© 2017 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 - 044/17 Der Begriff der Ehe im Grundgesetz und anderen Verfassungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 2 Der Begriff der Ehe im Grundgesetz und anderen Verfassungen Aktenzeichen: WD 10 - 3000 - 044/17 Abschluss der Arbeit: 1. August 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Historische Entwicklung der Ehe in Deutschland 4 3. Der Ehebegriff im Grundgesetz 6 3.1. Definition 6 3.2. Art. 6 GG und gleichgeschlechtliche Eheleute 7 4. Der Ehebegriff in ausgewählten Verfassungen 7 5. Europäische Grundrechte und Europäische Menschenrechtskonvention 8 6. Verfassungsnormen im Wortlaut 9 7. Länder mit Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung 11 8. Weiterführende Literatur 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 4 1. Vorbemerkung Dieser Sachstand beinhaltet eine Darstellung des Ehebegriffs im Grundgesetz und im internationalen Kontext, insbesondere in anderen europäischen Verfassungen. Dabei wird die historische Entwicklung des Instituts der Ehe in Deutschland und der Stand um die Einführung der gleichgeschlechtliche Ehe international skizziert. 2. Historische Entwicklung der Ehe in Deutschland Der Prozess der Säkularisation der Ehe und des Eherechts – also der Trennung des Instituts der Ehe als christlich-kirchliches Sakrament einerseits und eines rechtlichen Vertrages zwischen den Eheleuten andererseits – beginnt in Europa und Deutschland seit der Zeit der Französischen Revolution . Hatte in Europa in einigen wenigen Staaten wie den Niederlanden bereits eine Form der staatlich geregelten Ehe bestanden, bedeuteten erst die Ergebnisse der Revolution in Frankreich den entscheidenden Entwicklungsschub für die Zivilehe. „Zivil“ ist dabei nicht etwa in Abgrenzung zum Militärischen zu verstehen, sondern meint die staatlich geregelte Ehe in Abgrenzung zur religiösen bzw. kirchlich vermittelten Ehe. Durch den napoleonischen Code Civil gelangte die Zivilehe zunächst in die Länder unter französischer Herrschaft. Während es den Einwohnern der französisch besetzten Rheinischen Provinzen zunächst auf Grund einer Sonderregelung vom 14. und 16. Januar 1794 möglich war, entweder kirchlich oder bürgerlich eine Ehe einzugehen (fakultative Zivilehe), wurden am 1. Mai 1798 die französischen Ehegesetze und damit die obligatorische Zivilehe per Dekret eingeführt. Fortan war die Eheschließung hier nur noch offiziell durch eine staatliche Instanz möglich. Die anschließende kirchliche Trauung verlieh der Ehe aber im Gegensatz zu vorher keine Gültigkeit mehr, wenngleich nur sehr selten einer bürgerlichen Ehe keine priesterliche Trauung nachfolgte.1 Während die Zivilehe in Deutschland zunächst nur in den Gegenden galt, in denen der Code Civil eingeführt war, entwickelten die deutschen Länder eine eigene Zivilgesetzgebung. Diese berücksichtigte dabei vor dem Hintergrund der föderalen Struktur des Deutschen Bundes die unterschiedlichen regionalen, oft konfessionsbegründeten Verhältnisse und Bedürfnisse, wodurch die Zivilehe in Deutschland fortan verschiedenste Erscheinungsarten aufwies. Die obligatorische Zivilehe wurde in Kurhessen etwa 1848 durch Gesetz und 1850 in Frankfurt am Main eingeführt. Das Eheschließungsgesetz von 1855 in Oldenburg eröffnete die Wahlmöglichkeit zwischen kirchlicher und staatlicher Eheschließung. Auch in Hamburg galt ab 1861 die fakultative Zivilehe. Das Herzogtum Anhalt-Dessau hingegen führte durch Gesetz vom 18. November 1851 die Notzivilehe ein. Diese ermöglichte es Personen, die nicht kirchlich getraut werden konnten, ihre Ehe gerichtliche einzugehen. Auch Württemberg führte im Jahre 1855 diese Eheschließungsform ein.2 Das Königreich Preußen hatte nach der Restauration zunächst das Ziel verfolgt, die Gültigkeit der Ehe von der kirchlichen Trauung abhängig zu machen, da nach Meinung seines Königs Friedrich 1 Fuhrmann, Inken: Die Diskussion über die Einführung der fakultativen Zivilehe in Deutschland und Österreich seit Mitte des 19. Jahrhundert (= Rechtshistorische Schriftenreihe, Bd. 177); Frankfurt am Main 1998; S. 39 f. 2 Ebenda, S. 40. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 5 Wilhelm III. die Zivilehe einen „entschieden nachtheiligen Einfluss auf die Religiosität und Sittlichkeit “ habe.3 Die Versuche die Zivilehe in den preußischen Rheinprovinzen wieder abzuschaffen , blieben jedoch erfolglos. Auch in Preußen entspann sich so spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Diskussion um die Form der Eheschließung. Diese Diskussion endete vor dem Hintergrund des Kulturkampfes zwischen dem (späteren) Reichskanzler Otto von Bismarck mit der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. am 1. Oktober 1874 mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe in Preußen. Verlauf und Ergebnis der Diskussion prägten die anschließend im 1871 gegründeten Deutschen Reich stattfindende Debatte um die Zivilehe. Das Reich führte die Zivilehe nach preußischem Vorbild am 1. Januar 1876 durch das Gesetz über die Eheschließung ein, womit deutschlandweit eine einheitliche Regelung getroffen war. Im Deutschen Reich konnte fortan eine gültige Ehe ausschließlich vor einem Standesbeamten geschlossen werden. Kirchliche Trauungen durften dem bürgerlichen Eheschluss nur nachfolgen, andernfalls drohte auch dem Geistlichen Strafe (Verbot der religiösen Voraustrauung). Ob sich die Eheleute kirchlich trauen ließen, oblag ausschließlich ihrer Entscheidung. Die kirchliche Trauung hatte somit keinerlei Auswirkungen mehr auf den staatlichen Rechtskreis.4 In der Zeit des Nationalsozialismus wurden für bestimmte Personengruppen diskriminierende Sonderregelungen geschaffen. Durch die „Nürnberger Rassegesetze“ waren seit 1935 Eheschließungen zwischen „Deutschblütigen“ und Juden untersagt. Unterschiedliche Bestimmungen galten für „jüdische Mischlinge“.5 Trotz der seit der Zeit des Zivilehe-Beschlusses von Zeit zu Zeit immer wieder aufkommenden Diskussionen über die Wiedereinführung der fakultativen Zivilehe, gilt die obligatorische Zivilehe in Deutschland bis heute. Das Verbot der religiösen Voraustrauung von 1876 wurde mit dem Inkrafttreten des Personenstandsrechtsreformgesetzes am 1. Januar 2009 abgeschafft, die kirchliche Trauung hat nun überhaupt keine zivilrechtliche Relevanz mehr und ist daher keinen staatlichen Beschränkungen mehr unterworfen.6 Die evangelische Kirche untersagt die kirchliche Eheschließung ohne vorherige standesamtliche Eheschließung, in der katholischen Kirche ist sie in Ausnahmefällen möglich.7 Am 30. Juni 2017 beschloss der Deutsche Bundestag die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe.8 Dadurch ist es nun auch Personen des gleichen Geschlechts möglich eine Ehe einzugehen; dies war bis dahin nur Paaren aus Mann und Frau möglich. Das Gesetz tritt am 1. Oktober 2017 3 Ebenda. 4 Ebenda, S. 41 ff. u. 60 ff. 5 Deutsches Historisches Museum: Die Nürnberger Gesetze; URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime /ausgrenzung-und-verfolgung/nuernberger-gesetze-1935.html (Zugriff (01.08.2017). 6 Der Spiegel: Heiraten bald ohne Standesamt erlaubt; URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/neueseherecht -heiraten-bald-ohne-standesamt-erlaubt-a-563582.html (Zugriff: 01.08.2017); 03.07.2008. 7 Theology.de: Kirchliche Trauung ohne Standesamt?; URL: http://www.theology.de/kirche/amtshandlungen /trauung/kirchlichetrauungohnestandesamt.php (Zugriff (01.08.2017). 8 Mit Annahme der Beschlussempfehlung auf BT-Drs. 18/12989 (PlPr. auf BT-Drs. 18/244); voller Titel: „Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 6 in Kraft und löst die bisherige gesetzliche Regelung der eingetragenen Partnerschaft vom 1. August 2001 ab. 3. Der Ehebegriff im Grundgesetz 3.1. Definition Das Grundgesetz (GG) verwendet den Begriff der Ehe in Art. 6 Abs. 1: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Darüber hinaus erläutert das Grundgesetz den Begriff der Ehe nicht. Im Jahr 1993 hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, „dass die Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG die Vereinigung von Mann und Frau zu einer Lebensgemeinschaft ist (vgl. BVerfGE 10, 59 [66]; 49, 286 [300]; 53, 224 [245]; 62, 323 [330]; 87, 234 [264]). Daraus folgt, dass aus dieser Grundrechtsnorm ein Recht auf Eingehung einer Ehe mit einem gleichgeschlechtlichen Partner nicht hergeleitet werden kann.“9 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Lebenspartnerschaftsgesetz aus dem Jahre 2002 bestätigt und festgestellt, „dass die Ehe als Form einer engen Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau eine personelle Exklusivität auszeichnet.“10 Dabei hat das Bundesverfassungsgericht auf Folgendes hingewiesen: „Das Grundgesetz gewährleistet das Institut der Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht (vgl. BVerfGE 31, 58 [82 f.]).“11 9 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 04.10.1993, 1 BvR 640/93, NJW 1993, 3058 – Hervorhebung durch Autor. 10 BVerfGE 105, 313 (345) – Hervorhebung durch Autor. 11 BVerfGE 105, 313 (345) – Hervorhebung durch Autor. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 7 3.2. Art. 6 GG und gleichgeschlechtliche Eheleute Es ist umstritten, ob der Gesetzgeber es durch einfaches Gesetz gleichgeschlechtlichen Partnern ermöglichen kann, eine Ehe einzugehen.12 Bislang hat das Bundesverfassungsgericht diese Frage nicht entschieden. Lediglich für das Institut der Lebenspartnerschaft hat es diese Frage im Jahr 2002 bejaht: „Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können.“13 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren mehrfach entschieden, dass Lebenspartner mit Eheleuten gleichzustellen sind (betriebliche Hinterbliebenenversorgung,14 Erbschaftsund Schenkungssteuer,15 Familienzuschlag,16 Grunderwerbssteuer,17 Ehegattensplitting18, Sukzessivadoption 19). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die Gleichstellung nicht aus dem Institut der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG), sondern aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG) hergeleitet. 4. Der Ehebegriff in ausgewählten Verfassungen Im internationalen Vergleich lassen sich sieben Modelle unterscheiden: I. Die Verfassung erwähnt das Institut der Ehe überhaupt nicht (z. B. Finnland, Taiwan, Tschechien). 12 Siehe hierzu ausführlich die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste WD 3 - 3000 - 208/15 vom 24.09.2015, Begriff der „Ehe“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG – Zur Zulässigkeit der „Öffnung“ der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare durch einfaches Gesetz. 13 BVerfGE 105, 313. 14 BVerfGE 124, 199. 15 BVerfGE 126, 400. 16 BVerfGE 131, 239. 17 BVerfGE 132, 179. 18 BVerfGE 133, 377. 19 BVerfGE 133, 59. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 8 II. Die Verfassung nutzt den Begriff der Ehe, ohne ihn näher zu definieren (z. B. Belgien, Estland, Italien, Zypern), oder nur bezüglich eines technischen Aspektes (Frankreich – eheliches Güterrecht). III. Die Verfassung nutzt den Begriff der Ehe, ohne ihn zwar näher zu definieren; allerdings liegt eine Entscheidung des Verfassungsgerichts vor, die den Begriff als offen für gleichgeschlechtliche Eheleute interpretiert (Portugal).20 IV. Die Verfassung definiert „Ehe“ ausdrücklich als Verbindung zwischen Mann und Frau (z. B. Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn; Kroatien21 und die Slowakei22 haben im Jahr 2014 einen entsprechenden Verfassungszusatz aufgenommen). V. Die Verfassung definiert „Ehe“ zwar ausdrücklich als Verbindung zwischen Mann und Frau; allerdings legt das Verfassungsgericht dies so aus, dass auch Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern zulässig sind (Spanien).23 VI. „Ehe“ schließt ausdrücklich gleichgeschlechtliche Verbindungen ein: Irland hat im Jahr 2015 einen entsprechenden Zusatz in die Verfassung aufgenommen.24 VII. Ausdrückliches Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen (z. B. Seychellen, Uganda, Zimbabwe). 5. Europäische Grundrechte und Europäische Menschenrechtskonvention Die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ (GRCh) besagt in ihrem Art. 9: 20 Urteil des portugiesischen Verfassungsgerichts vom 08.04.2010, Nr. 121/2010, in englischer Übersetzung abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.pt/tc/en/acordaos/20100121.html. 21 BBC, 02.12.2013, Croatians back same-sex marriage ban in referendum, http://www.bbc.com/news/world-europe -25172778. 22 Zeit-Online, 04.06.2014, Slowakei schreibt Hetero-Ehe in Verfassung fest, http://www.zeit.de/news/2014- 06/04/slowakei-slowakei-schreibt-hetero-ehe-in-verfassung-fest-04220604. 23 Aus dem Wortlaut „Mann und Frau“ in Art. 32 der Verfassung kann nicht „automatisch geschlossen werden, dass die heterosexuelle Ehe die einzig legitime Option ist, die die Verfassung vorsieht“, Urteil des spanischen Verfassungsgerichts vom 06.11.2012, STC 198/2012, in englischer Übersetzung abrufbar unter https://www.tribunalconstitucional .es/ResolucionesTraducidas/198-2012%20of%20November%206.pdf; siehe hierzu auch: Görisch, Einfach-gesetzliche , verfassungsrechtliche und rechtsvergleichende Perspektiven eines gewandelten Ehebegriffs, Der Staat 54 (2015), 591 (597), http://ejournals.duncker-humblot.de/doi/pdfplus/10.3790/staa.54.4.591. 24 Thirty-fourth Amendment of the Constitution (Marriage Equality) Bill 2015, https://www.oireachtas.ie/documents /bills28/bills/2015/515/b515d.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 9 „Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.“ Der Gesetzgeber der Charta hat bewusst eine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt, um gleichgeschlechtliche Ehen zu erfassen.25 Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) definiert in ihrem Art. 12 Abs. 1 das Recht auf Eheschließung wie folgt: „Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.“ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gleichwohl entschieden, dass Art. 12 EMRK auch auf gleichgeschlechtliche Eheleute Anwendung findet:26 „Unter Berücksichtigung von Art. 9 GRCh nimmt der Gerichtshof nicht länger an, dass das in Art. 12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf die Ehe zwischen zwei Partnern unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Deswegen ist Art. 12 EMRK auf die vorliegende Beschwerde anwendbar. Die Entscheidung aber, ob eine gleichgeschlechtliche Ehe zugelassen werden soll oder nicht, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Recht des Konventionsstaats überlassen.“ 6. Verfassungsnormen im Wortlaut Die folgenden Verfassungszitate entstammen inoffiziellen deutschen Übersetzungen aus öffentlich verfügbaren Quellen oder sind eigene deutsche Übersetzungen auf Basis der letzten englischen Übersetzung der Verfassung. Nicht alle Verfassungen folgen in der Originalsprache der hier verwandten Nummerierung nach Artikeln. Belgien Art. 21 Abs. 2: Die zivile Eheschließung muss stets der Einsegnung der Ehe vorangehen , vorbehaltlich der erforderlichenfalls durch Gesetz festzulegenden Ausnahmen. Bulgarien Art. 46 Abs. 1: Die Ehe ist ein freiwilliger Bund zwischen Frau und Mann. Estland Art. 27 Abs. 2: Die Ehepartner sind gleichberechtigt. Frankreich Art. 34: Gesetze sollen Bestimmungen enthalten zum […] ehelichen Güterrecht. Irland Art. 41 Abs. 2: Eine Hochzeit kann zwischen zwei Personen unbeachtlich ihres Geschlechts geschlossen werden im Einklang mit den Gesetzen. 25 Meyer/Bernsdorff, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 4. Aufl. 2014, Art. 9 Rn. 16. 26 EGMR, I. Sektion, Urteil vom 24.06.2010 − 30141/04 (Schalk u. Kopf/Österreich), deutsche Übersetzung in: NJW 2011, 1421. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 10 Italien Art. 29: Die Republik erkennt die Rechte der Familie als eine auf der Ehe begründete natürliche Gesellschaft an. Die Ehe beruht auf der moralischen und rechtlichen Gleichheit der Ehegatten innerhalb der gesetzlich festgelegten Grenzen, um die Einheit der Familie zu garantieren. Kroatien Art. 62 Abs. 2: Die Ehe ist eine lebendige Gemeinschaft zwischen Frauen und Männern. Lettland Art. 110: Der Staat schützt und unterstützt die Ehe – eine Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau –, die Familie, die Rechte der Eltern und die Rechte des Kindes. Litauen Art. 38 Abs. 2: Die Ehe wird durch freie Vereinbarung zwischen Mann und Frau geschlossen. Polen Art. 18: Die Ehe, eine Vereinigung von einem Mann und einer Frau, sowie die Familie, Mutterschaft und Elternschaft, stehen unter dem Schutz und der Fürsorge der Republik Polen. Portugal Art. 36 Abs. 1: Jedermann hat das Recht auf Gründung einer Familie und darauf, die Ehe auf der Grundlage vollständiger Gleichberechtigung einzugehen. Seychellen Art. 32 Abs. 2: Das […] Recht [auf Eheschließung] kann solchen Beschränkungen unterliegen, die gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind, einschließlich der Verhütung der Ehe zwischen Personen desselben Geschlechts oder Personen innerhalb bestimmter Verwandtschaften. Slowakei Art. 41 Abs. 1: Die Ehe ist eine einzigartige Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau. Die Slowakische Republik schützt und fördert die Ehe zu ihrem eigenen Wohlergehen. Spanien Art. 32 Abs. 1: Mann und Frau haben das Recht, bei voller rechtlicher Gleichstellung die Ehe zu schließen. Uganda Art. 31 Abs. 2a: Eine Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts ist verboten. Ungarn Art. L Abs. 1: Ungarn schützt die Institution der Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau – begründet durch freiwillige Entscheidung – und die Familie als Grundlage für das Überleben der Nation. Zimbabwe Art. 78. Abs. 3: Personen desselben Geschlechts ist es untersagt, sich gegenseitig zu heiraten. Zypern Art. 22 Abs. 1: Jede Person im ehemündigen Alter ist frei zu heiraten und eine Familie nach den Bestimmungen über die Ehe zu gründen, die für diese Person nach den Regelungen dieser Verfassung gilt. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 11 7. Länder mit Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung Ausgehend von den Niederlanden, als 2001 weltweit erstes Land, führten in den folgenden Jahren bis zum Zeitpunkt dieser Arbeit 24 Staaten die gleichgeschlechtliche Ehe ein. Zusätzlich zu den Ländern der u.s. Tabelle27 besteht für gleichgeschlechtliche Paare vor allem in Teilen Europas (u.a. Italien, Tschechien, Österreich, Griechenland) die Möglichkeit der eingetragenen Partnerschaft . Insbesondere in Europa, Lateinamerika und anderen westlich geprägten Regionen ist eine Vielzahl von Staaten aufgeschlossen, gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht auf Eheschließung zu ermöglichen. Es ist daher zu erwarten, dass die Anzahl dieser Länder zunehmen wird. In großen Teilen Ost- und Südosteuropas bestehen verfassungsmäßige Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen (u.a. Polen, Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Serbien). In zahlreichen vor allem islamisch geprägten Ländern Afrikas (u.a. Ägypten, Libyen, Algerien, Sudan), des Nahen Ostens (u.a. Libanon, Saudi-Arabien), des Mittleren Ostens (u.a. Iran, Afghanistan, Pakistan, Indien) und Teilen des Fernen Ostens (u.a. Myanmar, Malaysia, Indonesien) stehen gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe und werden teils mit dem Tode bestraft. Land in Kraft Beschluss Ausnahme 1 Niederlande 01.04.2001 21.12.2000 2 Belgien 01.06.2003 13.02.2003 3 Spanien 03.07.2005 01.07.2005 4 Kanada 20.07.2005 20.07.2005 5 Südafrika 30.11.2006 28.11.2006 6 Norwegen 01.01.2009 27.06.2008 7 Schweden 01.05.2009 01.04.2009 8 Portugal 05.06.2010 17.05.2010 9 Island 27.06.2010 11.06.2010 10 Argentinien 22.07.2010 21.07.2010 11 Dänemark 15.06.2012 12.06.2012 12 Brasilien 16.05.2013 14.05.2013 13 Frankreich 18.05.2013 17.05.2013 14 Uruguay 05.08.2013 03.05.2013 15 Neuseeland 19.08.2013 19.04.2013 außer Tokelau 16 Vereinigtes Königreich 13.03.2014 17.07.2013 außer in Nordirland, den Kronbesitzungen (mit Ausnahme Guernsey) und den Überseegebieten (mit Ausnahme Bermuda, Pitcairninseln und Falklandinseln) 17 Luxemburg 01.01.2015 04.07.2014 18 Mexiko 12.06.2015 12.06.2015 nicht in allen Bundesstaaten 19 Vereinigte Staaten 26.06.2015 26.06.2015 nicht in allen Bundesstaaten und nicht in Amerikanisch -Samoa 20 Irland 16.11.2015 29.10.2015 21 Kolumbien 07.04.2016 07.04.2016 22 Finnland 01.03.2017 12.12.2014 27 Wikipedia, Die freie Enzyklopädie; URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Gleichgeschlechtliche_Ehe (Zugriff: 01.08.2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 044/17 Seite 12 23 Deutschland 01.10.2017 30.06.2017 24 Malta 12.07.2017 8. Weiterführende Literatur Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare; Berlin 2015. Fuhrmann, Inken: Die Diskussion über die Einführung der fakultativen Zivilehe in Deutschland und Österreich seit Mitte des 19. Jahrhundert (= Rechtshistorische Schriftenreihe, Bd. 177); Frankfurt am Main 1998. Schirmer, Agatha: Die Begründung gleichgeschlechtlicher Elternschaft im materiellen und internationalen Privatrecht (= Studien zum Internationalen Privat- und Zivilprozessrecht sowie zum UN-Kaufrecht, Bd. 67); Hamburg 2016. ****