© 2021 Deutscher Bundestag WD 10 – 3000 – 069/20 Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes im Hinblick auf die Abgrenzung von Individualkommunikation über OTT-Messengerdienste, Gruppenchats und Chats auf themenspezifischen Plattformen sowie verfassungsrechtliche Implikationen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 2 Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes im Hinblick auf die Abgrenzung von Individualkommunikation über OTT Messengerdienste, Gruppenchats und Chats auf themenspezifischen Plattformen sowie verfassungsrechtliche Implikationen Aktenzeichen: WD 10 – 3000 – 069/20 Abschluss der Arbeit: 2. März 2021 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Genesis 4 2.1. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken 4 2.1.1. Definition der sozialen Netzwerke 4 2.1.2. Bagatellgrenze 7 2.2. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz 8 2.2.1. Definition der sozialen Netzwerke 8 2.2.2. Präzisierung der Bagatellgrenze 9 3. Abgrenzung von bilateraler Kommunikation über OTT- Messengerdienste von Gruppenchats auf diesen und von Gruppenchats auf themenspezifischen Plattformen 9 3.1. Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auf OTT- Messengerdienste 10 3.2. Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auf Gruppenchats auf OTT-Messengerdiensten 11 3.2.1. Abgrenzung von Individualkommunikation und Gruppenchats 11 3.2.2. Abgrenzung von personendifferenter Gruppenkommunikation und Massenkommunikation 12 3.2.3. Praktische Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes 13 3.3. Faktische Abgrenzung der bilateralen Individualkommunikation über Messengerdienste von Gruppenchats 13 3.4. Gewinnerzielungsabsicht gemäß § 1 Abs. 1 NetzDG 14 3.5. Zwischenergebnis 14 3.6. Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auf Gruppenchats auf Plattformen, die zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind 14 4. Aufnahme von Individualkommunikation in das Netzwerkdurchsetzungsgesetz 14 5. Verfassungsrechtliche Bedenken 15 6. Fazit 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Das im Jahr 2017 in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG)1 bezweckt die Verhinderung und Verbreitung von bestimmten strafbaren Inhalten in sozialen Netzwerken.2 Inwieweit die Vorschriften des NetzDG auch auf Gruppenchats Anwendung finden können, ist fraglich . Gegenstand der Darstellung ist zunächst, ob und wie Gruppenchats mit mehreren tausend Mitgliedern in sozialen Medien wie Telegram, die einen „halböffentlichen“ Charakter haben, sowie Chats auf themenspezifischen Plattformen wie z. B. Discord oder LinkedIn von rein privater und individueller Kommunikation – beispielsweise über OTT-Messenger-Dienste3 – abgegrenzt werden können. Ferner ist darzustellen, ob eine Aufnahme direkter und individueller Kommunikation in den Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (§ 1 Abs. 1 NetzDG) (verfassungs )rechtlich möglich ist. 2. Genesis 2.1. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken 2.1.1. Definition der sozialen Netzwerke In dem „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken “ der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, auf den sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung bezieht, lautet § 1 Abs. 1 NetzDG-E: „Dieses Gesetz gilt für Telemediendiensteanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben, die es Nutzern ermöglichen, beliebige Inhalte mit anderen 1 Netzwerkdurchsetzungsgesetz vom 1. September 2017 (BGBl. I S. 3352), das zuletzt durch Artikel 9 Absatz 2 des Gesetzes vom 30. November 2020 (BGBl. I S. 2600) geändert worden ist. Abzurufen unter: https://www.gesetze-im-internet.de/netzdg/BJNR335210017.html. Zuletzt abgerufen – wie alle URL in diesem Sachstand – am 26. Februar 2021. 2 BeckOK InfoMedienR/Hoven/Gersdorf, 30. Ed. 1.5.2019, NetzDG § 1 Rn. 4. 3 Dies sind Messaging- und Internettelefoniedienste, „die im Gegensatz zu klassischen Telekommunikationsdiensten wie Telefonie oder SMS über das Internet, und damit „over-the-top“ (OTT) erbracht werden. Das bedeutet, ihre Nutzung ist nicht an einen bestimmten Festnetz- oder Mobilfunkanschluss gebunden, weshalb sie durch diese Möglichkeit der unabhängigen Nutzung auch als sogenannte OTT-Kommunikationsdienste bezeichnet werden. OTT-Kommunikationsdienste bieten dabei den Nutzern neue Möglichkeiten, sich auszudrücken und anderen mitzuteilen. Die neuen Funktionalitäten von Diensten wie Skype, WhatsApp oder Threema beschränken sich längst nicht mehr auf die Möglichkeit, Textnachrichten oder Bilder zu versenden. Zahlreiche OTT-Kommunikationsdienste ermöglichen etwa die Durchführung von Internettelefonie (einschl. Videotelefonie ) oder das Versenden von Sprachnachrichten. Außerdem werden beispielsweise Funktionen wie Gruppenchats , Empfangs- und Lesebestätigungen, das Anlegen von Profilbildern, „Zuletzt online“-Anzeige oder auch „Status“- und „Stories“-Optionen angeboten. Die Vielfalt der Funktionen hängt dabei maßgeblich vom Geschäftsmodell des jeweiligen Dienstes ab.“ Bundesnetzagentur: Nutzung von OTT-Kommunikationsdiensten in Deutschland. Bericht 2020, S. 5. Abrufbar unter: https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Mediathek/Berichte/2020/OTT.pdf?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 5 Nutzern auszutauschen, zu teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (soziale Netzwerke). Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, die vom Diensteanbieter selbst verantwortet werden, gelten nicht als soziale Netzwerke im Sinne dieses Gesetzes.“ 4 Durch diese Legaldefinition sollte sichergestellt werden, „dass die Berichtspflicht nur die Betreiber großer sozialer Netzwerke mit Meinungsmacht und nicht sämtliche Diensteanbieter nach dem Telemediengesetz (TMG)5 trifft. Medienplattformen mit eigenen journalistisch-redaktionell gestalteten Inhalten werden von dem Entwurf nicht erfasst. Die Definition der sozialen Netzwerke erfasst sowohl den Austausch von Inhalten mit anderen Nutzern in einer geschlossenen Netzgemeinschaft („gated community “) als auch die Verbreitung von Inhalten in der Öffentlichkeit. Vorgesehen ist eine Bagatellgrenze für kleinere Unternehmen (Start-up-Unternehmen).“6 Aber schon in der Begründung des Fraktionsentwurfs wurden explizit Dienste der Individualkommunikation – wie etwa E-Mail-Dienste – vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen . Sie sollten nicht zu den Plattformen im Sinne des Gesetzentwurfes zählen: „Erfasst sind nur Telemediendiensteanbieter, die Plattformen betreiben, die darauf angelegt sind, dass Inhalte für Nutzer gespeichert werden, um sie mit anderen Nutzern auszutauschen , zu teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Erfasst sind damit in erster Linie Dienste im Sinne von § 10 TMG. Dienste der Individualkommunikation, insbesondere E-Mail-Dienste fallen hingegen nicht unter die erfassten Plattformen.“7 Auch die Bundesregierung stellte schon in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates klar, dass E-Mail- oder Messengerdienste nicht zum Anwendungsbereich des Gesetzes gehören . Sie führte hierzu aus: „Durch das eingrenzende Tatbestandsmerkmal der ,Plattformen' ist zugleich klargestellt, dass Individualkommunikation (z. B. E-Mail- oder Messengerdienste) nicht erfasst sind. 4 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 16. Mai 2017, Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 7; http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/123/1812356.pdf; Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 14. Juni 2017, Bundestagsdrucksache 18/12727, S. 9; http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/127/1812727.pdf. 5 Telemediengesetz vom 26. Februar 2007 (BGBl. I S. 179; 2007 I S. 251), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. November 2020 (BGBl. I S. 2456) geändert worden ist. Abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/tmg/BJNR017910007.html. 6 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 16. Mai 2017. Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 11 f. 7 Ebenda, S. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 6 Denn der Begriff der Plattform verweist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auf Kommunikationsräume , wo sich Kommunikation typischerweise an eine Mehrzahl von Adressaten richtet bzw. zwischen diesen stattfindet.“8 Ebenso war es die Intention des Bundesrates, den Anwendungsbereich des Gesetzes einzuschränken und nicht nur E-Mail- und internetbasierte Kurznachrichtendienste und (Online-) Chats vom Anwendungsbereich des Gesetzes auszunehmen. In seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung führt er konkrete Beispiele für Plattformen an, die ebenso wie „Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten“ nicht erfasst werden sollen: „Beispielhaft sind folgende Netzwerke zu nennen, welche Gefahr laufen, auch in den Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zu fallen. Dies sind Sharing-Plattformen , Online-Speicherdienste, eCommercePlattformen, E-Mail- und internetbasierte Kurznachrichtendienste und (Online-) Chats, Auktionsplattformen, Gaming-Netzwerke, Reiseportale, Rubrikenseiten, Vergleichsportale oder Ratgebercommunities.“9 Vor diesem Hintergrund ist die Unterscheidung der Begriffe „Austausch“, „Teilen“‘ und „der Öffentlichkeit zugänglich machen“ zu würdigen. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es: „Der Austausch findet stets zwischen administrativ festgelegten Gruppenmitgliedern oder Chatmitgliedern statt. Im Gegensatz zum ,Teilen‘ und der ,Öffentlichkeit zugänglich machen ‘ bestimmt der Nutzer die einzelnen Empfänger. Der Austausch findet mit einem potenziell bestimmten Personenkreis statt. Teilen bedeutet sowohl das Zugänglichmachen von selbst eingestellten als auch von bereits vorhandenen beliebigen Inhalten für ausgewählte Nutzergruppen, wobei Inhalte auch für alle Nutzer freigegeben werden können.“10 Unter Beachtung der vorgenannten Ausnahmen sollten vom Gesetz somit nicht nur der Allgemeinheit zugänglich gemachte Inhalte erfasst werden, sondern auch solche, die zwischen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe ausgetauscht werden. „Teilen“ von Inhalten mit anderen Nutzern erfasst den Fall der Kommunikation in einer „geschlossenen Netzgemeinschaft“11, die Grup- 8 Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 14. Juni 2017, Bundestagsdrucksache 18/12727, S. 28. 9 Stellungnahme des Bundesrates, Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 14. Juni 2017, Bundestagsdrucksache 18/12727, S. 18. 10 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz –NetzDG) vom 16. Mai 2017. Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 18. 11 Ebenda, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 7 penkommunikation innerhalb eines sozialen Netzwerkes zwischen Nutzern, die in der Regel registriert sind.12 Bei der Variante „der Öffentlichkeit zugänglich machen“ geht es darum, dass Inhalte nicht nur Gruppenmitgliedern, sondern der Netzwerk-Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Nicht erfasst werden sollten dagegen Netzwerke mit einer speziellen Themen- und Nutzerfestlegung . Diese Ausnahme ist in der Begründung zum Gesetzentwurf dokumentiert, im Entwurfstext war sie noch nicht explizit aufgeführt: „Das Gesetz erfasst nur soziale Netzwerke ohne spezielle Themen- und Nutzerfestlegung. Es muss möglich sein, beliebige Inhalte mit beliebigen anderen Nutzern auszutauschen, zu teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine entsprechende Eröffnung des Verbreitens beliebiger Inhalte liegt auch dann noch vor, wenn es spezifische Einschränkungen gibt, z. B. aufgrund der sog. Netiquette oder einer virtuellen Hausordnung. Denn auch bei punktuellen thematischen Einschränkungen bleibt es dann dabei, dass entsprechende Netzwerke grundsätzlich keine Themenvorgaben machen. Plattformen, die hingegen darauf angelegt sind, dass nur spezifische Themen verbreitet werden (z. B. berufliche Netzwerke) werden vom Gesetz nicht erfasst. Unschädlich ist, wenn sich einige Nutzer an diese Vorgaben nicht halten, da es auf die generelle Ausrichtung der Plattform ankommt. Thematisch und personell eingegrenzte Netzwerke wie berufliche Netzwerke bedürfen keiner gesetzlichen Compliance-Regeln.“13 2.1.2. Bagatellgrenze In § 1 Abs. 2 des Gesetzentwurfes wurde eine Bagatellgrenze definiert. Demnach sollten soziale Netzwerke, die weniger als zwei Millionen Nutzer in der Bundesrepublik Deutschland haben, nicht unter den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallen: „Der Grund für eine solche Regelung liegt darin, dass kleinere soziale Netzwerke von aufwändigen Prüfpflichten befreit werden sollen. Die umfassenden gesetzlichen Anforderungen können nur von sozialen Netzwerken mit entsprechenden Ressourcen und Kapazitäten bewältigt werden. Ein weiterer Grund liegt in der Perpetuierungswirkung der ausgetauschten und geteilten oder der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Inhalte. Bei einer großen Anzahl von Nutzern ist die Reichweite der Inhalte regelmäßig höher. Dies geht mit einem Anstieg der diffamierenden Wirkung einher. 12 BeckOK InfoMedienR/Hoven/Gersdorf, 30. Ed. 1.5.2019, NetzDG § 1 Rn. 19 f. 13 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz –NetzDG) vom 16. Mai 2017. Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 8 Die Bagatellschwelle liegt bei zwei Millionen Nutzerinnen und Nutzern, da nach gegenwärtigen Daten die in der Öffentlichkeit relevanten und breit vertretenen sozialen Netzwerke mindestens zwei Millionen Nutzer haben. Diese sozialen Netzwerke sind vom Gesetz zu erfassen, damit der Sinn und Zweck des Gesetzes erfüllt wird.“14 2.2. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz Der ursprüngliche Gesetzentwurf wurde infolge der Beratungen im Ausschuss in einigen Punkten mit dem Ziel der Klarstellung geändert. Dabei ging es insbesondere darum, die einvernehmlich von Bundesregierung, Bundesrat und den gesetzestragenden Bundestagsfraktionen erachteten Ausnahmebereiche zu konkretisieren und damit den Anwendungsbereich des Gesetzes erkennbar zu beschränken. 2.2.1. Definition der sozialen Netzwerke So wurde die Definition der sozialen Netzwerke im Sinne des § 1 Abs. 1 des Gesetzentwurfes durch den Ausschuss modifiziert: „Dieses Gesetz gilt für Telemediendiensteanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben, die dazu bestimmt sind, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen (soziale Netzwerke). Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, die vom Diensteanbieter selbst verantwortet werden, gelten nicht als soziale Netzwerke im Sinne dieses Gesetzes. Das Gleiche gilt für Plattformen, die zur Individualkommunikation oder zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind.“15 Die Streichung des Wortes „auszutauschen“ sollte ebenso wie die nun ausdrückliche Ausnahme von Plattformen, die zur Individualkommunikation bestimmt sind, auch im Gesetzestext verdeutlichen , dass E-Mail- oder Messengerdienste nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen .16 Dies – so die Begründung der Beschlussempfehlung – ergebe sich auch aus dem eingrenzenden Tatbestandsmerkmal des Betreibens von „Plattformen“: 14 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 16. Mai 2017. Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 19. 15 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2017. Bundestags-Drucksache 18/13013, S. 5 f.; https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/130/1813013.pdf. 16 Ebenda, S. 18: „Durch das Streichen des Wortes ,auszutauschen‘ sowie die Klarstellung in Satz 3 wird im Gesetzestext deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Dienste der Individualkommunikation (z. B. E-Mail- oder Messengerdienste ) nicht unter das Gesetz fallen." Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 9 „Denn der Begriff der Plattform verweist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auf Kommunikationsräume , wo sich Kommunikation typischerweise an eine Mehrzahl von Adressaten richtet bzw. zwischen diesen stattfindet.“17 Im Übrigen wird der Begriff „Plattform“‘ als Synonym für einen Telemediendienst verwendet, der dazu bestimmt ist, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen.18 Zur Bestimmung von Normadressaten wird dem Merkmal „Plattform “ ansonsten keine weitere Bedeutung beigemessen und nach § 1 Abs. 1 S. 1 NetzDG lediglich danach unterschieden, ob ein Dienst der Gruppenkommunikation („beliebige Inhalte mit anderen Nutzern“) oder der Massenkommunikation („der Öffentlichkeit zugänglich machen“) dient.19 2.2.2. Präzisierung der Bagatellgrenze Auch die Definition der Bagatellgrenze wurde in den Beratungen des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz präzisiert. Statt zwei Millionen faktischer Nutzer wurde nun zwei Millionen registrierter Nutzer als Untergrenze festgesetzt. 20 Dies wurde folgendermaßen begründet: „Ziel der Mindestnutzerzahl ist es, (nur) soziale Netzwerke mit großer Perpetuierungswirkung zu erfassen, wozu unregistrierte Besucher in der Regel nicht beitragen. Nicht mehr registriert sind Nutzer, deren Nutzungsverhältnis mit dem sozialen Netzwerk beendet wurde.“21 3. Abgrenzung von bilateraler Kommunikation über OTT-Messengerdienste von Gruppenchats auf diesen und von Gruppenchats auf themenspezifischen Plattformen Bei den klassischen Medien wird eine rechtswidrige Situation nicht in gleicher Weise perpetuiert wie im Internet.22 Die Nachrichten müssen an eine bestimmte Öffentlichkeit gerichtet sein und 17 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2017. Bundestags-Drucksache 18/13013, S. 18 f.; https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/130/1813013.pdf. 18 BeckOK InfoMedienR/Hoven/Gersdorf, 30. Ed. 1.5.2019, NetzDG § 1 Rn. 15. 19 Ebenda. 20 Zu den vielfältigen Problemen im Zusammenhang mit der quantitativen Differenzierung und der Registrierung der Nutzer s.: Spindler/Schmitz/Liesching, 2. Aufl. 2018, NetzDG § 1 Rn. 69-72. 21 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2017. Bundestags-Drucksache 18/13013, S. 19. 22 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 16. Mai 2017. Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 10 eine über das Verhältnis von Sender und Empfänger hinausgehende Wirkung haben.23 Eine solche Wirkung ist bei einer Individualkommunikation im wörtlichen, bilateralen Sinne nicht feststellbar , da nur der Absender und der Empfänger Kenntnis von dem Inhalt erlangen. Ähnliches kann auch für eine Gruppenkommunikation gelten. Demgegenüber erreichen Massenkommunikation und wohl auch bestimmte Formen der Gruppenkommunikation eine solche Wirkung. Sie sind deshalb für die Zielerreichung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes von Bedeutung. Fraglich ist jedoch, ob zwischen Individual-, Gruppenund Massenkommunikation stets genau unterschieden werden kann. So lässt sich beispielsweise der Messengerdienst WhatsApp auch zur Gruppenkommunikation nutzen und die Plattform Facebook zur Individualkommunikation.24 Auf diese Abgrenzungsschwierigkeiten soll nachfolgend näher eingegangen werden. 3.1. Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auf OTT-Messengerdienste Nach § 1 Abs. 1 NetzDG gilt das NetzDG nur für Telemediendiensteanbieter. OTT-Messengerdienste wie Whatsapp dürften bei der bilateralen Individualkommunikation eher „Telekommunikationsdienste “ im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 24 TMG25 sein, da sie sich in diesem Fall auf die Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze beschränken.26 Insofern ist das NetzDG sowohl unter dem Gesichtspunkt des fehlenden Kommunikationsraumes als auch des nicht gegebenen Telemediendienstes auf bilaterale Kommunikation über OTT-Messengerdienste nicht anwendbar. Aber wie oben dargelegt, schließt der Gesetzgeber auch die multilaterale Individualkommunikation wie er sie für E-Mail- und internetbasierte Kurznachrichtendienste und (Online-) Chats für typisch hält, vom Anwendungsbereich aus. Der Wille des Gesetzgebers kommt klar zum Ausdruck, wie OTT-Messengerdienste zu behandeln sind, auch wenn sie die Möglichkeit zu Gruppenchats, d. h. die Übermittlung eines Inhalts durch eine einzige Person an mindestens zwei andere Nutzer bieten und damit einen Kommunikationsraum eröffnen, wie dies beispielsweise bei Whatsapp möglich ist. 23 LG Frankfurt, Beschluss vom 30. April 2018 – 2-03 O 430/17 – Auskunftsanspruch gegen Facebook –, juris Rn. 56 f. 24 Spindler/Schmitz/Liesching, 2. Aufl. 2018, NetzDG § 1 Rn. 48. 25 Telekommunikationsgesetz vom 22. Juni 2004 (BGBl. I S. 1190), das zuletzt durch Artikel 319 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. Abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/tkg_2004/BJNR119000004.html. 26 Guggenberger, Nikolas: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Anwendung. In: NJW 2017, 2577 ff. [2578] m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 11 3.2. Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auf Gruppenchats auf OTT-Messengerdiensten Im NetzDG sind Ausnahmetatbestände definiert, die insbesondere von der Art der Inhalte, Zahl und Merkmale der Nutzer und dem Grad der Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit abhängen. Die Zuordnung in die Kategorien bilaterale, multilaterale Individualkommunikation oder Massenkommunikation mit der Möglichkeit bilateraler Kommunikation ist problematisch. Während an die Öffentlichkeit gerichtete multilaterale Kommunikation grundsätzlich in den Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes fällt, werden gem. § 1 Abs. 1 S. 3 NetzDG „Plattformen , die zur Individualkommunikation … bestimmt sind“ ausdrücklich ausgeschlossen. Individualkommunikation unterfällt also keinesfalls dem Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes . 27 3.2.1. Abgrenzung von Individualkommunikation und Gruppenchats Der Kommunikationsraum von Individualkommunikation und Gruppenchats lässt sich i. d. R. nicht eindeutig bestimmen, da er vom Grad einer schwer abzugrenzenden Öffentlichkeit für die Zugänglichmachung von Inhalten abhängt. Viele Plattformen sind multifunktional für unterschiedliche Kommunikationsformen nutzbar. Ein Dienst kann faktisch „sowohl der Definition des ,sozialen Netzwerks‘ unterfallen, weil dort Inhalte mit anderen Nutzern geteilt werden können, als auch gleichzeitig und bestimmungsgemäß Individualkommunikation ermöglichen.“28 Beispielsweise können Nutzer von Host-Providern Inhalte hochladen und gegebenenfalls per Hyperlink mit anderen teilen, Gleiches gilt für Nutzer von Cloud-Anbietern, die einen gemeinsamen Account verwenden.29 Auch Dienste wie Microsoft OneDrive oder Dropbox bieten die Möglichkeit , Inhalte synchron zu bearbeiten und auszutauschen. Die Bestimmungen zur Nutzungsanwendung dieser Dienste ermöglichen nicht immer eine klare Unterscheidung zwischen Individualund Gruppenkommunikation. Sie sind aber in der Regel nicht an die Öffentlichkeit gerichtet. Im Hinblick auf typische Nutzungsformen schließen die Gesetzesinitiatoren aber schon in der Begründung zum Gesetzentwurf klarstellend „Dienste der Individualkommunikation, insbesondere E-Mail-Dienste“ vom Anwendungsbereich des Gesetzes aus.30 27 Guggenberger, Nikolas: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Anwendung. In: NJW 2017, 2577ff [2578]. 28 LG Frankfurt, Beschluss vom 30. April 2018 – 2-03 O 430/17 – Auskunftsanspruch gegen Facebook –, juris Rn. 52. 29 Spindler, Gerald, K&R 2017, 533. 30 Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drs. 18/12356, S. 18: „Dienste der Individualkommunikation, insbesondere E-Mail-Dienste fallen hingegen nicht unter die erfassten Plattformen.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 12 Von Bedeutung dürfte dabei sein, in welchem Umfang meinungsbildende Inhalte für eine bestimmte Öffentlichkeit angeboten werden.31 Die Form der Inhalte – ob Video, Musik oder Text – dürfte hierbei keine Rolle spielen, denn es geht um das typische Nutzungsverhalten. 3.2.2. Abgrenzung von personendifferenter Gruppenkommunikation und Massenkommunikation Nach der Definition sozialer Netzwerke in § 1 Abs. 1 S. 1 NetzDG werden Telemediendiensteanbieter von Plattformen im Internet erfasst, auf denen Nutzer entweder beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen können. Eine exakte Unterscheidung zwischen personenindifferenter Gruppenkommunikation und Massenkommunikation erweist sich sowohl in rechtstechnischer als auch in tatsächlicher Hinsicht als schwierig. Als Abgrenzungsmerkmal für „Personenindifferenz“ kommt ein gewisser Bekanntheitsgrad der Gruppenmitglieder untereinander in Betracht. Die Auswahl von Kriterien hierzu lässt sich kaum schlüssig begründen. Ihre Anwendung ist so gut wie nicht praktikabel. Der Nutzerbegriff orientiert sich laut Erläuterungen im NetzDG-Entwurf der Koalitionsfraktionen an § 2 Nr. 3 TMG, wonach Nutzer jede natürliche oder juristische Person ist, die Telemedien nutzt, insbesondere um Informationen zu erlangen oder zugänglich zu machen.32 Ob es sich hierbei nur um Plattformen mit „geschlossener Nutzergemeinschaft“ handelt, die ihre Nutzer durch eine Registrierung, Anmeldung oder sonstige Abgrenzung gegenüber anderen Internetnutzern differenzieren, ist fraglich. Das Kriterium Inhalte „für die Öffentlichkeit zugänglich machen“ könnte hier in eine Entscheidungsfindung einbezogen werden.33 Eine Registrierungsmöglichkeit dürfte für Nutzer im Rahmen eines Dienstes jedoch erforderlich sein, um das NetzDG anwenden zu können. Denn in § 1 Abs. 2 hat der federführende Ausschuss als Kriterium für die Bagatellgrenze „registrierte“ Nutzer vorgesehen.34 31 Spindler, Gerald, K&R 2017, 534. 32 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz –NetzDG) vom 16. Mai 2017. Bundestags-Drucksache 18/12356, S. 18. Telemediengesetz (TMG) vom 26. Februar 2007 (BGBl. I S. 179; 2007 I S. 251), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. November 2020 (BGBl. I S. 2456) geändert worden ist. 33 Erbs, Kohlhaas, Liesching, 233. EL Oktober 2020, NetzDG § 1 Rn. 6. 34 BT-Drs. 18/13013, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 13 3.2.3. Praktische Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes Das für die Umsetzung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zuständige Bundesamt für Justiz beachtet die Vorgaben des Gesetzgebers und erklärt entsprechend, dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetzes nicht auf Dienste der Individualkommunikation, insbesondere E-Mail- oder Messengerdienste (zum Beispiel WhatsApp) anwendbar sei.35 Aufgabe des Bundesamtes für Justiz ist es, im Einzelfall zu prüfen, ob ein Diensteanbieter die ihnen obliegenden Pflichten aus dem NetzDG erfüllen.36 Voraussetzung für eine solche Prüfung ist, dass das Bundesamt für Justiz „Kenntnis von Tatsachen erhält, die den Anfangsverdacht begründen , dass eine Ordnungswidrigkeit nach dem NetzDG begangen wurde oder noch andauert .“37 3.3. Faktische Abgrenzung der bilateralen Individualkommunikation über Messengerdienste von Gruppenchats Wie oben dargestellt, lassen Plattformen der Massenkommunikation bilaterale Kommunikation zu. Umgekehrt ermöglichen typische Medien der bilateralen Individualkommunikation (z. B. die Telefonie) auch multilaterale Kommunikation etwa in Form von Telefonkonferenzen. Wenn es darum geht, die Zahl der Kommunikationsteilnehmer zu bestimmen, so hätten im Falle von Messengerdiensten nur die Betreiber die Möglichkeit, die Anzahl der Gruppenchats zu ermitteln. „Nähere Bestimmungen zur Feststellung, ob ein Netzwerk die Voraussetzungen des § 1 erfüllt, werden in den gemäß § 4 Absatz 4 Satz 2 zu erlassenden allgemeinen Verarbeitungsgrundsätzen über die Ausübung des Ermessens der Bußgeldbehörde bei der Einleitung eines Bußgeldverfahrens geregelt.“ 38 35 Bundesamt für Justiz, Häufige Fragen, 1. Gilt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz für alle Diensteanbieter? Abrufbar unter: https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/NetzDG/Fragen/1.html. 36 Eine Sprecherin des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz teilte netzpolitik.org dazu mit: „Ob Telegram die Pflichten des NetzDG erfüllen muss, ist vom Bundesamt für Justiz im Rahmen seiner Aufgabe zu prüfen.“ In: Laufer, Daniel: Hasskriminalität – Fällt Telegram wirklich nicht unter das NetzDG? 4. Februar 2021. Abzurufen unter: https://netzpolitik.org/2021/hasskriminalitaet-faellt-telegram-wirklich-nicht-unter-das-netzdg/. 37 So ein Sprecher des Bundesamtes für Justiz. Zitiert nach: Laufer, Daniel: Hasskriminalität – Fällt Telegram wirklich nicht unter das NetzDG? 4. Februar 2021. Abzurufen unter: https://netzpolitik.org/2021/hasskriminalitaet-faellt-telegram-wirklich-nicht-unter-das-netzdg/. 38 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2017. Bundestags-Drucksache 18/13013, S. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 14 3.4. Gewinnerzielungsabsicht gemäß § 1 Abs. 1 NetzDG Eine weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes ist eine Gewinnerzielungsabsicht39 des Betreibers gemäß § 1 Abs. 1 NetzDG. Dabei ist nicht entscheidend, ob auch tatsächlich ein Gewinn erzielt wird. Bei gewerblichen Unternehmen kann von einer Gewinnerzielungsabsicht ausgegangen werden.40 3.5. Zwischenergebnis Bundesregierung, Bundesrat, die das Gesetz tragenden Bundestagsfraktionen und der federführende Bundestagsausschuss sind sich einig, dass Individualkommunikation in der Ausprägung von E-Mail- oder Messengerdiensten nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen. Ungeachtet bestehender Abgrenzungsschwierigkeiten ist das NetzDG in der jetzigen Fassung auf Massen- sowie Gruppenkommunikation mit speziellen Eigenschaften bei Überschreiten der Bagatellgrenze und dem Vorliegen der Gewinnerzielungsabsicht anzuwenden. Was Gruppenchat-Aktivitäten von OTT-Messengerdiensten anbelangt, so ist die Intention des Gesetzgebers wie oben dargelegt eindeutig. Das Bundesamt für Justiz wendet dementsprechend das NetzDG auf E-Mailoder Messengerdienste nicht an. 3.6. Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auf Gruppenchats auf Plattformen, die zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz wird § 1 Abs. 1 S. 3 Netz DG dahingehend erläutert, dass „z. B. berufliche Netzwerke, Fachportale, Online- Spiele, Verkaufsplattformen nicht in den Anwendungsbereich“41 fallen. Diese Art der multilateralen Individualkommunikation fällt auch insofern nicht in den Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Hier ist es eindeutig, dass die gesamte multilaterale Kommunikation auf Plattformen, die zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind, nicht in den Anwendungsbereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes fällt. 4. Aufnahme von Individualkommunikation in das Netzwerkdurchsetzungsgesetz Die Notwendigkeit einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des NetzDG auf bilaterale Individualkommunikation – und damit im Grunde auch auf E-Mail- oder Messengerdienste – erschließt 39 Zur Gewinnerzielungsabsicht bei Telegram: Laufer, Daniel: Hasskriminalität – Fällt Telegram wirklich nicht unter das NetzDG? 4. Februar 2021. Abzurufen unter: https://netzpolitik.org/2021/hasskriminalitaet-faellt-telegram-wirklich-nicht-unter-das-netzdg/. 40 Spindler/Schmitz/Liesching, 2. Aufl. 2018, NetzDG § 1 Rn. 47. 41 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2017. Bundestags-Drucksache 18/13013, S. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 15 sich nicht: Sollte der Empfänger der Ansicht sein, dass die Mitteilung einen oder mehrere Straftatbestände erfüllt, bleibt es ihm unbenommen, Strafanzeige zu erstatten. Er kann aber auch die Mitteilung selbst löschen. Sie ist dann nicht mehr zugänglich. Ein rechtspolitisches Bedürfnis dafür, dass der Betreiber des entsprechenden sozialen Mediums eingreifen soll, ist nicht ersichtlich . Insofern fehlt für eine entsprechende Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes auch auf die Individualkommunikation im engeren Sinne ein rechtspolitischer Anlass oder Grund. 5. Verfassungsrechtliche Bedenken Unabhängig von der Frage, ob das NetzDG auf Gruppenchats auf OTT-Messengerdiensten oder Plattformen zur Verbreitung spezifischer Inhalte anwendbar ist oder nicht, bestehen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Zu dieser Frage liegt bereits eine umfangreiche Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vor, die in der Anlage beiliegt.42 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das NetzDG – insbesondere aufgrund eines zu erwartenden Overblocking der Betreiber der sozialen Medien aufgrund der Bußgeldandrohung – in folgende Grundrechte eingreift: Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 GG (Meinungsfreiheit), Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG (Informationsfreiheit), Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit). Diese Eingriffe scheinen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt zu sein. Hierzu wird auf die Anlage verwiesen. Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, dass die genannten Eingriffe umso schwerwiegender sind, je länger die ordentliche Gerichtsbarkeit dazu braucht, über Anträge auf einstweilige Anordnungen oder Klagen der Betroffenen zu befinden: In Anbetracht der sehr hohen Geschwindigkeit des Meinungsaustausches in sozialen Netzwerken ist dies insofern ein entscheidender Gesichtspunkt , als dass eine Rückgängigmachung der Löschung eines Beitrages aufgrund einer – wie auch immer gearteten – Gerichtsentscheidung nur dann der faktischen Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands entspricht, wenn diese Entscheidung sehr zeitnah fällt. Wenn dies nicht geschieht, ist der Beitrag tatsächlich eliminiert, da er in der laufenden Diskussion keine Rolle mehr spielt. 42 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Ausarbeitung: Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes . Vereinbarkeit mit der Meinung- und Informationsfreiheit, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Berufsfreiheit. WD 10 – 3000 – 047/17 v. 15. August 2017. Abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/529872/e239d641e1b03bff60c6d7d919fa126b/wd-10-047-17-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000 – 069/20 Seite 16 Diese zeitliche Komponente ist darüber hinaus – ebenso wie die Übertragung der Löschungsentscheidungsbefugnis auf die Betreiber der sozialen Netzwerke43 – schwerlich mit der aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Justizgewährungspflicht des Staates zu vereinbaren. Problematisch ist ferner die Ungleichbehandlung der unter das NetzDG fallenden sozialen Medien gegenüber klassischen Medien und anderen Kommunikationsplattformen.44 Ebenfalls fraglich ist, ob die Fassung des Normadressatenkreises im Hinblick auf das erklärte gesetzgeberische Ziel in Anbetracht der Vielzahl der sozialen Netzwerke noch sachgerecht ist. 6. Fazit Die Intention der Gesetzesinitiatoren, des Bundesrates und des Gesetzgebers, ist eindeutig: Individualkommunikation wie E-Mail- oder Messengerdienste fällt nicht in den Anwendungsbereich des NetzDG. Abgrenzungsschwierigkeiten bei den unterschiedlichen Kommunikationsformen liegen in der Natur der informationstechnologischen Möglichkeiten. Deswegen ist es schwierig, Kriterien für eine trennscharfe und systematisch-kohärente Abgrenzung zu finden und anzuwenden . Es kommt hier eher auf den Typus bzw. der überwiegenden Nutzungsform und den Grad der Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit sowie auf die Einflussnahme und Einflussmöglichkeiten der Portalbetreiber auf Inhalte, Reichweite und Nutzeraufmerksamkeit an. Multilaterale Kommunikation auf themenspezifischen Plattformen fällt nicht in den Anwendungsbereich des NetzDG. Auch eine Präzisierung des Anwendungsbereichs des NetzDG führt nicht zu einer neuen verfassungsrechtlichen Bewertung, so dass weiterhin unverändert von erheblichen Bedenken im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes auszugehen ist. **** Anlage: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Ausarbeitung: Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes . Vereinbarkeit mit der Meinung- und Informationsfreiheit, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Berufsfreiheit. WD 10 – 3000 – 047/17 v. 15. August 2017. 43 Spindler/Schmitz/Liesching, 2. Aufl. 2018, NetzDG § 1 Rn. 29 m. w. N. 44 Ebenda, Rn. 41 m. w. N.