität Palästinas entschied auch der Oberste Gerichtshof Israels, http://elyon1.court.gov.il/files/03/600/040/P38/03040600.P38.htm. 3 Vgl. die Anträge auf Anerkennung des Staates Palästina, die am 13. Oktober 2014 im Unterhaus des Vereinigten Königreichs, am 22. Oktober 2014 im irischen Senat, am 18. November 2014 im spanischen Parlament, am 2. Dezember 2014 in der französischen Nationalversammlung und am 12. Dezember 2014 im portugiesischen Parlament angenommen wurden. 4 Europäisches Parlament, P8_TA(2014)0103, „Anerkennung der palästinensischen Eigenstaatlichkeit“, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2014 zu der Anerkennung der palästinensischen Eigenstaatlichkeit (2014/2964(RSP)), Erwägung Nr. 1, online unter: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2014- 0103+0+DOC+PDF+V0//DE. Vgl. dazu den Bericht Deutsche Welle online vom 17.12.2014, „Dämpfer für die Anerkennung Palästinas als Staat“, https://www.dw.com/de/d%C3%A4mpfer-f%C3%BCr-die-anerkennung-pal%C3%A4stinas-als-staat/a- 18136637. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 5 Im Jahre 2012 hat Palästina bei den Vereinten Nationen den Status eines Beobachterstaats („non- Member observer state status“) erhalten;5 die Erfolgsaussichten einer Vollmitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen dürften wegen des Vetos der USA als gering zu bewerten sein.6 Seit 2011 ist Palästina Vollmitglied der UNESCO und 2015 dem Römischen Statut zum Internationalen Strafgerichtshof7 sowie zahlreichen VN-Konventionen beigetreten.8 2017 wurde Palästina Vollmitglied von Interpol. Neben der politischen Diskussion über die Staatlichkeit Palästinas werden von israelischer Seite seit einigen Jahren auch völkerrechtliche Bedenken gegen eine Anerkennung Palästinas erhoben . In Rede stehen dabei mutmaßliche Verletzungen von VN-Resolutionen sowie von israelischpalästinensischen Friedensabkommen wie dem Oslo-II-Abkommen, welche eine Konfliktlösung auf Grundlage von Verhandlungen fordern. Die von Israel vertretene Auffassung, auf die noch ausführlich eingegangen wird (vgl. unten 5.3.) ist auch von deutschen Politikern wie z.B. dem Bundestagsabgeordneten Mißfelder aufgegriffen worden.9 5 „UN werten Palästinenser mit Beobachterstatus auf“, SZ vom 30.11.2012, https://www.sueddeutsche.de/politik/historische-abstimmung-in-new-york-un-werten-palaestinenser-mitbeobachterstatus -auf-1.1537670. Vgl. dazu Schaller, Christian, Palästinas Aufwertung zum Beobachterstaat in den Vereinten Nationen. Völkerrechtliche Konsequenzen und die Frage der Internationalen Strafgerichtsbarkeit, SWP-Aktuell Nr. 73, Dezember 2012, online unter: https://www.swpberlin .org/fileadmin/contents/products/aktuell/2012A73_slr.pdf sowie die Bewertung von Hobe, Stephan, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen, 10. Aufl. 2014, S. 177. Die Resolution 67/19 der VN-Generalversammlung vom 29.11.2012 für die diplomatische Aufwertung Palästinas (http://www.un.org/depts/german/gv-67/band1/ar67019.pdf) wurde von 138 Staaten gebilligt; neun Staaten (darunter die USA, Israel und Kanada) stimmten dagegen; der Rest (u.a. Deutschland und Großbritannien) enthielt sich. Den Rang eines „beobachtenden Nichtmitgliedsstaates“ der VN hat neben Palästina auch der Vatikan (http://www.un.org/en/sections/member-states/non-member-states/). 6 Diese Auffassung teilen u.a. Schaller, Christian, „Palästinas Aufwertung zum Beobachterstaat in den Vereinten Nationen. Völkerrechtliche Konsequenzen und die Frage der Internationalen Strafgerichtsbarkeit“, SWP-Aktuell Nr. 73, Dezember 2012, S. 3, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2012A73_slr.pdf sowie Mißling, Sven, „Der Status Palästinas in internationalen Organisationen“, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2012, S. 147-153 (150) unter Berufung auf die Einschätzung des Security Council Report, Update Report Nr. 2, Palestine’s Application vom 23.9.2011. 7 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/palaestina-tritt-dem-internationalen-strafgerichtshofbei -13516429.html. 8 Ein Überblick über die von Palästina ratifizierten völkerrechtlichen Verträge findet sich auf der Homepage der Permanent Observer Mission of the State of Palestine to the United Nations, http://palestineun.org/category/treaties-conventions/. 9 „Sollten wir Palästina schon als Staat anerkennen?“, Welt online vom 1.3.2015, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article137948621/Sollten-wir-Palaestina-schon-als-Staatanerkennen .html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 6 Dies führt zu der Frage, ob der politisch umstrittenen10 Anerkennung Palästinas durch die Bundesrepublik Deutschland, für die sich laut Umfrage des online-Portals für Statistik Statista 65 Prozent der deutschen Bevölkerung aussprechen,11 völkerrechtliche Gründe entgegenstehen. Diese Frage ist, soweit ersichtlich, rechtlich bislang noch nicht näher untersucht worden. Zur Klärung sollen zunächst grundlegende Aspekte der völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten (dazu 3.) erörtert werden, die eng verknüpft sind mit der Frage, wann von der Existenz eines Staates ausgegangen werden kann. Zweifel an der Staatlichkeit Palästinas sind immer wieder mit Blick auf die Frage der souveränen Staatsgewalt über die von Israel besetzten Gebiete Westjordanland und Gaza geäußert worden (dazu 2.). In diesem Zusammenhang ist nicht nur die Anerkennungspraxis der Staatengemeinschaft, sondern auch die Praxis der internationalen Organisationen anlässlich einer Aufnahme Palästinas zu bewerten (dazu 4.). Zentraler Gegenstand dieser Untersuchung sind die völkerrechtlichen Einschränkungen von Anerkennungen (dazu 5.). Zu prüfen ist dabei, wie Zweifel an der Staatlichkeit im Lichte eines etwaigen Verbots der vorzeitigen Anerkennung zu bewerten sind. Zu klären ist weiter, ob sich Anerkennungsverbote aus den einschlägigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrates bzw. aus dem Oslo-II-Abkommen zwischen Israel und der PLO ergeben können. Abschließend soll die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staatengemeinschaft im Lichte einer möglichen Verletzung des Oslo-II-Abkommens untersucht werden (dazu 6.). 2. Kriterien der Staatlichkeit Palästinas nach der Montevideo-Konvention Die Entstehung eines Staates ist ein politisch-soziologischer Vorgang, der nach dem Effektivitätsprinzip zu beurteilen ist.12 Dabei geht es um das Vorliegen konstituierender Staatlichkeitselemente (Staatsgebiet – Staatsvolk – Staatsgewalt), die der Staatsrechtler Georg Jellinek um 1900 in seiner sog. „Drei-Elementen-Lehre“ entwickelt hat. Die mittlerweile völkergewohnheitsrechtlich akzeptierten Kriterien der Staatlichkeit sind später in Art. 1 der Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. Dezember 193313 festgeschrieben und ausdifferenziert worden: 10 Vgl. zuletzt Antrag der Fraktion Die LINKE, „Den Staat Palästina anerkennen“, BT-Drs., 19/3906 v. 21.8.2018, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/039/1903906.pdf. Vgl. zur Diskussion allgemein Kinan Jaeger, Der "Staat Palästina": Herausforderung deutscher Außenpolitik, in: APuZ 2002, online auf der Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung, http://www.bpb.de/apuz/25312/der-staat-palaestina-herausforderungdeutscher -aussenpolitik?p=all. 11 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/226521/umfrage/meinung-zur-anerkennung-des-staates-palaestinadurch -deutschland/; vgl. zu dem online-Portal Statista den Beitrag von Müller, „Balken, die die Welt beschreiben “, in: Spiegel online v. 14.10.2015, http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/statista-balken-die-diewelt -beschreiben-a-1055683.html. 12 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 175. 13 Deutscher Text unter: http://krd-blog.de/wp-content/uploads/2015/01/montevideo_dt_markiert.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 7 „Der Staat als eine Person internationalen Rechts sollte über die folgenden Merkmale verfügen: eine ständige Bevölkerung; ein definiertes Territorium; eine Regierung und die Fähigkeit, mit den anderen Staaten in Beziehung zu treten.“ Gleichwohl ergeben sich in der Staatenpraxis immer wieder Zweifel an der Staatlichkeit eines territorialen Gebildes.14 Diskutiert wird seit Jahrzehnten über den Fall Palästina: Während die Existenz und das Selbstbestimmungsrecht eines palästinensischen Volkes völkerrechtlich außer Frage stehen,15 wird über den exakten Grenzverlauf Palästinas entlang der besetzen Gebiete sowie über den Status von Jerusalem als Hauptstadt nach wie vor diskutiert.16 Zweifel bestehen aber vor allem am Vorliegen souveräner palästinensischer Staatsgewalt, da Israel weiterhin die Außengrenzen und große Teile des Gebiets des Westjordanlands kontrolliert.17 De facto ist die Kontrolle über die verschiedenen Territorien zwischen Israel, der Palästinensischen Autonomiebehörde und seit der innerpalästinensischen Spaltung im Juni 2007 der Hamas- Regierung im Gaza-Streifen ungleich geteilt.18 14 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 175, mit Beispielen in Rdnr. 179; Hobe, Stephan, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen, 10. Aufl. 2014, S. 77. 15 Vgl. ICJ Advisory Opinion vom 9.7.2004, “Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory”, Rdnr. 118, https://www.icj-cij.org/files/case-related/131/131-20040709-ADV-01-00- EN.pdf: “(…) the Court observes that the existence of a is no longer in issue. Such existence has moreover been recognized by Israel in the exchange of letters of 9 September 1993 between Mr. Yasser Arafat, President of the Palestine Liberation Organization (PLO) and Mr. Yitzhak Rabin, Israeli Prime Minister. In that correspondence, the President of the PLO recognized ´the right of the State of Israel to exist in peace and security` and made various other commitments. In reply, the Israeli Prime Minister informed him that, in the light of those commitments, ´the Government of Israel has decided to recognize the PLO as the representative of the Palestinian people`”. Anerkannt wurde das Palästinensische Volk bereits durch die Resolution der VN-Generalversammlung vom 22.11.1974, UN-Dok. A/RES/3236 (XXIX) v. 22.11.1974 https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal.nsf/0/025974039ACFB171852560DE00548BBE. 16 So ging der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem „Mauergutachten“ davon aus, dass die endgültige Festlegung der Grenzen auch durch die israelischen Sperranlagen nicht getroffen sei, vgl. ICJ Advisory Opinion vom 9.7.2004, “Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory”, Rdnr. 121, https://www.icj-cij.org/files/case-related/131/131-20040709-ADV-01-00-EN.pdf. 2008 machten die Palästinenser einen neuen Vorschlag für die künftige Grenzziehung. 17 Vgl. Krajewski, Markus, Völkerrecht, Baden-Baden 2017, § 7 Rdnr. 46; ähnlich Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht , München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 178; Mißling, Sven, „Der Status Palästinas in internationalen Organisationen“, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2012, S. 147-153 (153); Kavitha Giridhar, Legal Status of Palestine, Drake University online 2006 (https://www.drake.edu/media/departmentsoffices/dussj/2006- 2003documents/PalestineGiridhar.pdf): “States may individually recognize Palestine, but the international community as a whole does not recognize Palestine as a state. Palestine has not yet met the de facto requirements of statehood.” Roguski, Przemyslaw, „Geplante UN-Mitgliedschaft Palästinas: Wann ist ein Staat ein Staat?“, Legal Tribune online vom 17.5.2011, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/geplante-unmitgliedschaft -palaestinas-wann-ist-ein-staat-ein-staat/. 18 Vgl. näher Asseburg, Muriel, Palästinas verbauter Weg zur Eigenstaatlichkeit, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2018, S. 105-110 (107), online unter: https://www.swpberlin .org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/03_Asseburg_VN_3-2018_7-6-2018.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 8 Problematisch ist, dass die Palästinenser nur über eine begrenzte Herrschaftsgewalt über die von ihnen bewohnten Gebiete verfügen. Die Hoheitsgewalt der palästinensischen Autonomie- Behörde lässt sich dabei auf das Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen (sog. Oslo II-Abkommen)19 zurückführen, welches Verhandlungen zur Lösung der Statusfrage vorsieht und beide Seiten verpflichtet, bis zu deren Abschluss keine Schritte zu unternehmen , die den Status des Westjordanlandes und des Gazastreifens verändern.20 In den Oslo-Abkommen hat Israel nur einem Teil der Gebiete im Westjordanland und dem Gaza- Streifen eine begrenzte Autonomie gewährt; dabei geht es im Wesentlichen um Selbstverwaltung und die Kontrolle der inneren Ordnung. Wichtige Aspekte von Staatsgewalt, insbesondere die äußere Sicherheit (z.B. Kontrolle der Außengrenzen der palästinensischen Gebiete), verbleiben auch nach der israelischen Räumung des Gaza-Streifens im Sommer 2005 bei Israel. In der Debatte um die Staatsqualität Palästinas sehen andere Teile der Literatur die völkerrechtlichen Kriterien der Staatlichkeit ungeachtet der besatzungsbedingt eingeschränkten Herrschaftsgewalt der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bereits als erfüllt an.21 Verwiesen wird dabei u.a. auf die Anerkennung Palästinas durch große Teile der Staatengemeinschaft sowie auf die Praxis der internationalen Organisationen. So seien auch solche territorialen Gebilde wie z.B. Ost-Timor, Bosnien-Herzegowina und das Kosovo als Staaten anerkannt und zum Teil in die VN und ihre Sonderorganisationen aufgenommen worden, obwohl sie zum Anerkennungszeitpunkt nicht über die volle Staatsgewalt verfügten. Palästina selbst sei bereits im Jahre 1988, obwohl es dem palästinensischen Gemeinwesen damals unstrittig an wesentlichen Merkmalen der Staatlichkeit gefehlt habe, von zahlreichen Staaten des ehemaligen Ostblock und der blockfreien Welt anerkannt worden. Auch die VN-Generalversammlung hatte die Eigenstaatlichkeit Palästinas 1988 anerkannt.22 19 Israeli-Palestinian Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip (Oslo II), vom 28. September 1995, englische Fassung online unter: https://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=3de5ebbc. 20 Vgl. näher Rubin, Benjamin, “Israel, Occupied Territories”, in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), Stand: Oktober 2009, online unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1301?print=pdf. 21 Vgl. nur Winston P. Nagan, The Legal and Policy Implications of the Possibility of Palestinian Statehood, in: 18 Univ. California Davis J. Int'l L. & Pol'y 343 (2012), S. 343-443 (442), online unter: https://scholarship.law.ufl.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1267&context=facultypub zuletzt Pitta, Michele, Statehood and recognition: the case of Palestine, Univ. Barcelona, Mai 2018, S. 17 ff., http://diposit.ub.edu/dspace/bitstream/2445/123175/1/TFM_Michele_Pitta.pdf. 22 Resolution VN-Generalversammlung vom 15.12.1988, UN-Dok. A/RES/43/177, https://www.dipublico.org/2280/status-of-palestine-in-the-united-nations-ares6719-full-text/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 9 3. Rechtliche und politische Bedeutung der völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten Zur Frage der Anerkennung von Staaten bestimmt Art. 3 der Montevideo-Konvention: „Die politische Existenz eines Staates ist unabhängig von der Anerkennung durch andere Staaten. Auch vor dieser Anerkennung hat ein Staat das Recht, seine Integrität und Unabhängigkeit zu verteidigen (…)“. Die Montevideo-Konvention macht damit deutlich, dass die Anerkennung von Staaten nur deklaratorische, aber keine konstitutive Wirkung entfaltet.23 Für die Staatsqualität ist es also nicht entscheidend, ob ein Gebilde rechtlich als „Staat“ anerkannt worden ist. Andersherum vermag die völkerrechtliche Anerkennung keine Staaten zu schaffen, wo faktisch keine existieren. Gleichwohl ist die Anerkennung von Staaten in der Völkerrechtspraxis von großer Bedeutung. Mit einer völkerrechtlichen Anerkennung können die Staaten nämlich zum Ausdruck bringen, dass ein territoriales Gebilde aus ihrer Sicht sämtliche Merkmale eines Staates aufweist und sie bereit sind, das betreffende Gebilde fortan in den internationalen Beziehungen nach völkerrechtlichen Regeln als Staat zu behandeln. Zwar entfaltet die Anerkennung ihre Wirkung grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen dem anerkennenden Staat und dem als Staat anerkannten Gebilde. Eine breite Anerkennung kann jedoch dazu beitragen, dass ein Gebilde trotz zweifelhafter Staatsqualität in die Staatengemeinschaft integriert wird.24 Da häufig nicht eindeutig feststellbar ist, ob die Voraussetzungen der Staatlichkeit wirklich erfüllt sind, und zudem auf internationaler Ebene kein Organ existiert, das eine solche Feststellung verbindlich treffen könnte, lässt sich die etwaige Rechtswidrigkeit einer Anerkennung in der Praxis kaum justitiabel machen. So liegt denn die Entscheidung über die Anerkennung eines anderen Staates weitgehend im souveränen Ermessen eines Staates, der in eigener Verantwortung und aufgrund seiner Einschätzung der Faktenlage darüber entscheidet.25 In der Praxis erfolgt die Anerkennung von Staaten zumeist aus politischen, wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Motiven. Dies mag im Einzelfall die rechtliche Aussagekraft einer Anerkennung hinsichtlich der Staatsqualität des anerkannten Staates relativieren. 23 So auch Krajewski, Markus, Völkerrecht, Baden-Baden 2017, § 7 Rdnr. 58; vgl. zum Theorienstreit Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 174; Pitta, Michele, Statehood and recognition : the case of Palestine, Univ. Barcelona, Mai 2018, S. 5 ff. 24 So Schaller, Christian, „Palästinas Aufwertung zum Beobachterstaat in den Vereinten Nationen. Völkerrechtliche Konsequenzen und die Frage der Internationalen Strafgerichtsbarkeit“, SWP-Aktuell Nr. 73, Dezember 2012, S. 4, online unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2012A73_slr.pdf. 25 Schaller, Christian, Sezession und Anerkennung, SWP-Studie Nr. 33, Dezember 2009, S. 18, online unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2009_S33_slr_ks.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 10 4. Aufnahme Palästinas in internationale Organisationen Neben der Anerkennungspraxis von Staaten erscheint auch die Praxis internationaler Organisationen aufschlussreich, wenn diese in ihren Satzungen nur die Aufnahme von „Staaten“ erlauben und über die Aufnahme ein international besetztes Gremium entscheidet. Beleuchtet werden soll in diesem Zusammenhang die Diskussion um die Aufnahme Palästinas in die Vereinten Nationen, die UNESCO und den Internationalen Strafgerichtshof. 4.1. Vereinte Nationen Die Aufnahme neuer Mitglieder in die VN ist in Art. 4 VN-Charta geregelt. Demnach können solche Staaten aufgenommen werden, die „friedliebend“ und fähig und willens sind, die Verpflichtungen aus der VN-Charta zu erfüllen. Die Aufnahmeprozedur beginnt mit der Zuleitung eines Mitgliedschaftsantrags an den VN-Generalsekretär. Daraufhin prüft der Sicherheitsrat, ob die Aufnahmevoraussetzungen des Art. 4 VN-Charta vorliegen. Nach Regel 59 der Vorläufigen Geschäftsordnung des Sicherheitsrats wird die nach Artikel 4 Absatz 2 VN-Charta erforderliche Empfehlung des Sicherheitsrats durch entsprechende Schlussfolgerungen des Ausschusses für die Aufnahme neuer Mitglieder (Committee on the Admission of New Members) vorbereitet. Kommt der Sicherheitsrat zu dem Schluss, dass die Aufnahmevoraussetzungen erfüllt sind, spricht er gegenüber der Generalversammlung eine Empfehlung aus. Die Generalversammlung kann das Vorliegen der Mitgliedschaftsvoraussetzungen erneut prüfen und beschließt mit einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder über die Aufnahme. Der Aufnahmeantrag Palästinas wurde im September 2011 an diesen Ausschuss überwiesen. In seinen Beratungen hat sich der Ausschuss mit der Frage auseinandergesetzt, ob Palästina die Voraussetzungen für die Aufnahme nach Artikel 4 VN-Charta erfüllt und dabei auch die Frage erörtert, ob Palästina die klassischen Kriterien der Staatlichkeit im Sinne der Montevideo- Konvention erfüllt: “With regard to the requirement of a government, the view was expressed that Palestine fulfilled this criterion. However, it was stated that Hamas was in control of 40 per cent of the population of Palestine; therefore the Palestinian Authority could not be considered to have effective government control over the claimed territory. It was stressed that the Palestine Liberation Organization, and not Hamas, was the legitimate representative of the Palestinian people.” 26 26 Report of the Committee on the Admission of New Members concerning the application of Palestine for admission to membership in the United Nations, UN Doc. S/2011/705 v. 11.11.2011, Erwägungen Nr. 9 ff. https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3- CF6E4FF96FF9%7D/IP%20s%202011%20705.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 11 Im Ergebnis war der Ausschuss jedoch außerstande, eine einstimmige Empfehlung an den VN- Sicherheitsrat abzugeben (vgl. Erwägung 21 des Berichts). Daher wurde die Angelegenheit auf unbestimmte Zeit vertagt. An dieser Stelle bleibt jedoch anzumerken, dass der Ausschuss im Endeffekt über die Frage der VN-Mitgliedschaft („Membership“) und weniger über die Frage der Staatlichkeit („statehood“) Palästinas zu entscheiden hatte, die mit der Zuerkennung eines Status als „Beobachterstaat“ präjudiziert erscheint. 4.2. UNESCO Palästina hatte bereits im Jahr 1989 bei der WHO und bei der UNESCO erstmals Aufnahmeanträge gestellt, die allerdings beide zunächst erfolglos blieben. 2011 hatte die UNESCO- Generalkonferenz, die befugt ist, über die Aufnahme neuer Mitglieder zu entscheiden (vgl. Art. 2 Nr. 2 UNESCO-Verfassung) mit 107 Ja- und 14 Nein-Stimmen (darunter Deutschland) der Aufnahme Palästinas in die UNESCO zugestimmt. Ob sich die zuständigen Organe mit der Frage der Staatlichkeit Palästinas im völkerrechtlichen Sinne überhaupt näher auseinandergesetzt haben, sei aus den zugänglichen Dokumenten nicht ersichtlich.27 Daraus könnte man schließen, dass das Erfüllen der Staatlichkeitskriterien nicht das entscheidende Aufnahmekriterium angesehen wurde.28 4.3. Internationaler Strafgerichtshof Hinsichtlich des 2015 erfolgten Beitritts Palästinas zum Römischen Statut (IStGH-Statut) des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) musste im Vorfeld geklärt werden, ob die Voraussetzungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit nach Artikel 12 des Statuts gegeben sind. Danach können nur „Staaten“ die Gerichtsbarkeit anerkennen. Ist unklar, ob ein Beitrittskandidat als „Staat im Sinne des Römischen Statuts“ zu behandeln ist, wendet sich der Generalsekretär nach gängiger Praxis an die VN-Generalversammlung. Das Büro der Chefanklärin (Prosecutor) beim Internationalen Strafgerichtshof traf damals allerdings keine Entscheidung in der Sache, sondern führte aus: “The issue that arises, therefore, is who defines what is a “State” for the purpose of Article 12 of the Statute. In accordance with Article 125, the Rome Statute is open to accession by “all States”, and any State seeking to become a Party to the Statute must deposit an instrument of accession with the Secretary‐General of the United Nations. In instances where it is controversial or unclear whether an applicant constitutes a “State”, it is the practice of the Secretary‐General to follow or seek the General Assembly’s directives on the matter. This is reflected in General Assembly resolutions which provide indications of whether an applicant is a “State”. 27 So Mißling, Sven, „Der Status Palästinas in internationalen Organisationen“, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2012, S. 147-153 (152), online unter: https://dgvn.de/fileadmin/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2012/Mi%C3%9Fling_VN_4-12.pdf. 28 Kritisch insoweit Mißling, ebda., S. 153. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 12 (…) In interpreting and applying article 12 of the Rome Statute, the Office has assessed that it is for the relevant bodies at the United Nations or the Assembly of States Parties to make the legal determination whether Palestine qualifies as a State for the purpose of acceding to the Rome Statute and thereby enabling the exercise of jurisdiction by the Court under article 12(1).”29 Ob mit der Anerkennung Palästinas als „Staat im Sinne des Römischen Statuts“ auch die Frage nach der Qualität als „Staat im völkerrechtlichen Sinne“ geklärt ist, bleibt dagegen weiter offen. Namhafte Völkerrechtler, die im Vorfeld des Beitritts Palästinas zum Römischen Statut u.a. auch mit der Frage der „Staatlichkeit“ Palästinas gutachterlich betraut waren, kommen hier zu unterschiedlichen Ergebnissen.30 Hingewiesen wird u.a. darauf, dass die Interpretation des Begriffes „Staat“ im Lichte von Sinn und Zweck des Römischen Statuts eine andere sei als nach allgemeinem Völkerrecht. Der IStGH entscheide dabei im Ergebnis nicht über die Staatlichkeit Palästinas, sondern nur darüber, ob Palästina im Sinne einer teleologischen und funktionalen Interpretation des Art. 12 IStGH-Statut unter diese Bestimmung fällt.31 4.4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich insoweit festhalten, dass in Staatenpraxis und Völkerrechtswissenschaft bis heute Zweifel an der Staatsqualität Palästinas geblieben sind. Weder die Anerkennung Palästinas durch mehr als zwei Drittel der Staatengemeinschaft, noch die Aufnahme Palästinas in verschiedene internationale Organisationen können diese Zweifel vollständig ausräumen . 29 Vgl. Stellungnahme des Office of the Prosecutor of the International Criminal Court, “Situation in Palestine“ vom 3. April 2012, Rdnr. 5 f., online unter: https://www.icc-cpi.int/nr/rdonlyres/C6162bbf-feb9-4faf-afa9- 836106D2694A/284387/SituationinPalestine030412eng.pdf. 30 Vgl. etwa Malcolm N. Shaw (London), “In the Matter of the Jurisdiction of the International Criminal Court with regard to the Declaration of the Palestinian Authority”, Rdnr. 71: “Palestine currently has not fulfilled the required conditions for statehood. It is thus not a State under public international law”, online unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/D3C77FA6-9DEE-45B1-ACC0- B41706BB41E5/282851/OTP2010000035449SupplementaryOpinionMalcolmShaw.pdf. Eric David (Brüssel), “Le statut étatique de la Palestine”, Rdnr. 12: “En conclusion, la reconnaissance expresse de la Palestine comme Etat par la moitié de la communauté international permettent de constater que la condition d’être un Etat pour donner compétence à la CPI, comme le requiert l’art. 12, § 3, du Statut de la CPI, est satisfaite in casu”, online unter: http://cdi.ulb.ac.be/wp-content/uploads/2012/12/6.-Statut-e%CC%81tatique-Palestine.pdf. 31 Vgl. Pellet, Alain, “Les Effets de la Reconnaissance par la Palestine de la Compétence de la C.P.I”, online unter: https://iccforum.com/media/background/gaza/2010-02-18_Pellet-Memo_(French_Original).pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 13 5. Völkerrechtliche Einschränkungen der Anerkennung von Staaten Es existiert weder eine völkerrechtliche Pflicht zur Anerkennung eines Staates noch ein Recht auf Anerkennung als Staat.32 Gleichwohl bestehen völkerrechtliche Einschränkungen bei der Anerkennung von Staaten. 5.1. Stimson Doktrin So herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass eine völkerrechtliche Anerkennung von Rechtsverhältnissen , die unter Verstoß gegen das Gewaltverbot – also etwa durch eine Annexion – zustande gekommen sind, unzulässig sind (sog. „Stimson-Doktrin“).33 Die Doktrin erscheint u.a. relevant im Zusammenhang mit der Diskussion um die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels.34 5.2. Vorzeitige Anerkennung Ein Akt der Anerkennung ist grundsätzlich nur dann völkerrechtsgemäß, wenn das betreffende Gebilde tatsächlich alle Voraussetzungen eines Staates erfüllt.35 Als völkerrechtswidrig – weil ein Verstoß gegen das Interventionsverbot (Einmischung in die inneren Angelegenheiten) nach Art. 2 Ziff. 7 VN-Charta – wird auch die sog. vorzeitige Anerkennung von Staaten angesehen.36 Diskutiert wird dies insbesondere im Kontext von Unabhängigkeitsbestrebungen, Dismembrationsprozessen (= Staatenzerfall) sowie von Sezessions- und Loslösungsprozessen eines abtrünnigen Gebiets vom „Mutterstaat“, dessen Rechte infolge der Sezession in Rede stehen (z.B. in den Fällen Kosovo, Abchasien & Südossetien, Transnistrien u.a.m.). 32 Krajewski, Markus, Völkerrecht, Baden-Baden 2017, § 7 Rdnr. 59; ebenso Gutachten der Wissenschaftlichen Diente vom 17.6.2011, „Zur möglichen Ausrufung eines Staates Palästina“ (WD 2 – 3000 – 116/11), https://www.bundestag.de/blob/490762/4ef42cf9ee0b8de5560b9a4770a0b799/wd-2-116-11--pdf-data.pdf. 33 Vgl. Dawidowicz, Martin, The Obligation of Non-Recognition of an Unlawful Situation in: Crawford / Pellet (Hrsg.), The Law of International Responsibility, Oxford Commentaries on International Law 2010, S. 677-686, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law/9780199296972.001.0001/law-9780199296972-chapter-59. Dieser völkergewohnheitsrechtliche Nichtanerkennungsgrundsatz, der auf die nach dem ehemaligen US- Außenminister Henry L. Stimson benannte „Stimson-Doktrin“ von 1932 zurückgeht, ist vom Internationalen Gerichtshof in seinem Namibia-Gutachten von 1971 bestätigt worden, vgl. näher Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 32 ff. 34 Im Fall Jerusalem steht die implizite Anerkennung des 1967 von Israel besetzten Ost-Jerusalems in Rede. Vgl. zum Ganzen Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste vom 29.1.2018 (WD 2 – 3000 - 009/18), „Völkerrechtliche Bewertung der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels“, S. 8, online unter: https://www.bundestag.de/blob/547174/adebd0ea6bd7a85c6c49671547fc3b50/wd-2-009-18-pdf-data.pdf. 35 Schaller, Christian, Sezession und Anerkennung, SWP-Studie Nr. 33, Dezember 2009, S. 18, online unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2009_S33_slr_ks.pdf. 36 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 178. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 14 Da die Staaten bei der völkerrechtlichen Anerkennung eines territorialen Gebildes jedoch über einen weiten politischen Einschätzungsspielraum verfügen und – wie bereits ausgeführt – kein internationales Organ existiert, welches die Existenz eines neu entstandenen Staates und damit die Rechtmäßigkeit seiner Anerkennung verbindlich bestätigt, erscheint die Frage nach der „vorzeitigen Anerkennung“ – sieht man einmal von Extremfällen ab – rechtlich nicht justiziabel. Ob sich im Falle Palästinas überhaupt von einer „vorzeitigen Anerkennung“ sprechen lässt,37 erscheint indes zweifelhaft. Denn im Falle des Nahostkonflikts existiert keine klassische Sezessions- bzw. Dismembrationssituation, sondern vielmehr eine völkerrechtlich hoch umstrittene Besatzungslage. Von einer Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“ Israels durch eine Anerkennung Palästinas lässt sich indes kaum sprechen, wo doch Sicherheitsrat und Generalversammlung der Vereinten Nationen die Palästinafrage, die Zwei-Staaten-Lösung und die israelische Besatzung zum Gegenstand zahlreicher Resolutionen gemacht haben. In diesem Zusammenhang ist im Auge zu behalten, dass seit der sog. Teilungsresolution der VN-Generalversammlung aus dem Jahre 194738 das sog. Zweistaatenmodell – als politisch und völkerrechtlich bevorzugter Rahmen für eine dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts – international weitgehend anerkannt wurde.39 Ausdrücklich bestätigte der VN-Sicherheitsrat diesen Ansatz erstmalig mit seiner Resolution 1397 (2002).40 Rechtlich zur Diskussion steht damit weniger die Eigenstaatlichkeit Palästinas, als vielmehr der vertraglich vorgezeichnete und international begleitete Friedensprozess in Nahost,41 der durch die völkerrechtliche Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas politisch belastet wird. Die rechtlich relevante Frage lautet somit, ob sich aus den Rechtsgrundlagen des Nahost- Friedensprozesses (internationale Abkommen bzw. VN-Resolutionen) völkerrechtliche Einschränkungen einer Anerkennung Palästinas durch die internationale Staatengemeinschaft ergeben. An dieser Stelle setzt auch die Rechtsauffassung Israels hinsichtlich der Anerkennung Palästinas an. 37 So aber Epping, ebda. 38 Resolution der Generalversammlung vom 29.11.1947 über „die künftige Regierung Palästinas“, UN-Dok. A/RES/181(II) vom 29.11.1947, http://www.un.org/depts/german/gv-early/ar181-ii.pdf. 39 So auch Asseburg, Muriel, Palästinas verbauter Weg zur Eigenstaatlichkeit, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2018, S. 105-110, online unter: https://www.swpberlin .org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/03_Asseburg_VN_3-2018_7-6-2018.pdf. 40 Resolution 1397 (2002) vom 12.3.2002: “Affirming a vision of a region where two States, Israel and Palestine, live side by side within secure and recognized borders”, https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3- CF6E4FF96FF9%7D/IP%20SRES%201397.pdf. 41 Vgl. zum Nahostkonflikt die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 - 133/06 vom 24.7.2005, https://www.bundestag.de/blob/414962/14ff88802f2cbe2ec6952e697628f56c/wd-2-133-06-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 15 5.3. Israelische Rechtsauffassung zur Anerkennung Palästinas Die israelische Rechtsauffassung greift zunächst die in der Staatenpraxis und Völkerrechtswissenschaft bestehenden Zweifel über die Staatsqualität Palästinas auf:42 „Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) entspricht gegenwärtig ganz klar nicht den gängigen juristischen Kriterien für Eigenstaatlichkeit, besonders nicht das Kriterium einer funktionsfähigen Regierung. Die Palästinensische Autonomiebehörde übt in der Westbank lediglich Kontrolle über die sog. Area A und B aus. Area C, das gemäß dem Interimsabkommen 60 % des Gesamtgebietes ausmacht, bleibt vorwiegend unter israelischer Kontrolle. Darüber hinaus hat die PA keine effektive Kontrolle über den von der Hamas regierten Gaza-Streifen, obwohl Israel sich vor 6 Jahren vollständig aus diesem Gebiet zurückgezogen hat.“ Weiter wird auf den vertraglich abgestützten Friedensprozess abgehoben: „Die Anerkennung einer einseitigen Erklärung zu diesem Zeitpunkt wäre daher verfrüht und könnte einen gefährlichen Präzedenzfall für die Anerkennung neuer Staaten in anderen Regionen schaffen. Eine einseitige Erklärung palästinensischer Eigenstaatlichkeit untergräbt alle international anerkannten Rahmenbedingungen für den Frieden im Nahen Osten (Resolutionen Nr. 242, 338 und 1850 des UNO Sicherheitsrates; die Road Map; die Erklärungen des Quartetts etc.), die alle eine gegenseitig ausgehandelte und akzeptierte Lösung des Konflikts fordern und einseitige Aktionen stets abgelehnt haben. Eine einseitige Erklärung Palästinensischer Eigenstaatlichkeit würde bestehende israelischpalästinensische bilaterale Friedensabkommen verletzen, insbesondere das Interimsabkommen von 1995, das ausdrücklich einseitige Aktionen von jeglicher Seite verbietet, etwa, den Status der Westbank und des Gaza-Streifens zu ändern, bevor ein definitives Abkommen auf dem Verhandlungsweg erreicht worden ist.“43 Daraus ergebe sich weiter – so die Argumentation einer Studie des israelischen Think-Tanks Jerusalem Centre for Public Affairs, „dass eine Ausrufung eines Palästinenserstaates, die auf anderer Weise als durch das direkt ausgehandelte Abkommen mit Israel erfolgt, eine klare Verletzung von Oslo II darstellen würde und dass die Anerkennung eines solchen Staates durch Parlamente und Regierungen der internationalen Gemeinschaft mitschuldig an einem solchen Vertragsbruch 42 Offizieller blog der Botschaft Israels vom 28. Juni 2011, „Rechtliche Aspekte der vorzeitigen Anerkennung eines palästinensischen Staates“, online unter: http://www.botschaftisrael.de/2011/06/28/rechtliche-aspekte-dervorzeitigen -anerkennung-eines-palastinensischen-staates/. 43 Art. XXXI, Nr. 7 des Oslo II-Abkommens lautet: “Neither side shall initiate or take any step that will change the status of the West Bank and the Gaza Strip pending the outcome of the permanent status negotiations.” (https://www.jewishvirtuallibrary.org/interim-agreement-on-the-west-bank-and-the-gaza-strip-oslo-ii). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 16 sein würde.44 Es ist ein allgemein anerkanntes völkerrechtliches Prinzip, dass ein Staat nicht aufgrund eines Völkerrechtsverstoßes entstehen soll; ex injuria non oritur jus.“ Die israelische Auffassung mutet auf den ersten Blick etwas merkwürdig an, da die Exilführung der PLO die Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit Palästinas bereits im Jahre 1988 in Algier proklamiert hatte45 – also zeitlich lange vor dem Oslo-II-Abkommen. Die Unabhängigkeitserklärung war damals begleitet von Anerkennungen durch zahlreiche Staaten des Ostblocks und der blockfreien Welt. Folgte man der Rechtsauffassung Israels, so wären die Anerkennungen Palästinas , die vor Inkrafttreten von Oslo-II im Jahre 1995 erklärt wurden, völkerrechtlich anders zu behandeln als Anerkennungen, die zeitlich danach erklärt wurden. Israel argumentiert an dieser Stelle anders: Es erkennt den Staat Palästina nicht an und vertritt die Auffassung, dass ein solcher Staat bis heute auch nicht existiere. Israel bezweifelt weiter, dass sich die Staatswerdung Palästinas bereits aus der Unabhängigkeitserklärung der PLO aus dem Jahre 1988 ergeben habe. Da der völkerrechtliche Akt der Anerkennung eines Staates unbestrittenermaßen nur zwischen dem anerkennenden und dem anerkannten Staat Wirkung entfaltet – also nicht erga omnes wirkt – brauche sich Israel die Anerkennungen Palästinas durch Teile der Staatengemeinschaft rechtlich auch nicht entgegenhalten zu lassen. Aus israelischer Sicht ist die Frage der Staatlichkeit Palästinas daher offen – und könnte somit völkervertraglich entsprechend eingeschränkt werden.46 5.4. Auffassung der Bundesregierung Bereits 2011 hat sich die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion hin zu der Frage geäußert, ob und inwieweit die Anerkennung Palästinas eine Völkerrechtsverletzung darstellt :47 44 Wertheim, Peter, „Why recognising a Palestinian State now would be wrong“, veröffentlicht im Jerusalem Centre for Public Affairs Journal 2017, online unter http://www.ecaj.org.au/2017/wertheim-jcpa/; deutsche Übersetzung: „Anerkennung eines Palästinenserstaates vor Friedensvertrag mit Israel untergräbt Völkerrecht“, online unter: https://www.audiatur-online.ch/2017/09/27/anerkennung-eines-palaestinenserstaates-vor-einemfriedensvertrag -mit-israel-untergraebt-voelkerrecht/. 45 „Unabhängigkeitserklärung des Staates Palästina“ vom 15.11.1988, http://www.palaestina.org/fileadmin/Daten/Dokumente/Abkommen/PLO/unabhaengigkeitserklaerung.pdf. 46 So Gold, Dore, Discussion on Whether the Declaration Lodged by the Palestinian Authority Meets Statutory Requirements. NGO Roundtable, 19-20 October 2010 Office of the Prosecutor, International Criminal Court, online unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/553F5F08-2A84-43E9-8197- 6211B5636FEA/282527/DoreGold1.pdf. Dore Gold war Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen. 47 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD – Drucksache 17/5789 – Internationale Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit der palästinensischen Gebiete, BT-Drs. 17/6006 vom 27.5.2011, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/060/1706006.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 17 Frage 4 der Kleinen Anfrage lautete: „Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Anerkennung eine Verletzung der international anerkannten Resolutionen 242 (1967) und 338 (1973) des UN-Sicherheitsrats darstellt, und folgt sie der Auffassung, dass eine einseitige Errichtung eines Palästinenserstaates dem Osloer Interimsabkommen widerspreche, nach dem „keine der beiden Seiten … einen Schritt initiieren oder unternehmen [soll], der den Status des Westjordanlands und des Gazastreifens ändert, solange ein permanentes Statusabkommen noch nicht beschlossen ist?“ Die Antwort der Bundesregierung lautete: „Der Weg zu einer Zweistaatenlösung mit dem Staat Israel und einem unabhängigen, demokratischen, zusammenhängenden und lebensfähigen Staat Palästina führt nach Ansicht der Bundesregierung über substantielle Verhandlungen der Konfliktparteien. Eine Zweistaatenlösung steht im Einklang mit dem Völkerrecht einschließlich aller relevanter Resolutionen des VN-Sicherheitsrates sowie dem Osloer Interimsabkommen. Die Bundesregierung hat keinen Anlass, andere Ansätze einer völkerrechtlichen Würdigung zu unterziehen .“ 5.5. Resolutionen des VN-Sicherheitsrats Tatsächlich hatte der VN-Sicherheitsrat in der Vergangenheit im Fall Rhodesiens48 und der Türkischen Republik Nordzypern49 explizit zu kollektiver Nichtanerkennung von territorialen Gebilden aufgerufen.50 Ob der Sicherheitsrat überhaupt die Kompetenz hat, solche Nichtanerkennungsaufforderungen , die ja letztlich Sanktionscharakter gegenüber dem betroffenen „Staatsgebilde“ haben können, mit rechtlich bindender Wirkung für die Staatengemeinschaft zu erlassen, lässt sich durchaus diskutieren;51 in der Praxis hat der Sicherheitsrat eine Kompetenz aber für sich beansprucht. 48 Vgl. Resolution 216 (1965) v. 12.11.1965, in der es heißt “The Security Council decides to call upon all States not to recognize this illegal racist minority régime in Southern Rhodesia and to refrain from rendering any assistance to this illegal régime.” 49 Vgl. Resolution 550 (1984) v. 11.5.1984, in der es heißt: „Der Sicherheitsrat wiederholt seinen Appell an alle Staaten, die durch sezessionistische Handlungen errichtete sogenannte ´Türkische Republik Nordzypern` nicht anzuerkennen“. 50 Vgl. ausführlich Talmon, Stefan, Kollektive Nichtanerkennung illegaler Staaten, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, S. 48 ff. (zu Nordzypern) und S. 147 ff. (zu Rhodesien). 51 Ebda., S. 307 ff. Talmon sieht die Kompetenzgrundlage aber nicht in den Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates nach Art. 41 VN-Charta, sondern in der Generalklausel des Art. 24 VN-Charta. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 18 Verglichen mit dem deutlichen Wortlaut der Rhodesien-Resolutionen enthalten die Sicherheitsratsresolutionen 242 (1967)52 und 338 (1973),53 auf die das Oslo-II-Abkommen in seiner Präambel Bezug nimmt, keine derartigen Nichtanerkennungsaufforderung mit verpflichtender Wirkung für die internationale Staatengemeinschaft. Die genannten Resolutionen, die im Übrigen keinen Hinweis auf Kapitel VII der VN-Charta enthalten, verlangen (lediglich) den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten bzw. ordnen eine Feuerpause an. Zur Frage der Anerkennung Palästinas äußern sie sich gar nicht. Hätte der VN-Sicherheitsrat eine Nichtanerkennung aussprechen wollen, so wäre das mit Blick auf die Rhodesien-Resolution leicht möglich gewesen. Gleiches gilt für Sicherheitsresolution 1850 (2008),54 die von Israel im Zusammenhang mit der geforderten Nichtanerkennung Palästinas angeführt wird. Adressiert an die internationale Staatengemeinschaft erschöpft sich Ziff. 4 dieser Resolution inhaltlich in der sehr allgemein gehaltenen (und rechtlich ohnehin nicht verbindlichen) Aufforderung: “The Security Council calls on all States and international organizations to contribute to an atmosphere conductive to negotiations (…).” 5.6. Road Map to Peace Völkerrechtlichen Verpflichtungen ergeben sich nicht aus den politischen Dokumenten zur Lösung des Nahostkonflikts wie z.B. der sog. “Road Map to Peace“55 von 2003, die keine völkerrechtlichen Verträge sind. 5.7. Oslo II-Abkommen Demgegenüber ist das Oslo II-Abkommen56 ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen dem Staat Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Auch wenn sein Abschluss durch andere staatliche Akteure wie die USA, Russland, Ägypten, die EU u.a. „bezeugt“ (witnessed by…) wurde, bindet er zunächst einmal nur die Vertragsparteien. 52 Resolution 242 (1967) vom 22.11.1967, http://www.un.org/depts/german/sr/sr_67/sr242-67.pdf. 53 Resolution 338 (1973) vom 22.10.1973, http://www.un.org/depts/german/sr/sr_73/sr338-73.pdf. 54 Resolution 1850 (2008) vom 16.12.2008, http://unscr.com/en/resolutions/doc/1850. 55 Die Roadmap ist ein Friedensplan zur Konfliktlösung zwischen Israelis und den Palästinensern. Das sog. „Nahost-Quartett“, bestehend aus der EU, den USA, Russland und den Vereinten Nation, hat diesen Plan erarbeitet und den Konfliktparteien 2003 übergeben. Trotz Bedenken stimmten Israelis und Palästinenser zu. Die Sicherheitsratsresolution 1515 (2003) v. 19.11.2003 (http://unscr.com/en/resolutions/doc/1515) unterstützt die Roadmap ausdrücklich. Vgl. näher Pitta, Michele, Statehood and recognition: The case of Palestine, Univ. Barcelona, Mai 2018, S. 17 ff. 56 Israeli-Palestinian Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip (Oslo II), vom 28. September 1995, englische Fassung online unter: https://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=3de5ebbc. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 19 Gem. Art. 34 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) begründet ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Rechte noch Pflichten.57 Verträge zu Lasten Dritter sind damit unzulässig. Keine Passage im Oslo-II-Abkommen deutet darauf hin, dass mit der Formulierung in Art. XXXI Nr. 7: „Neither side shall (…)” andere Parteien als die Vertragspartner Israel und die PLO gemeint sind. Allein der Umstand, dass die Staaten des „Nahost-Quartetts“ das Oslo-Abkommen und den Nahost-Friedensprozess politisch begleitet haben, macht sie nicht zu Vertragsparteien dieses Abkommens. Eine andere Beurteilung könnte sich allenfalls dann ergeben, wenn es sich bei dem Oslo-II- Abkommen um einen sog. Statusvertrag handelt. Statusverträge sind solche, die aufgrund ihrer besonderen Natur und Bedeutung für die gesamte Staatengemeinschaft nicht nur inter partes, sondern erga omnes gelten sollen. Dies sind Verträge, die eine objektive internationale Ordnung schaffen und den besonderen völkerrechtlichen Status bestimmter Räume regeln.58 Zu den in der Völkerrechtsliteratur genannten Beispielen59 gehört das Oslo-II-Abkommen über die Situation in Nahost aus nachvollziehbaren Gründen nicht: Denn bei dem Oslo-II-Abkommen wird gerade kein Status einer bestimmten Region festgeschrieben, sondern ein Friedensprozess vertraglich vorgezeichnet. Oslo II ist als Interim-Abkommen ausgestaltet und damit auf Vorläufigkeit angelegt. 5.8. Zwischenergebnis Ein völkerrechtliches Verbot, Palästina als Staat anzuerkennen, lässt sich weder aus Resolutionen des Sicherheitsrates noch aus dem Oslo-II-Abkommen entnehmen. 57 Sog. pacta tertiis-Grundsatz – nach der römischrechtlichen Maxime: pacta tertiis nec nocent nec prosunt. Vgl. dazu näher Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck 7. Aufl. 2018, § 15 Rdnr. 23, 26. 58 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck 7. Aufl. 2018, § 15 Rdnr. 28; Proelß, in: Dörr/Schmalenbach, Vienna Convention on the law of Treaties. A Commentary, Vol. I, Heidelberg: Springer 2012, Art. 34 Rdnr. 34. 59 Zu den Statusverträgen zählen u.a. die Verträge über den Suezkanal oder die Åland-Inseln, der Antarktis- und der Weltraumvertrag etc. Weitere Beispiele bei Casadevante Romani, „Objective Regime“, in: Max Planck Encyclopedia of Pubilc International Law (Stand: April 2010), Rdnr. 6 und 12, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e1447?rskey=mWNj54&result=1&prd=EPIL. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 20 6. Mitverantwortung der Staatengemeinschaft für angebliche Verletzungen des Nahost- Friedensprozesses durch Palästina Abschließend soll diskutiert werden, ob die Anerkennung eines Staates Palästina eine Form der völkerrechtlichen Mitverantwortung für etwaige Verletzungen des Oslo-II-Abkommens durch Palästina begründen würde. 6.1. Völkerrechtliche Verpflichtungen aus dem Oslo-II-Abkommen Zunächst einmal ist zu klären, welche inhaltlichen Rechtsverpflichtungen sich aus dem heute nach wie vor geltenden Oslo-II-Abkommen ergeben bzw. welche Verpflichtungen durch Auslegung daraus abgeleitet werden können. Dabei gelten die allgemeinen Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge (Art. 31 ff. Wiener Vertragsrechtskonvention, WVRK). Art. XXXI Nr. 7 des Abkommens lautet: „Neither side shall initiate or take any step that will change the status of the West Bank and the Gaza Strip pending the outcome of the permanent status negotiations.” Art. XXXI Nr. 7 gehört nicht zu den Hauptverpflichtungen des Abkommens, sondern findet sich aufgelistet unter den „final clauses“ des Art. XXXI, der wiederum Teil der „sonstigen Bestimmungen (miscellaneous provisions) der Artt. XXIX ff. des Abkommens ist. Gleichwohl gilt auch für die Regelung in Nr. 7 der Grundsatz „pacta sunt servanda“ (Art. 26 WVRK), wonach sich keine Seite ohne weiteres einseitig von den Vertragsverpflichtungen lösen darf. Im Kern enthält Nr. 7 eine sog. pactum de contrahendo-Verpflichtung hinsichtlich eines künftigen Nahost-Friedensvertrags,60 der den Status der besetzten Gebiete regeln und durch keine einseitigen Schritte präjudiziert werden soll. Ob das Oslo-II-Abkommen Palästina völkerrechtlich verbietet, seinen Staatswerdungsprozess einseitig voranzutreiben und um internationale Anerkennung in der Staatengemeinschaft zu werben, lässt sich dagegen bezweifeln. Anderenfalls müsste man der palästinensischen Seite unterstellen, dass sie ihr aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker fließendes Recht, einen eigenen unabhängigen Staat zu gründen,61 zur Disposition stellen, ihre Unabhängigkeits- 60 Seidel, Gerd, Die Palästinafrage und das Völkerrecht, in: Archiv des Völkerrechts 2006, S. 121-158 (150). 61 Vgl. insoweit die völkergewohnheitsrechtlich anerkannte VN-Prinzipiendeklaration der Generalversammlung, Res. 2625 (XXV) vom 24.10.1970: „Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates (…) sind Möglichkeiten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch das betreffende Volk“, online unter: http://www.un.org/depts/german/gv-early/ar2625.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 21 erklärung von 1988 „wiederrufen“ und die Realisierung ihres Selbstbestimmungsrechts faktisch von der Zustimmung Israels abhängig machen wollte.62 Der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts ist zunächst einmal ein „in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbarer einschlägiger Völkerrechtssatz“, der gem. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages zu berücksichtigen ist. Nach Auffassung des Internationalen Gerichtshofs gehört das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu den „legitimen Rechten“, die das Oslo-II-Abkommen an mehreren Stellen dem palästinensischen Volk zubilligt.63 Überdies genießt das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowohl aus der ius-cogens-natur der Norm64 als auch aus der Regelung des Art. 103 VN-Charta65 Vorrang gegenüber Verpflichtungen aus „einfachen“ völkerrechtlichen Verträgen und damit gegenüber dem Oslo-II-Abkommen. All dies spricht dafür, den bilateralen Vereinbarungen aus Oslo-II keine das Selbstbestimmungsrecht aushöhlende Bedeutung beizumessen oder darin womöglich einen völkerrechtlichen Verzicht der Palästinenser auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu sehen.66 Teile der Literatur67 gehen vielmehr davon aus, dass die palästinensische Seite den israelischen Vertragspartnern mit „Oslo-II“ Zugeständnisse bei der Ausübung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts (insbesondere mit Blick auf die Ausübung der auswärtigen Gewalt) machen wollte – sich aber gleichzeitig die Berufung auf die Vorrangwirkung des Selbstbestimmungsrechts für den Fall vorbehalten wollte, dass der Oslo-Prozess faktisch zu scheitern droht. 62 Ebda., S. 151. 63 Vgl. ICJ Advisory Opinion vom 9.7.2004, “Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory”, Rdnr. 118, https://www.icj-cij.org/files/case-related/131/131-20040709-ADV-01-00- EN.pdf. 64 Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ist niedergelegt in Art. 1 Nr. 2 der VN-Charta sowie in dem gemeinsamen Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte von 1966; überdies gilt es völkergewohnheitsrechtlich. 65 Art. 103 VN-Charta lautet: „Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“ 66 Ein solcher müsste aber explizit formuliert worden sein. Ob auf ein Recht, das aus einer ius cogens-Norm fließt, überhaupt völkerrechtlich wirksam verzichtet werden kann, sei dahingestellt. 67 So bereits damals Seidel, Gerd, Die Palästinafrage und das Völkerrecht, in: Archiv des Völkerrechts 2006, S. 121-158 (151). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 22 Fast 25 Jahre nach Oslo-II wird die aktuelle Situation in Nahost in der Literatur zum Teil dahingehend bewertet.68 So steht heute nicht allein Palästina mit seiner Anerkennungspolitik in der Kritik, sondern auch Israel, durch seine Siedlungspolitik im Westjordanland und durch den Bau der Sperranlagen gegen den „Geist von Oslo“ verstoßen zu haben, in dem es den territorialen Status der besetzten Gebiete verändert.69 6.2. Völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staatengemeinschaft Geht man also mit guten Argumenten davon aus, dass sich eine Verletzung des Oslo-II- Abkommens nicht daraus ergibt, dass Palästina seit der Unabhängigkeitserklärung 1988 seine Bemühungen um internationale Anerkennung bis heute fortsetzt,70 so erscheinen Versuche, die Staatengemeinschaft hinsichtlich der Anerkennung Palästinas in „Haftung“ zu nehmen und eine „Unterstützung bei einem Vertragsbruch“ zu konstruieren, vor allem politisch motiviert aber rechtlich im Ergebnis nicht tragfähig. Denn jede Form der völkerrechtlichen Verantwortung für Unterstützungshandlungen (vgl. Art. 16 des ILC-Artikelentwurfs zur Staatenverantwortlichkeit71) setzt ein eindeutiges völkerrechtswidriges Handeln seitens der unterstützten Partei voraus, woran es – wie oben erörtert (vgl. 6.1.) – bereits fehlt. 68 Vgl. z.B. Asseburg, Muriel, Palästinas verbauter Weg zur Eigenstaatlichkeit, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2018, S. 105-110 (109), online unter: https://www.swpberlin .org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/03_Asseburg_VN_3-2018_7-6-2018.pdf. 69 Vgl. dazu Sicherheitsrat-Resolution 2334 (2016) vom 23.12.2016, http://www.un.org/depts/german/sr/sr_16/sr2334.pdf, in der es heißt: „(…) Unter Verurteilung aller Maßnahmen, die darauf abzielen, die demografische Zusammensetzung, den Charakter und den Status des seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiets, einschließlich Ost-Jerusalems, zu ändern, darunter der Bau und die Ausweitung von Siedlungen, die Überführung israelischer Siedler, die Beschlagnahme von Land, die Zerstörung von Wohnhäusern und die Vertreibung palästinensischer Zivilpersonen (…); [Der Sicherheitsrat] bekräftigt, dass die Errichtung von Siedlungen in dem seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ost-Jerusalems, durch Israel keine rechtliche Gültigkeit besitzt und einen flagranten Verstoß gegen das Völkerrecht und ein ernstes Hindernis für die Herbeiführung der Zwei-Staaten-Lösung und eines gerechten, dauerhaften und umfassenden Friedens darstellt (…)“. Vgl. dazu das Gutachten der Wissenschaftliche Dienste vom 7.6.2017, „Die Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der israelischen Regierungen seit 1967 in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und Ost-Jerusalem. Fakten und völkerrechtliche Einschätzung“, WD 2 - 3000 - 026/17, online unter: https://www.bundestag.de/blob/515092/aeb99cfc8cadd52da68d65b50a725dec/wd-2-026-17-pdf-data.pdf. 70 Vgl. dazu Pitta, Michele, Statehood and recognition: The case of Palestine, Univ. Barcelona, Mai 2018, S. 39, http://diposit.ub.edu/dspace/bitstream/2445/123175/1/TFM_Michele_Pitta.pdf. 71 Der „ILC-Artikelentwurf für die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln“ wurde von der Völkerrechtskommission (International Law Commission) 2001 angenommen und durch Resolution 56/83 der VN-Generalversammlung zur Kenntnis genommen. Text ist online auf Deutsch unter: http://eydner.org/dokumente/darsiwaev.PDF. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 009/19 Seite 23 7. Resümee Jeder Staat kann – dem Beispiel von 137 anderen VN-Mitgliedstaten folgend – Palästina als Ausdruck seiner freien Souveränität völkerrechtlich (als Staat) anerkennen (s.o. 3.), sofern er zu der eigenen Überzeugung gelangt ist, dass die Kriterien der Staatlichkeit im Falle Palästinas vorliegen (s.o. 2.). Völkerrechtliche Einschränkungen der Anerkennung Palästinas ergeben sich weder aus Resolutionen des VN-Sicherheitsrates noch aus dem Oslo-II-Abkommen oder anderen Dokumenten zum Nahost-Friedensprozess (s.o. 5.). Der „Zwei-Staaten-Ansatz“ ist ein völkerrechtlich akzeptiertes Modell zur Befriedung des Nahostkonflikts. Ob dieses Modell heute noch politische Chancen auf Realisierung hat, ist dabei rechtlich ebenso unerheblich, wie die Frage, welchen Beitrag eine staatliche Anerkennung Palästinas zur Lösung des Nahostkonflikts tatsächlich leisten kann. Völkerrechtlich unbedenklich ist es indes, wenn Palästina dieses Model unter Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ unilateral zu verwirklichen trachtet und dafür um internationale Anerkennung in der Staatengemeinschaft wirbt. ***