© 2016 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 – 100/12 Fragmentierung des Internets xxxxxxxxxxxxxxxxxx Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 2 Fragmentierung des Internets Verfasser/in: xxxxxx Aktenzeichen: WD 10 - 3000 – 100/12 Abschluss der Arbeit: 06.12.2012 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Telefon: xxxxxx Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. „Fragmentierung des Internets“ – Begriffsklärung und Erscheinungsformen 6 2.1. Gründe für Fragmentierung 7 2.2. Erscheinungsformen von Fragmentierung 7 2.3. Fragmentierung auf der Ebene des Code/Logical Layer 8 2.3.1. Fragmentierung auf der Ebene des Domain-Name-Systems 8 2.3.2. Fragmentierung durch den Übergang von IPv4 zu IPv6 8 2.4. Fragmentierung auf der inhaltlichen Ebene durch Blockierung und Filterung 9 2.5. Fragmentierung auf der Ebene des Physical Layer der Netze – Netzneutralität 11 2.6. Fragmentierung durch unterschiedliche Datenschutzanforderungen 11 3. Gründe für die Freiheit des Internets 12 3.1. Die Anfänge der 1960er-Jahre: Das Netz als selbstregulierter, wissenschaftlicher Kommunikationsraum 12 3.2. Die in einem freien Prozess herausgebildeten Standards 13 3.3. Institutionalisierungsprozesse und Aufbau von Strukturen 14 3.4. Zwischenergebnis 15 4. Gefahr der Fragmentierung des Internets durch anstehende Änderungen internationaler Verträge 15 4.1. Kritik an der bisherigen Struktur und Standardisierung der Internets 16 4.2. Die Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation (WCIT) zur Änderung des ITR-Vertrags (Dubai, Dezember 2012) 17 4.2.1. Gefahr für das Multi-Stakeholder-Prinzip: Verlagerung der Internet-Verwaltung auf die ITU 17 4.2.1.1. Forderung von Russland, China u.a.: Verlagerung der Internet- Verwaltung zur ITU 17 4.2.1.2. Die Auffassung der Netzgemeinde 18 4.2.1.3. Die Haltung der US-Regierung und der EU 18 4.2.2. Gefahr für den Grundsatz der Netzneutralität: Die Forderungen des European Telecommunication Network Operators Association (ETNO) 19 5. Exkurs: Grund für repressive Staaten, trotz massiver Einschränkungen auf anderen Ebenen zugleich ein offenes Netz zu fördern (Malaysia) 20 6. Fazit 22 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 4 7. Glossar 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 5 1. Einleitung Die „Digitalisierung“ schreitet voran: Durch den starken Ausbau der entsprechenden Infrastruktur in den vergangenen Jahren hat die Nutzung des Internets in nahezu sämtliche Lebensbereiche Einzug gehalten und ist heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Neben den auf der Hand liegenden Vorteilen der daraus entstehenden, immer engmaschigeren Vernetzung gehen mit derartigen Umwälzungsprozessen auch Gefahren und Risiken einher, die wieder – je nach Standpunkt – unterschiedlich bewertet werden. Seit etwa 15 Jahren bilden diese Risiken entsprechend die Grundlage der Debatte um die Zukunft der Nutzung des Internets und die Erforderlichkeit einer stärkeren staatlichen Reglementierung des weltweiten Netzwerks. Diese Debatte darf wohl mit Recht als zentrale Zukunftsdebatte im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Internets bezeichnet werden. Sie ist bestimmt von den unterschiedlichen Interessen der beteiligten Akteure und den systemimmanenten Voraussetzungen des Internets. Die entscheidenden Schwierigkeiten bei der Auflösung der bestehenden Konflikte bestehen vor allem darin, dass sich das Internet als dezentrales System einer nationalen Kontrolle an sich schon denklogisch entzieht.1 Gleichwohl wird unter verschiedenen Gesichtspunkten – und von verschiedener Stelle – versucht , der „Grenzenlosigkeit“ des Internets Herr zu werden und unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Mittel Kontrolle über das Verhalten von Nutzern und Anbietern zu erlangen. Aus dieser Tatsache heraus speist sich die Sorge der „Internetgemeinde“, dass die derzeit grundsätzlich noch vorhandene Freiheit des World-Wide-Webs alsbald Geschichte sein und es zu einer zunehmenden „Fragmentierung“ des Netzes kommen wird. Auf den folgenden Seiten wird zunächst erklärt, was unter „Fragmentierung“ des Internets überhaupt zu verstehen ist und in welcher Form es bereits jetzt zu Fragmentierungserscheinungen kommt. Sodann wird – zur Erläuterung des dem Internet zugrundeliegenden Freiheitsverständnisses seiner Nutzer – dargestellt, wie das Netzwerk sich seit den 1960er-Jahren entwickelt hat. Schließlich wird auf die sich ankündigende Änderung eines völkerrechtlichen Vertrages hingewiesen , dessen genauer Inhalt auf einer Konferenz im Dezember 2012 verhandelt wird. Das Ergebnis dieser Verhandlungen könnte weitreichende Folgen für die zukünftige Gestaltung des Internets entfalten. Exkursartig wird außerdem der Frage nachgegangen, warum Malaysia als repressiv agierender Staat trotz massiver Einschränkungen auf den klassischen Ebenen politischer Kommunikation zugleich ein weitgehend offenes Netz zulässt. Die im Rahmen der Ausarbeitung gewonnenen Erkenntnisse werden sodann in einem abschließenden Fazit zusammengefasst. Am Ende der Arbeit befindet sich ein Glossar mit den wichtigsten in der Arbeit verwendeten Abkürzungen . 1 Siehe zum gesamten vorstehenden Absatz xxxxxx; Internet Governance unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit der ICANN, Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 26.04.2012, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 6 2. „Fragmentierung des Internets“ – Begriffsklärung und Erscheinungsformen Das Internet ist ein weltweites Rechnernetz aus vielen miteinander verbundenen Netzen und es kennt keine nationalen Grenzen.2 Vom technischen Standpunkt gibt es „das“ Internet nicht. Es ist ein Sammelbegriff für ein dezentrales System, bei dem man von einem beliebigen Ort auf Daten zugreifen kann.3 Fragmentierung bedeutet, dass einzelne Teile dieses Netzes „herausgebrochen“ werden.4 Der Begriff Fragmentierung ist allerdings schwer zu definieren, weil das Internet so komplex ist. Die folgenden Ausführungen stützen sich in weiten Teilen auf die 2012 erschienene ausführliche Darstellung des Themas durch Jonah Force Hill. In seiner Untersuchung „Internet Fragmentation“5 zitiert der Autor zur Verdeutlichung von Fragmentierung Tim Burners-Lees Definition dessen, was das Internet idealerweise sein sollte, nämlich „that the ‚laws’ of the Internet should function like the laws of physics, i.e. the laws that exist in one part of the Internet should apply everywhere on the Internet.”6 Bei einem offenen Internet sollten die Anwendungen an einem Punkt des Netzes wie an allen anderen funktionieren und eine Website sollte für den Nutzer in China ebenso aussehen, wie für den chilenischen Nutzer. „In other words, the experience of every Internet user should be the same regardless of geographic location, computer type, or any other distinguishing characteristic of the user.” 7 Diesem einheitlichen und offenen Internet stellt Hill ein fragmentiertes Internet mit willkürlichen Grenzen, Blockaden und Restriktionen gegenüber und verortet unser derzeitiges Internet irgendwo dazwischen. „A fragmented Internet, then, is an Internet in which the experience of one Internet user is radically different from another’s.”8 2 Puppis, Manuel; Einführung in die Medienpolitik, 2. Auflage 2010, S. 259. 3 Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informationsgesellschaft, Juni 2012, S. 119, http://www.tab-beim-bundestag.de/de/pdf/publikationen/berichte /TAB-Arbeitsbericht-ab149.pdf (alle Abrufe dieser Arbeit entsprechen dem Stand vom 05.12.2012). 4 Lawrence Lessig spricht von Balkanisierung des Internets, Balkanization of the Internet, 17.08.2004, http://www.lessig.org/blog/2004/08/the_balkanization_of_the_inter.html. 5 Hill, Jonah Force, Internet Fragmentation, Highlighting the Major Technical, Governance and Diplomatic Challenges of U.S. Policy Makers, 2012, http://belfercenter.hks.harvard.edu/files/internet_fragmentation_jonah _hill.pdf. 6 Zitiert nach Hill (Fn. 5), S. 11 f. 7 Hill (Fn. 5), S. 11 f. 8 Hill (Fn. 5), S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 7 Es gibt allerdings auch legitime Abgrenzungen des Internets, die Intranets, die dem Bedürfnis nach Sicherheit und Abgrenzung von Organisationen und Unternehmen geschuldet sind, wie das Intranet des Deutschen Bundestages. Fragmentierung kann auf der technischen Ebene der Netze, der Internetstruktur oder auf der Ebene der Inhalte vorgenommen werden. 2.1. Gründe für Fragmentierung Vielfach wird Fragmentierung entlang der nationalen Grenzen vorgenommen. Jedes Land hat seine Vorstellungen und rechtlichen Anforderungen an beispielsweise den Daten- und Persönlichkeitsschutz . Das was danach illegal ist wird ebenso unterschiedlich beurteilt wie das, was nach den jeweils geltenden ethischen und moralischen Vorstellungen eines Landes als anstößig angesehen wird. Bestimmte Inhalte können daher aus legitimen rechtsstaatlich einwandfreien Gründen entfernt werden, wie beispielsweise kinderpornografische Inhalte. Zahlreiche Staaten aber fragmentieren, um politisch unliebsame Inhalte zu entfernen und politische Opposition zu unterdrücken. In religiös geprägten Staaten geschieht dies, um den „schädlichen Einfluss“ freierer Religionen auf die eigene Bevölkerung zu unterbinden. 2.2. Erscheinungsformen von Fragmentierung Um zu verdeutlichen, auf welche Weise eine Fragmentierung des Internets erfolgen kann, wird das bestehende Modell der Schichten (layers) herangezogen.9 Da ist zunächst der Physical Layer, der die gesamte technische Infrastruktur in Form von Hardware und Distributionsnetzen umfasst. Darüber liegt der Code Layer oder Logical Layer10, womit die für das Funktionieren des Internets notwendigen Protokolle, das Domain-Name-System (DNS)11 und alle Anwendungen wie das World Wide Web und E-Mail bezeichnet werden, letztlich die Architektur des Internet.12 Darüber liegt der Content oder Information13 Layer, der alle Inhalte umfasst, die zwischen den Nutzern 9 Vgl. Puppis (Fn. 2), S. 261 in Bezug auf Internet Governance. 10 So Hill (Fn. 5), S. 13. 11 Das ist das System, das die einprägsamen Domainnamen (z.B. arte.tv) in die komplexe maschinenlesbare IP- Adresse (Ziffernkombination) umwandelt und damit die Verbindung zum entsprechenden Server erlaubt. Vgl. hierzu Puppis (Fn. 2), S. 255 ff. 12 So Puppis (Fn. 2), S. 262. 13 So Hill (Fn. 5), S. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 8 ausgetauscht werden. Üblicherweise wird das Verhalten der Internetnutzer dieser Ebene zugerechnet 14; das Schichtenmodell von Hill enthält stattdessen noch eine vierte Ebene, die “People Layer”, die Individuen, Gesellschaften und Regierungen bezeichnet.15 2.3. Fragmentierung auf der Ebene des Code/Logical Layer 2.3.1. Fragmentierung auf der Ebene des Domain-Name-Systems Viele Beobachter fürchten eine Fragmentierung auf der Ebene des von der ICANN zentral verwalteten Domain-Name-Systems (DNS), dessen allgemeine Akzeptanz sein bisheriges Funktionieren gewährleistet. Die Namensauflösung an der Wurzel (Root) vom Domain Name System im Internet erfolgt durch die sogenannten Root-Server. Diese 13 Server enthalten alle notwendigen Informationen , damit die Umwandlung von Domainnamen in IP-Adressen funktioniert und bilden damit das Fundament der DNS-Datenbank. Eine Fragmentierung des Internets würde dadurch hervorgerufen , dass alternative, nicht von der ICANN zugelassene Root-Server errichtet würden. So könnten etwa nationale Regierungen sich von den ICANN-genehmigten Root-Servern abspalten und eigene nationale oder regionale Server einrichten, die mit dem Rest des DNS nicht mehr verbunden wären.16 Da das DNS in Amerika unter Verwendung der englischen Sprache und lateinischer Schriftzeichen entwickelt wurde, mussten Länder wie China und die arabischen Staaten die Namen ihrer Webseiten in lateinische Schriftzeichen übertragen lassen, um eine Verbindung zum DNS zu ermöglichen . Dem Druck dieser Länder, auch ihre Schriftzeichen zuzulassen, kam die ICANN nur zögerlich nach. Daher begann China in den Jahren 2005/6 mit einem eigenen Router zu experimentieren ; auch einige arabische Staaten drohen dies an. Erst im Jahr 2009 gab die ICANN schließlich nach und erlaubte die Einreichung von Domain Namen in anderen als den lateinischen Schriftzeichen, womit die Gefahr der Abspaltung einzelner Länder fürs erste gebannt war.17 2.3.2. Fragmentierung durch den Übergang von IPv4 zu IPv6 Probleme für die Einheit des Internets können sich aus der Umstellung des Internet-Protokolls von IPv4 zu IPv6 ergeben, da beide Systeme nicht miteinander kompatibel sind. Die Umstellung oder Überbrückung ist für Internet Service Provider (ISP) teuer und findet nur zögerlich statt. Daher kann es zu Übertragungsproblemen kommen. Als größeres Problem im Hinblick auf die Frag- 14 So Puppis (Fn. 2), S. 262. 15 So Hill (Fn. 5), S. 13. 16 Hill (Fn. 5), S. 17. 17 Zum Ganzen Hill (Fn. 5), S. 17 ff. Zur weiteren Kritik an den Strukturen s. u. unter 3.1. Vgl. auch Minkel, J. R., Could the Internet Fragment? Alternative Nets raise the specter of balkanization, Juni 2006, http://spectrum .ieee.org/computing/networks/could-the-internet-fragment. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 9 mentierung wird aber der Umstand angesehen, dass die asiatischen Länder aufgrund der unverhältnismäßig gestiegenen Nachfrage nach neuen IP-Adressen in den vergangenen Jahren bereits in der Mehrzahl mit IPv6 ausgestattet sind. Insbesondere die Chinesen haben in der Entwicklung der hiermit verbundenen Technologie eine führende Rolle eingenommen. Falls die Vereinigten Staaten und andere Länder, die überwiegend mit IPv4 ausgestattet sind, nicht die notwendigen technischen Anpassungen für eine Übertragung vornehmen, ist zu befürchten, dass es zu ernsthaften Interoperabilitätsproblemen innerhalb der Ost-West-Internet-Beziehungen kommt.18 2.4. Fragmentierung auf der inhaltlichen Ebene durch Blockierung und Filterung Das im Prinzip weltumspannende grenzenlose Internet stellt eine besondere Herausforderung für die auf ihre nationalen Grenzen beschränkte ausschließliche Souveränität von Staaten dar. Inhalte , die im einen Staat gegen die Gesetze verstoßen, können im Ausland legal gehostet und für die Bevölkerung zugänglich sein. Wollen sie dies verhindern, müssen die Staaten zunehmend technisch ausgefeilte Blockade – und Filtertechnik einsetzen.19 Dies geschieht bereits in zahlreichen Ländern, so dass das Internet für einen Nutzer in China oder Iran nicht das gleiche ist, wie für den deutschen Nutzer. Staatliche Maßnahmen, die sich gegen bestimmte Inhalte richten, führen aber nicht unbedingt zur Fragmentierung des Internets. Entfernen Hostprovider Inhalte aufgrund von staatlichen Verfügungen oder Druck oder führt die Androhung hiervon zur Selbstzensur wird hierin keine Fragmentierung gesehen, obgleich auch dies Einfluss auf die verfügbare Information hat. Werden, wie es auch bei uns häufig geschieht20, Google oder YouTube aufgefordert, bestimmte Inhalte wegen Verstoßes gegen Urheber- oder Persönlichkeitsrechte zu entfernen, so ist dies 1. keine Zensur, weil die Anordnung sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richtet, sondern gegen eine Rechtsverletzung, und 2. erfolgt durch eine veranlasste Löschung keine Fragmentierung. Durch solche Maßnahmen werden zwar einzelne Inhalte beseitigt, der Zugang zu bestimmten Seiten wird aber nicht vereitelt und es werden auch keine durchgehenden willkürlichen Grenzen für das Internet gezogen.21 Staaten, die ihre Bürger von Teilen des Internets fernhalten wollen, stehen dafür verschiedene technische Möglichkeiten zur Verfügung. Welche Methode ein Staat wählt, hängt von diversen Faktoren ab, z.B. der Rechtslage und ob der Staat sie umgehen kann, ob die Maßnahmen verdeckt oder offen vorgenommen werden sollen und welche Verlässlichkeit und Freiheit von Fehlern 18 So Hill (Fn. 5), S. 25. 19 Hill (Fn. 5), S. 28. 20 Google veröffentlicht Transparenz-Bericht für erstes Halbjahr 2012, 17.11.2012, http://www.blog.webtecbraun .com/google/google-veroffentlicht-transparenzbericht-fur-erstes-halbjahr-2012.html. 21 Vgl. Hill (Fn. 5), S. 29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 10 notwendig erscheint und nicht zuletzt auch davon, wie viel ein Land hierfür auszugeben bereit ist.22 Eine relativ einfache Möglichkeit der Sperrung ist die IP-Sperre, bei der die IP-Adresse des zu blockierenden Angebots für die Nutzer des jeweiligen Access-Providers unerreichbar gemacht wird. Alle Verbindungen eines Nutzers zu anderen Servern müssen über die technische Infrastruktur eines Access-Providers hergestellt werden, der über seinen Router die Datenpakete des Endnutzers an den anderen Rechner weiterleitet und umgekehrt. Der Access-Provider benötigt dazu die IP-Adresse sowohl des Endnutzers als auch des anderen Teils. Er kann diese mit einer Liste „verbotener Adressen“ abgleichen und die Weiterleitung an solche Adressen unterbinden, die gesperrt sein sollen.23 Diese Art der Sperre lässt sich allerdings relativ leicht durch die Benutzung eines Proxy-Servers umgehen.24 Daher wird vermehrt versucht, über die Möglichkeit der Deep Packet Inspection (DPI) die Datenpakete auf ihre Inhalte hin zu untersuchen und sie gegebenenfalls nicht weiter zu transportieren. Allerdings ist die „Illegalität“ von Inhalten nicht stets sicher zu erkennen, etwa wenn mehrdeutige Formulierungen verwendet oder verschlüsselte Inhalte übertragen werden.25 Eine weitere Form der Sperrung des Zugangs zu Internet-Seiten besteht darin, dass der jeweilige Access-Provider aus seinem DNS-Server die Datensätze der zu sperrenden Angebote entfernt. Wenn der Nutzer dann die Webadresse des gesperrten Angebots in seinen Browser eingibt, kann sie nicht in das maschinenlesbare IP-Adressformat umgewandelt werden und der Nutzer erhält eine Fehlermeldung.26 (Er könnte die Seite allerdings erreichen, wenn er die IP-Adresse des Servers kennt.) Die Manipulation des DNS-Eintrags führt „zu einem erheblichen Eingriff in die fundamentale Architektur des Internet, gilt hier doch die technische Norm, dass alle DNS-Server gleichermaßen auf dieselbe Anfrage antworten sollen.“27 Eine weitere Filtermethode besteht darin, dass Regierungen bestimmte große Internet-Portale wie Suchmaschinen anweisen könnten, bestimmte Seiten aus ihrer Suchanzeige herauszunehmen.28 22 Hill (Fn. 5), S. 29. 23 Koreng, Ansgar, Zensur im Internet, der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 137. 24 Dazu verbindet sich der Endnutzer mit einem nicht gesperrten Server eines Dritten und teilt diesem mit, er wolle die gesperrte Internet-Seite besuchen. Daraufhin ruft der Dritte die gewünschte Seite ab und leitet sie von seiner Adresse aus an den Endnutzer weiter. So Koreng (Fn. 23), S. 137. 25 Koreng (Fn. 23), S. 141. 26 Vgl. Koreng (Fn. 23), S. 135. 27 So Koreng (Fn. 23), S. 136. 28 Hill (Fn. 5), S. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 11 Auch wenn alle Blockierungsmethoden mit der entsprechenden technischen Kompetenz umgangen werden können, schneiden sie doch weite Teile der Weltbevölkerung absichtlich vom weltweiten Internet ab und führen damit zu einer erheblichen Fragmentierung des Netzes. 2.5. Fragmentierung auf der Ebene des Physical Layer der Netze – Netzneutralität Für den Begriff der Netzneutralität gibt es bisher keine allgemeingültige Definition. „Im engeren Sinne wird unter Netzneutralität das Prinzip vertreten, auf dem bislang das Internet in technischer Hinsicht basiert. Danach werden alle Daten, die im Netz bewegt werden , gleichbehandelt. Die Netzbetreiber gewährleisten einen neutralen Datentransport im Netz, d.h. unabhängig von Quelle, Ziel, Dienst oder Inhalt und dem Breitbandverbrauch, den ein Inhalteangebot oder eine Internet-Anwendung verursacht.“29 Die Datenübertragung im Netz erfolgt nach dem Best-Efforts-Prinzip, d.h. der Netzbetreiber leitet die Datenströme nach besten Kräften weiter und bekommt dafür Zugangsgebühren von seinen Kunden. Da technische Neuerungen (Deep-Packet-Inspection) nunmehr eine tiefgehende Analyse des Datenstroms ermöglichen, können auf der Basis dieser Analyse auch einzelne Daten bevorzugt behandelt und individuell abgerechnet werden; sie können aber auch herausgefiltert und blockiert werden. Diese Maßnahmen werden angesichts wachsender Datenmengen als erforderlich angesehen, um für datenintensive und übertragungssensible Angebote die Übertragungsqualität zu gewährleisten. Dass das Abweichen von der Netzneutralität auch Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet30 liegt auf der Hand.31 Dennoch erkennt Hill hierin nicht die gleiche Herausforderung für ein universales Internet wie bei den zuvor genannten Punkten. Erst wenn es Gesellschaften mit monopolistischen Ambitionen erlaubt sein würde, in einem Ausmaß zu differenzieren, dass Nutzern der Zugang zu Inhalten aus Kostengründen unmöglich würde oder die ISPs keine Verbindung zum Wettbewerber herstellten, wäre hierdurch nach Auffassung von Hill eine deutliche Fragmentierung gegeben.32 2.6. Fragmentierung durch unterschiedliche Datenschutzanforderungen Internetfirmen sammeln große Mengen von Nutzerdaten und nutzen sie für ihre Geschäftsmodelle . Um den Internetnutzern hier einen besseren Schutz zu geben hat die Europäische Union im Januar 2012 den Entwurf für eine Datenschutzverordnung vorgelegt, durch die europaweit 29 So Seufert, Wolfgang; Gundlach, Hardy, Medienregulierung in Deutschland: Ziele, Konzepte, Maßnahmen, 2011, S. 328. 30 So Seufert/Gundlach (Fn. 29), S. 329. 31 Siehe zu möglichen Gefahren für die Netzneutralität etwa durch Forderungen des Verbands europäischer Telekommunikations -Konzerne (ETNO) unten, Punkt 4.2.2. 32 Hill (Fn. 5) , S. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 12 hohe Datenschutzstandards unmittelbar verbindlich gemacht werden sollen.33 Auch in anderen Ländern der Welt wurden Gesetze entworfen, die das Sammeln und Aufbewahren von Daten regeln sollen.34 Allerdings gibt es in diesem Bereich ein bemerkenswert geringes Maß an Zusammenarbeit und Übereinstimmung. Daraus resultiert die Befürchtung, dass im Internet operierende Firmen potentiell einer Vielzahl unterschiedlicher und unvereinbarer Regelungen unterworfen sein könnten. Dies könnte dazu führen, dass sich einzelne Firmen aus bestimmten Märkten zurückziehen und so zu einer Fragmentierung kommt.35 3. Gründe für die Freiheit des Internets Das Internet als „Hort der Freiheit“ – für viele ist dies ein unumstößlicher Grundsatz, den es gegen (vor allem staatliche) Einflussnahme und Reglementierung zu verteidigen gilt. Warum dieser Grundsatz das öffentliche Bild des Internets so stark prägt, ist in erster Linie historisch zu erklären . Zum besseren Verständnis wird daher in der Folge ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Netzes gegeben. So wird deutlich, warum das Internet so stark von einem Freiheitsbegriff bestimmt ist, der vor allem mit der Abwesenheit staatlicher Kontrolle zu übersetzen ist: Jeder Computer kann sich mit jedem vernetzen, weltweit, allein mit Hilfe technischer Protokolle – aber ohne Vorgaben staatlicher Behörden. 3.1. Die Anfänge der 1960er-Jahre: Das Netz als selbstregulierter, wissenschaftlicher Kommunikationsraum Die Ursprünge des Internets reichen zurück bis in die 1960er-Jahre und finden ihre Wurzeln in den USA. Während zunächst noch militärische Zwecke im Vordergrund standen, wurde das Netz in der Folgezeit von US-Universitäten und Forschungseinrichtungen für wissenschaftliche Zwecke genutzt. Es handelte sich um ein Netzwerk von einigen wenigen miteinander verbundenen Rechnern. Zwar wurde das Projekt durch die amerikanische Regierung finanziell unterstützt, dennoch funktionierten die Verwaltungsstrukturen für das Netzwerk in den ersten Jahren „regierungsunabhängig und informell“.36 In den späten 1980er-Jahren fand dann eine stärkere Internationalisierung des Netzes statt – eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr das Internet aber erst in den frühen 1990er-Jahren mit der Öffnung des Netzes für kommerzielle Anbieter sowie der Schaffung des World-Wide-Web als neue Nutzungsform und des Webbrowsers als grafische Navigations-Oberfläche zur Nutzung des WWW.37 33 Vorschlag für Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung) vom 25. 1. 2012, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2012:0011:FIN:DE:PDF. 34 Zum Ganzen Hill (Fn. 5), S. 43 ff. 35 So Hill (Fn. 5), S. 43f. 36 Horvath (Fn. 1), S. 5 mit Hinweis auf Mathiason, Internet Governance: the new frontier of global institutions, Verlag Routledge, London/New York 2009, S. 3. 37 Zu alldem Puppis (Fn. 2), S. 256 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 13 Anders formuliert bedeutet dies: Etwa 30 Jahre lang war das „Internet“ lediglich im wissenschaftlichen , zum Teil auch im militärischen Kontext ein Kommunikationsmittel, das folglich nur von einer kleinen Gruppe zumeist US-amerikanischer Computerspezialisten genutzt werden konnte.38 Dies brachte zugleich mit sich, dass die zentralen technischen Strukturen und Funktionen des Internets in den USA geschaffen, erhalten und gepflegt wurden.39 3.2. Die in einem freien Prozess herausgebildeten Standards Die Verwaltung der Netzwerkressourcen ebenso wie die Standardisierung der verwendeten Übertragungsprotokolle erledigten in jenen Jahren junge US-Wissenschaftler der beteiligten Institute gemeinsam mit den Ingenieuren der Firmen, die die eingesetzte Hardware lieferten.40 Eine feste Organisationsstruktur gab es nicht. Im Jahre 1986 gründeten die beteiligten Ingenieure zwar die „Internet Engineering Task Force“ (IETF); diese hatte aber keinen „offiziellen“ oder gar „Behörden “-Charakter. Gleichwohl nahm und nimmt die IETF eine wichtige Stellung ein, weil über sie die für eine Vernetzung notwendigen technischen Standards gemeinschaftlich entwickelt wurden . Folglich wurden die Entscheidungen über die weitere Entwicklung des Internets von einer „Wissensgesellschaft“ von Ingenieuren und Wissenschaftlern gesteuert.41 Die Umsetzung der so gemeinschaftlich gefundenen – ohne Reglementierung „von oben“ vorgegebenen – Standards blieb freiwillig. Daraus entwickelte sich „das Internet in einer Kultur, in der ‚eleganten technologischen Neuerungen ein weit höherer Stellenwert zugewiesen [wurde] als Fragen prozeduraler Legitimität‘. Mehr noch, dieses Umfeld zeichnete sich durch eine allgemeine Abneigung gegenüber Konzepten einer formellen Governance aus. Praktiziert wurde eine ‚Entscheidungsfindung von unten‘, eine Selbstregulierung, die sich durch ‚offene Kooperation, eine partizipative Kultur und durch hohe Problemlösungsfähigkeit‘ auszeichnete.“42 Allmählich und völlig frei von staatlicher Einflussnahme schufen die Wissenschaftler die Voraussetzungen dafür, dass verschiedene Netzwerke – auch außerhalb der USA – ab den 1970er- Jahren unabhängig von der jeweils genutzten Hard- und Software zusammengeschaltet werden und folglich miteinander kommunizieren konnten. Dies geschah vor allem durch das sogenannte „Transmission Control Protocol/Internet Protocol“ (TCP/IP). Dieser Standard legt fest, wie der Datenaustausch zwischen Computern abläuft und wie Rechner adressiert werden:43 Heute hat jeder Computer, der ans Netz angeschlossen ist, eine „IP-Adresse“, ähnlich einer Telefonnummer. Auch jeder Server, der eine Website – etwa www.bundestag.de – für die Nutzung vorhält, hat 38 Puppis (Fn. 2), S. 256 m.w.N. 39 Dinter, Jan; Internationale Infrastrukturprojekte im Telekommunikationssektor, Eine vergleichende Untersuchung der Governance- und Regulierungsstrukturen, 2010, S. 208. 40 Horvath (Fn. 1), S. 5. 41 Diese Formulierung gebraucht Dinter (Fn. 39), S. 195. 42 Horvath (Fn. 1), S. 6. 43 Puppis (Fn. 2), S. 256 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 14 eine solche IP-Adresse. Da es für die Nutzer jedoch viel einfacher ist, sich einen Namen statt einer Zahlenfolge zu merken, wurde daneben das Domain Name System (DNS) eingeführt.44 Durch diese Standardisierungsverfahren wurde kontinentübergreifend ermöglicht, lokale Netzwerke zu einem „Netz der Netze“ zusammenzuschließen – und so das Internet in seiner heute bekannten Form entstehen zu lassen. 3.3. Institutionalisierungsprozesse und Aufbau von Strukturen Nachdem man Anfang der 1990er-Jahre erkannt hatte, dass sich das Rechner-Netzwerk auch geschäftlich nutzen lässt und es für die Öffentlichkeit nutzbar machte, nahm die Zahl der kommerziellen Geschäftsmodelle im Internet rasant zu. Die blieb nicht folgenlos und führte bald dazu, dass die kommerziellen Nutzer mehr Einblick und Transparenz der Verfahren verlangten, mit denen zentrale Verwaltungsentscheidungen zum Internet getroffen wurden.45 Aus Anlass der Debatte um die erforderliche Neustrukturierung der zentralen Internet-Verwaltungsfunktionen im Jahre 1998 wurde daher sowohl von Akteuren aus den USA als auch von Stimmen außerhalb der USA gefordert, die zentralen Verwaltungsstrukturen des Netzes zu internationalisieren.46 In dieser Phase wurde zäh um die weitere Entwicklung des Internets gerungen, wobei insbesondere thematisiert wurde, ob und inwieweit der Grad der staatlichen Einflussnahme erhöht werden sollte. Im Zuge dieser Diskussion wurde eine Reihe von Institutionen und Initiativen gegründet.47 Dennoch standen die zentralen Funktionen des Internets weiterhin unter US-amerikanischen Einfluss: Ende der 1990er-Jahre legte sich die Clinton-Administration dahingehend fest, dass die zukünftige Verwaltung der technischen Infrastruktur des Internets auf eine privatrechtliche Organisation übergehen sollte, die ihren Sitz auf US-amerikanischem Boden hat. Am 18.09.1998 wurde nach einem komplexen Vorbereitungsprozess schließlich die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) als nicht gewinnorientiertes Privatunternehmen mit Sitz im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien gegründet. Die ICANN beschäftigt sich mit allen wichtigen Internet-Verwaltungsfragen.48 Die Tätigkeit von ICANN berührt sowohl die technische Koordinierung des Internets als auch (nahezu zwangsläufig) die Auseinandersetzung mit „internetpolitischen “ Fragestellungen.49 Die Organisation versucht dabei – dem sogenannten „Multi- 44 Puppis (Fn. 2), S. 256 m.w.N. 45 Dinter (Fn. 39), S. 197. 46 xxxxxxxx, Internet Governance im Rahmen internationaler Organisationen, Ausarbeitung WD 10 – 3000/40- 2012 des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 16.05.2012, S. 6. 47 So etwa das „Internet International Ad Hoc Committee“ (IHAC), das eine Arbeitsgruppe einer ganzen Reihe von Organisationen war. Das IHAC eröffnete durch die Einbeziehung von beteiligten internationalen Organisationen wie der World Intellectual Property Organization (WIPO), der International Telecommunication Organization (ITU) sowie der International Trademark Association (INTA) erstmals einer internationalen Perspektive – vgl. Horvath (Fn. 1), S. 8. 48 Sie vergibt über ihre Unterabteilung „Internet Assigned Numbers Authority“ (IANA) die IP-Adressen weltweit. 49 Siehe zur Entwicklung und Tätigkeit der ICANN Horvath (Fn. 1). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 15 Stakeholder-Prinzip“50 folgend – möglichst viele der an der Fortentwicklung des Internets beteiligten Akteure in ihre Entscheidungsprozesse einzubinden. Dennoch ist es bis heute kaum möglich , Regelungen zu finden, die die Akzeptanz sowohl von Regierungen als auch von kommerziellen Anbietern oder Nutzern, internationalen und wissenschaftlichen Organisationen sowie der privaten Internet-Nutzercommunity finden.51 Die ICANN ist daher seit jeher umstritten. 3.4. Zwischenergebnis Die Kurzdarstellung hat gezeigt, dass auf dem Weg vom reinen Wissenschafts-Netzwerk der 1960er-Jahre hin zur heutigen „populären“ Nutzung des Internets stets ein zähes Ringen um eine internationale(re) „Verwaltungshoheit“ über die strukturelle Aufstellung des Netzes stattgefunden hat. Zwar hat mittlerweile eine Institutionalisierung der Verwaltungstätigkeit stattgefunden – diese ist aber bei weitem nicht abschließend und allseits anerkannt, sondern wird fortwährend von verschiedener Seite kritisiert.52 In den Anfängen des Netzes als rein wissenschaftlichem Kommunikationsraum fand staatliche Einflussnahme kaum statt. Hierin ist wohl auch die Wurzel des bis heute vorherrschenden Verständnisses des „freien Internets“ zu begreifen. Die (bisherige) relative Grenzenlosigkeit des Internets hat sich damit ganz entscheidend aus der freiheitlichen, von staatlicher Einwirkung weitgehend freien Entwicklung seiner Strukturen ergeben. Insbesondere die technischen Standards haben sich hierbei – bei allem Ringen und allen Widerständen – grundsätzlich verfestigt und bewährt. 4. Gefahr der Fragmentierung des Internets durch anstehende Änderungen internationaler Verträge Die vorstehenden Strukturen, insbesondere die Verwaltungstätigkeit der auf US-amerikanischen Boden befindlichen ICANN, gewährleisten derzeit noch für einen großen Teil der Erde jedenfalls die Möglichkeit, unter gleichen Voraussetzungen Zugang zum Internet zu erhalten. Es werden aber derzeit insbesondere aus politischen Gründen Versuche unternommen, Gegenentwicklungen auf den Weg zu bringen. Grundlage hierfür ist u.a. die wachsende Kritik an der stark USamerikanisch /westlich geprägten Internetstruktur und -verwaltung. Aus dieser Kritik könnte 50 Als „Stakeholder“ werden die an der Fortentwicklung beteiligten Interessengruppen bezeichnet, etwa Regierungen , Nutzer-/Firmenverbände, Netzaktivisten, internationale Organisationen, etc. Zahlreiche fehlgeschlagene Regulierungsversuche auf verschiedenen Ebenen (national und international) hatten zwischenzeitlich zu der Erkenntnis geführt, dass keiner dieser „Stakeholder“ den ganzen Entscheidungsprozess zur Zukunft des Internets allein kontrollieren kann und daher alle aufeinander angewiesen sind. Entsprechend versucht der „Multi- Stakeholder-Ansatz“, Regulierungsprozesse unter Einbindung mehrere gleichberechtigter internationaler Akteure zu etablieren, vgl. Horvath (Fn. 1), S. 4 m.w.N. 51 Horvath (Fn. 1), S. 9. 52 So ist die Organisation ICANN Teilen der Nutzercommunity „zu hierarchisch“. Die Gruppe der Nutzer bzw. der Zivilgesellschaft als Stakeholder sei unterrepräsentiert. Demgegenüber kritisierten einige Regierungen, die Hierarchie von ICANN sei zu schwach ausgebildet und gäbe Nichtregierungsinteressen einen zu großen Einfluss. Zu weiteren Kritikpunkten unten, Punkt 4.1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 16 sich – sollte sie in konkrete Vorhaben umgemünzt werden – die Gefahr einer Fragmentierung des Internets in viele verschiedene Netze ergeben. 4.1. Kritik an der bisherigen Struktur und Standardisierung der Internets Dass die Struktur und Standardisierung des Internets in der heutigen Form so stark westlich geprägt ist und maßgeblich von auf US-amerikanischem Boden befindlichen Institutionen gesteuert wird, ist schon länger Gegenstand einer hitzig geführten Diskussion gewesen. So argumentiert eine große Anzahl nicht westlich orientierter Regierungen, dass die für die Standardisierung des Internets verantwortlichen Organisationen und Prozesse, veraltet und ungerecht seien.53 Die herausgehobene Stellung des Internet Engineering Task Force (IETF)54 und der I- CANN wird abgelehnt. Ferner werde der aktuelle Standardisierungs-Prozess und die aktuelle Strukturierung von einigen Staaten als unfair empfunden, weil sie amerikanische Firmen begünstige . Schließlich seien die Standards zu unsicher und stünden aufgrund ihres freiheitlichen Charakters zum Teil massiv im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Normen einiger außereuropäischer Länder. Die Bemühungen der Kritik-übenden Länder um mehr Einfluss sind bislang jedoch weitgehend erfolglos geblieben. Deshalb besteht nach Auffassung von Hill durchaus Anlass zur Sorge: Soweit einige Regierungen fortgesetzt unzufrieden blieben mit der Art und Weise, wie internetspezifische Standards entwickelt würden, und sobald sie (dann) zur Auffassung gelängen, dass die bestehenden Prozess-Standards nicht mehr ihren nationalen wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Interessen dienten, könne es geschehen, dass sie die Unterstützung der aktuellen Standards aufgäben. Dies könne das Internet dann effektiv im Sinne einer Fragmentierung spalten. Problematisch sei dies insbesondere, wenn ein großes Land wie etwa China oder eine Koalition von kleineren Ländern auf diese Weise agieren würden.55 Um den Einfluss nicht-westlicher Staaten in der Internetverwaltung zu stärken, hat Indien im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2011 die Schaffung eines neuen zwischenstaatlichen „UN-Ausschusses für Internet-Politik" (UN-Council for Internet Related Policies /CIRP) vorgeschlagen, der u.a. die Aufsicht nicht nur über ICANN, sondern auch über die IETF, die RIRs, IEEE und andere technischen Internetorganisationen übernehmen soll. Darüber hinaus soll CIRP völkerrechtliche Verträge für das Internet aushandeln und Internetstreitigkeiten beilegen, also eine Art von Regierungen kontrollierter Cybergerichtshof werden.56 53 Hill (Fn. 5), S. 35. 54 Zu deren Zusammensetzung und Aufgaben sowie zur Kritik ausführlich Hill (Fn. 5), S. 36 ff. 55 Hill (Fn. 5), S. 35 ff. 56 Hill (Fn. 5), S. 19, 40; Kleinwächter, Wolfgang, Kalter Krieg im Cyberspace oder konstruktiver Dialog? Telepolis 20.01.2012, http://www.heise.de/tp/artikel/36/36266/1.html Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 17 4.2. Die Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation (WCIT) zur Änderung des ITR- Vertrags (Dubai, Dezember 2012) Die ohnehin anstehende Änderung des aus dem Jahr 1988 stammenden „International Telecommunications Regulations“-Vertrag (ITR)57 bei dieser Konferenz in Dubai wird von einigen Ländern , die die westliche Dominanz der Internetverwaltung ablehnen, zum Anlass genommen werden , hierfür einen größeren Einfluss der Vereinten Nationen (vertreten durch deren Sonderorganisation „International Telecommunication Union“ [ITU58]) einzufordern.59 Die beiden bislang das Internet bestimmenden Grundsätze der „Netzneutralität“ und des „Multi-Stakeholder-Prinzips “ könnten dabei ernsthaft zur Disposition gestellt werden. 4.2.1. Gefahr für das Multi-Stakeholder-Prinzip: Verlagerung der Internet-Verwaltung auf die ITU 4.2.1.1. Forderung von Russland, China u.a.: Verlagerung der Internet-Verwaltung zur ITU Einige Regierungen, die sich bislang als benachteiligt ansehen, wollen die Verwaltung des Internets zukünftig auf die supranationale Ebene verschieben: Staaten wie Russland, China, Iran, Saudi-Arabien und einige afrikanische Länder sähen es gern, dass die ITU als zwischenstaatliche Organisation Verantwortung auch für das Internet übernimmt.60 Diese ITU-Mitgliedsstaaten wollen die Neuverhandlungen des ITR-Vertrags auf der derzeit stattfindenden61 „Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation“ dazu nutzen, ihre eigenen Regulierungs- und Kontrollmöglichkeiten im Internet im „Sinne ihres eigenen politischen und wirtschaftlichen Vorteils auszubauen “62: Durch das Verschieben der Zuständigkeiten auf die Ebene der ITU würden für diese Staaten mehr Mitspracherechte und Einflussmöglichkeiten im Hinblick auf zukünftige Standards erreicht werden. 57 Der bereits 1988 auf der „World Administrative Telegraphy and Telephone Conference“ (WATTC) in Melbourne unterzeichneten ITR bildet die Grundlage für die effiziente und sichere Nutzung von Telefon-, Radio- und Fernsehnetzen . In Dubai soll nun der Vertrag für das moderne Netz „angepasst“ werden. Dies könnte die gesamte Organisation, die Strukturierung und mithin auch die Sicherheit und den Inhalt des Internets verändern – FAZ v. 30.08.2012 „Die Großmächte kämpfen ums Internet“, online abrufbar unter http://m.faz.net/aktuell/feuilleton /medien/ein-neuer-rahmen-fuer-das-netz-die-grossmaechte-kaempfen-ums-internet-11872049.html. 58 Die ITU hat ihren Sitz in Genf. Sie beschäftigt sich mit technischen Aspekten der Telekommunikation – www.itu.int. 59 Die von den Mitgliedsstaaten der UN-Sonderorganisation eingebrachten Vorschläge für die WCIT sollten zwar nicht an die Öffentlichkeit – Aktivisten haben aber etliche Dokumente unter der Adresse http://wcitleaks.org/ ins Netz gestellt. 60 Interview der FAZ-online mit Wolfgang Kleinwächter v. 05.12.2012, Sollen Staaten künftig das Internet regeln ?,– http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/netz-experte-wolfgang-kleinwaechter-sollen-staaten-kuenftig-dasinternet -regeln-11945389.html. 61 Die Konferenz findet vom 03.12.2012 – 14.12.2012 in Dubai statt. 62 Vgl. Interview der ZEIT-Online mit William Drake v. 08.08.2012, Die offene Architektur des Internets ist in Gefahr ,– http://www.zeit.de/digital/internet/2012-08/william-drake-itu-itrs-wcit/komplettansicht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 18 Die derzeit noch auf die „Telekommunikation“ beschränkte Zuständigkeit der ITU müsste bei den Vertragsverhandlungen in Dubai entsprechend auf das Internet ausgedehnt werden. Dies würde bedeuten, etwa die Zuordnung von IP-Adressen, Fragen des Inhalts von Informationen und der Cyber-Sicherheit in das Abkommen mit einzubeziehen und in den Zuständigkeitsbereich der Vereinten Nationen – weg von der privaten Non-Profit-Organisation ICANN – zu verschieben. 4.2.1.2. Die Auffassung der Netzgemeinde Nach Einschätzung von Netzaktivisten und anderen Interessengruppen ist mit der Einbeziehung des Internets in den Vertrag und der entsprechenden Übertragung der Internet-Verwaltung auf die ITU die Gefahr verbunden, eine größere Legitimationsbasis für mögliche Eingriffe in den Internetverkehr zu schaffen.63 Dies dürfe nicht geschehen und sei auch nicht erforderlich. Das „Internet Governance Eco-System mit ICANN, der IETF, den RIRs, dem World Wide Web Consortium, der Internet Society, dem IGF und anderen funktioniert und bedarf keiner Änderung .“64 Es sei eindringlich davor zu warnen, dass Staaten wie Russland und China unter dem Deckmantel der Internationalisierung des Netzes Zensur- und Kontrollmechanismen etablieren wollten. Die Vorschläge „von Russland, Iran und anderen repressiven Staaten zielen darauf, mehr Überwachungs-, Kontroll- und Zensurtechnologie in die Internetstandards hinein zu bringen.“65 Eine Änderung des ITR-Vertrages in Dubai und ein damit einhergehender größerer politischer Einfluss der ITU auf das Internet könne dazu führen, dass Teile aus dem Internet herausgebrochen würden, womit der Weg gebahnt werde für „eine Fragmentierung des Internets entlang staatlicher Grenzen“.66 Es wird damit befürchtet, dass im Falle eines größer werdenden Einflusses repressiver Staaten auf das Internet der derzeitige Status quo eines weitgehend offenen Netzwerks mit freiem Zugang zu allen Inhalten für alle dann nicht mehr zu halten sein wird. 4.2.1.3. Die Haltung der US-Regierung und der EU Die amerikanische Regierung und die EU teilen diese Auffassung. Sie befürchten ebenfalls, dass im Falle einer Ausdehnung des ITR-Vertrags auf das Internet die individuellen Freiheiten der 63 Interview der FAZ-Online mit Wolfgang Kleinwächter (Fn. 60). 64 Interview der FAZ-Online mit Wolfgang Kleinwächter (Fn. 60). 65 Vgl. Äußerung von Markus Beckedahl (Verein Digitale Gesellschaft), wiedergegeben von Jonas Rest in der Berliner Zeitung v. 28.11.2012, Krieg um das neue Internet, http://www.berliner-zeitung.de/it-branche/itu-weltkonferenz -und-durchleitungsgebuehren-krieg-um-das-neue-netz,16490022,20981788.html. 66 Interview der FAZ-Online mit Wolfgang Kleinwächter (Fn. 60). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 19 Nutzer, das wirtschaftliche Wachstum und auch die Innovation Schaden nähmen. Daher seien die Bereiche Internet und Telekommunikation weiter getrennt zu halten.67 Diese Haltung der EU und der USA wurde schon Anfang November 2012 in Baku, Aserbaidschan , deutlich. Die im Dezember stattfindende Konferenz in Dubai warf dort bereits ihre Schatten voraus. Auf dem in Baku stattfindenden 7. Internet Governance Forum (IGF), das die Steuerung und Entwicklung des Internets auf globaler Ebene thematisieren sollte, verteidigten EU und US-Amerikaner das bewährte Multi-Stakeholder-Modell.68 Ein Vertreter des US-Außenministeriums machte nochmals den Standpunkt der US-amerikanischen Regierung zur Verlagerung von Kompetenzen der Internet-Verwaltung an die Vereinten Nationen deutlich: Das Internet sei nun mal das Ergebnis einer Multi-Stakeholder-Anstrengung. Mandatierte Standards, „wie sie aus dem Telekommunikations- oder Rundfunksektor bekannt sind“, seien abzulehnen.69 4.2.2. Gefahr für den Grundsatz der Netzneutralität: Die Forderungen des European Telecommunication Network Operators Association (ETNO) Auch Forderungen des Verbands europäischer Telekommunikations-Konzerne ETNO bergen – bei entsprechender Umsetzung in den Verhandlungen zum ITR-Vertrag – die Gefahr einer zunehmenden Fragmentierung des Internets in sich, weil sie innerhalb des Netzes zu einer Art „Zwei- Klassen-Gesellschaft“ der zu transportierenden Daten-Pakete führen könnten: Die Konzerne – wie etwa die Deutsche Telekom – hatten Anfang der 2000er Jahre stark in den Ausbau der Internet-Infrastruktur investiert und für die Entwicklung immer schnellerer und leistungsstärkerer Netze gesorgt. Konzerne wie etwa Google, YouTube und Facebook nutzten für ihre auf dem Austausch großer Datenmengen basierenden Geschäftsmodelle die vorhandene, unter großem Kostenaufwand70 von den Telekommunikationsunternehmen bereitgestellte Infrastruktur aus. Die ETNO kritisiert daran, dass Internet-Unternehmen die Infrastruktur zwar nutzen, aber sich nicht an deren Instandhaltung beteiligen.71 Daher fordert der Verband nun einen „Ausgleich für den beförderten Datenverkehr“: „Die Unternehmen, darunter die Telekom, wollen zur Refinanzierung ihrer Netze unter anderem neue Geschäftsmodelle einführen. Sie fordern, dass die Staaten ihnen ermöglichen 67 Interview der FAZ-Online mit Wolfgang Kleinwächter (Fn. 60). 68 Rebentisch, André, Da hackt es wohl in Baku – EU Delegation gehackt, 11.11.2012, https://netzpolitik .org/2012/da-hackt-es-wohl-in-baku-eu-delegation-gehackt/. 69 Siehe Ermert, Monika, Heise Online, Internet Governance Forum diskutiert über Inter nationale Regulierung, 07.11.2012, http://www.heise.de/newsticker/meldung/Internet-Governance-Forum-diskutiert-ueber-internationale -Regulierung-1745323.html. 70 Anm.: Dieser Kostenaufwand der ehemaligen Monopol-Unternehmen wurde zu großen Teilen vom Gebührenzahler getragen. 71 Siehe zu diesem Absatz Bericht von Sauerbrey, Anna, Wer regiert das Internet?, Tagesspiegel-Online v. 02.12.2012 – http://www.tagesspiegel.de/politik/internet-wer-regiert-das/7466164.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 20 sollen, auf den Datenautobahnen eine Art ‚Business-Klasse‘ einzurichten und bestimmte Pakete mit Priorität zu befördern.“72 Internetexperten sehen diese Forderung kritisch, weil enorme politische Auswirkungen damit verbunden sein könnten. Bislang habe „das Netz (eigentlich) keine ‚Checkpoints‘, an denen Datenpakete angehalten und klassifiziert werden können“. Wolle man nun eine Differenzierung einführen , müsse man die Pakete aufmachen, und reingucken, was „drin“ sei. Damit werde die Tür zu einem Zensurregime geöffnet: Wer Kontrollen einrichte, könne ja auch nachschauen, ob sich unliebsamer Inhalt in den Datenpaketen befinde.73 Ob ein derartiger Vorschlag allerdings tatsächlich in den neu zu verhandelnden Vertrag aufgenommen wird, ist derzeit nicht abschließend zu beurteilen. 5. Exkurs: Grund für repressive Staaten, trotz massiver Einschränkungen auf anderen Ebenen zugleich ein offenes Netz zu fördern (Malaysia) Malaysia wird seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1957 unter rigiden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen regiert. „Reporter ohne Grenzen‟ platziert „Malaysia auf seiner Rangliste der Pressefreiheit für das Jahr 2009 auf Platz 131, knapp vor Singapur und direkt hinter Thailand. Insgesamt wurden 175 Länder erfasst.“74 Man agiert insbesondere im Hinblick auf die „klassischen politischen Grundrechte“ – neben der Presse- auch die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit eher repressiv. Zugleich zeigen sich die Machthaber75 im Hinblick auf den Einsatz neuer Medien recht aufgeschlossen und fortschrittlich . In dem als konstitutionelle, parlamentarisch-demokratische Wahlmonarchie verfassten Staat mit dem Islam als dominierender Religion76 wurde bereits 1996 beschlossen, auf das sich damals gerade entwickelnde Internet als Wirtschaftsfaktor zu setzen. Es wurde mit dem „Multimedia- Super-Corridor“ ein internationales Informations- und Telekommunikationszentrum außerhalb 72 Tagesspiegel-Online v. 02.12.2012 – http://www.tagesspiegel.de/politik/internet-wer-regiert-das/7466164.html. 73 So äußerte sich Wolfgang Kleinwächter im Rahmen eines Expertengesprächs der Projektgruppe Internationales und Internet Governance der Enquetekommission Internet und Digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages am 19.11.2012, Aufzeichnung der Mediathek http://www.bundestag.de/internetenquete/mediathek/index.jsp, siehe dazu Sauerbrey, Anna, Wer regiert das Internet? Tagesspiegel-Online, 02.12.2012, http://www.tagesspiegel .de/politik/internet-wer-regiert-das/7466164.html. 74 Knirsch, Thomas S.; Kratzenstein, Patrick, Pressefreiheit, neue Medien und politische Kommunikation in Malaysia – Eine Gesellschaft im Wandel, „Auslandsinformationen“ der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin, Mai 2010, S. 103 ff., http://www.kas.de/wf/doc/kas_19710-544-1-30.pdf?101007134356. 75 Das Regierungsbündnis „Barisan National“ [BN] regiert bereits seit 50 Jahren, vgl. Knirsch/Kratzenstein (Fn. 71), S. 103 ff. 76 Artikel 3 der Verfassung Malaysias erklärt den Islam zur „Religion der Föderation“ und ausdrücklich nicht zur Staatsreligion – vgl. Brockhaus Online-Enzyklopädie, Suchbegriff „Malaysia“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 21 Kuala-Lumpurs errichtet. Das etwa 750 km² große Gebiet erstreckt sich zwischen den weltberühmten „Petronas Twin Towers“ sowie dem Kuala Lumpur International Airport und umfasst die beiden Städte „Cyberjaya“ und „Putrajaya“.77 Demgegenüber ist das Internet in Malaysia zwar nicht gänzlich, aber doch weitgehend frei von Zensurmaßnahmen. Dieses Gegensatzpaar überrascht: Einerseits wird politische Kommunikation über die klassischen Kanäle erschwert, andererseits eine solche Kommunikation über die neuen Medien – in deren Infrastruktur der Staat massiv investiert – gerade ermöglicht. Die Frage danach, wie dieser Gegensatz zu erklären ist, lässt sich wohl überraschend einfach mit ökonomischen Interessen beantworten: Mit der Entscheidung zum Bau des „Multimedia-Super- Corridors“ war wirtschaftspolitisch in Malaysia alles „auf das Gesamtziel gerichtet, Malaysia zu einem internationalen Multimediaverteilerzentrum zu machen und den Staat ins Zeitalter der Informationstechnologie zu katapultieren. Da Malaysia wie viele andere aufstrebende Nationen auf ausländische Direktinvestitionen (…) angewiesen ist, lassen sich ausländische Unternehmen aus der Informations- und Kommunikationsbranche kaum durch Zensurregelungen locken. Demzufolge einigte man sich auch auf ein (zwar nicht rechtsbindendes) Dokument, den Bill of Guarantees. In dem zehn Punkte umfassenden Garantien-Katalog wird festgeschrieben, dass keine Internetzensur stattfinden werde. Dem ist man bislang im Wesentlichen nachgekommen.“78 Umgekehrt lässt sich daraus ableiten, dass in Malaysia nicht deswegen großangelegte Überwachungsmaßnahmen unterbleiben, weil dem Staat etwa das Geld oder das erforderliche Know- How fehlten. Selbst wenn zu unterstellen ist, dass politisch der Wille durchaus vorhanden sein dürfte, auch im Internet insbesondere oppositionelle und „unliebsame“ Kommunikation stärker zu reglementieren, wird dieser Wille bewusst gegenüber den wirtschaftspolitischen Interessen des Landes zurückgestellt. Im Ergebnis genießt das Internet in Malaysia damit grundsätzlich immer „noch die Freiheiten, die bei den klassischen Medien sukzessive untergraben wurden“ – gleichwohl sei aber ein „Trend hin zu strengeren Kontrolle und Überwachung erkennbar“.79 Ob sich dieser Trend derart verstärken wird, dass in Zukunft auch in Malaysia eine freie Internetnutzung nicht mehr möglich sein wird, ist derzeit nicht zu beantworten. Aus hiesiger Sicht spricht aber aufgrund des vorhandenen massiven ökonomischen Interesses an einem freien Netz sowie den bereits getätigten Investitionen in den „Multi-Media-Standort“ Malaysia viel dafür, dass eine überhandnehmende Zensur-Tätigkeit der Behörden auch in Zukunft nicht zu erwarten sein dürfte. 77 Vgl. Brockhaus Online-Enzyklopädie, Suchbegriff „Kuala Lumpur“. 78 Knirsch/Kratzenstein (Fn. 74), S. 103, 109 m.w.N. 79 Knirsch/Kratzenstein (Fn. 74), S. 103, 109 f. m.w.N. Nachgewiesen ist danach etwa der Fall eines Blogs, der im Jahre 2008 wegen „unsensibler“ Kommentare kurzzeitig gesperrt wurde. Sein Betreiber wurde inhaftiert und erst nach 53 Tagen aus der Haft entlassen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 22 6. Fazit Die vorstehende Ausarbeitung hat gezeigt, dass die derzeitige (relative) „Freiheit des Internet“, welche sich aus der freiheitlichen – von staatlicher Einwirkung weitgehend freien – Entwicklung seiner Strukturen ergeben hatte, unter verschiedenen Gesichtspunkten bedroht ist. Die Sorge der Internetgemeinde vor einer zunehmenden Fragmentierung des Netzes ist daher nicht unberechtigt : Es wurde gezeigt, dass „Fragmentierung“ kein Selbstzweck ist. Vielmehr sind die Gründe für Nationalstaaten , zur Fragmentierung des weltweiten Netzes beizutragen, häufig und vor allem machtpolitischer Natur. Diese machtpolitischen Erwägungen bilden die Grundlage für die spezifischen netz-politischen Entscheidungen der jeweiligen Machthaber: Reglementierung des Internets etwa durch Zensur- oder andere technische Maßnahmen. Herausgestellt hat sich daneben aber auch, dass nicht jede Form von zu „Fragmentierung“ führendem Handels per se unerwünscht sein muss. So ist es auch hierzulande gesellschaftspolitisch anerkannt, dass die Entfernung rechtswidriger Inhalte – etwa kinderpornografische Inhalte – gerechtfertigt ist. Abgelöst von der nationalstaatlichen Ebene hat sich ferner gezeigt, dass die Debatte um die Frage „Wie und von wem soll das Internet verwaltet werden?“ die zentrale Zukunfts-Debatte einer immer feingliedriger vernetzten Welt ist. Dass diese Debatte heftig geführt wird und letztlich ein globaler Ausläufer nationaler machtpolitischer Interessen ist, wird sich nicht zuletzt in der – dieser Tage stattfindenden – Konferenz in Dubai zeigen, auf die oben hingewiesen wurde. Schließlich wurde im Exkurs herausgearbeitet, dass für den Standort Malaysia wohl allein wirtschaftliche Gründe für die Tatsache ausschlaggebend sind, dass das Internet dort – trotz des stark repressiven Agierens der Behörden im Hinblick auf die klassischen politischen Kommunikationsrechte wie Meinungs- oder Pressefreiheit – verhältnismäßig „frei“ nutzbar ist. Eine überhandnehmende Zensur-Tätigkeit der Behörden wird dort aus ökonomischen Gründen in Zukunft nicht zu erwarten sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 23 7. Glossar CIRP (UN-)Council for Internet Related Policies DNS Domain-Name-System; System zur Umwandlung von Domainnamen in IP-Adressen DNS-Server Server-System, das für die Umwandlung von Domainnamen in IP-Adressen zuständig ist DPI Deep-Packet-Inspection; Verfahren in der Netzwerktechnik, Datenpakete zu überwachen und zu filtern ETNO European Telecommunication Network Operators Association; Verband der ehemals staatlichen Kommunikationsunternehmen in Europa IANA Internet Assigned Numbers Authority; Unterorganisation der ICANN zur Vergabe von IP-Adressen IETF Internet Engineering Task Force; Organisation , die sich mit der technischen Weiterentwicklung des Internets befasst, um dessen Funktionsweise zu verbessern IGF Internet Governance Forum; Diskussionsplattform für die Themen der Internet Governance IPv4 Internet Protocol Version 4 IPv6 Internet Protocol Version 6 ISP Internet Service Provider; Anbieter von Diensten, Inhalten oder technischen Leistungen , die für die Nutzung oder den Betrieb von Inhalten und Diensten im Internet erforderlich sind ITR International Telecommunications Regulations Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 – 100/12 Seite 24 ITU International Telecommunication Union; Internationale Fernmeldeunion, eine Sonderorganisation der UN mit Sitz in Genf RIR Regional Internet Registry; eine regional mit der Verwaltung und Zuteilung von Internet -Ressourcen betraute Organisation. Die Zuständigkeit umfasst die Verwaltung von IP-Adressen (IPv4 und IPv6) TCP/IP Transmission Control Protocol/Internet Protocol; Netzwerkprotokoll zur Identifizierung der am Netzwerk teilnehmenden Rechner WATTC-88 World Administrative Telegraphy and Telephone Conference, Melbourne 1988 WCIT World Conference on International Telecommunications , Dubai 2012