© 2020 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 - 045/20 Die Entwicklung des Urheberrechts an privaten Normwerken Zum Diskurs um § 5 Abs. 3 UrhG Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 2 Die Entwicklung des Urheberrechts an privaten Normwerken Zum Diskurs um § 5 Abs. 3 UrhG Aktenzeichen: WD 10 - 3000 - 045/20 Abschluss der Arbeit: 17. November 2020 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Überblick 4 3. Ausnahme amtlicher Werke vom Urheberrechtsschutz (§ 5 Abs. 1 und 2 UrhG) 6 4. Rechtslage vor Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG 6 4.1. DIN-Entscheidung des BGH 6 4.2. Bundesverfassungsgericht: Keine Verletzung des Eigentums 9 5. Reaktion des Gesetzgebers 11 5.1. Gesetzesentwurf der Bundesregierung 11 5.2. Kritik von Bundesrat und der Bundestagsfraktion CDU/CSU 12 5.3. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags 13 6. Auswirkungen auf die Praxis 13 6.1. Zwangslizenz 14 6.2. „Angemessene Bedingungen“ 14 7. Öffentliche Kritik 15 8. Hanseatisches Oberlandesgericht zur Verfassungs- und Unionsrechtsmäßigkeit des § 5 Abs. 3 UrhG 16 8.1. Sachverhalt 16 8.2. Entscheidung des Gerichts 16 8.2.1. Kein Einzelfallgesetz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG 17 8.2.2. Keine Verletzung der europäischen Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit 17 8.2.3. Kein Verstoß gegen das wettbewerbsrechtliche Vorsorgeprinzip 17 8.2.4. Kein Verstoß gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot 18 9. Ausblick 18 9.1. Weitere Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 3 UrhG aus dem Schrifttum 18 9.2. Urheberrechtlicher Schutz von Tarifverträgen? 19 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 4 1. Fragestellung Der Sachstand informiert über die Entwicklung des deutschen Urheberrechts an privaten Normwerken und beleuchtet die Rolle des Deutschen Instituts für Normungen e.V. (DIN) in dem Entwicklungsprozess . Nach einem Überblick über die diesbezügliche Systematik des Urheberrechtsgesetztes (UrhG)1 wird anhand zweier höchstrichterlichen Entscheidungen die Rechtslage vor der Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG dargestellt – die Kardinalsnorm in Bezug auf das Urheberrecht an privaten Normwerken. Sodann zeigt der Sachstand die politischen Hintergründe der Einführung von § 5 Abs. 3 UrhG auf und skizziert den Ablauf Novellierungsverfahrens. Weiter werden die Auswirkungen der Gesetzesänderung auf die Rechtspraxis sowie die damit verbundene Kritik aufgezeigt. In diesem Zusammenhang wird auch eine Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg (HansOLG) zur Verfassungs- und Unionsrechtsmäßigkeit des § 5 Abs. 3 UrhG (in der gebotenen Kürze) aufgearbeitet. Abschließend wird ein Ausblick zur weiteren Entwicklung des Urheberrechts an privaten Normwerken gegeben, der insoweit in der Literatur bestehende verfassungsrechtliche Bedenken benennt . Kurz wird ferner die Frage des urheberrechtlichen Schutzes von Tarifverträgen aufgeworfen . 2. Überblick Die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst genießen für ihre Werke Schutz. Welche Werke davon im Einzelnen umfasst sein können, ist in § 2 UrhG geregelt: Das können beispielsweise Sprachwerke, Werke der Musik oder Filmwerke sein, aber auch Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art, wie Zeichnungen, Pläne, Karten, Skizzen, Tabellen und plastische Darstellungen. Amtliche Werke sind dagegen gem. § 5 Abs. 1 und 2 UrhG vom Urheberrecht ausgenommen. Darunter fallen etwa Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen oder Gerichtsentscheidungen . Neben amtlichen Normtexten gibt es jedoch auch private Normenwerke. Prominentestes Beispiel dafür sind die Normen des Deutschen Instituts für Normungen (DIN). Nach Angaben des Instituts entstünden Normen dort als Ergebnis der eingebrachten Expertise aus Wirtschaft und Forschung, von Verbraucherseite und der öffentlichen Hand; der Normungsprozess werde durch DIN als privatwirtschaftlich organisierter Projektmanager gesteuert. „Eine Norm ist ein Dokument, das Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren festlegt. Sie schafft somit Klarheit 1 Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 28. November 2018 (BGBl. I S. 2014) geändert worden ist; https://www.gesetze-im-internet.de/urhg/UrhG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 5 über deren Eigenschaften, erleichtert den freien Warenverkehr und fördert den Export. Sie unterstützt die Rationalisierung und Qualitätssicherung in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Verwaltung . Sie dient der Sicherheit von Menschen und Sachen sowie der Qualitätsverbesserung in allen Lebensbereichen. Der volkswirtschaftliche Nutzen beträgt rund 17 Milliarden Euro jährlich .“2 Ob private Normenwerke vom Urheberrecht umfasst sind, war zunächst lange Zeit umstritten. Die Frage ist vor allem dann bedeutsam, wenn amtliche Normtexte auf derartige private Normenwerke verweisen. Wollte man diese Frage bejahen, so ist die Konsequenz, dass dem Rechtsanwender , der auf die private Norm angewiesen ist, auf die amtlich Bezug genommen wird, die Möglichkeit der Kenntnisnahme in der Regel durch hohe Bezugskosten erschwert wird.3 Nachdem sowohl der Bundesgerichtshof (BGH) als auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) diesen Umstand monierten und private Normenwerke vom Urheberrecht ausnahmen, sofern auf sie in amtlichen Werken verwiesen wird, führte der Gesetzgeber dem Ausnahmetatbestand von § 5 UrhG eine Gegenausnahme in Abs. 3 hinzu. Die Norm lautet seit dem 13. September 2003 nunmehr: „§ 5 Amtliche Werke (1) Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen sowie Entscheidungen und amtlich verfaßte Leitsätze zu Entscheidungen genießen keinen urheberrechtlichen Schutz. (2) Das gleiche gilt für andere amtliche Werke, die im amtlichen Interesse zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht worden sind, mit der Einschränkung, daß die Bestimmungen über Änderungsverbot und Quellenangabe in § 62 Abs. 1 bis 3 und § 63 Abs. 1 und 2 entsprechend anzuwenden sind. (3) Das Urheberrecht an privaten Normwerken wird durch die Absätze 1 und 2 nicht berührt, wenn Gesetze, Verordnungen, Erlasse oder amtliche Bekanntmachungen auf sie verweisen, ohne ihren Wortlaut wiederzugeben. In diesem Fall ist der Urheber verpflichtet , jedem Verleger zu angemessenen Bedingungen ein Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung einzuräumen. Ist ein Dritter Inhaber des ausschließlichen Rechts zur Vervielfältigung und Verbreitung, so ist dieser zur Einräumung des Nutzungsrechts nach Satz 2 verpflichtet.“ 2 So die Eigendarstellung des DIN auf seiner Website: https://www.din.de/de/ueber-normen-und-standards/basiswissen (wie alle weiteren URL abgerufen am 17. November 2020). 3 Vgl. dazu aktuell Bettinghaus, DÖV 2020, 469. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 6 3. Ausnahme amtlicher Werke vom Urheberrechtsschutz (§ 5 Abs. 1 und 2 UrhG) Amtliche Werke sind zwar grundsätzlich Werke im Sinne des § 2 UrhG und würden daher – wie jedes andere Werk – Urheberrechtsschutz genießen. § 5 Abs. 1 und 2 UrhG stellen sich aber als Ausnahmeregelung vom grundsätzlich umfassenden urheberrechtlichen Schutz dar.4 Dem liegt die – schon im Vorgängergesetz5 zum Ausdruck gekommene – Erwägung zugrunde, „dass das öffentliche Interesse die möglichst weite Verbreitung solcher Werke erfordere, und dass die kraft ihres Amtes zur Schaffung solcher Werke berufenen Verfasser entweder überhaupt kein Interesse an der Verwertung ihrer Leistungen hätten oder ihre Interessen hinter denen der Allgemeinheit zurücktreten müssten.“6 Das öffentliche Informationsinteresse an Gesetzen, Verordnungen, amtlichen Erlassen und Bekanntmachungen usw. wiegt mit anderen Worten derart schwer, dass es den urheberrechtlichen Schutz gänzlich verdrängt.7 4. Rechtslage vor Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG Vor Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG kannte das deutsche Urheberrecht keine Gegenausnahmevorschrift für private Normenwerke. 4.1. DIN-Entscheidung des BGH Wegweisend für den urheberrechtliche Behandlung von privaten Normenwerken war die DIN- Entscheidung des BGH8. Dem Streit lag die Frage zugrunde, ob eine Verlagsgesellschaft DIN-Normen (obschon mit der Genehmigung des DIN) ohne die Zahlung einer Vergütung abdrucken darf, mit der Begründung, DIN-Normen seien als amtliche Werke im Sinne des § 5 Abs. 1 UrhG anzusehen . Hintergrund war, dass die von der Verlagsgesellschaft abgedruckten DIN-Normen zum Teil in verschiedenen Bundesländern aufgrund der jeweiligen Landesbauordnung „als technische Baubestimmung bauaufsichtlich eingeführt“ wurden. Dies geschah in der Form, dass in Amts- oder Ministerialblättern der Länder durch Erlass oder Bekanntmachung öffentlich bekannt gemacht wurde, welche DIN-Normen bauaufsichtlich eingeführt worden sind. Das konkrete Vorgehen der einzelnen Länder war dabei unterschiedlich: Zum Teil wurde die betreffende DIN- 4 Dreyer in: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch, Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 4. 5 Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst (LUG) vom 19. Juni 1901 (RGBl. 1901, S. 227), dort geregelt in §§ 16, 26. 6 So die im Regierungsentwurf formulierte Erwägung, BT-Drucks. IV/270, S. 39. 7 Götting in: Loewenheim (Hrsg.), Handbuch des Urheberrechts, 2. Auflage 2010, § 31 Rn. 1. 8 BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 7 Norm in den Amts- und Ministerialblättern neben der öffentlichen Bekanntmachung ihrer bauaufsichtlichen Einführung als Anlage abgedruckt. Teilweise wurde auf die DIN-Norm mit ihrer Norm-Nummer, dem Titel und dem Ausgabedatum lediglich verwiesen. Beachtenswert ist übrigens, dass das DIN den Ländern das Abdruckrecht zwar kostenlos vertraglich einräumte.9 Es hat sich nach seinem eigenen Vorbringen durch Verträge mit den einzelnen Bundesländern allerdings die Zahlung eines Entgelts dafür versprechen lassen, „Normen für den Bereich der Bauaufsicht zur Einführung als technische Baubestimmungen auszuarbeiten“ und „die Normen so zu erstellen, dass sie das Land ohne wesentliche Änderungen zur Einführung als technische Baubestimmungen übernehmen kann.“10 Der BGH stellte in der Entscheidung klar, dass „DIN-Normen […] selbst keine Gesetze, Rechtsverordnungen , amtliche Erlasse oder Bekanntmachungen im Sinne dieser Freistellungsbestimmung [sind]. Denn für die Annahme einer Rechtsnorm fehlt es an der notwendigen Allgemeinverbindlichkeit , für die eines amtlichen Erlasses oder einer Bekanntmachung an dem Erfordernis der Herkunft aus einem Amt.“ DIN-Normen seien deshalb grundsätzlich als private Normenwerke zu behandeln.11 Dem schloss sich die Frage an, ob nach der seinerzeit geltenden Rechtslage private Normenwerke dennoch vom Urheberrechtsschutz ausgenommen sind, sofern amtliche Normtexte auf derartige private Normenwerke – wie oben dargestellt – verweisen. Der BGH konstatierte, dass ein Bauwilliger, der sein Bauvorhaben entsprechend den durch die Runderlasse eingeführten DIN-Normen ausführen will, jedenfalls unter bauaufsichtlichen Gesichtspunkten einen Anspruch auf Baugenehmigung erlange. Die Bedeutung der eingeführten DIN-Normen habe sich somit nicht nur auf eine interne Bindungswirkung gegenüber nachgeordneten Behörden beschränkt, sondern es sei gleichermaßen eine Selbstbindung im Außenverhältnis eingetreten. Unbeachtlich war nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auch, dass zum Beispiel die Bauordnung des Landes Nordrhein-Westfalen unter Umständen auch Abweichungen von den allgemein anerkannten Regeln der Technik zuließ. Bei der Freistellung vom Urheberrechtsschutz komme es dem BGH zufolge nicht auf den zwingenden Charakter einer Norm an, schließlich seien auch Verwaltungsvorschriften von § 5 Abs. 1 UrhG umfasst, da diese zumindest für die Anwendung und Auslegung des geltenden Rechts von besonderer Bedeutung sein könnten . Die DIN-Normen seien somit Bestandteil der sie einführenden amtlichen Verlautbarungen geworden und der Verwaltung daher als eigene Willensäußerungen zuzurechnen.12 9 So die Sachverhaltsdarstellung bei BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 2 10 So etwa der zwischen DIN und dem Land Berlin geschlossene Vertrag vom 22.4.1977, zit. nach BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 16. 11 BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 14 unter Verweis auf Urteil vom 30. Juni 1983 – I ZR 129/81 – juris. 12 BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 29. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 8 Im Schrifttum wurde seinerzeit dagegen teils vertreten, die Einführung von DIN-Normen sei dem öffentlich-rechtlichen Normgeber nur dann als eigene Erklärung zuzurechnen, wenn die technischen Normen in den Wortlaut der amtlichen Verlautbarung selbst aufgenommen wurden und auf sie nicht nur durch Hinweis auf einen Abdruck im Anhang oder auf eine andere Fundstelle verwiesen wird. In der bloßen Bekanntgabe einer DIN-Norm als technische Baubestimmung trete eine Distanzierung des Amtes hervor. Indem zwischen Amtswerk und technischer Norm unterschieden werde, bringe das Amt zum Ausdruck, dass die technische Norm gerade nicht Bestandteil der amtlichen Verlautbarung sein solle.13 Diesen Argumenten trat der BGH aber nicht bei. Die Art und Weise der äußeren Einbeziehung der DIN-Normen in eine amtliche Verlautbarung sei letztlich nur eine Frage verwaltungstechnischer Zweckmäßigkeit. Sie gebe allein noch keinen hinreichenden Aufschluss darüber, ob die technischen Normen dem Amt in einer zur Urheberrechtsfreistellung führenden Weise zuzurechnen seien. Eine solche Zurechnung komme nicht nur bei der Inkorporation des Textes privater Normenwerke in Betracht, sondern auch in Fällen einer Bezugnahme, sofern dafür konkrete Umstände vorlägen.14 Der BGH wies darauf hin, dass es auch bei Rechtsnormen (Gesetzen und Verordnungen ) aus Gründen gesetzestechnischer Zweckmäßigkeit nicht unüblich sei, auf privat geschaffene überbetriebliche Normen zu verweisen15: so geschehen etwa bei § 35h StVZO16 oder § 7 BImSchG17. Die DIN-Normen als Konkretisierung der in den Landesbauordnungen enthaltenen Generalklausel der „allgemeinen Regeln der Technik (der Baukunst)“ erhalte jedenfalls im Verhältnis zu den Bauwilligen, die sich an die DIN-Normen halten, eine rechtssatzähnliche Bedeutung . Die Zurechnung des Inhalts der DIN-Normen als eigenverantwortliche Willensäußerung eines Trägers hoheitlicher Gewalt ergebe sich dabei aus der vom Gesetzgeber beabsichtigten und im Wortlaut der Landesbauordnungen zum Ausdruck kommenden Selbstbindung an die eingeführten DIN-Normen. Der Umstand, dass die DIN-Normen in den ministeriellen Erlassen und Bekanntmachungen teilweise abgeändert oder ergänzt worden seien, stehe dieser Annahme nicht entgegen, sondern stelle sogar ein zusätzliches Indiz für die Verantwortlichkeit des Amtes für den Inhalt der DIN-Normen in seiner unveränderten oder abgeänderten Fassung dar.18 13 Vgl. Nachweise bei BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 30. 14 BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 32. 15 BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 31 unter Verweis auf Urteil vom 30. Juni 1983 – I ZR 129/81 – juris. 16 Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 26. April 2012 (BGBl. I S. 679), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 26. November 2019 (BGBl. I S. 2015) geändert worden ist; https://www.gesetze-im-internet .de/stvzo_2012/BJNR067910012.html. 17 "Bundes-Immissionsschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2013 (BGBl. I S. 1274), das zuletzt durch Artikel 103 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist; https://www.gesetze-im-internet.de/bimschg/BImSchG.pdf. 18 BGH, Urteil vom 26. April 1990 – I ZR 79/88 – juris Rn. 32. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 9 4.2. Bundesverfassungsgericht: Keine Verletzung des Eigentums Das DIN erhob gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs Verfassungsbeschwerde. Es sah seine Rechte aus Art. 14 Abs. 1 Satz GG verletzt. § 5 Abs. 1 UrhG sei eine Ausnahmevorschrift für amtliche Werke, weil deren Verfasser dafür keinen Grundrechtsschutz genössen. Sie sei deshalb nach Auffassung des DIN eng auszulegen und einer erweiternden Interpretation oder einer analogen Anwendung nicht zugänglich. Durch die Anwendung von § 5 Abs. 1 UrhG werde der verfassungsrechtliche Schutz privater Werke in der Hand des Beschwerdeführers zunichte gemacht.19 Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde jedoch nicht zur Entscheidung an. Die Vorschrift in § 5 UrhG stelle dem Kammerbeschluss zufolge eine verfassungsmäßige Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar.20 Werke, die im amtlichen Interesse zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht werden, sollten keinen Urheberrechtsschutz genießen, damit eine möglichst weite Verbreitung gesichert ist. Das spiegele sich schon in dem verfassungsrechtlichen Grundsatz aus Art. 82 Abs. 1 GG wider, nach dem Gesetze und Verordnungen zu verkünden sind.21 Damit sollten sie der Öffentlichkeit in einer Weise zugänglich gemacht werden, dass die Betroffenen sich verlässlich Kenntnis von ihrem Inhalt verschaffen könnten. Diese Möglichkeit dürfe auch nicht in unzumutbarer Weise erschwert sein.22 Die Kammer verwies darauf, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für Verwaltungsvorschriften, die ein Gesetz in für die Verwaltung verbindlicher Form mit Bindungswirkung für den Bürger ergänzen, die Publikation gefordert werde, damit gewährleistet sei, dass die getroffene Regelung jedem, den es angeht, bekannt werden kann.23 Der Ausschluss von Privatwerken aus dem urheberrechtlichen Schutz sei mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG jedenfalls dann vereinbar, wenn – wie im zugrunde liegenden Fall – der Urheber dem Abdruck seines Privatwerkes in amtlichen Verlautbarungen zustimmt. Dass ein solches konsensuales Handeln, hier zwischen Amt und Privaten, zum Rechtsverlust führen könne, sei dem Urheberrecht schließlich nicht fremd, befand das Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf § 17 Abs. 2 UrhG.24 Das Urteil des BGH verletzte das DIN demzufolge nicht in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn es den Ausschluss des urheberrechtlichen Schutzes für Privatwerke annimmt, die mit Zustimmung des Urheber in amtlichen Verlautbarungen Verwendung finden. 19 Vgl. die Ausführungen des Beschwerdeführers bei BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 14. 20 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 23. 21 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 26. 22 So auch schon BVerfG, Beschluss vom 22. November 1983 – 2 BvL 25/81 – juris Rn. 36. 23 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 26 mit Verweis auf den Beschluss vom 28. Oktober 1975 – 2 BvR 883/73 – juris Rn. 39. 24 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 10 Ob das auch so läge, wenn Privatwerke ohne oder gegen den Willen des ursprünglichen Urhebers in amtlichen Werken erfolgt, hatte das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht zu entscheiden. Es ließ ausdrücklich offen, ob dem Urheber für solche Fälle Schadensersatz- oder Bereicherungsansprüche zustünden oder ob nicht gar ein Anspruch auf angemessene Vergütung zu regeln wäre.25 Das DIN rügte darüber hinaus einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil der BGH die Freistellungswirkung des § 5 Abs. 1 UrhG auch bei einer Bezugnahme (Verweisung) auf private technische Regelwerke bejahte, wenn konkrete Umstände eine Zurechnung zu dem verweisenden Amt erlauben.26 Dadurch gehe die verweisende Behörde nach Auffassung des DIN selbst davon aus, dass die Normen durch das DIN ausreichend verbreitet sind.27 Ziel der gesetzlichen Regelung sei dem BVerfG zufolge aber die Gemeinfreiheit. Jedermann solle die Kenntnisnahme ermöglicht werden. Das könne nur durch den Ausschluss des Urheberrechts erreicht werden. Die daraus resultierende Möglichkeit des freien Nachdrucks soll dieses Ziel fördern .28 Die umfangreiche Aufzählung amtlicher Werke in § 5 Abs. 1 UrhG zeige, dass es auf die Frage der Normativität oder Rechtssatzähnlichkeit nicht ankomme. Ziel der Regelung ist die Gemeinfreiheit für alle Äußerungen der Staatsgewalt.29 Auch unter teleologischer Betrachtungsweise sei die Auffassung des BGH, dass § 5 Abs. 1 UrhG auf amtlich eingeführte technische Bauvorschriften anzuwenden sei, „jedenfalls vertretbar“, entschied das BVerfG.30 Die Bauordnungen folgen der Regelungstechnik, die Sicherheitsanforderungen in einer Generalklausel zu beschreiben und zur Ausfüllung auf die allgemein anerkannten Regeln der Technik zu verweisen, was nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.31 Das schaffe für die Rechtspraxis Klarheit über die jeweils anzuwendenden technischen Regeln und ermögliche gleichzeitig eine Korrektur mit der Generalklausel nicht zu vereinbarenden Entwicklungen in der technischen Normung. Die amtlich eingeführten technischen Baubestimmungen würden mindestens als Beweislastregel zugunsten des sich auf 25 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 34. 26 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 35. 27 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 37 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 30. Juni 1983 – I ZR 129/81 – juris. 28 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 39. 29 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 41. 30 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 42. 31 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 42, mit Verweis auf Beschluss vom 08. August 1978 – 2 BvL 8/77 – juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 11 sie berufenden Bürgers wirken. Diese Rechtswirkung setze die Publizität der technischen Baubestimmungen voraus, was nach dem Normzweck die Anwendung des § 5 Abs. 1 UrhG rechtfertige .32 Gleichermaßen stehe die entschädigungslose Verwertungsbefugnis an DIN-Normen dem Verfassungsrecht nicht entgegen. Denn wenn amtliche Werke, wie in dem Fall, auf Fundstellen der jeweiligen DIN-Normen verweisen, setze das notwendigerweise voraus, dass die DIN-Normen zuvor bereits veröffentlicht wurden. Anders als bei amtlichen Regelungen, an denen niemals ein Urheberrecht entstehe, sei bei dem privaten Normenwerk ein Urheberrecht zunächst entstanden, das dann aber durch die Verweisung gem. § 5 Abs. 1 UrhG untergehe. Das sei nicht zu beanstanden , solange der private Urheber dem Abdruck seiner Werke zur amtlichen Einführung, wie hier, zugestimmt hat.33 5. Reaktion des Gesetzgebers In (obgleich reichlich später) Reaktion, auf die DIN-Entscheidung des BGH fügte der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 10. September 2003 dem § 5 UrhG den bekannten Abs. 3 hinzu34 und stellte damit den urheberrechtlichen Schutz für private Normungsgremien wieder her. 5.1. Gesetzesentwurf der Bundesregierung Zur Begründung führte die Bundesregierung in einem ersten Entwurf, der lediglich den Satz 1 des heute bekannten Abs. 3 vorsah, aus: „In solchen Fällen der Bezugnahme öffentlicher Normen oder Verlautbarungen auf private Regelwerke besteht aber ein berechtigtes Interesse der privaten geistigen Schöpfer solcher Normen, ihr Urheberrecht zu wahren und sich insbesondere aus dem Verkauf oder der Zugänglichmachung solcher Regelwerke zu finanzieren. Dem öffentlichen Interesse ist demgegenüber genügt, wenn die in Bezug genommenen Normen für jedermann problemlos zugänglich und gegen eine angemessene Vergütung auch zu erwerben sind (vgl. im Einzelnen Loewenheim, Amtliche Bezugnahmen auf private Normenwerke und § 5 Urheberrechtsgesetz , in Festschrift für Otto Sandrock, S. 609). Dies gilt allerdings nicht, soweit private Normwerke in amtliche Werke inkorporiert werden. Der Rechtsunterworfene soll hier nicht fortbestehenden Ausschließlichkeitsrechten an einem Teil der Gesetzesvorschriften ausgesetzt werden. Mit der Neuregelung soll dem berechtigten Interesse privater Gremien zur Normung Rechnung getragen und zugleich vermieden werden, dass durch die anderenfalls drohende 32 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 42. 33 BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 1143/90 – juris Rn. 43. 34 BGBl. I 2003 S. 1774. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 12 Einschränkung der Selbstfinanzierung solcher Gremien hohe staatliche Subventionen erforderlich werden oder eine Gefahr für die Tätigkeit dieser verdienstvollen Gremien entsteht . Im Regelfall werden nämlich Gesetze, Verordnungen, Erlasse oder amtliche Bekanntmachungen auf private Normwerke lediglich verweisen und damit der Urheberrechtsschutz erhalten bleiben.“35 5.2. Kritik von Bundesrat und der Bundestagsfraktion der CDU/CSU An dem Entwurf fiel zunächst auf, dass mit dem Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft originär die unionsrechtliche Richtlinie 2001/29/EG umgesetzt werden sollte. § 5 Abs. 3 UrhG hatte aber mit der Umsetzung der Richtlinie nichts zu tun. Vielmehr wurde der vorgelegte Entwurf ausweislich der Entwurfsbegründung „lediglich als Gelegenheit genutzt, die seit längerem notwendige Sicherung des urheberrechtlichen Schutzes für private Gremien der Normung, wie z. B. das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN), vorzunehmen.“36 Der Bundesrat kritisierte den Vorstoß durch diesen Entwurf als sachlich nicht gerechtfertigt und rief den Vermittlungsausschuss an. Dem vom BGH und BVerfG postulierten schützenswerten Interesse der Rechtsunterworfenen an einer möglichst ungehinderten Information über die durch staatliche Verweisung für sie geltenden DIN-Vorschriften würde durch die Ausdehnung des Urheberrechtsschutzes entgegengewirkt. Das Argument, die Neuregelung sei erforderlich, um eine finanzielle Gefährdung der privaten Gremien zur Normung abzuwehren, sei gleichermaßen nicht überzeugend. Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes seien immerhin 13 Jahre vergangen, ohne dass eine Gefährdung der Normungsgremien bekannt geworden sei.37 Im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags stellte zudem die Fraktion der CDU/CSU den Antrag , die geplante Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG zu streichen. Sie berief sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und kritisierte sodann, die geplante Regelung komme „nur dem Deutschen Institut für Normung e.V. (DIN) zugute, obwohl die eigentliche Arbeit ehrenamtlich von Mitarbeitern in den Normungsgremien geleistet wird. Diesen ehrenamtlichen Mitarbeitern werden sogar Erklärungen abverlangt, wonach sie auf alle aus ihrer Miturheberschaft erwachsenden Verwertungsrechte verzichten. Durch eine Vergütungspflicht würde das Preisniveau dieser Vorschriften erheblich steigen“38 35 BT-Drucksache 15/38 S. 16. 36 BT-Drucksache 15/38 S. 16. 37 Begründung des Bundesrates zur Anrufung des Vermittlungsausschusses, BT-Drucksache 15/1066 S. 1. 38 BT-Drucksache 15/837 S. 27. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 13 Auch das Vorbringen des DIN, es bestünde die Gefahr, etwa im Europäischen Komitee für Normung (CEN), der übergeordneten internationalen Vereinigung nicht länger Mitglied sein zu können , stufte die Fraktion der CDU/CSU als unbelegt ein. Vielmehr sei das DIN bereits seit vielen Jahren Mitglied, ohne dass es zu Konsequenzen gekommen wäre.39 5.3. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags Aufgrund der Ausschussempfehlung wurde § 5 Abs. 3 um die Sätze 2 und 3 ergänzt: „In diesem Fall ist der Urheber verpflichtet, jedem Verleger zu angemessenen Bedingungen ein Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung einzuräumen. Ist ein Dritter Inhaber des ausschließlichen Rechts zur Vervielfältigung und Verbreitung, so ist dieser zur Einräumung des Nutzungsrechts nach Satz 2 verpflichtet.“40 Der Zusatz beinhaltet nunmehr eine Zwangslizenz zugunsten von Verlegern.41 Damit solle nach der Begründung des Ausschusses sichergestellt werden, dass die Verbreitung privater Normenwerke , an denen nach § 5 Abs. 3 UrhG Urheberrechte bestehen, ungehindert möglich bleibt. Das Nutzungsrecht werde aufgrund der vorgeschlagenen Regelung vertraglich erworben. Im Streitfall sei die Angemessenheit der Bedingungen Gegenstand der richterlichen Festsetzung.42 Die Norm wurde letztlich so, wie vom Rechtsausschuss empfohlen, verabschiedet.43 6. Auswirkungen auf die Praxis § 5 Abs. 3 UrhG greift nur, soweit private Normen nicht wörtlich in Erlässe übernommen, sondern lediglich durch Verweisung integriert werden. Dagegen sind Normen, die im Volltext in den Gesetzestext aufgenommen wurden, weiterhin als Bestandteil des Gesetzes nach Absatz 1 frei von Urheberrechten. 39 BT-Drucksache 15/837 S. 27. 40 Vgl. BT-Drucksache 15/837 S. 4. 41 Der Wortlaut wurde an den § 42a UrhG angelehnt, der eine Zwangslizenz zur Herstellung von Tonträgern regelt. 42 BT-Drucksache 15/837 S. 33. 43 Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 10. September 2003, Artikel 1 Änderung des Urheberrechts, Abs. 1, 1. (BGBl. I S. 1774), https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzei - ger_BGBl&start=//*[@attr_id=%27bgbl103s1774.pdf%27]#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl103s 1774.pdf%27%5D__1605690591342. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 14 6.1. Zwangslizenz § 5 Abs. 3 UrhG benachteiligt im Gegensatz zur vorher geltenden Rechtslage vor allem die Verleger , die amtliche Werke verlegen. Sie benötigen nunmehr eine Lizenz des privaten Urhebers, auf dessen Werk die amtlichen Werke Bezug nehmen44; im Zweifel muss diese Lizenz eingeklagt werden, ein Verlagsrecht ipso iure sieht die Norm nicht vor45. Für die Verfasser privater Normwerke ist die Neuregelung insgesamt günstiger als § 5 UrhG a.F., sodass sie als solche auch keine Beeinträchtigung verfassungsrechtlich geschützter Eigentumspositionen von Norminstituten mit sich bringt.46 Durch die Sätze 2 und 3 sind die privaten Urheber (oder Dritte, die Inhaber des ausschließlichen Rechts zur Vervielfältigung und Verbreitung sind) allerdings nur verpflichtet, Verlegern ein Vervielfältigungs - und Verbreitungsrecht zu „angemessenen Bedingungen“ einzuräumen. Dagegen kommen andere Personen, z.B. ein bauwilliger Bürger, der sich über DIN-Normen informieren muss, die als technische Baubestimmung eingeführt wurden, nicht in den Genuss des § 5 Abs. 3 Sätze 2 und 3.47 Auch reine Online-Verleger sind ausgeschlossen. Von der Vorschrift wird nur der übliche Buchhandel gedeckt.48 Das wird teilweise als zu eng kritisiert: Es sei nicht mehr zeitgemäß, Normen der Öffentlichkeit nur in körperlicher Form zur Kenntnis zu bringen, weshalb gefordert wird, § 5 Abs. 3 Satz 2 um die „öffentliche Zugänglichmachung“ (§ 19a UrhG) zu erweitern.49 6.2. „Angemessene Bedingungen“ Als Ausgleich für die Zwangslizenz haben Urheber einen Anspruch auf eine angemessene Vergütung . Als Maßstab soll § 32 UrhG dienen.50 Die Verpflichtung zur Rechtseinräumung „zu angemessenen Bedingungen“ betrifft jedoch nicht allein die Höhe der Vergütung. Was genau darunter zu verstehen ist, haben im Streitfall die Gerichte zu entscheiden. Maßstab hierfür dürften die Bedingungen sein, zu denen ähnliche Werke auf vergleichbaren Märkten verwertet werden. Andererseits darf die faktische Monopolstellung des Urhebers nicht missbraucht werden, da ein möglichst freier Zugang zu den betreffenden Werken sichergestellt werden soll.51 44 Dreyer in: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch (Hrsg.), Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 63. 45 Dreyer in: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch (Hrsg.), Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 69. 46 Dreier in: Schulze/Dreier (Hrsg.), Urheberrechtsgesetz, 6. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 16. 47 Dreyer in: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch (Hrsg.), Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 63. 48 Dreyer in: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch (Hrsg.), Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 68. 49 BeckOK UrhR/Ahlberg, 28. Ed. 20.4.2018, § 5 UrhG Rn. 30; vgl. dazu auch HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris, das dem DIN aber einen Unterlassungsanspruch bzgl. der öffentlichen Zugänglichmachung zusprach. 50 BeckOK UrhR/Ahlberg, 28. Ed. 20.4.2018, § 5 UrhG Rn. 28. 51 Dreier in: Schulze/Dreier (Hrsg.), Urheberrechtsgesetz, 6. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 15 7. Öffentliche Kritik Schon gegen die geplante Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG formierte sich im Jahre 2002 Widerstand durch eine von einem Architekten initiierte Bewegung. Die „Initiative gegen die Direktgeltung privater Normen im Bauwesen“ (IDIN) wendete sich gegen den Umstand, dass fortan im Baubereich allgemeinverbindliche Normen zu Monopolpreisen von der Tochtergesellschaft des DIN, dem Beuth Verlag, erworben werden müssten. Neben der überraschenden Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG im Rahmen der Novellierung, die eigentlich der Richtlinienumsetzung dienen sollte, kritisierte die IDIN, dass, im Vergleich zur Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, die juristische Begründung zum (ersten) Gesetzentwurf nahezu substanzlos sei. Das Interesse des Bürgers, sich über Rechtssätze frei informieren zu können, müsse weit höher eingeschätzt werden als das Interesse privater Gremien, sich aus dem Verkauf von Rechtssätzen finanzieren zu wollen. Auch die vom Gesetzgeber angeführte vermeintliche wirtschaftliche Gefahr, die Normengremien ohne die Einführung von § 5 Abs. 3 UrhG drohe, wies die IDIN zurück. Eine Einschränkung der Selbstfinanzierung könne demnach zukünftig gar nicht drohen, da die Auswirkung des nicht existenten Urheberrechts an den für allgemein verbindlich erklärten Normen spätestens seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahre 1998, also seit mindestens vier Jahren, bestehe und eventuelle Auswirkungen auf die Finanzierungsstruktur dieser Gremien längst eingetreten seien. Mit Verweis auf vom DIN selbst veröffentlichten Zahlen zur Finanzierungsstruktur wies die IDIN darauf hin, dass die Gesamteinnahmen Gesamtausgaben überstiegen hätten, das Deutsche Institut für Normungen also nicht unwirtschaftlich tätig sei. Deshalb sei nicht nachvollziehbar , warum durch eine Gesetzesänderung weitere Einnahmequellen für private Normengremien wie dem DIN erschlossen werden müssten. Letztlich kritisierte die IDIN, dass gerade freiberufliche Anwender wie Architekten und Ingenieure , die künftig zum Erwerb der verbindlichen Normen gezwungen seien, finanziell erheblich belastet würden. Sie könnten diese Belastung insbesondere nicht am Markt weitergeben, da ihre Einnahmen durch das Preisrecht der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen gedeckelt seien.52 52 Vgl. zu alledem die Stellungnahme der IDIN vom 04. Oktober 2002 zum ersten Gesetzesentwurf der Bundesregierung , abrufbar unter https://www.urheberrecht.org/topic/Info-RiLi/st/Stellungn_IDIN.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 16 8. Hanseatisches Oberlandesgericht zur Verfassungs- und Unionsrechtsmäßigkeit des § 5 Abs. 3 UrhG In einer Entscheidung aus dem Jahr 2017 hatte sich das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg mit verfassungs- und unionsrechtlichen Einwänden gegen § 5 Abs. 3 UrhG auseinanderzusetzen . Aufgrund der Komplexität und des Umfangs dieses Rechtsstreits kann das Urteil hier allerdings nur auszugsweise skizziert werden. 8.1. Sachverhalt Das DIN klagt gegen eine Non-Profit-Organisation auf Unterlassung der öffentlichen Zugänglichmachung von DIN-EN Normen im Internet. Die Beklagte war dagegen der Ansicht, § 5 Abs. 3 UrhG sei als verbotenes Einzelfallgesetz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungswidrig . Ihrer Auffassung nach profitiere nur das DIN in nennenswertem Umfang von dieser gesetzlichen Regelung. Das Institut sei intensiv an deren Einführung beteiligt gewesen und habe eigenhändig dafür gesorgt, dass § 5 Abs. 3 UrhG überhaupt Gesetz geworden ist. Die Regelung schränke durch die einseitige Begünstigung des DIN unter Verstoß gegen das Publizitätsgebot alle anderen Rechtsunterworfenen in ihrem Recht auf freien Zugang zu allen für sie aufgrund gesetzlicher Anordnung anwendbaren gesetzlichen Regelungen, die nicht Gegenstand von Ausschließlichkeitsrechten sein dürften, ein. Der dem Gesetz unterworfene Bürger könne sich nicht frei über den Inhalt der für ihn geltenden Vorschriften unterrichten.53 Zudem finanziere sich das DIN im Wesentlichen aus direkten Finanzierungsbeiträgen des Staates und der Wirtschaft, könne also seine Normierungsarbeit vollständig aus Drittmitteln finanzieren. Deshalb sei die vom Gesetzgeber befürchtete Gefahr für die Finanzierung privater Normungsgremien unbegründet gewesen und hätte sich auch ohne die Vorschrift nicht realisiert.54 Darüber hinaus liege eine Verletzung der europäischen Grundrechte der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit vor. § 5 Abs. 3 UrhG schaffe ein faktisches Monopol auf die im öffentlichen Interesse geschaffenen technischen Normen und verstoße daher gegen das wettbewerbsrechtliche Vorsorgeprinzip (Art. 106 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 102 AEUV) sowie schließlich gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV.55 8.2. Entscheidung des Gerichts Die oben referierten verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken der Beklagten teilte das HansOLG jedoch nicht. 53 Vgl. die Sachverhaltsdarstellung bei HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 29. 54 Vgl. die Sachverhaltsdarstellung bei HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 30. 55 Vgl. die Sachverhaltsdarstellung bei HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 32. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 17 8.2.1. Kein Einzelfallgesetz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG Hinsichtlich der Auffassung, allein das DIN profitiere in nennenswertem Umfang von § 5 Abs. 3 UrhG, fehlte es dem Gericht an zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten. Auch wenn das DIN maßgeblich am Gesetzgebungsprozess beteiligt gewesen sei, begründe dies kein Einzelfallgesetz im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Organisationen wie VDE, DKE, VDI oder ISO würden gleichermaßen unter die Regelung fallen.56 Die Ausführungen zur Finanzierung der DIN seien darüber hinaus unbelegt.57 8.2.2. Keine Verletzung der europäischen Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit Für das Gericht war auch nicht erkennbar, aus welchen Gründen die europäische Warenverkehrs - und Dienstleistungsfreiheit verletzt sein sollte. Insbesondere liege keine Ungleichbehandlung von Inländern und EU-Ausländern vor, weil alle für den Bezug der DIN-Normen bezahlen müssten.58 8.2.3. Kein Verstoß gegen das wettbewerbsrechtliche Vorsorgeprinzip Der Annahme der Beklagten, § 5 Abs. 3 UrhG schaffe ein faktisches Monopol auf die im öffentlichen Interesse geschaffenen technischen Normen und verstoße gegen das wettbewerbsrechtliche Vorsorgeprinzip (Art. 106 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 102 AEUV), folgte das Gericht ebenfalls nicht. § 5 Abs. 3 UrhG schaffe selbst kein Monopol, sondern stelle lediglich klar, dass die in § 5 Abs. 1 UrhG geregelte Ausnahme vom Urheberrechtsschutz für private Normungen nicht uneingeschränkt gilt. Zwar sei davon auszugehen, dass das Urheberrecht an den streitigen DIN-EN-Normen und damit auch das daran bestehende Ausschließlichkeitsrecht wegen dieser DIN-Normen eine monopolartige Stellung schafft. Das DIN habe zwar eine marktbeherrschende Stellung inne. Diese Stellung nutze es indes nicht missbräuchlich aus, insbesondere nicht dadurch, dass es unangemessene Verkaufspreise erzwingt (Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV).59 Zum einen verwies das Gericht auf die Möglichkeit, die Normen kostenfrei bei einer der über 90 deutschlandweit verteilten Auslegestellen einzusehen.60 Zudem könne das Gericht auch im Übrigen nicht feststellen, dass die vom DIN für Vervielfältigungsstücke der DIN-Normen verlangten Entgelte unangemessen oder gar utopisch seien.61 56 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 180. 57 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 182. 58 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 184. 59 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 189. 60 Vgl. dazu DIN, Normen-Infopoints - Kostenfreie Einsicht in das gesamte Normenwerk; https://www.din.de/de/service-fuer-anwender/normen-infopoints. 61 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 189. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 18 Darüber hinaus lasse die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 (Europäische Normungsverordnung) erkennen, dass auch der europäische Verordnungsgeber wie selbstverständlich von einer Entgeltpflicht für die Überlassung der von den europäischen Normungsorganisationen (u.a. des CEN) entwickelten Normen ausgehe (Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 1 lit. e und f).62 8.2.4. Kein Verstoß gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot Ein Verstoß gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot nach Art. 107 Abs. 1 AEUV konnte das Gericht ebenfalls nicht feststellen. Durch § 5 Abs. 3 UrhG sei kein Urheberrecht (wieder)hergestellt worden, sondern es sei mit Blick auf die DIN-Entscheidung des BGH lediglich klargestellt worden, dass die Bereichsausnahme, die das Urheberrechtsgesetz in § 5 Abs. 1 für staatliche Normen vorgenommen hat, für private Normwerke auch dann nicht gelte, wenn auf sie in den in Abs. 1 und 2 genannten amtlichen Werken Bezug genommen wird. Ein Urheberrecht werde damit aber nicht geschaffen.63 9. Ausblick Nach dem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts verzichtete die Beklagte auf eine höchstrichterliche Klärung ihrer verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken. 9.1. Weitere Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 3 UrhG aus dem Schrifttum Die Verfassungsmäßigkeit von § 5 Abs. 3 UrhG wird aber auch von Stimmen im Schrifttum in Frage gestellt. Bettinghausen etwa kam jüngst zu dem Schluss: „Nach den bisherigen Feststellungen lässt sich im Ergebnis sagen, dass der Zugang zu privaten Normen gegenwärtig hinter den rechtsstaatlichen Anforderungen zurückbleibt. Durch die Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG kollidieren die Urheberinteressen mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Publizität von Normen. Der Urheberrechtschutz steht einer weiten Verbreitung insoweit entgegen. Wie bereits erläutert, finanziert sich das DIN primär durch den Verkauf der Normen und auch dem Staat ist daran gelegen, diese Einnahmequelle weiterhin aufrechtzuerhalten, um eine andernfalls notwendig werdende staatliche Subventionierung zu vermeiden. Dem Gesetzgeber ist es zwar durch die Schnelllebigkeit von Wissenschaft und Technik aufgrund fehlenden Sachverstands nicht möglich, sich diesem Wandel entsprechend zügig anzupassen. Doch darf nicht verkannt werden, dass, wenn es die privaten Normwerke nicht gäbe, es letztlich Aufgabe des Gesetzgebers wäre, entsprechende Regelungen zu schaffen. Private Normwerke, auf die der Gesetzgeber verweist, ergänzen bzw. füllen den Inhalt des geltenden Rechts aus und werden durch die Verweisung wie staatliches Recht verbindlich gemacht. Sie werden damit Teil der Rechtsordnung. Es erscheint daher geboten, (zumindest) diese Normwerke auch 62 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 190. 63 HansOLG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 U 220/15 Kart – juris Rn. 192. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 045/20 Seite 19 wie staatliches Recht jedermann zugänglich zu machen, ob durch eine kostenfreie Zurverfügungstellung im Internet oder aber auch durch die Möglichkeit, sich die Normen an den Auslegestellen zu kopieren.“64 9.2. Urheberrechtlicher Schutz von Tarifverträgen? Noch ungeklärt ist die Frage, welche Auswirkungen § 5 Abs. 3 UrhG auf ein etwaiges Urheberrecht an Tarifverträgen hat. Zwar entschied das Bundesarbeitsgericht bereits, dass es sich bei Tarifverträgen um materielle Gesetze handele, auf die § 5 Abs. 1 UrhG Anwendung finde. Tarifverträge stünden zudem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offen und seien deswegen von vornherein potenziell von allgemeiner Bedeutung.65 Dieser Meinung schließt sich die herrschende Literatur an.66 Die Entscheidung erging allerdings 1968, also weit vor Einführung des § 5 Abs. 3 UrhG. Nach der Gesetzesänderung von 2003 stellen sich dem nunmehr Stimmen in der Literatur entgegen . Ihnen zufolge bestehe kein rechtfertigender Grund, warum Tarifvertragsparteien schlechter gestellt werden sollten als private Normungsgremien. Mache sich der Staat den Sachverstand privater Normungsgremien zu Nutze, um ohne Aufwendung eigener Mittel technische Standards zu definieren, träten gleichermaßen auch die Tarifvertragsparteien an die Stelle des Staates, indem sie Rahmenwerte für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen setzen. Insoweit nutze der Staat genauso den Sachverstand und die Sachnähe der privaten Subjekte. § 5 Abs. 3 UrhG sei demzufolge zumindest analog auf Tarifverträge anwendbar.67 **** 64 Bettinghausen, DÖV 2020, 469, 475. 65 BAG, Urteil vom 11. November 1968 - 1 AZR 16/68 – NJW 1969, 861, 862. 66 ErfK/Franzen, 20. Aufl. 2020, § 3 TVG Rn. 29; Krois in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau (Hrsg.), Gesamtes Arbeitsrecht , 1. Aufl. 2016, § 3 TVG Rn. 98; Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 1 TVG Rn. 124 m.w.N. 67 Leydecker, GRUR 2007, 1030, 1032. Kritisch dazu aber: Dreyer in: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch (Hrsg.), Urheberrecht , 4. Aufl. 2018, § 5 UrhG Rn. 68; Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 1 TVG Rn. 125.