© 2019 Deutscher Bundestag WD 10 – 3000 – 073/19 Jiddisch als Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 2 Jiddisch als Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen Aktenzeichen: WD 10 – 3000 – 073/19 Abschluss der Arbeit: 29. November 2019 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Rechtsprechung im Hinblick auf Anspruchsberechtigung gemäß § 150 Bundesentschädigungsgesetz 4 2.1. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs 4 2.2. Landgericht Trier, Entscheidung vom 12. Juni 1973 – 8 O (WG) 268/73 5 3. Rechtsprechung im Hinblick auf Anspruchsberechtigung gemäß § 17a Fremdrentengesetz 6 3.1. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen 6 3.2. Hessisches Landessozialgericht 7 3.3. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 7 4. Rechts- und sprachwissenschaftliche Diskussion 8 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 4 1. Einführung Gegenstand der vorliegenden Dokumentation ist eine Übersicht über Entscheidungen bundesdeutscher Gerichte, in deren Gründen sich das jeweilige erkennende Gericht mit der Frage auseinandersetzt , ob Jiddisch als eigenständige Sprache oder lediglich als Dialekt der deutschen Sprache einzuordnen sei. Die im Folgenden aufgeführten Entscheidungen betreffen Klageverfahren, in denen die Antragsteller geltend machten, als Angehörige des deutschen Sprach- und Kulturkreises gemäß § 150 Bundesentschädigungsgesetz (BEG)1 Ansprüche auf Entschädigungen nach Maßgabe des BEG bzw. gemäß § 17a Buchstabe a Nummer 1 Fremdrentengesetz (FRG)2 Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu haben. 2. Rechtsprechung im Hinblick auf Anspruchsberechtigung gemäß § 150 Bundesentschädigungsgesetz 2.1. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in vier Entscheidungen betreffend § 150 BEG zur Einordnung des Jiddisch als eigenständige Sprache geäußert. Im ersten einschlägigen Beschluss vom 14. Juni 1973 stellt er fest: „Nach Auffassung der Beschwerde soll (…) das Jiddische dem deutschen Sprachkreis zuzurechnen sein. (…) Jiddisch ist nicht Deutsch. Jiddisch ist die Sprache der Ostjuden; es vermittelt den Zugang zur jüdischen Kultur, nicht zur deutschen.“ 3 1 Bundesentschädigungsgesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 251-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 81 des Gesetzes vom 29. März 2017 (BGBl. I S. 626) geändert worden ist. § 150 Abs. 1 BEG lautet: „Der Verfolgte aus den Vertreibungsgebieten, der dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat, hat Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Körper oder Gesundheit, für Schaden an Freiheit, für Schaden durch Zahlung von Sonderabgaben und für Schaden im beruflichen Fortkommen.“ 2 Fremdrentengesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 824-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 11. November 2016 (BGBl. I S. 2500) geändert worden ist. Gamäß § 17a Buchstabe a Nummer 1 finden die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgebenden Vorschriften des Fremdrentengesetzes Anwendung auch auf Personen, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben. 3 BGH, Beschluss vom 14. Juni 1973 – IX ZB 480/71. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 5 Zehn Jahre später formuliert der BGH ohne Bezugnahme auf die Entscheidung von 1973 in gleicher Weise: „Die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob die jiddische Sprache auch als deutsche Sprache anzusehen sei, hat der Senat in ständiger Rechtssprechung stets dahin beantwortet , daß Jiddisch nicht Deutsch ist und als Sprache der ostjüdischen Bevölkerungsgruppe den Zugang zur jüdischen Kultur, nicht aber zur deutschen Kultur eröffnet.“4 Seine Auffassung bestätigt der BGH sodann erneut in zwei Entscheidungen vom Februar 1984 mit gleichlautender Formulierung unter ausdrücklichem Verweis auf seine soeben genannten Beschlüsse : „Der Rechtsstreit wirft keine ungeklärte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf. Aus der Entstehungsgeschichte von § 150 BEG nF ergibt sich, daß der Gesetzgeber bei der Einführung des Begriffs der Zugehörigkeit zum "deutschen Sprach- und Kulturkreis" nicht an den in Osteuropa lebenden jüdischen Personenkreis gedacht hat, der nicht in einem geschlossen deutschen Siedlungsgebiet lebte und sich deshalb nicht der deutschen, sondern der jiddischen Sprache als Umgangssprache bediente (vgl. Becker-Huber-Küster, Bundesentschädigungsgesetz, ANM. 12 ZU § 8 BErgG). Der Senat hat die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage, ob die jiddische Sprache als deutsche Sprache anzusehen sei, stets dahin beantwortet, daß Jiddisch nicht Deutsch ist und als Sprache der Ostjuden den Zugang zur jüdischen Kultur, nicht aber zur deutschen Kultur eröffnet (vgl. Beschluß vom 14. Juni 1973 - IX ZB 480/71 - und vom 24. November 1983 - IX ZB 130/83).“5 2.2. Landgericht Trier Sprachwissenschaftlich gegründete Ausführungen zur Einordnung der jiddischen Sprache finden sich dagegen lediglich in den Gründen einer erstinstanzlichen Entscheidung des Landgerichts Trier vom Juni 1973, von deren Wiedergabe an dieser Stelle wegen ihres Umfanges abgesehen wird.6 4 BGH, Beschluss vom 24. November 1983 – IX ZB 130/83, Rn. 3. 5 BGH, Beschluss vom 2. Februar 1983 – IX ZB 159/83, Rn. 3 und BGH, Beschluss vom 2. Februar 1983 – IX ZB 158/83, Rn. 3. 6 Vgl. Landgericht Trier, Entscheidung vom 12. Juni 1973 – 8 O (WG) 268/73. Die Entscheidungsgründe sind abgedruckt in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht (RzW) 1973, S. 303 – 305. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 6 3. Rechtsprechung im Hinblick auf Anspruchsberechtigung gemäß § 17a Fremdrentengesetz 3.1. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen In der Rechtsprechung der Sozialgerichte zur Anspruchsberechtigung gemäß § 17a FRG findet sich eine erste Stellungnahme zur Einordnung der jiddischen Sprache in den Gründen einer Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen von November 2000 mit folgendem Wortlaut: „Die Annahme, Jiddisch sei lediglich ein Dialekt der deutschen Sprache, ist zudem falsch. Jiddisch ist die rund 1000 Jahre zurückzuverfolgende Volkssprache der (heute) aschkenasischen (d.h. geographisch im deutschen Sprachgebiet beheimateten) Juden. Wo sprachwissenschaftlich die Wurzeln der heute eigenständigen Sprache Jiddisch liegen, ist trotz der wohl auch von der Klägerin im Kern angesprochenen teilweisen Parallelen zum Deutschen unklar. Jiddisch enthält mit romanischen, hebräisch-aramäischen, slawischen und germanischen Elementen gegenläufige Hinweise auf die geographische Herkunft der anfänglich "Jiddisch" sprechenden Bevölkerungsteile (Brockhaus, 19. Auflage, zu: "jiddische Sprache"). So ist bis in jüngste Zeit wissenschaftlich nicht abschließend geklärt, ob die heute zu beobachtenden Elemente aus dem germanischen Sprachraum gleichzeitig ein Beleg für die regionale Herkunft der ursprünglich jiddisch sprechenden Bevölkerungsteile bietet, deren kulturelles und religiöses Zentrum sich später Ostwärts verlagerte (http://www.Phil-Fak. Uni-Duesseldorf.de./Jiddisch /Jiddisch. html) oder ob die geographischen Wurzeln der Mischsprache weiter ostwärts im slawischen Sprachraum bzw. gar in Vorderasien liegen (Johnson, New York Times vom 29.10.1996, http:// www. santa fe. edu/ Johnson/yiddish.html mit Zusammenstellung der Thesen ), und die aktuell feststellbaren germanischen Sprachelement durch Adaption bzw. völlige Ersetzung andersstämmiger dem deutschen Sprachraum entnommener Worte hinzugetreten sind. Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass Jiddisch auf eine lange literarische Geschichte mit Höhepunkten bereits im Mittelalter zurückblickt (Brockhaus, Phil-Fak Uni-Duesseldorf, jeweils aaO m.w.N.). Mit dem wachsenden nationalkulturellen Selbstbewusstsein der Juden Osteuropas wuchs auch das Bewusstsein sprachlichen Eigenständigkeit und führte auf der jüdischen Sprachenkonferenz von Czernowitz zur Anerkennung des Jiddischen als der nationalen Sprache der Juden (Brockhaus aaO, Seite 181). "Mame-Loschn/Loshn" ("Muttersprache") ist daher auch eine gängige Bezeichnung für "Jiddisch" innerhalb des Jiddischen selbst (Brockhaus, aaO, Seite 180 sowie dessen direkte Übersetzung im englischen Sprachraum (Prager, A Glossary of Yiddisch Words and Phrases, http://www/2.trincoll. edu/Mendele/glossary. htm).“7 7 Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20. November 2000 – L 3Rj 95/99 –, juris Rn. 25-28. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 7 3.2. Hessisches Landessozialgericht Feststellungen zur Einordnung der jiddischen Sprache finden sich sodann in einem Urteil des Hessischen Landessozialgerichts von April 2008, in dessen Leitsätzen es wie folgt heißt: „Die jiddische Sprache hat sich zwar aus dem Mittelhochdeutschen entwickelt, es handelt sich aber um eine eigenständige Sprache, von deren Gebrauch nicht auf die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis geschlossen werden kann.“ 8 Hierzu führt das Gericht in der Gründen aus: „Jiddisch ist eine westgermanische Sprache mit semitischen und slawischen Elementen, die aber in hebräischen Schriftzeichen geschrieben wird. Sie ging zur Zeit des Hochmittelalters aus dem Mittelhochdeutschen hervor und ist allgemein auch heute noch der deutschen Sprache und deren Mundarten sehr nahe, gilt aber als eigene Sprache. Die mittelalterlichen Juden legten den Grundstein für die Entwicklung des Jiddischen, indem sie die gesprochenen Sprachen ihrer Umgebung aufgriffen, mit hebräischen Elementen versahen, Entlehnungen aus romanischen Sprachen integrierten und durch überregionale Kontakte verschiedene Merkmale althochdeutscher Dialekte mischten. Spätestens seit ca. 1500 n.Chr. kann man das Jiddische als eine vom Deutschen zu unterscheidende Sprache betrachten, die als gesprochene Sprache in der traditionellen jüdischen Gesellschaft diente. Es wird heute noch von etwa drei Millionen Menschen, größtenteils Juden, auf der ganzen Welt gesprochen. Vor dem Holocaust gab es etwa 12 Millionen Menschen, die diese Sprache beherrschten, die meisten davon in Ostmittel- und Osteuropa. Heutzutage sprechen neben älteren Menschen aller jüdischen Glaubensrichtungen vor allem chassidische Juden jiddisch als Umgangssprache (vgl. Brockhaus, Stichwort „Jiddische Sprache “; s.a. Leo Rosten, Jiddisch – Eine kleine Enzyklopädie, Dtv, November 2006).“9 3.3. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Zuletzt äußert sich zur Einordnung der jiddischen Sprache das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in einem Urteil vom Juni 2009. Dessen Orientierungssatz lautet: „Der Gebrauch des Jiddischen in einer Familie, in der auch Deutsch und Ungarisch gesprochen wird, zählt nicht zum deutschen Sprachanteil, da das Jiddische eine eigene Sprache und kein Dialekt des Deutschen ist.“10 In der Begründung führt das Gericht aus: „Das Jiddische ist eine eigene, aus deutschen Mundarten, hebräischen und slawischen Bestandteilen herausgebildete Mischsprache, die mit hebräischer Schrift geschrieben wird (Der Brockhaus , 4. Auflage, Leipzig 2006). Es ist eine eigene Sprache und kein Dialekt des Deutschen, auch 8 Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. April 2008 – L 5 R 326/07 –, juris Leitsatz 2. 9 Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. April 2008 – L 5 R 326/07 –, juris Rn. 24. 10 Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Juni 2009 – L 21 R 887/07 –, juris Orientierungssatz 3. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 10 – 3000 – 073/19 Seite 8 wenn es die dem Deutschen nächstverwandteste westgermanische Sprache ist (Jiddisches Wörterbuch , 2. Auflage 1992, Dudenverlag). Der Gebrauch des Jiddischen führt damit nicht zur Annahme eines Gebrauchs der deutschen Sprache.“ 11 4. Rechts- und sprachwissenschaftliche Diskussion In der rechts- oder sprachwissenschaftlichen Literatur werden die in der oben aufgeführten Rechtsprechung getroffenen Feststellungen nicht diskutiert. Ausführungen zur Einordnung des Jiddisch als eigenständige Sprache finden sich lediglich beim Kommentator einer § 150 BEG betreffenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz von Juni 1973 zur Begründung seiner Kritik, das Gericht habe bei seiner Beweiswürdigung wesentliche kulturhistorische, ethnische und sprachwissenschaftliche Erkenntnisse unberücksichtigt gelassen .12 **** 11 Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Juni 2009 – L 21 R 887/07 –, juris Rn. 61. 12 Vgl. Wolfgang Momper, Anmerkung zu OLG Koblenz vom 19. Juni 1973 – 11 U (WG) 328/72, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht (RzW) 1973, S. 468 f.