© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 002/16 Völker- und menschenrechtliche Vorgaben für Abschiebung von straffällig gewordenen Flüchtlingen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 2 Völker- und menschenrechtliche Vorgaben für Abschiebung von straffällig gewordenen Flüchtlingen Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 002/16 Abschluss der Arbeit: 18. Januar 2016 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Refoulement-Verbot 4 2. Ausnahmen vom Refoulement-Verbot 7 2.1. Genfer Flüchtlingskonvention 7 2.2. Europäische Menschenrechtskonvention 10 3. Rechtliche Konsequenzen 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 4 Mit Blick auf eine Abschiebung von straffällig gewordenen Flüchtlingen macht das Völkerrecht zwar nur wenige, dafür aber sehr zentrale und dezidierte Vorgaben, welche das nationale und europäische Recht überformen und nicht unerhebliche ausländerrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. In der Regel sind Staaten völkerrechtlich frei, über die Einreise und den Aufenthalt sowie die Ausweisung und Abschiebung von Ausländern zu entscheiden und den Aufenthalt für straffällig gewordene Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken.1 Ein allgemeines völkerrechtliches Abschiebeverbot von Ausländern und Staatenlosen existiert nicht.2 Während das deutsche Recht zwischen sog. zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten – bei denen wegen der Verhältnisse im Zielstaat eine Abschiebung aus rechtlichen Gründen unzulässig ist (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG) – und inlandsbezogenen (insbesondere humanitären) Vollstreckungshemmnissen (z.B. § 60a Abs. 2 AufenthG) differenziert,3 reduziert sich der Abschiebungsschutz im Völkerrecht im Wesentlichen auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung (sog. Refoulement-Verbot). Dieser Grundsatz (dazu 1.) und seine Ausnahmen (dazu 2.) sollen im Folgenden erörtert werden. 1. Refoulement-Verbot Der Grundsatz des Non-Refoulement beruht auf der Überzeugung der Staatengemeinschaft, dass keine Person in einen Staat zurückgewiesen werden darf, in dem ihr eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte droht. Die Staaten werden damit verpflichtet, die gefährdete Person vor dem unmittelbaren Zugriff des Verfolgerstaates zu schützen.4 Das Refoulement-Verbot begründet zwar keinen Rechtsanspruch auf Asyl, wohl aber ein Recht von Flüchtlingen, dem Zugriff des Verfolgerstaates auf Dauer entzogen zu bleiben und nicht gegen ihren Willen dorthin zurückkehren zu müssen, solange die Verfolgungsgefahr andauert.5 1 Vgl. zur deutschen Rechtslage das WD-Gutachten „Auswirkungen begangener Straftaten auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik“, WD 3 -3000 – 255/15 vom 29.10.2015 (Anlage). 2 Meyer-Ladewig, Jens, EMRK Handkommentar, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2011, Art. 3, Rdnr. 60. 3 Näher dazu Marx, Reinhard, AsylVfG, Kommentar, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 84. 4 Grundlegend Wendel, Mattias, Menschenrechrechtliche Überstellungsverbote: Völkerrechtliche Grundlagen und verwaltungsrechtliche Konkretisierung, in: DVBl. 2015, S. 731-741; Hofmann, Bianca, Grundlagen und Auswirkungen des völkerrechtlichen Refoulement-Verbots, in: Studien zu Grund- und Menschenrechten, Heft 3, hrsg. von der Universität Potsdam – Menschenrechtszentrum, Potsdam, 2000; verfügbar unter: https://publishup.unipotsdam .de/files/4857/SGM03.pdf. 5 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1492; Kälin, Walter , Das Prinzip des Non-refoulement, Bern, Frankfurt 1982, S. 11, 140. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 5 Das menschenrechtlich und flüchtlingsrechtlich verbriefte Refoulement-Verbot wird in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie in Art. 3 der Anti-Folterkonvention explizit garantiert. Artikel 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention lautet: Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Art. 3 der Anti-Folter-Konvention formuliert das Refoulement-Verbot dagegen wie folgt: (1) Ein Vertragsstaat darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden. (2) Bei der Feststellung, ob solche Gründe vorliegen, berücksichtigen die zuständigen Behörden alle maßgeblichen Erwägungen einschließlich des Umstands, dass in dem betreffenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht. Das Refoulement-Verbot resultiert (indirekt) aber aus Art. 3 der EMRK und Art. 7 des Internationalen Pakts für Bürgerliche und Politische Rechte und ist mittlerweile auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.6 Nach der gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) verbietet Art. 3 EMRK die Ausweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Ausländer dort (oder bei Gefahr einer weiteren Abschiebung in einen anderen Drittstaat) einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, gefoltert, unmenschlich behandelt bestraft oder getötet zu werden.7 6 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1493; Rah, Sicco, Asylsuchende und Migranten auf See, Heidelberg: Springer 2009, S. 268; Reichel, Ernst, Das staatliche Asylrecht „im Rahmen des Völkerrechts“, Berlin: Duncker 1987, S. 184 m.w.N. 7 St. EGMR-Rechtspr. seit Soering vs. Großbritannien (1989); dazu Meyer-Ladewig, Jens, EMRK Handkommentar, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2011, Art. 3, Rdnr. 61 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; Karpenstein/ Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015; Art. 1, Rdnr. 22 m.w.N.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 20, Rdnr. 40 f. Dies ist bei anerkannten Flüchtlingen und Asylbewerbern in der Regel der Fall, da sie sonst nicht anerkannt worden wären. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 6 Das Rückschiebeverbot gilt auch für jene Gegenden, wo die Gefahr für den Betroffenen von Bürgerkriegsparteien ausgeht.8 Auf das Refoulement-Verbot können sich zunächst einmal alle Menschen berufen – einschließlich Deserteure, Straftäter, Terroristen, Asylbewerber oder Flüchtlinge.9 Das Refoulement-Verbot gilt nicht nur mit Blick auf eine Abschiebung in den Heimatstaat, sondern auch bei Abschiebung in jeden anderen Staat, in dem der Flüchtling Verfolgung im Sinne des Artikels 1 GFK bzw. eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK befürchten muss. Das Verbot umfasst somit auch Handlungen, die eine Kettenabschiebung bewirken können.10 Es kommt also im Einzelfall darauf an, in welches Land die Abschiebung erfolgen soll.11 Das Refoulement-Verbot verbietet den Staaten dagegen nicht, Flüchtlingen Asyl zu verweigern und sie in einen sicheren Drittstaat zurückzuschicken. In diesem Fall gehen die Verpflichtungen aus dem Refoulement-Verbot auf den Zielstaat der Abschiebung über. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass kein Staat – außer dem Heimatstaat – völkerrechtlich verpflichtet ist, straffällig gewordene Flüchtlinge aus Deutschland aufbzw . „zurück“ zu nehmen, es sei denn, es besteht ein entsprechendes Rückführungsübereinkommen , das auch solche Fälle mit einschließt. Aus dem Verbot der „Kettenabschiebung“ lässt sich auch keine umfassende Fürsorgepflicht für das weitere Schicksal des Ausländers entnehmen.12 In Einzelfällen kann allerdings ein Verstoß gegen den Refoulement-Grundsatz vorliegen, wenn ein Flüchtling für längere Zeit zwischen zwei Ländern „hin und her geschoben wird“, ohne dass konkrete Maßnahmen zur Klärung seines 8 EGMR (Große Kammer), Ahmed gegen Österreich (1996); Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München : Beck, 2. Aufl. 2015; Art. 3, Rdnr. 24 m.w.N. 9 Nachweise bei Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1451. 10 Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Losebl. (86. Aktualisierung Juni 2014), Ordner 2, A 1, Kommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 60, Rdnr. 73; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 20, Rdnr. 44. 11 Dabei ist der rechtliche Status des Ausländers von Bedeutung. So werden Menschen aus Marokko oder Algerien sowie aus dem westlichen Balkan in Deutschland in der Regel weder als Asylbewerber noch als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte anerkannt. 12 Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Losebl. (86. Aktualisierung Juni 2014), Ordner 2, A 1, Kommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 60, Rdnr. 73. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 7 Status unternommen wurden.13 Der Aufenthalt eines Ausländers ist zu dulden, wenn am Ende kein anderer Staat, in dem er vor Verfolgung sicher ist, zu seiner Aufnahme bereit ist.14 Der völkerrechtliche Refoulement-Schutz geht dem nationalen Recht vor: Auch wenn eine Behörde den Flüchtlings- oder subsidiären Schutz wegen Vorliegens von Ausschlussgründen versagen will, muss sie die völker- und menschenrechtlichen Vorgaben berücksichtigen.15 2. Ausnahmen vom Refoulement-Verbot Der Abschiebungsschutz eines Flüchtlings (und damit auch: die Gefahr für Leib und Leben, der er in seinem Heimatland ausgesetzt ist), steht in einem Spannungsverhältnis zu der Gefahr, die straffällig gewordene Flüchtlinge für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in ihrem Aufnahmeland darstellen können. Die GFK löst dieses Spannungsfeld durch eine (eng begrenzte) Ausnahmeklausel (dazu 2.1.); die EMRK löst es durch den Absolutheitsanspruch des Refoulement- Verbotes (dazu 2.2.). 2.1. Genfer Flüchtlingskonvention Nach der GFK ist der Schutz durch das Refoulement-Verbot nicht absolut. Art. 33 Abs. 2 GFK sieht vielmehr vor: Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift [ergo: das Refoulement-Verbot] kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Zur Frage, welche Verbrechen der Flüchtling im Sinne dieser Ausnahmebestimmung begangen haben muss, äußert sich das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft:16 13 EKMR, Entsch. v. 5.3.1996 – Harabi gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 10798/84; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 20, Rdnr. 44. 14 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1492. 15 So Marx, Reinhard, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht: Handbuch, Baden-Baden: Nomos, 5. Aufl. 2015, S. 424 ff. 16 UNHCR Handbuch, Genf, 2011 (Neuauflage), nicht-amtliche Übersetzung verfügbar unter http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/1_international/1_1_voelkerrecht/1_1_2/FR_int_v r_handb-Handbuch.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 8 „155. Was ein „schwerwiegendes“ nichtpolitisches Verbrechen im Sinne dieser Ausschlussklausel ist, ist schwer zu definieren, insbesondere da der Begriff „Verbrechen“ in den verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedliche Bedeutung hat. In einigen Ländern steht das Wort „Verbrechen“ für eine besonders schwere Straftat; in anderen Ländern werden Delikte, die von Diebstahl bis Mord reichen, als Verbrechen definiert. In dem hier interessierenden Zusammenhang muss unter „schwerwiegendem“ Verbrechen immer ein Kapitalverbrechen oder eine besonders schwerwiegende Straftat verstanden werden. Weniger schwerwiegende Straftaten, die mit entsprechend geringeren Strafen belegt werden, stellen an sich keinen Grund für die Anwendung der Ausschlussklausel (…) dar, selbst wenn sie nach dem Strafrecht des betreffenden Landes als „Verbrechen“ bezeichnet sind. 156. Bei der Anwendung dieser Ausschlussklausel ist die Schwere der befürchteten Verfolgung gegen die Art der Straftat, derer der Antragsteller verdächtigt wird, abzuwägen. Wenn eine Person begründete Furcht vor sehr schwerer Verfolgung hat, z.B. vor einer Verfolgung , die Gefahr für Leben und Freiheit bedeutet, dann muss das von ihm begangene Verbrechen sehr schwer sein, wenn es die Anwendung der Ausschlussklausel nach sich ziehen soll. Ist die befürchtete Verfolgung weniger gravierend, wird es erforderlich sein, die Art des Verbrechens oder der Verbrechen in Betracht zu ziehen (…). 157. Bei der Beurteilung eines solchen Verbrechens müssen alle relevanten Faktoren - auch alle mildernden Umstände - in Betracht gezogen werden. Ebenso müssen alle erschwerenden Umstände beachtet werden, z.B. wenn ein Antragsteller in der Vergangenheit wiederholt als Straftäter in Erscheinung getreten ist. Relevant ist auch die Tatsache, dass ein wegen eines schwerwiegenden nichtpolitischen Vergehens verurteilter Antragsteller seine Strafe verbüßt hat, dass er begnadigt oder dass ihm Amnestie gewährt wurde. Im letzteren Fall ist zu vermuten, dass die Ausschlussklausel nicht mehr länger anwendbar ist, es sei denn, es kann bewiesen werden, dass - ungeachtet der Begnadigung oder der Amnestie - der kriminelle Charakter des Antragstellers immer noch vorherrscht.“ Das UNHCR-Handbuch selbst ist zwar für sich genommen völkerrechtlich nicht verbindlich, spiegelt aber mit Blick auf die Interpretation der Flüchtlingskonvention eine verfestigte Staatenpraxis (Übung) i.S.d. Art. 31 Abs. 3 lit. b) der Wiener Vertragsrechtskonvention wieder. Aus den Feststellungen des UNHCR-Handbuchs lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Die GFK erlaubt die Ausweisung von Flüchtlingen nur unter der Bedingung, dass der Betreffende eine schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit darstellt, weil er rechtskräftig wegen eines Verbrechens oder eines schweren Vergehens verurteilt wurde. Den Schutzanspruch aus der GFK verwirkt der Flüchtling also nur bei besonders schweren Straftaten. Ein verbindliches Mindestmaß für die Bestrafung (z.B. eine Freiheitsstrafe von mindestens einem oder drei Jahren) legt die GFK dabei jedoch nicht fest. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 9 Vielmehr wird man davon ausgehen können, dass die völkerrechtlichen Vorgaben eine innerstaatliche Präzisierung zulassen.17 Dies ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung der Bundesregierung zur Änderung von § 51 Abs. 3 AuslG, in der es heißt:18 „Die vorgesehene Festlegung eines verbindlichen Strafmaßes ist weder mit dem Wortlaut noch mit Sinn und Zweck von Artikel 33 Abs. 2 GFK vereinbar. Artikel 33 Abs. 2 GFK legt wie der geltende § 51 Abs. 3 AuslG nicht die Verurteilung zu einer bestimmten Strafe als Maßstab für den Ausschluss vom Refoulementverbot fest. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift wird deutlich, dass es für die Ausnahme vom Refoulementverbot entscheidend auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles ankommen soll und damit naturgemäß eine generalisierende Betrachtungsweise und Festlegung eines bestimmten Strafmaßes ausgeschlossen wird. Die Abweichung von den geltenden Vorschriften und Standards des internationalen Flüchtlingsrechts würde zudem dazu führen, dass die Harmonisierungsbestrebungen der Europäischen Union im Asylbereich ohne Not noch weiter erschwert würden .“ Ein beliebiges gesetzgeberisches Absenken des Strafmaßes, welches eine Ausweisung rechtfertigt, lässt sich mit Art. 33 Abs. 2 GFK allerdings nicht vereinbaren. Die Norm ist als Ausnahmeklausel eng auszulegen; die Wortwahl („schwerwiegende Gründe“, „Verbrechen oder besonders schweres Vergehen“) spricht eher dafür, dass Bagatelldelikte, aber auch (bloße) Bewährungsstrafen nicht ausreichen. Die Aussetzung der Strafe zur Bewährung belegt nämlich gerade, dass eine „Gefahr für die Allgemeinheit“, auf die Art. 33 Art. 2 GFK abstellt, nicht besteht.19 Zwischen dem Strafmaß und der Ausweisung darf es keinen Automatismus geben; vielmehr verlangt Art. 33 Abs. 2 GFK im Einzelfall eine konkrete und individuelle Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse des Aufenthaltsstaates an der Ausweisung und dem individuellen Bleibeinteresse des Flüchtlings. 17 Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Losebl. (86. Aktualisierung Juni 2014), Ordner 2, A 1, Kommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 60, Rdnr. 103. 18 BT-Drs. 13/5986, S. 12 vom 6.1.1996. 19 So auch Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser, „Unions-Vorschlag verstößt gegen Genfer Flüchtlingskonvention“, Interview in: ZEIT online vom 11.1.2016, verfügbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016- 01/koeln-asylrecht-ausweisungen-abschiebungen-union. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 10 2.2. Europäische Menschenrechtskonvention Das Refoulementverbot aus Art. 3 EMRK20 gilt absolut und lässt – anders als Art. 33 Abs. 2 GFK – keine Ausnahmen zu.21 Der EGMR hat ausdrücklich und wiederholt festgestellt, dass der Refoulement -Schutz der EMRK ausnahmslos gilt und über den Schutz der GFK hinausgeht.22 Die menschenrechtlichen Vorgaben gehen daher dem allgemeinen Flüchtlingsschutz auch dort vor, wo die GFK eigentlich eine Rückschiebung erlauben würde.23 Das Refoulement-Verbot gilt im Extremfall auch für einen Massenmörder. Die Große Kammer des EGMR hat dabei den Versuch der britischen Regierung zurückgewiesen , den Schutz nach Art. 3 EMRK gegen die staatlichen Sicherheitsinteressen abzuwägen . Der Schutz gegen Folter und unmenschliche Behandlung sei absolut und begründe einen durch keine Ausnahme durchbrochenen Schutz gegen Auslieferung und Abschiebung . Die Auffassung, wonach die Risiken, die dem Betroffenen im Zielstaat drohten, gegen seine Gefährlichkeit abgewogen werden könnten, beruhe nach Auffassung des EGMR auf einem unzutreffenden Verständnis von Art. 3 EMRK. Die Begriffe „Gefahr“ (für den Betroffenen) und „Gefährlichkeit“ (für die Bevölkerung des Aufenthaltsstaates) könnten nicht gegeneinander abgewogen werden. Dass der Betroffene eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, reduziere in keiner Weise das ihm drohende Risiko im Heimatstaat.24 Die „Abwägungsresistenz“ des Refoulement-Verbots wurzelt im absoluten (und derogationsfesten ) Charakter des Folterverbotes und damit der Menschenwürdegarantie – diese darf auch nach deutschen Verfassungsrecht nicht gegen ein anderen Rechtsgut aufgewogen und aufgerechnet werden (Stichwort: Rettungsfolter). 20 Anders sieht es dagegen bei Abschiebungsverboten mit Blick auf den Schutz des Familienlebens eines Ausländers (Art. 8 EMRK) aus (dazu Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Kehl: Engel Verlag, 3. Aufl. 2009, Art. 8, Rdnr. 38 f). Hier sind Faktoren wie die Natur und Schwere der Straftat, die Länge des Aufenthalts, die Staatsangehörigkeit der Familienmitglieder, die Familiensituation etc. im Abwägungsprozess zu berücksichtigen. 21 Marx, Reinhard, AsylVfG, Kommentar, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 87. 22 EGMR, Urt. v. 15.11.1996 = NVwZ 1997, 1093 - Chahal gegen Großbritannien; EGMR, Urt. v. 17.12.1996 = NVwZ 1997, 1100 – Ahmed gegen Österreich. 23 EGMR, Chahal gegen Großbritannien (1996), a.a.O., Ziff. 80; so auch Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz , Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1493. 24 Vgl. Marx, Reinhard, AsylVfG, Kommentar, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 88. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 002/16 Seite 11 3. Rechtliche Konsequenzen Angesichts des absoluten Refoulement-Schutzes der EMRK ergeben sich folgende Konsequenzen: Für die Frage der völkerrechtlichen Zulässigkeit einer Abschiebung von Flüchtlingen sind vor allem die strengeren Refoulement-Vorgaben der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK maßgebend; „weichere“ Ausnahmeregelungen aus Art. 33 Abs. 2 GFK treten dahinter zurück. Es ist kaum ein Fall denkbar, wo die Abschiebung eines Flüchtlings aus Deutschland in einen Staat, in welchem Folter und unmenschliche Behandlung drohen, nur (!) an Art. 33 GFK und nicht gleichzeitig an Art. 3 EMRK gemessen werden müsste. Die praktische Relevanz von Art. 33 Abs. 2 GFK ist für Mitgliedstaaten der EMRK daher sehr gering. Änderungen im deutschen Ausländer-, Asyl und Aufenthaltsrecht, welche die Ausweisung von Flüchtlingen an deren Verurteilung wegen Straftaten und an ein bestimmtes Strafmaß knüpft, können die Vorgaben der EGMR-Rechtsprechung zum Refoulement- Verbot nicht aushebeln. Wer als Flüchtling oder Asylbewerber vom BAMF als solcher anerkannt wurde, kommt regelmäßig aus einem Heimatstaat, in welchen eine Rückschiebung gegen das Refoulement -Verbot verstoßen würde. Abschiebungen von Flüchtlingen in einen Staat wie Syrien , in dem bürgerkriegsbedingt unmenschliche Behandlung droht, werden daher regelmäßig am Refoulement-Verbot der EMRK scheitern. Straffällig gewordene syrische Flüchtlinge müssten ihre Freiheitsstrafe daher in Deutschland verbüßen. Dies entspricht im Übrigen dem staatlichen Strafanspruch gegenüber einem rechtskräftig Verurteilten. Die Möglichkeit, dass ausländische Straftäter ihre Haft in ihrem Heimatstaat verbüßen, scheidet in einem solchen Fall aus. Der Möglichkeit einer Abschiebung von Flüchtlingen in „sichere Drittstaaten“ – das kann u.U. auch ein Flüchtlings- und Aufnahmelager im Libanon sein – steht das Refoulement- Verbot dagegen nicht entgegen. Eine Abschiebung setzt allerdings zum einen eine entsprechende Rücknahmebereitschaft des betreffenden Drittstaates voraus, die ohne ein entsprechendes Rückführungsabkommen völkerrechtlich nicht einforderbar ist. Zum anderen ist in jedem Einzelfall vorab zu prüfen, ob der betreffende (vermeintlich „sichere“) Staat eine menschliche Behandlung des Flüchtlings i.S.d. EMRK-Rechtsprechung gewährleistet. Überdies muss gewährleistet sein, dass der Staat, in den abgeschoben wird, den Flüchtling auch tatsächlich aufnimmt und ihn nicht in einen anderen Staat weiterabschiebt (Verbot der Kettenabschiebung). Diese Gefahr besteht immer dann, wenn der Staat, in den abgeschoben wird, nicht gleichzeitig auch der Heimatstaat des Flüchtlings ist. Ende der Bearbeitung