© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 007/20 99 Zur möglichen Umsiedlung syrischer Flüchtlinge durch die Türkei Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 2 Zur möglichen Umsiedlung syrischer Flüchtlinge durch die Türkei Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 007/20 Abschluss der Arbeit: 30. Januar 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Abschiebung zwecks Umsiedlung aus international menschenrechtlicher Sicht 4 2. Zur Umsiedlung syrischer Flüchtlinge aus international flüchtlingsrechtlicher Sicht 6 3. Zur Ansiedlung syrischer Flüchtlinge aus international besatzungsrechtlicher Sicht 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 4 1. Abschiebung zwecks Umsiedlung aus international menschenrechtlicher Sicht Der Auftraggeber fragt nach der Völkerrechtskonformität geplanter Maßnahmen der türkischen Regierung zur Um- bzw. Ansiedlung von in die Türkei geflüchteten Syrern in die von der Türkei besetzten Regionen in der Arabischen Republik Syrien. Aus rechtlicher Sicht wohnt einer nicht-freiwilligen Umsiedlung von Personen auf das Territorium eines anderen Staates zunächst ein tatsächliches Element der Abschiebung aus dem Territorium des handelnden Staates inne. Im Ausgangspunkt gilt das souveräne Recht der Staaten, frei darüber zu entscheiden, welche Nicht-Staatsangehörigen sich wie lange auf ihrem Staatsgebiet aufhalten dürfen. Allerdings ist dieses Recht im Völkerrecht nicht mehr unbegrenzt gewährleistet, sondern mittlerweile durch menschenrechtliche Verpflichtungen überlagert. Die geplante, möglicherweise kollektive Umsiedlung von bis zu einer Million Syrern aus der Türkei in die Arabische Republik Syrien wäre eine Massenabschiebung. Für diese gilt: „[M]ass expulsions may be permissible in very exceptional cases such as where the security and existence of a State may otherwise be seriously endangered.”1 Sollte die Türkei also Maßnahmen zur nicht-freiwilligen, kollektiven Umsiedlung einer großen Gruppe von Syrern ergreifen, wäre eine der Umsiedlung inhärente Massenabschiebung nur dann völkerrechtlich zulässig, wenn die Türkei geltend machen könnte, dass vitale Sicherheitsinteressen der Türkei durch den Verbleib der Syrer auf türkischem Staatsgebiet erheblich gefährdet wären oder dass in ihrer Schwere vergleichbare Rechtfertigungsgründe vorlägen. Einzelabschiebungen zum Zwecke der Umsiedlung sind ebenfalls vorstellbar. Sollte die Türkei beabsichtigen diese einzusetzen, wäre sie insbesondere an die menschenrechtlichen Vorgaben des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)2 sowie des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (7. ZP EMRK)3 gebunden . Danach wären Abschiebungen von Ausländern, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhalten, nur dann menschenrechtlich zulässig, wenn sie auf individuell 1 Walter Kälin, Aliens, Expulsion and Deportation in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, https://opil.ouplaw .com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e745?rskey=1Eobb4&result=1&prd=MPIL, insbesondere F. The Prohibition of Collective or Mass Expulsion, Rz. 22 ff., Rz. 23. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbpR), BGBl. 1973 II 1553, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen /ICCPR/iccpr_de.pdf. Von der Türkei ratifiziert, siehe Übersicht zum Vertragsstatus auf UNTC, https://treaties .un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-4&chapter=4&clang=_en. 3 Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Straßburg/Strasbourg, 22.XI.1984, Sammlung Europäischer Verträge - Nr. 117, https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/- /conventions/rms/090000168007a096. Zur Bindungswirkung für die Türkei siehe Europarat, Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 117, https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty /117/signatures?p_auth=DcrUyFQ9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 5 begründeten, rechtmäßig ergangenen Ausweisungsentscheidungen beruhen und bei der Entscheidungsfindung bestimmte prozessuale Garantien gewahrt wurden.4 Selbst wenn es sich um Ausländer handelt, die sich nicht rechtmäßig im Gebiet des ausweisenden/abschiebenden/umsiedelnden Staates aufhalten, gibt es menschenrechtliche Grenzen. So sind Syrer, die sich nicht rechtmäßig in der Türkei aufhalten, gegen eine Abschiebung nach Syrien insofern geschützt, als ihnen nach dem IPbpR5 und der EMRK6 ein Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer innerstaatlichen Instanz zukommt, falls ihnen ihm Zielland eine massive Menschenrechtsverletzung droht. Überdies verbietet das Refoulement-Verbot des Völkerrechts eine Ausweisung bzw. Abschiebung , wenn die betroffene Person dadurch schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre.7 Das Verbot greift allerdings nur bei gravierenden Beeinträchtigungen an Leib und Leben. Das Refoulement-Verbot ist im Völkerrecht mehrfach normiert, insbesondere in Art. 3 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe.8 Nach einhelliger Ansicht von Rechtsprechung und Wissenschaft zählt das Refoulement -Verbot zum Völkergewohnheitsrecht, nach teilweise vertretener Auffassung sogar zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens).9 Das (für die Umsetzung des IPbpR zuständige) Menschenrechtskommittee (HRC) hat in einer Allgemeinen Anmerkung (General Comment) seine Rechtsauffassung zur umfassenden und grundlegenden Bedeutung des Refoulement-Verbots dargelegt.10 Sofern ein Staat einzelne Staatsangehörige gegen deren Willen in ein von ihm besetztes Gebiet umsiedelt und den betroffenen Personen am Zielort– etwa durch eine noch andauernde bewaffnete Auseinandersetzung – eine gravierenden Beeinträchtigungen an Leib und Leben konkret 4 Siehe im einzelnen Art. 13 IPbpR, sowie Art. 1 des 7. ZP EMRK, jew. a.a.O. 5 Siehe im einzelnen Art. 2 IPbpR, a.a.O. 6 Siehe im einzelnen Art. 13 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14, Rom/Rome, 4.XI.1950, http://coe.int/de/web/conventions/full-list/- /conventions/rms/0900001680063764. Zur Bindungswirkung für die Türkei siehe Europarat, Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 005, https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty /005/signatures?p_auth=DcrUyFQ9. 7 Kälin, a.a.O., Rz. 12 ff. 8 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (BGBl. 1990 II S. 246), https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user _upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/CAT/cat_de.pdf. 9 Siehe im Einzelnen Lorcán Hyde, The principle of non-refoulement in international law, http://www.rescriptum .org/wordpress/wp-content/uploads/2016/07/2016_1_029_Hyde.pdf ; WD 2-3000-013/18 vom 13. Februar 2018, S. 7 ff, https://www.bundestag.de/resource/blob/568316/233b72822499d4a8a51ff75cc7380482/WD-2-114- 18-pdf-data.pdf ; WD 2-3000-129/19 vom 8. November 2019, https://www.bundestag.de/resource /blob/674544/4e52e9f949ae7ac0a782a38ffb42787d/WD-2-129-19-pdf-data.pdf 10 Human Rights Committee, General Comment No 20: Article 7 (Prohibition of Torture, or Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment) by Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) [UN Doc A/47/40, Annex VI, UN Doc CCPR/C/74/CRP.4/Rev.6, UN Doc HRI/GEN/1/Rev.6, 151, UN Doc HRI/GEN/1/Rev.1, 30], https://www.refworld.org/docid/453883fb0.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 6 droht, wäre das völkerrechtliche Refoulement-Verbot einschlägig. Berichte zur Sicherheitslage in dem von der Türkei besetzten Gebiet in Syrien legen nahe, dass die konkrete Gefahr einer gravierenden Beeinträchtigung an Leib und Leben umgesiedelter Personen dort möglicherweise nicht auszuschließen ist.11 Eine abschließende Beurteilung der Sicherheitslage ist aus Sicht des Bearbeiters jedoch nicht möglich. Soweit es sich bei den sich in der Türkei aufhaltenden syrischen Staatsbürgern nicht um Flüchtlinge , sondern um vorübergehend zu Erwerbszwecken eingewanderte Personen und deren Familienangehörige handelt, können diese zudem in den Schutzbereich der Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen fallen.12 Diese Konvention schützt die genannten Personen in einer dem IPbpR sowie dem 7. ZP EMRK vergleichbaren Weise gegen Abschiebung, und zwar unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts.13 2. Zur Umsiedlung syrischer Flüchtlinge aus international flüchtlingsrechtlicher Sicht Die weit überwiegende Mehrheit syrischer Staatsangehöriger, die sich zurzeit in der Türkei aufhalten , unterfällt dem Schutzbereich der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK).14 Flüchtlinge, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Vertragsstaates der GFK aufhalten, genießen einen besonderen völkerrechtlichen Ausweisungs- und Abschiebeschutz. Zum rechtslogischen Zusammenhang zwischen unfreiwilliger Umsiedlung und Ausweisung bzw. Abschiebung siehe bereits oben.15 Eine Ausweisung zwecks unfreiwilliger Umsiedlung syrischer Flüchtlinge wäre gem. Art. 32 und 33 GFK völkerrechtlich zulässig, wenn 11 Vgl. statt vieler Lara Seligmann, Turkey Begins Resettling Refugees in Northeastern Syria, in: Foreign Policy, 9. Dezember 2019, https://foreignpolicy.com/2019/12/09/turkey-resettling-refugees-northeastern-syria/. 12 Siehe Art. 1 und 2 der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, https://www.wanderarbeiterkonvention.de/internationale-konvention-zum-schutz-derrechte -aller-wanderarbeitnehmer-und-ihrer-familienangehoerigen-3136/. Von der Türkei ratifiziert, siehe Übersicht zum Vertragsstatus auf UNTC, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV- 13&chapter=4&clang=_en. 13 Siehe im einzelnen Art. 22 der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, a.a.O. 14 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (In Kraft getreten am 22. April 1954) in Verbindung mit dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (in Kraft getreten am 4. Oktober 1967), https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/Genfer_Fluechtlingskonvention _und_New_Yorker_Protokoll.pdf. Zur Bindungswirkung des Abkommens sowie des Protokolls für die Türkei siehe UNTC, https://treaties.un.org/Pages/Treaties.aspx?id=5&subid=A&clang=_en sowie https://treaties .un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=V-5&chapter=5&clang=_en. 15 Siehe unter 1. Abschiebung zwecks Umsiedlung aus international menschenrechtlicher Sicht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 7 - Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im jeweils einzeln zu prüfenden Fall für eine Ausweisung sprechen;16 - die einzelnen Personen ein faires Verfahren hatten, einschließlich der Gelegenheit, Rechtsmittel einzulegen;17 - den einzelnen Personen eine angemessene Frist gewährt wurde, um rechtmäßige Aufnahme in einem anderen Land zu suchen;18 - infolge der Ausweisung keine Gefahr für Leben oder Freiheit der einzelnen Personen wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe besteht.19 Anders zu bewerten ist die freiwillige Repatriierung. Denn eine Person ist nicht mehr Flüchtling im Sinne der GFK, wenn „sie freiwillig in das Land, das sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder außerhalb dessen sie sich befindet, zurückgekehrt ist und sich dort niedergelassen hat.“20 Aus Sicht der GFK gibt es keine Vorbehalte gegen eine freiwillige Rückkehr (dann ehemaliger ) Flüchtlinge in das ursprüngliche Herkunftsland. Vielmehr bestätigen das UNHCR Statut, verschiedene Resolutionen der VN-Generalversammlung sowie Entscheidungen des UNHCR Exekutivkomitees das Recht auf freiwillige Rückkehr und das UNHCR-Mandat, die (dann ehemaligen ) Flüchtlinge bei der Rückkehr zu unterstützen.21 Auch nach vollständigem Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Flüchtling führten, – also z.B. nach einer Ablösung der gegenwärtigen durch eine demokratisch legitimierte, rechtsstaats - und menschenrechtskonforme Regierung und eine vollständige Beendigung bewaffneter Auseinandersetzungen innerhalb des Landes – wäre die Umsiedlung (dann ehemaliger) syrischer Flüchtlinge zurück in syrisches Staatsgebiet anders zu beurteilen. Denn nach der GFK erlischt der internationale Schutz als Flüchtling, wenn eine Person „nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“22, was die Rückkehr in das Herkunftsland mitbeinhaltet. Sind die Ursachen der Anerkennung als Flüchtling endgültig weggefallen, kommt es somit nach der GFK für eine etwaige Repatriierung nicht auf den individuellen Willen der betroffenen Personen an. Allerdings ist die Schwelle, um den Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Flüchtling geführt hatten, zu bejahen, hoch anzusetzen: So ist u.a. erforderlich, dass der Wegfall endgültig und nachhaltig ist, er dauerhafte Lösungen ermöglicht , die Sicherheitslage nicht mehr volatil ist und eine etwaige Rückkehr die Stabilität im 16 Siehe Art. 32 Abs. 1 GFK. 17 Siehe Art. 32 Abs. 2 GFK. 18 Siehe Art. 32 Abs. 3 GFK. 19 Vgl. Art. 33 GFK mit weiteren Einzelheiten. 20 Siehe Art. 1 C. Nr. 4 GFK. 21 Zu den Rechtsgrundlagen siehe im einzelnen UNHCR, ,Handbook Voluntary Repatriation: International Protection, Genf 1996, https://www.unhcr.org/uk/3bfe68d32.pdf, S. 5 ff. 22 Siehe Art. 1 C. Nr. 5 GFK. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 8 Herkunftsland nicht beeinträchtigt.23 Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien ist die Annahme eines Wegfalls im Sinne der GFK zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher fernliegend. Im gleichen Sinne hat sich die deutsche Bundesregierung in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage unlängst geäußert: Die Bundesregierung teilt die Einschätzung des UNHCR, dass die Sicherheitslage in Syrien eine Rückkehr syrischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde derzeit nicht zulässt. Die Rückkehr syrischer Flüchtlinge, sofern die Bedingungen dafür erfüllt sein sollten, kommt für die Bundesregierung nur im Rahmen eines VN-koordinierten Prozesses unter Achtung des Non-Refoulement Prinzips, freiwillig sowie ohne gezielte Veränderung der demographischen Struktur vor Ort in Betracht.24 Sofern sich einzelne, in die Türkei geflüchtete syrische Staatsangehörige informiert und freiwillig zur Übersiedlung in die von der Türkei besetzten Regionen in der Arabischen Republik Syrien entscheiden, gibt es hiergegen keine völkerrechtlichen Bedenken. Am Rande des Global Refugee Forum 201925 äußerte sich der VN-Hochkommissar für Flüchtlinge zur Frage der Repatriierung syrischer Flüchtlinge durch die Türkei und wies dabei auf die eigentlichen humanitären Fragen hin, die eine Rückkehr von Syrern nach Syrien aufwirft: Our position on return is – I don’t know how many times I have laid it out here in this room – is always the same: return is voluntary. But President Erdogan said it very clearly himself. Return can only be voluntary from our perspective, which means that people can choose to return or not to return. This is their choice. Now, our position has always been as well that if people return to Syria, wherever they return, they deserve – they need, in fact - humanitarian support. And I hope that this continues to be accepted by everybody. So, whether they return from Turkey, wherever they go – preferably to their places of origin, naturally, which is where they usually want to go – they need support. And that support has been difficult to obtain. But I think humanitarian support should not be linked to any other considerations. There is of course the question of what are the obstacles to this return, and we have also spoken many times about this issue. There is often an emphasis on material conditions, the reality is that there are other issues that need to be addressed - property issues, legal issues, documentation issues. Now, on all those issues we have actually been working with 23 UNHCR, Guidelines on International Protection: Cessation of Refugee Status under Article 1 C (5) and (6) of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees (the “Ceased Circumstances” Clauses), HCR/GIP/03/03, 10 February 2003, https://www.unhcr.org/3e637a202.pdf, S. 3 ff. 24 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/14406 – Entwicklungen in der türkischen Flüchtlingspolitik im Kontext des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens, Drucksache 19/15248, 15. November 2019, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/152/1915248.pdf [Hervorhebungen vom Bearbeiter]. 25 UNHCR, Global Refugee Forum, https://www.unhcr.org/global-refugee-forum.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 9 the Syrian authorities and will continue to do that. We are also encouraging the Syrian authorities to allow us presence in the areas where people return, because this could be a confidence-building measure. Finally, there is the issue of reconstruction. This is more complex because, of course, Syria is not yet a resolved conflict, so reconstruction in a fully-fledged way clearly is linked to a longer-term process which needs to include a political solution. This is not up to me to advocate for, this is another discussion , but we are not yet there. But humanitarian assistance for those returning, wherever they are returning, from and to, needs to be provided, and we are ready to cooperation with the authorities to do that.26 3. Zur Ansiedlung syrischer Flüchtlinge aus international besatzungsrechtlicher Sicht Aus Sicht des humanitären Völkerrechts würden sich rechtliche Bedenken in Bezug auf die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge im türkisch besetzten Teil Syriens möglicherweise aus den völkerrechtlichen Bestimmungen für besetzte Gebiete (Besatzungsrecht) ergeben.27 Das für den vorliegenden Sachverhalt relevante völkerrechtliche Besatzungsrecht ist im Wesentlichen im Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (4. GK)28 enthalten. Zur türkischen Besatzung einer „Sicherheitszone“ auf dem Territorium der Arabischen Republik Syrien und der im Rahmen der Besatzung geplanten Umsiedlung syrischer Flüchtlinge haben sich die Wissenschaftlichen Dienste bereits geäußert: Eine […] Besetzung und Errichtung einer bis zu 30 Kilometer tiefen „Sicherheitszone“ – die angesichts sechsstelliger Flüchtlingszahlen […] praktisch eine Art „Bevölkerungsverschiebung “ (quasi eine „ethnische Flurbereinigung“) in den nordsyrischen Kurdengebieten nach sich zieht bzw. diese zwecks Ansiedlung syrischer Flüchtlinge in den besetzten Gebieten nachgerade intendiert […] – geht jedoch über das zur Abwehr etwaiger Angriffe erforderliche Maß hinaus. Besatzungsrechtlich sind jegliche Formen der Umsiedlung geschützter Personen in besetzten Gebieten untersagt (vgl. Art. 49 der 4. Genfer Konvention von 1949).29 26 Transcript of Press Conference by United Nations Secretary-General Antonio Guterres and United Nations High Commissioner for Refugees Filippo Grandi, Palais des Nations, Geneva, 17 December 2019, https://www.unhcr .org/5df9070f4, S. 4 f. [Hervorhebungen vom Bearbeiter]. 27 Einführend zum Besatzungsrecht vgl. Hans-Peter Gasser, Die kriegerische Besetzung, in: Dieter Fleck (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, München 1994, S. 193 ff., sowie Hans-Peter Gasser, Belligerent Occupation, in: Dieter Fleck (ed.), The Handbook of International Humanitarian Law, 2nd ed. Oxford 2008, p. 270 ff. 28 Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, abgeschlossen in Genf am 12. August 1949, https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19490188/index.html. 29 WD 2 - 3000 - 116/19, Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien , 17. Oktober 2019, https://www.bundestag.de/resource /blob/663322/fd65511209aad5c6a6eae95eb779fcba/WD-2-116-19-pdf-data.pdf, S. 11 [mit Fußnoten im Text]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 007/20 Seite 10 Zwar verbietet der Wortlaut von Art. 49 4.GK lediglich die Aussiedlung von Personen aus einem besetzten Gebiet (Art. 49 Abs. 1 4.GK) sowie die Ansiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung der Besatzungsmacht in dem besetzten Gebiet (Art. 49 Abs. 6 4.GK). Auch bezog sich die bisherige Staatenpraxis seit Annahme der 4. GK im Jahre 194930 – soweit ersichtlich – nie auf Fälle, in denen die Umsiedlung Zivilpersonen betraf, die die Staatsangehörigkeit des teilweise besetzten Staates hatten. Doch bewerteten sowohl der VN-Sicherheitsrat31 als auch der Internationale Gerichtshof32 einzelne Siedlungsmaßnahmen, die darauf abzielten, die demographische Zusammensetzung in einem besetzten Gebiet zu ändern, als rechtlich unwirksam. Die VN-Generalversammlung 33 und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes34 schlossen sich dieser Bewertung in verschiedenen Einzelfällen an. Damit sind Umsiedlungen nur in den engen Grenzen des Art. 49 4.GK zulässig, wenn die Sicherheit der Bevölkerung oder zwingende militärische Gründe sie erfordern. In allen anderen Fällen wird in der wissenschaftlichen Literatur weithin vertreten, dass eine Besatzungsmacht in einem besetzten Gebiet nach Art. 49 4.GK grundsätzlich nicht zu An- oder Umsiedlungen berechtigt ist.35 Vor diesem Hintergrund ist die ungewöhnliche Konstellation, dass eine Besatzungsmacht Staatsangehörige eines teilweise besetzten Staates in dessen Staatsgebiet umsiedeln möchte, aus besatzungsrechtlicher Perspektive nicht unbedenklich. In Ermangelung völkerrechtlich verbindlich beurteilter, zumindest ähnlich gelagerter Präzedenzfälle verzichtet das vorliegende Gutachten allerdings auf eine abschließende eigene Bewertung des Sachverhalts aus Sicht des humanitären Völkerrechts. *** 30 V.a. Israel, Zypern und das ehemalige Jugoslawien, vgl. hierzu Christian Tomuschat, Chapter 73, Prohibition of Settlements, in: Andrew Clapham u.a. (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions, A Commentary, Oxford 2015, S. 1551 ff. 31 UN SC Res. 465 (1980), 1 March 1980, operative paragraph 5: “[A]ll measures taken […] to change the […] demographic composition […] have no legal validity“, https://unispal.un.org/UNISPAL.NSF/0/5AA254A1C8F8B1CB852560E50075D7D5. 32 ICJ, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 9 July 2004, p. 136 ff., at p. 184, para. 120, and p. 192, para. 134, https://www.icj-cij.org/files/case-related /131/131-20040709-ADV-01-00-EN.pdf. 33 Vgl. UNGA Res. 31/106 A, 16 December 1976, https://undocs.org/en/A/RES/31/106; UNGA Res. 68/15, 26 November 2013, https://undocs.org/en/A/RES/68/15. 34 Zitiert nach Christian Tomuschat, siehe oben (Fn.9), dort Fn. 20 bis 22. 35 Vgl. a. Christian Tomuschat, a.a.O. (Fn. 9); Emily Haslam, Population, Expulsion and Transfer, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e861?prd=OPIL#law-9780199231690-e861-div1-6, insbesondere F. Population Transfer in Armed Conflict, Rz. 20 ff.; Alfred de Zayas, Forced Population Transfers, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e802?prd=OPIL#law- 9780199231690-e802-p-29, insbesondere B. Norms, Rz. 5 ff. (jew. m.w.N.).