© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 002/19 Vereinbarkeit von Neuregelungen zur Arbeitszeitgestaltung im ungarischen Arbeitsgesetzbuch mit der Europäischen Sozialcharta Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 2 Vereinbarkeit von Neuregelungen zur Arbeitszeitgestaltung im ungarischen Arbeitsgesetzbuch mit der Europäischen Sozialcharta Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 002/19 Abschluss der Arbeit: 25. Januar 2019 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Anhebung der möglichen Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens von zwölf auf 36 Monate 5 2.1. Inhalt und Zweck der Neuregelungen zur Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens 5 2.2. Vereinbarkeit der Neuregelungen mit den Vorgaben der Europäischen Sozialcharta zur Flexibilisierung von Arbeitszeiten 6 3. Hochstufung der erlaubten Mehrarbeit von 250 auf 400 Stunden im Kalenderjahr 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 4 1. Einführung Das ungarische Parlament hat am 12. Dezember 2018 über mehrere Änderungen von Regelungen zur Arbeitszeitgestaltung im ungarischen Arbeitsgesetzbuch abgestimmt und mit der erforderlichen Mehrheit das „Gesetz über die Änderung einzelner Gesetze zur Arbeitszeitgestaltung und zu Mindestgebühren für Arbeitskräfteüberlassung“1 beschlossen. Nachdem Präsident Áder das Änderungsgesetz unterzeichnet hatte, trat es am 1. Januar 2019 in Kraft. Insbesondere die Neuregelungen zur Leistung von Mehrarbeit werden in Teilen der ungarischen Bevölkerung kritisch beurteilt und gaben Anlass zu Demonstrationen.2 Dieser Sachstand untersucht , ob die jüngst verabschiedeten Neuregelungen zur Arbeitszeitgestaltung mit der Europäischen Sozialcharta vereinbar sind. Bei der Europäischen Sozialcharta (ESC) handelt es sich um ein von Mitgliedstaaten des Europarates verabschiedetes völkerrechtliches Abkommen (1961 verabschiedet, in Kraft seit 1965), das Vorgaben für die Sicherung sozialer Rechte trifft und u.a. die Rechte auf Arbeit, auf gerechte Arbeitsbedingungen, auf Vereinigung und auf soziale Sicherheit garantiert.3 Eine revidierte Fassung der Charta wurde im Jahr 1996 verabschiedet.4 Die ESC flankiert durch ihre sozialen Schutzzwecke die ebenfalls von Mitgliedstaaten des Europarates verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Ausschuss für soziale Rechte des Europarates (im Folgenden: Ausschuss) überprüft anhand von regelmäßig einzureichenden Länderberichten die relevante Gesetzgebung der Vertragsstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben der ESC. Ungarn hat die ESC in beiden Fassungen angenommen und ratifiziert.5 1 Ungarisches Gesetz über die Änderung einzelner Gesetze zur Arbeitszeitgestaltung und zu Mindestgebühren für Arbeitskräfteüberlassung, 12.12.2018, in Kraft getreten am 1.1.2019. 2 Siehe z.B. Keno Verseck, Tausende Ungarn stemmen sich gegen „Sklavengesetz", Deutsche Welle, 22.12.2018, https://www.dw.com/de/tausende-ungarn-stemmen-sich-gegen-sklavengesetz/a-46839437 (letzter Zugriff: 24.1.2019). 3 Europäische Sozialcharta, Europarat, Turin, 18.10.1961, Sammlung Europäischer Verträge Nr. 35, in amtlicher deutscher Übersetzung, https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions /rms/090000168006b748 (letzter Zugriff: 24.1.2019). 4 Europäische Sozialcharta (revidiert), Europarat, Straßburg, 3.5.1996, Sammlung Europäischer Verträge Nr. 163, in nichtamtlicher deutscher Übersetzung, https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions /rms/090000168007cf92 (letzter Zugriff: 24.1.2019). 5 Siehe jeweils zu den Vorbehalten und Erklärungen Ungarns die Webseite des Europarates, Reservations and Declarations for Treaty No. 035 – European Social Charter, Hungary, https://www.coe.int/en/web/conventions /search-on-treaties/-/conventions/treaty/035/declarations?p_auth=HcHKnkY1&_coeconventions _WAR_coeconventionsportlet_enVigueur=false&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_search By=state&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_codePays=HUN&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet _codeNature=10; Reservations and Declarations for Treaty No.163 – European Social Charter (revised ), Hungary, https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/163/declarations ?p_auth=HcHKnkY1 (letzter Zugriff jeweils: 24.1.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 5 Nachfolgend wird geprüft, ob einzelne Neuregelungen zur Arbeitszeitgestaltung im ungarischen Arbeitsgesetzbuch (uArbGB) mit dem in Artikel 2 Abs. 1 der ESC niedergelegten Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen in seiner Ausprägung des Rechts auf eine angemessene Arbeitszeit vereinbar sind (siehe dazu unten 2. bis 4.). Artikel 2 Abs. 1 ESC (revidiert)6 lautet: „Um die wirksame Ausübung des Rechts auf gerechte Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: (1) für eine angemessene tägliche und wöchentliche Arbeitszeit zu sorgen und die Arbeitswoche schrittweise zu verkürzen, soweit die Produktivitätssteigerung und andere mitwirkende Faktoren dies gestatten;“ Zu beachten ist, dass im Rahmen dieser rechtlichen Bewertung eine Auslegung der neuen ungarischen Gesetze zur Arbeitszeitgestaltung nur sehr eingeschränkt möglich ist, da die betreffenden Gesetzestexte lediglich in einer (nicht amtlichen) deutschen bzw. englischen Übersetzung zurate gezogen werden können. Die ungarische Rechtsprechungspraxis zum Arbeitsrecht ist, soweit ersichtlich, nur in ungarischer Sprache zugänglich und kann daher vorliegend nicht berücksichtigt werden. 2. Anhebung der möglichen Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens von zwölf auf 36 Monate 2.1. Inhalt und Zweck der Neuregelungen zur Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens Das ungarische Änderungsgesetz (uÄndG) trifft in § 2 eine Neuregelung zur Geltungsdauer des sog. Arbeitszeitrahmens (englisch: working time banking).7 Dieser Arbeitszeitrahmen ist ein Instrument für Arbeitgeber, um die Arbeitszeit in einem festgelegten Zeitraum abweichend von der Regelarbeitszeit von acht Stunden pro Arbeitstag (vgl. § 92 Abs. 1 uArbGB) zu bestimmen. Auf diese Weise soll Arbeitgebern eine flexiblere Organisation der Arbeitsordnung ermöglicht werden (z.B. eine Anpassung an bestimmte Produktionszyklen). Grundsätzlich beträgt die erlaubte Geltungsdauer eines solchen Arbeitszeitrahmens auch nach dem verabschiedeten Änderungsgesetz zum ungarischen Arbeitsgesetzbuch wie zuvor maximal vier Monate oder 16 Wochen (§ 94 Abs. 1 uArbGB). Für bestimmte Arbeitnehmer wie Schicht- 6 Im Folgenden wird die Charta in ihrer revidierten Fassung aus dem Jahr 1996 herangezogen und zur besseren Lesbarkeit auf den Hinweis (revidiert) verzichtet. 7 Die deutschen und englischen Bezeichnungen beruhen auf einer deutschen Übersetzung des „Gesetz[es] über die Änderung einzelner Gesetze zur Arbeitszeitgestaltung und zu Mindestgebühren für Arbeitskräfteüberlassung “ vom 12.12.2018 sowie auf einer englischen Übersetzung des ungarischen Arbeitsgesetzbuches vom 13.12.2011 (Stand: Januar 2018); es handelt sich jeweils um nichtamtliche Übersetzungen der ungarischen Gesetzestexte , die im Anhang dieses Sachstandes beigefügt sind; siehe für die englische Übersetzung des ungarischen Arbeitsgesetzbuches vom 13.12.2011 (Stand: Januar 2018) auch die Webseite der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, kurz: ILO): NATLEX, Hungary, Labour codes, general labour and employment acts, https://www.ilo.org/dyn/natlex/natlex4.detail ?p_lang=en&p_isn=89886&p_country=HUN&p_classification=01.02 (letzter Zugriff: 24.1.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 6 oder Saisonarbeiter darf eine Zeitspanne von höchstens sechs Monaten oder 26 Wochen bestimmt werden (§ 94 Abs. 2 uArbGB). Durch Tarifvertrag kann jedoch eine deutlich längere Geltungsdauer zugrunde gelegt werden. Voraussetzung dafür ist nach § 2 uÄndG neben der Vereinbarung im Tarifvertrag, dass „objektive , technische oder mit der Arbeitsorganisation zusammenhängende Gründe vorliegen, die dies rechtfertigen.“ In diesem Fall kann der Arbeitszeitrahmen so auf bis zu 36 Monate terminiert werden (vgl. § 94 Abs. 3 uArbGB n.F.). Zuvor hatte die Grenze für eine solche tarifvertragliche Gestaltung bei zwölf Monaten gelegen (§ 94 Abs. 3 uArbGB a.F.). Mit dem Änderungsgesetz wurden zudem die angeführten Rechtfertigungsgründe für eine derartige Geltungsdauer um „objektive […] Gründe“ erweitert. Gemäß der Begründung des Gesetzentwurfs sollen durch die gesetzlich verlängerte Geltungsdauer von Arbeitszeitrahmen langfristige wirtschaftliche Trends berücksichtigt und eine adäquate Arbeitszeitgestaltung gewährleistet werden. Insbesondere in Branchen mit langen (z.B. 6-7-jährigen) Produktionszyklen sei ein zwölfmonatiger Arbeitszeitrahmen zu eng gefasst, um die Produktion auch an die Nachfrage anpassen zu können und auf Schwankungen bei der Arbeitsintensität flexibel zu reagieren, so die Initiatoren des Gesetzesentwurfs. 2.2. Vereinbarkeit der Neuregelungen mit den Vorgaben der Europäischen Sozialcharta zur Flexibilisierung von Arbeitszeiten Die Europäische Sozialcharta verpflichtet die Vertragsstaaten, für eine angemessene tägliche und wöchentliche Arbeitszeit zu sorgen. Die Charta definiert allerdings nicht, was unter einer angemessenen Arbeitszeit zu verstehen ist. Vielmehr beurteilt der mit der Prüfung betraute Ausschuss für soziale Rechte des Europarates die Vereinbarkeit mit der Charta von Fall zu Fall.8 In seinen Entscheidungen hat der Ausschuss wiederholt betont, dass Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit nicht per se einen Verstoß gegen die Charta begründeten. Drei Kriterien müsse der Vertragsstaat in seiner Gesetzgebung aber einhalten: Erstens dürfen maximale Tagesund Wochenarbeitszeiten (laut Ausschuss höchstens 16 Stunden pro Tag und 60 Stunden in der Woche) nicht überschritten werden. Zweitens muss ein gesetzlicher Rahmen die Bedingungen und verbleibenden Entscheidungsspielräume für solche Kollektivvereinbarungen zu flexibleren Arbeitszeiten klar und genau festlegen. Drittens ist ein angemessener Referenzzeitraum für die Berechnung der durchschnittlichen Arbeitszeit zugrunde zu legen.9 8 Vgl. Europarat, Conclusions XIV-2, Statement of Interpretation on Article 2§1, p. 32, in: Digest of the Case Law of the European Committee of Social Rights, 1.9.2008, Second Part, Article 2, p. 197, sec. 45, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?document Id=090000168049159f (letzter Zugriff: 24.1.2019). 9 Vgl. Europarat, Conclusions XX-3 (2014) (Spain), p. 5, http://s01.s3c.es/imag/doc/2015-01-22/XX-Conclusiones _ComiteEuropeoDerechosSociales.pdf (letzter Zugriff: 24.1.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 7 Einhaltung der maximalen Tages- und Wochenarbeitszeiten Die Initiatoren des Gesetzesentwurfs weisen in ihrer Begründung darauf hin, dass durch die verlängerte Geltungsdauer von Arbeitszeitrahmen die in Ungarn gesetzlich erlaubte wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden „im 12-Monatsdurchschnitt auch unter Anrechnung der außerordentlichen Mehrarbeit“ nicht überschritten werde. Gesetzlich normiert ist diese maximale Wochenarbeitszeit auch während der Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens daher nunmehr in § 99 Abs. 9 n.F. uArbGB bzw. § 5 uÄndG. Eine weitere Regelung, die ggf. klarstellend auch für die Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens die Einhaltung der in Ungarn vorgeschriebenen Tagesarbeitszeiten von maximal zwölf Stunden vorsieht oder eine Grenze von höchstens 16 Stunden pro Arbeitstag garantiert, wie sie der Ausschuss ansetzt, ist nicht ersichtlich. Dies könnte jedenfalls unter Beachtung des Gesetzeswortlautes und der Systematik den genannten Vorgaben des Ausschusses widersprechen, der explizit auch den Schutz vor unangemessen langen Tagesarbeitszeiten einfordert. Klarer und genau festgelegter gesetzlicher Rahmen In seiner Entscheidung Confédération Francaise de l’Encadrement CFE-CGC v. France aus dem Jahr 2004 hebt der Ausschuss hervor, dass flexible Arbeitszeitsysteme einen präzise gestalteten gesetzlichen Rahmen erforderten, der klar den verbleibenden Entscheidungsspielraum für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Abweichung von den regulären Arbeitszeiten abgrenzt.10 Ob die Flexibilisierung durch Arbeitszeitrahmen auf Grundlage von § 94 Abs. 3 uArbG n.F. im Einzelfall dieser Anforderung gerecht wird, bedarf gegebenenfalls einer weiteren Prüfung. Mit den „objektive[n] oder technische[n] oder mit der Arbeitsorganisation zusammenhängende[n] Gründe[n]“ räumt er den Tarifvertragsparteien ein weitgehendes Ermessen in ihrer Beurteilung ein, ob ein Arbeitszeitrahmen von bis zu 36 Monaten gerechtfertigt ist. Ein Arbeitszeitrahmen von bis zu 36 Monaten kann nicht einseitig durch den Arbeitgeber festgelegt werden, sondern bedarf einer vorherigen Vereinbarung im Tarifvertrag (vgl. § 2 uÄndG und die dazugehörige Begründung des Gesetzesentwurfs). Diese Regelung entspricht insofern den Vorgaben des Ausschusses, als dieser für Flexibilisierungsmaßnahmen hinsichtlich der Arbeitszeit wiederholt und ausdrücklich Kollektivvereinbarungen einfordert.11 10 Ausschuss für Soziale Rechte des Europarates, Confédération Française de l’Encadrement CFE-CGC v. France, complaint No. 16/2003, decision on the merits of 12 October 2004, sec. 35, https://hudoc .esc.coe.int/eng#{"sort":["ESCPublicationDate Descending"],"ESCArticle":["02-00-000","02-01- 000"],"ESCDcLanguage":["ENG"],"ESCStateParty":["FRA"],"ESCDcIdentifier":["cc-16-2003-dmerits-en"]} (letzter Zugriff: 24.1.2019). 11 Vgl. Europarat, Conclusions XIV-2, Article 2, in: Digest of the Case Law of the European Committee of Social Rights, 1.9.2008, First Part, Article 2, p. 27, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/Display DCTMContent?documentId=090000168049159f (letzter Zugriff: 24.1.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 8 Zugrundelegung eines Referenzzeitraums von zwölf Monaten für ungleichmäßige Arbeitszeit Der § 5 des Änderungsgesetzes betrifft den Referenzzeitraum, der für den Arbeitszeitrahmen, also im Falle einer ungleichmäßigen Arbeitszeiteinteilung nach § 94 uArbGB, zugrunde zu legen ist. Danach soll die wöchentliche geplante Arbeitszeit „innerhalb von zwölf Monaten durchschnittlich berücksichtigt werden“. Die Neuregelung in § 99 Abs. 9 uArbGB n.F. berührt damit eines der drei Kriterien, die der Ausschuss in früheren Entscheidungen für eine Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1 ESC festgelegt hat. Danach müssen die nationalen Gesetze zur Arbeitszeitgestaltung einen angemessenen Referenzzeitraum bestimmen, damit die durchschnittliche Arbeitszeit berechnet werden kann. Dieser Referenzzeitraum darf laut Ausschuss jedoch nicht sechs Monate überschreiten und nur in außergewöhnlichen Umständen auf ein Jahr ausgedehnt werden.12 In mehreren Entscheidungen zur Vereinbarkeit von deutschen Arbeitszeitregelungen mit Art.2 Abs. 1 ESC hat der Ausschuss seine dahinterstehenden Erwägungen erklärt: Es handele sich um eine Frage der Rechtssicherheit, denn je länger der Referenzzeitraum sei, desto mehr Flexibilität bestehe auch, um die Arbeitsstunden ungleichmäßig zu verteilen. Eine solche Lage könne zu unangemessen langen Arbeitswochen führen.13 Dass solche außergewöhnlichen Umstände im Falle der Festlegung von verlängerten Arbeitszeitrahmen – die als gewünschtes Mittel zur Flexibilisierung der Arbeitszeit gerade ausdrücklich verstärkt wurden – vorliegen, ist nicht ersichtlich. Insofern bleibt abzuwarten, ob die ungarischen Vertreter im Rahmen der turnusmäßigen Berichterstattung vor dem Ausschuss solche außergewöhnlichen Umstände vortragen können. Rechtliche Bewertung Es bleibt daher festzuhalten, dass die durch das Änderungsgesetz neueingeführte mögliche Geltungsdauer von 36 Monaten von der grundsätzlich in § 94 Abs. 1 uArbGB vorgesehenen maximalen Periode von vier Monaten oder 16 Wochen deutlich abweicht. Ob sich diese langen Arbeitszeitrahmen mit dem Erfordernis der angemessenen Arbeitszeit i.S.d. Charta vereinbaren lassen, scheint unter Zugrundelegung der durch den Ausschuss wiederholt vorgetragenen Kriterien im Zusammenhang mit Flexibilisierungsmaßnahmen zweifelhaft. Eine ungleichmäßige Arbeitszeiteinteilung für eine Dauer von bis zu 36 Monaten trägt jedenfalls nicht zu dem in Art. 2 Abs. 1 der Charta proklamierten Ziel einer schrittweisen Verkürzung der Arbeitswoche bei. 12 Vgl. Europarat, Conclusions XIV-2, Article 2, in: Digest of the Case Law of the European Committee of Social Rights, 1.9.2008, First Part, Article 2, pp. 27-28, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/Display DCTMContent?documentId=090000168049159f (letzter Zugriff: 24.1.2019). 13 Siehe z.B. Europarat, Conclusions XX-3 (2014) (GERMANY), p.4, https://hudoc .esc.coe.int/eng#{"sort":["ESCPublicationDate Descending"],"ESCArticle":["02-00-000","02-01- 000"],"ESCDcLanguage":["ENG"],"ESCStateParty":["DEU"],"ESCDcIdentifier":["XX-3/def/DEU/2/1/EN"]} (letzter Zugriff: 24.1.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/19 Seite 9 3. Hochstufung der erlaubten Mehrarbeit von 250 auf 400 Stunden im Kalenderjahr Die nach § 11 des Änderungsgesetzes vorgesehene Neuregelung zur Verrichtung von Mehrarbeit hat Medienangaben zufolge in Teilen der ungarischen Bevölkerung für großen Unmut gesorgt. Gemäß § 109 Abs. 1 uArbGB n.F. kann der Arbeitgeber von in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmern statt wie zuvor maximal 250 Stunden nunmehr 400 Stunden Mehrarbeit pro Kalenderjahr verlangen. Fraglich ist, ob diese Hochstufung mit den durch Art. 2 Abs. 1 ESC zu garantierenden angemessenen Arbeitszeiten vereinbar ist. Soweit ersichtlich, gibt es keine Präzedenzfälle speziell zu einer Hochstufung von erlaubter Mehrarbeit, wie sie nun durch § 11 uÄndG eingeführt wurde. In seinen allgemeinen Erwägungen im Länderberichtsturnus 1995-1996 weist der Ausschuss aber darauf hin, dass die Leistung und Dauer von Mehrarbeit zu limitieren ist, um den Arbeitnehmer nicht dem Risiko eines Unfalls am Ende des Arbeitstages auszusetzen.14 Zudem versteht der Ausschuss unter Arbeitsstunden nicht nur die regulär zu leistenden Arbeitsstunden, sondern auch Überstunden.15 Insofern kann davon ausgegangen werden, dass auch Mehrarbeit von bis zu 400 Stunden pro Kalenderjahr nicht zu einer Überschreitung der laut Ausschuss maximalen Tages- und Wochenarbeitszeiten von 16 Stunden pro Tag und 60 Stunden in der Woche führen darf. Indem die Regelung im ungarischen Arbeitsgesetzbuch zu maximalen Tagesund Wochenarbeitszeiten auf die Norm zu der Erbringung von Mehrarbeit entsprechend Bezug nimmt, ist diese Voraussetzung allem Anschein nach auch gewahrt (vgl. dazu § 99 Abs. 5 i.V.m. § 107 uArbGB). Zu berücksichtigen bleibt schließlich, dass Mehrarbeit, die während der Geltungsdauer eines Arbeitszeitrahmens geleistet wird, erst mit dessen Auslaufen zu vergüten ist (§ 156 Abs. 2 und 3 uArbGB). Damit ist im Extremfall denkbar, dass Mehrarbeit von jährlich bis zu 400 Stunden erst zum Ende eines dreijährigen Arbeitszeitrahmens ausgezahlt wird. Zweifelhaft ist, ob diese für Arbeitnehmer durchaus missliche Praxis mit dem in Artikel 4 der Charta verankerten Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt vereinbar ist.16 *** 14 Vgl. Europarat, Conclusions XIV-2, Statement of Interpretation on Article 2§1, p. 32, in: Digest of the Case Law of the European Committee of Social Rights, 1.9.2008, Second Part, Article 2, p. 197, sec. 44, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?document Id=090000168049159f (letzter Zugriff: 24.1.2019). 15 Ebd. 16 Vgl. zu Artikel 4 Abs. 1 und 2 Europarat, Conclusions XIV-2, Article 4§1, 4§2, in: Digest of the Case Law of the European Committee of Social Rights, 1.9.2008, Second Part, Article 4, pp. 217-221, sec. 112-121, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?document Id=090000168049159f (letzter Zugriff: 24.1.2019).