© 2021 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 - 030/21 Werbeverbote für alkoholische Getränke und Tabakwaren Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 2 Werbeverbote für alkoholische Getränke und Tabakwaren Aktenzeichen: WD 10 - 3000 - 030/21 Abschluss der Arbeit: 18. Juni 2021 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Übersicht über bereits bestehende Regelungen 4 2.1. Werbeverbote für alkoholische Getränke 4 2.2. Werbeverbote für Tabakwaren 6 3. Verfassungsrechtliche Ausführungen zu einem umfassenden Werbeverbot 8 3.1. Meinungsfreiheit 8 3.1.1. Rechtfertigungsmöglichkeiten (Schranken) 8 3.1.2. Rechtfertigungsvoraussetzungen (Schranken-Schranken) 9 3.1.2.1. Verhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für alkoholische Getränke 9 3.1.2.2. Verhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für Tabakwaren 11 3.2. Berufsfreiheit 12 4. EU-Warenverkehrsfreiheit 13 4.1. Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder Maßnahmen gleicher Wirkung 14 4.2. Keck-Formel 14 4.3. Rechtfertigung 15 4.3.1. Rechtfertigungsgründe 15 4.3.2. Verhältnismäßigkeit 15 5. Zusammenfassung 16 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 4 1. Vorbemerkung Mit der Zielsetzung des Schutzes der Gesundheit insbesondere von Jugendlichen wurde in vielen Ländern die Werbung für den Konsum von alkoholischen Getränken1 und von Tabakwaren eingeschränkt . Im Folgenden wird ein Überblick über die Regelungen in Deutschland und auf EU- Ebene gegeben sowie verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit derartigen Werbeverboten erörtert. 2. Übersicht über bereits bestehende Regelungen Nach den derzeitigen Regelungen, die die Werbung für alkoholische Getränke und Tabakwaren einschränken, muss Werbung für derartige Produkte bestimmte Mindeststandards insbesondere mit Hinblick auf den Jugendschutz erfüllen. 2.1. Werbeverbote für alkoholische Getränke Nach § 6 Abs. 5 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag2 darf sich Werbung für alkoholische Getränke weder an Kinder oder Jugendliche richten, noch durch die Art der Darstellung Kinder und Jugendliche besonders ansprechen oder diese beim Alkoholgenuss darstellen. Auch Art. 9 Abs. 1 lit. e) RL 2010/13/EU3 verbietet, Werbung (audiovisuelle kommerzielle Kommunikation ) für alkoholische Getränke speziell an Minderjährige zu richten oder Werbung, die den Genuss alkoholischer Getränke fördert. Art. 9 Abs. 1 lit. c) iii) RL 2010/13/EU verbietet zusätzlich Werbung, die gesundheitsgefährdende Maßnahmen fördern könnten. Für Fernsehwerbung und Teleshopping für alkoholische Getränke legt die RL 2010/13/EU in Art. 22 zudem fest „a) sie dürfen nicht speziell an Minderjährige gerichtet sein und insbesondere nicht Minderjährige beim Alkoholgenuss darstellen; 1 Zur Thematik eines umfassenden Werbeverbots für alkoholhaltige Getränke vgl. auch Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke, WD 10 002/21, 02.03.2021, https://www.bundestag.de/resource/blob/840012/d518ec24e66f2ece527ff92fb10c85ff/WD-10-002-21-pdfdata .pdf (Diese sowie sämtliche in dieser Ausarbeitung aufgeführten URL wurden zuletzt aufgerufen am 06.06.2021). 2 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) vom 13.09.2002 (GVBl. 2003 S. 147, BayRS 02-21-S), zuletzt geändert durch Art. 5 des Abkommens vom 03.12.2015 (GVBl. 2016 S. 52) m.W.v. 07.11.2020; https://www.gesetzebayern .de/Content/Document/JMStV. 3 Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10.03.2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste); . https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010L0013&from=DE. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 5 b) es darf keinerlei Verbindung zwischen einer Verbesserung der physischen Leistung und Alkoholgenuss oder dem Führen von Kraftfahrzeugen und Alkoholgenuss hergestellt werden ; c) es darf nicht der Eindruck erweckt werden, Alkoholgenuss fördere sozialen oder sexuellen Erfolg; d) sie dürfen nicht eine therapeutische, stimulierende, beruhigende oder konfliktlösende Wirkung von Alkohol suggerieren; e) Unmäßigkeit im Genuss alkoholischer Getränke darf nicht gefördert oder Enthaltsamkeit oder Mäßigung nicht negativ dargestellt werden; f) die Höhe des Alkoholgehalts von Getränken darf nicht als positive Eigenschaft hervorgehoben werden.“ Ein Verkaufsverbot für alkoholische Getränke an Jugendliche findet sich in § 9 Jugendschutzgesetz 4 (JuSchG), wobei umstritten ist, ob das Verbot auch für das Internet und hierüber getätigte Bestellungen gilt.5 § 8 Abs. 10 Medienstaatsvertrag6 (MStV) bestimmt, dass die Werbung für alkoholische Getränke nicht den übermäßigen Konsum ebendieser fördern darf und schützt damit nicht nur Jugendliche . Die Verhaltensregeln des Deutschen Werberats über die kommerzielle Kommunikation für alkoholhaltige Getränke7 enthalten zusätzlich umfassende Regelungen zur Werbung für alkoholische Getränke. Verstöße gegen diese Regelungen werden im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens vom Werberat bearbeitet, was idR zur Rücknahme der beanstandeten Werbung führt.8 4 Jugendschutzgesetz vom 23.07.2002 (BGBl. I S. 2730), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.10.2020 (BGBl. I S. 2229) m.W.v. 01.01.2021. 5 Boemke in Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 53. EL August 2020, Teil 11, Rn. 117. 6 Medienstaatsvertrag (MStV) vom 23.04.2020 (beispielhaft für Bayern gedruckt unter GVBl. S. 450, 451, BayRS 02-33-S) m.W.v. 07.11.2020. 7 Deutscher Werberat, Verhaltensregeln über die kommerzielle Kommunikation für alkoholhaltige Getränke (Fassung von April 2009). 8 Boemke in Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 53. EL August 2020, Teil 11, Rn. 119. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 6 2.2. Werbeverbote für Tabakwaren Werbeverbote für Tabakwaren sind umfassend geregelt: Das Tabakerzeugnisgesetz (TabakerzG) vom 4. April 20169 beinhaltet umfassende Werbeverbote für Tabakwaren. Werbung wird in § 2 Nr. 5 TabakerzG definiert als „jede Art kommerzieller Kommunikation mit dem Ziel oder mit der direkten oder indirekten Wirkung, den Verkauf eines Erzeugnisses zu fördern“. Die Verbote umfassen das Werben für Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten oder Nachfüllbehälter in Hörfunk10, Fernsehen und Sendungen11, in der Presse oder anderen gedruckten Veröffentlichungen, die nicht ausschließlich an Personen aus der Tabakbranche gerichtet sind oder außerhalb der EU gedruckt worden und nicht hauptsächlich an EU-Bürger gerichtet sind12, in Diensten der Informationsgesellschaft13 und die Außenwerbung mit Ausnahme der Außen- und Fensterflächen des Tabakfachhandels14. Darüber hinaus wird das Sponsoring durch die Tabakbranche mit grenzüberschreitender Wirkung15, von Hörfunkprogrammen16 und Fernsehsendungen sowie Produktplatzierung und Teleshopping17 verboten. Schließlich verbietet § 20b TabakerzG die kostenlose Abgabe und die Ausspielung von Tabakwaren und verwandten Erzeugnissen. Noch erlaubte Tabakwerbemaßnahmen sind demnach: Kinowerbung vor Spielfilmen, die keine Jugendfreigabe haben, Werbung in gedruckten Veröffentlichungen, die sich an Tabakwarenhändler richten, Werbung in gedruckten Veröffentlichungen, die nicht in der EU produziert werden und sich nicht gezielt an EU-Bürger richten und Werbung in unmittelbarer Nähe der Verkaufsstellen für Tabakwaren. Zusätzlich sind die erlaubten Aussagen der noch zulässigen Werbung durch § 21 TabakerzG eingeschränkt .18 Hiernach dürfen etwa keine gesunden Eigenschaften mit dem Konsum von Tabak in 9 Tabakerzeugnisgesetz (TabakerzG) vom 04.04.2016 (BGBl. I S. 569), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 19.11.2020 (BGBl. I S. 2456); https://www.gesetze-im-internet.de/tabakerzg/BJNR056910016.html. 10 § 19 Abs. 1 TabakerzG. 11 § 20 TabakerzG. 12 § 19 Abs. 2 TabakerzG. 13 § 19 Abs. 3 TabakerzG. 14 § 20a TabakerzG. 15 § 19 Abs. 5 TabakerzG. 16 § 19 Abs. 4 TabakerzG. 17 § 20 TabakerzG. 18 Vgl. Zipfel/Rathke in Horst, LebensmittelR, 178. EL November 2020, TabakerzG, § 21 Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 7 Verbindung gebracht werden19 oder der Tabakkonsum von Jugendlichen potentiell gefördert werden 20. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft wird nach § 21 Abs. 2 TabakerzG dazu ermächtigt, durch Rechtsverordnung weitere werbeeinschränkende Maßnahmen zu erlassen , die der Durchsetzung der Verbote des § 21 Abs. 1 TabakerzG dienen.21 Bei Verstößen gegen die Verbote der §§ 19-20 TabakerzG können gemäß § 35 Abs. 4 TabakerzG Geldbußen bis zu 30.000 Euro verhängt werden. Ein Verstoß gegen die Werbemodalitäten des § 21 TabakerzG können danach mit einer Geldbuße von bis zu 10.000 Euro geahndet werden. Die Regelungen des TabakerzG implementieren die Vorgaben der EU-Richtlinie zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen (RL 2003/33/EG) des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 (Tabakwerberichtlinie)22. § 10 JuSchG regelt ein Abgabe- und Verkaufsverbot von Tabakwaren und ihre elektronischen Alternativen an Kinder und Jugendliche. In § 11 Abs. 6 JuSchG wird ein Werbeverbot in Filmen, die nicht ausschließlich für Volljährige freigegeben sind, geregelt. Nach Art. 9 Abs. 1 lit d) RL 2010/13/EU ist „jede Form der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation für Zigaretten und andere Tabakerzeugnisse […] untersagt.“ Damit bezweckt dieses Werbeverbot nicht ausschließlich den Jugendschutz, sondern den allgemeinen Gesundheitsschutz auch für Erwachsene. Nach Art. 10 Abs. 3 RL 2010/13/EU dürfen audiovisuelle Mediendienste oder Sendungen nicht von Tabakwarenherstellern oder -verkäufern gesponsert werden. Art. 11 Abs. 4 lit a) RL 2010/13/EU verbietet die Produktplatzierung von Tabakwaren in Sendungen . Auch hier ist Art. 9 Abs. 1 lit. c) iii) RL 2010/13/EU einschlägig, in dem verboten wird Werbung , die gesundheitsgefährdende Maßnahmen fördern könnte, zu senden. 19 § 21 Abs. 1 Nr. 1 und 4 TabakerzG. 20 § 21 Abs. 1 Nr. 2 (und 3) TabakerzG. 21 § 21 Abs. 2 TabakerzG. 22 Richtlinie 2003/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen ; https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003L0033&from=EN. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 8 3. Verfassungsrechtliche Ausführungen zu einem umfassenden Werbeverbot Die Einführung eines weitreichenderen Werbeverbots für Tabakwaren und für alkoholische Getränke , das über die bereits bestehenden Regelungen hinausgeht, könnte gegen Grundrechte der Hersteller und Verkäufer von Tabakwaren sowie von alkoholischen Getränken verstoßen. 3.1. Meinungsfreiheit Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz23 (GG) erfasst das Äußern und Verbreiten von Meinungen, das heißt von wertenden Stellungnahmen. Darunter fallen auch „kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat.“24 Somit sind solche Werbungen durch die Meinungsfreiheit geschützt , die Werturteile enthalten. Das heißt auf der anderen Seite, dass solche Werbung, die kein Werturteil enthält, nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt ist.25 Folglich fallen nur einige Arten der Werbung unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Ein Eingriff in die so geschützte Werbung liegt vor, wenn durch ein Werbeverbot für Tabakwaren oder alkoholische Getränke eine entsprechende Meinungskundgabe nicht mehr möglich ist. 3.1.1. Rechtfertigungsmöglichkeiten (Schranken) Die Meinungsfreiheit findet aber nach Art. 5 Abs. 2 GG „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Ein Gesetz, das ein umfassendes Verbot der Werbung für Tabakwaren und alkoholische Getränke konstituieren würde, würde nicht nur den Jugend- und Ehrschutz betreffen, sondern vielmehr darüber hinausgehen. Es bleibt daher nur eine Einschränkung anhand eines allgemeinen Gesetzes. Allgemeine Gesetze sind solche, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, sondern die dem Schutz eines umfassenden Rechtsgutes dienen und zufällig nur durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit erfüllt werden können.26 23 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.09.2020 (BGBl. I S. 2048) m.W.v. 08.10.2020 bzw. 01.01.2021. 24 BVerfG, Urteil vom 12.12.2000 - 1 BvR 1762/95 u. 1787/95 – „Benetton-Schockwerbung“, Rn. 40, juris. 25 Vgl. Huster, Stefan, Der praktische Fall - Öffentliches Recht und Europarecht: Das nationale Alkoholwerbeverbot , JuS 2002, 262, 264. 26 Vgl. Bethge in Sachs, GG Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 5, Rn. 143. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 9 3.1.2. Rechtfertigungsvoraussetzungen (Schranken-Schranken) Ein Gesetz, dass das Bewerben von alkoholischen Getränken und Tabakwaren grundsätzlich verbieten würde, müsste also einem von der Meinungsäußerung unabhängigen umfassenden Rechtsgut dienen. Bei dem Genuss von alkoholischen Getränken und Tabakwaren kann es neben körperlichen Schäden auch zu psychischen Schäden wie der Abhängigkeit kommen. Ein Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren wäre nicht allein gegen eine Meinung in Form der kommerziellen Anpreisung dieser Genussmittel als solche gerichtet, sondern hätte zunächst den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und den Jugendschutz als Ziel. Damit würde ein solches Gesetz ein allgemeines im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG darstellen. Ein Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren, das über die bereits bestehenden Verbotsregelungen hinausgeht, müsste auch verhältnismäßig, das heißt geeignet, erforderlich und angemessen sein. 3.1.2.1. Verhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für alkoholische Getränke Bei einem Werbeverbot für alkoholische Getränke kommt vor allem der Gesundheitsschutz als Zweck in Betracht. Unter der Annahme, dass bei einem Ausbleiben jeglicher Werbung für alkoholische Getränke sich ein übermäßiger Konsum und damit eine schädliche Wirkung dieser Getränke verringerten, würde sich ein positiver Effekt für den Gesundheitsschutz ergeben. Werbung beeinflusse nicht nur die Markenwahl, sondern auch die Gesamtnachfrage am entsprechenden Produkt.27 Als milderes Mittel kämen Aufklärung und Warnhinweise zur schädlichen Wirkung eines übermäßigen Konsums alkoholhaltiger Getränke in Betracht, wie sie bereits im Zusammenhang mit Tabakprodukten verwendet werden. Allerdings sind nur solche Maßnahmen als mildere Mittel in Betracht zu ziehen, die gleichsam effektiv sind, wie die angestrebte Maßnahme selbst. Es wird erwartet, dass mit Warnhinweisen versehene Werbung für alkoholhaltige Getränke weniger Menschen vom übermäßigen und gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum abbringen wird als das Unterlassen von Werbung. Man könnte auch über ein Werbeverbot nachdenken, welches nur Spirituosen mit einem Alkoholgehalt von über 15 Volumenprozent betrifft. Auch hier ist aber zu bedenken , dass ein solches Verbot vermutlich nicht gleichermaßen wirkt und nicht gleich geeignet ist wie ein umfassend geltendes, zumal auch der übermäßige Konsum von Bier und Wein also von alkoholhaltigen Getränken mit einem Alkoholgehalt von unter 15 Volumenprozent gesundheitsschädlich sein kann. Mithin dürfte es kein milderes Mittel mit gleicher Wirkung geben. Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke müsste angemessen sein. Hier ist eine Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (hier: in Form der Werbung) und den Interessen erforderlich, die mit den allgemeinen Gesetzen verfolgt werden (hier: der Gesundheitsschutz ), wobei der Wert der Meinungsfreiheit angemessen zu berücksichtigen ist. Es ist zunächst zu beachten, dass ein Werbeverbot an sich noch gar nicht zu einem geringeren übermäßigen und gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum führen kann, sondern erst die hiermit angestrebte Reaktion der Zielgruppe. Mithin handelt es sich hier um eine Maßnahme, die erst mit dem Eintreten 27 Siekmann, Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Verbots der Werbung für Tabakprodukte, DÖV 2003, S. 657, 661. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 10 einer erwünschten Verhaltensänderung ihr Ziel erreichen kann. Der protektionistische Charakter des Werbeverbots spricht der Zielgruppe zu einem gewissen Teil die Eigenverantwortung ab. Insbesondere bei einem Eingriff in die Meinungsfreiheit muss gewährleistet sein, dass nicht von vornherein jeglicher individueller Willensbildungsprozess verhindert wird. Bei dem bereits eingeführten weitreichenden Tabakwerbeverbot28 wird zwar ebenfalls ein protektionistischer Ansatz verfolgt. Im Vergleich zu Tabakkonsum soll übermäßiger Alkoholkonsum aber weniger Suchtkrankheiten , Todesfälle und frühere Tode verursachen.29 Das Bundesverfassungsgericht führte in einem Beschluss zu Warnhinweisen für Tabakerzeugnisse hierzu sogar aus: „Das Rauchen tötet mehr Menschen als Verkehrsunfälle, Aids, Alkohol, illegale Drogen, Morde und Selbstmorde zusammen […]“30 Mithin fällt die Beurteilung des Gesundheitsschutzes gegenüber der Meinungsfreiheit weniger stark ins Gewicht als bei den Überlegungen zu einem Tabakwerbeverbot. Bei alkoholhaltigen Getränken handelt es sich darüber hinaus um - zwar mit Altersbeschränkung aber ansonsten – frei erwerbliche Produkte, die man in jedem Supermarkt erwerben kann. Dieser Umstand spricht dafür, dass keine derart konkrete Gefahr von ihnen ausgehen kann, als dass eine Beschränkung der Erwerblichkeit erforderlich wäre. Denn hier spielt wie in vielen anderen Dingen das Maß die entscheidende Rolle. Es entscheidet über positive bis hin zu äußerst negativen Wirkungen. Auch dieser Umstand spricht für die Unangemessenheit eines umfassenden Werbeverbotes , das auch volljährige Menschen betreffen würde. Etwas anderes gilt sicherlich mit Hinblick auf den Jugendschutz. Der bereits sehr umfassende Regelkatalog betreffend Werbung für alkoholhaltige Getränke im Rahmen des Jugendschutzes, könnte gegebenenfalls noch weiter ausgeführt werden. Im Ergebnis ist ein umfassendes Werbeverbot für Werturteile enthaltende Werbung nicht gerechtfertigt .31 Werbung, die keine Werturteile enthält, ist vom Schutz der Meinungsfreiheit nicht erfasst . 28 „Verboten ist Tabakwerbung bereits in der Presse und in anderen gedruckten Veröffentlichungen, ebenso im Internet, im Hörfunk und Fernsehen. […] Die geänderten Vorgaben für Kinowerbung sowie ein Verbot von Gratisproben außerhalb von Fachgeschäften – etwa bei Musikfestivals und Tabakprodukten - und als Gewinne bei Preisausschreiben – soll schon zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Die Verbote für Außenwerbung wie auf Plakatwänden oder Haltestellen für herkömmliche Tabakprodukte sollen ab dem 1. Januar 2022 gelten. Ab dem 1. Januar 2023 gilt das Werbeverbot dann auch für sogenannte Tabakerhitzer und ab dem 1. Januar 2024 für elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter.“ Die Bundesregierung, Tabakwerbung wird weitestgehend verboten, 29.10.2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/tabakwerbeverbot-1766070. 29 Vgl. IFT Institut für Therapieforschung, Epidemiologische Suchtsurvey (ESA), Erhebung 2018, Geschätzte Prävalenzen des Tabak- und Alkoholkonsums sowie von Hypnotika/Sedativa nahmen im zeitlichen Verlauf ab, https://www.esa-survey.de/. 30 BVerfG, Beschluss vom 22.01.1997 - 2 BvR 1915/91 – „Warnhinweise für Tabakerzeugnisse“ Rn. 55, juris unter Verweis auf Martina Pötschke-Langer, Bericht über die IX. Weltkonferenz über Tabak und Gesundheit vom 10. bis 14. Oktober 1994 in Paris, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung – ZaeF – 89 [1995], S. 537 f. 31 Mit Hinblick auf die Angemessenheit des Tabakwerbeverbots, kann man hier sehr wohl auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Siehe z. B. die Argumentation bezüglich der Angemessenheit des Tabakwerbeverbots bei Siekmann, Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Verbots der Werbung für Tabakprodukte, DÖV 2003, S. 657, 662. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 11 3.1.2.2. Verhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für Tabakwaren Ein Werbeverbot für Tabakwaren bezweckt wie ein Verbot der Werbung für alkoholische Getränke den Gesundheitsschutz. In Betracht kommende mildere Mittel, wie Warnhinweise auf die potentiell gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Tabakkonsum oder weitreichende Einschränkungen der Werbemöglichkeiten. Diese sind bereits mit dem TabakerzG umgesetzt worden . Es ist zwar zu bedenken, dass ein Tabakwerbeverbot allein nicht automatisch zu einem geringeren Tabakkonsum führt. Allerdings ist davon auszugehen, dass bei dem Ausbleiben von Werbung weniger Anreize geschaffen werden, Tabakprodukte zu konsumieren. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Ausführungen zu der Verhältnismäßigkeit eines Werbeverbots für alkoholhaltige Getränke zu verweisen. Von einem Rückgang des Tabakkonsums bei einem Werbeverbot für Tabakwaren wird nach bisherigen Erkenntnissen ausgegangen.32 Bei einer Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der Werbenden und dem Gesundheitsschutz ist hervorzuheben, dass Tabakkonsum extrem schädlich ist und bereits bei einem geringen Konsum weit über die Risiken des Alkoholkonsums hinausgeht. Es gelte als „nach heutigem medizinischem Kenntnisstand gesichert, daß Rauchen Krebs sowie Herz- und Gefäßkrankheiten verursacht , damit zu tödlichen Krankheiten führt und auch die Gesundheit der nicht rauchenden Mitmenschen gefährde[].“33 Im Vergleich zu einem absoluten Erwerbs- und Verkaufsverbot, welches für andere Suchtmittel gilt, stellt ein Werbeverbot außerdem ein milderes Mittel dar. Im Zusammenhang mit dem Jugendschutz, der für einige der bisherigen Werbebeschränkungen als Zweck genannt worden ist, ist zu beachten, dass bei der zulässigen Werbung im Tabakfachhandel die Wahrnehmbarkeit durch Jugendliche nicht ausgeschlossen ist. Es macht für sie auch keinen Unterschied, ob sie Tabakwerbung an einem regulären Außenplakat wahrnehmen (was bereits verboten ist) oder an der Außenwand bzw. im Schaufenster eines Geschäfts (was hingegen noch erlaubt ist). Zusätzlich haben auch Jugendliche Zutritt zu Tabakverkaufsstellen wie zum Beispiel Kioske, in denen Tabakwerbung gezeigt werden darf. Daher wäre eine Ausweitung des Tabakwerbeverbot in räumlichem Zusammenhang mit Verkaufsstellen für Tabakwaren angemessen . Ein anderer Anknüpfungspunkt könnte die Werbung in Kinos sein. Dabei geht es um die Einschränkung der Kinowerbung auch für Erwachsene. Vor dem Hintergrund des Jugendschutzes ist 32 Vgl. Siekmann, Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Verbots der Werbung für Tabakprodukte, DÖV 2003, S. 657, 661. 33 BVerfG, Beschluss vom 22.01.1997 - 2 BvR 1915/91 – „Warnhinweise für Tabakerzeugnisse“ Rn. 56, juris unter Verweis auf D. Hoffmann und E.  L. Wynder, in: Marquardt/Schäfer [Hrsg.], Lehrbuch der Toxikologie, 1994,  S.  589 f.  Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 12 Kinowerbung vor Spielfilmen zulässig, die von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK)34 ohne Jugendfreigabe gespielt werden dürfen. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben keinen Zutritt zu solchen Vorstellungen.35 Man könnte hier aber mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes , der schließlich auch für Erwachsene gilt, argumentieren, dass diese Werbung ebenfalls eingeschränkt werden müsse. Gegen eine derartige Ausweitung der Werbebeschränkungen sprechen jedoch die Mündigkeit der erwachsenen Bürger und die an sich freie Erwerblichkeit von Tabakwaren. Andererseits sprechen die großen Gesundheitsrisiken und das hohe Suchtpotential , das vom in Tabakwaren enthaltenen Nikotin ausgeht, sowie die Fürsorgepflicht des Staates dafür, auch hier einschränkende Regeln zu schaffen. Zwar fangen die wenigsten Erwachsenen nach Überschreitung der Volljährigkeit mit dem Rauchen an.36 Dennoch kann die Werbung sie zum Rauchen ermutigen und gegebenenfalls den Konsum sogar erhöhen. Wenn zudem rauchende Erwachsene als Vorbilder für Kinder und Jugendliche fungieren,37 würde eine Ausweitung der Beschränkung von Kinowerbung auch dem Jugendschutz dienen. Was eine Ausweitung der Beschränkungen auch in Bezug auf Werbung für den Fachhandel angeht , erscheint aber ein umfassendes Werbeverbot für Tabakwaren unangemessen: Solche Werbung , die nur in Fachzeitschriften gedruckt wird, die an Personen gerichtet sind, die im Tabakgewerbe arbeiten, erreicht damit Personen, die ohnehin ständig von Tabakwaren umgeben sind.38 Im Ergebnis erscheint ein vollumfängliches Tabakwerbeverbot unangemessen, während eine Ausweitung der Einschränkungen zum Jugendschutz durchaus angemessen erscheint. 3.2. Berufsfreiheit Werbung für alkoholische Getränke und Tabak könnten allerdings durch die Berufsfreiheit der Produzenten und Verkäufer derartiger Produkte geschützt sein. Art. 12 Abs. 1 GG konstituiert das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit. Es enthält die Stufen der Berufsausbildung, der Berufs - und Arbeitsplatzwahl und der Berufsausübung.39 Zur Berufsausübung gehört auch die Art und Weise, für seine Produkte zu werben. Würde ein Gesetz die Werbung für sämtliche alkoholhaltigen Getränke und Tabakwaren verbieten, läge mithin ein Eingriff auf der Stufe der Berufsausübungsfreiheit vor. 34 Vgl. FSK, Über uns, https://www.fsk.de/?seitid=473&tid=473. 35 Cineplex Gruppe, FSK 18, https://www.cineplex.de/infos/fsk/. 36 So liegt das Einstiegsalter bei durchschnittlich 14,8 Jahren: rauchfrei, Raucherquote bei Kindern und Jugendlichen , https://www.rauchfrei-info.de/informieren/verbreitung-des-rauchens/raucherquote-bei-kindern-jugendlichen /. 37 Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, rauchfrei, Raucherquote bei Kindern und Jugendlichen, https://www.rauchfrei-info.de/informieren/verbreitung-des-rauchens/raucherquote-bei-kindern-jugendlichen/. 38 Vgl. Boch, Thomas, TabakerzG, 2019, § 19 Rn. 12. 39 Scholz in Maunz/Dürig, GG Kommentar, 92. EL August 2020, GG Art. 12, Rn. 25. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 13 Auch wenn Werberegelungen oder Werbeverbote grundsätzlich zur Stufe der Berufsausübungsfreiheit zu zählen sind und bereits zugunsten vernünftiger Erwägungen des Gemeinwohls eingeschränkt werden können, würde ein umfassendes Werbeverbot für eine gesamte Produktgattung sehr einschneidend wirken. Viele Produzenten könnten bei einem wirksamen umfassenden Werbeverbot betroffen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass es aufgrund eines umfassenden Werbeverbots zu Nachfrageausfällen und Betriebsschließungen kommt. Das würde möglicherweise die Berufswahl beeinträchtigen. Damit würde ein umfassendes Werbeverbot ausnahmsweise nicht nur die erste Stufe der Berufsausübungsfreiheit, sondern bereits die Stufe der Berufswahl betreffen . Für den legitimen Zweck, die Geeignetheit und die Erforderlichkeit eines umfassenden Werbeverbotes für Tabakwaren und alkoholische Getränke gilt das oben bereits zur Meinungsfreiheit ausgeführte. Für die Angemessenheit gelten im Rahmen der Berufsfreiheit aber Besonderheiten. Die Freiheit der Berufswahl kann nach der sogenannten Stufentheorie, die vom Bundesverfassungsgericht im Apotheken-Urteil40 entwickelt wurde, „nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger <"überragender"> Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert.“41 Der Gesundheitsschutz und der Jugendschutz sind solche überragenden Gemeinschaftsgüter. Es ist aber nicht abschließend geklärt, ob die aktuelle Lage, eine solch einschneidende Maßnahme wie die in Rede stehenden umfassenden Werbeverbote auch „zwingend“ erfordert. Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren wäre danach unangemessen . 4. EU-Warenverkehrsfreiheit Neben den verfassungsrechtlichen Bestimmungen gibt es auf der EU-Ebene Regeln, die die Diskriminierung zwischen EU-Staaten verhindern sollen. Durch ein nationales umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke und Tabakwaren könnten die Produzenten derartiger Erzeugnisse aus anderen EU-Mitgliedsstaaten gegenüber deutschen, bereits bekannten Unternehmen benachteiligt werden. 40 BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 – 1 BvR 596/56 – „Apotheken-Urteil“ juris. 41 BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 – 1 BvR 596/56 – „Apotheken-Urteil“ Rn. 74, juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 14 4.1. Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder Maßnahmen gleicher Wirkung Art. 34 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union42 (AEUV) verbietet sämtliche „mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung […] zwischen den Mitgliedstaaten“ der Europäischen Union (EU). Ein umfassendes Werbeverbot für Tabakwaren und alkoholhaltige Getränke stellt keine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung dar. Allerdings könnte sie eine Maßnahme gleicher Wirkung sein. Nach der sogenannten Dassonville-Formel43 des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) liegt eine Maßnahme gleicher Wirkung vor, wenn sie geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern. Bei einem umfassenden Werbeverbot für Tabakwaren und alkoholhaltige Getränke würde es den Produzenten und Verkäufern erschwert, ihre Produkte bekannt zu machen und damit würde es ihnen auch potentiell erschwert, sie zu vertreiben. Das gilt insbesondere für solche Produzenten, die ein ausländisches Produkt in einem EU-Mitgliedsstaat bewerben möchten, das dort bislang noch unbekannt ist. Somit würde ein umfassendes Werbeverbot eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 34 AEUV darstellen. 4.2. Keck-Formel Der EuGH hat in der Keck-Entscheidung44 den durch die Dassonville-Formel sehr weiten Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit wieder eingeschränkt, indem es Verkaufsmodalitäten vom Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit ausgenommen hat, „sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“45 Nationale Regelungen über Werbemöglichkeiten zu bestimmten Produkten betreffen nicht die Waren selbst (sog. produktbezogene Regelungen46), sondern hängen viel mehr mit der Art und Weise des Vertriebs zusammen. Bei Werbeverboten handelt es sich damit um Verkaufsmodalitäten .47 Diese sind nach der Keck-Formel vom Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit auszunehmen , sofern sie für inländische und ausländische Produkte gleichermaßen gelten und auch in gleicher Weise berühren. 42 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Fassung aufgrund des am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 090.5.2008, S. 47, zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. EU L 112/21 vom 24.04.2012) m.W.v. 01.07.2013. 43 EuGH, Urteil vom 11.07.1974 - C-8/74 – „Dassonville“, Rn. 5, juris. 44 EuGH, Urteil vom 24.11.1993 – C-267/91 – „Keck“, juris. 45 EuGH, Urteil vom 24.11.1993 – C-267/91 – „Keck“, Rn. 16, juris. 46 Leible/T. Streinz in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, AEUV Art. 34, Rn. 79. 47 Vgl. auch Leible in MüKo UWG, 2. Auflage 2014, UWG § 7 Rn. 100. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 15 Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren in Deutschland würde sowohl inländische als auch ausländische Produkte betreffen. Es könnte allerdings die ausländischen Produkte im Ergebnis härter treffen als die inländischen. Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland hergestellte Genussmittel auch in Deutschland einen höheren Bekanntheitsgrad haben als solche aus dem Ausland und daher grundsätzlich weniger beworben werden müssen. Eine entsprechende Entscheidung hat der EuGH bereits 1994 in einem Fall getroffen, bei dem es um die Zulässigkeit eines nationalen Werbeverbotes in Deutschland für ausländische, nicht in Deutschland zugelassene Medizinprodukte ging.48 Dort bejahte er die tatsächliche Diskriminierung ausländischer Produkte (hier: Medizin) dadurch, dass die Regelung potentiellen Konsumenten (hier: Apothekern und Apothekerinnen sowie Ärzten und Ärztinnen) „eine Quelle der Information über die Existenz und die Verfügbarkeit solcher Arzneimittel“ entzöge.49 Mithin dürfte ein inländisches umfassendes Werbeverbot ausländische Produzenten von Tabakwaren und alkoholischen Getränken stärker betreffen als inländische Produzenten. Damit wäre auch nach der Einschränkung durch die Keck-Formel eine Maßnahme gleicher Wirkung (Art. 34 AEUV) gegeben . 4.3. Rechtfertigung Es könnte aber ein Rechtfertigungsgrund für die Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung vorliegen. 4.3.1. Rechtfertigungsgründe Es könnte ein Rechtfertigungsgrund im Sinne des Art. 36 S. 1 AEUV vorliegen. Danach sind Einfuhrbeschränkungen zulässig, sofern sie dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen dienen. Wie bereits ausgeführt, ist übermäßiger Konsum alkoholhaltiger Getränke und bereits jeder Konsum von Tabakwaren sowie sogenanntes Passivrauchen gesundheitsschädlich. Insbesondere in Deutschland, wo im internationalen Vergleich der Pro-Kopf-Verbrauch von Reinalkohol hoch ist, könnte ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke den Konsum derartiger Getränke gegebenenfalls eindämmen und damit zum Gesundheitsschutz der betroffenen Bevölkerungsgruppen beitragen. Nach Art. 36 S. 2 AEUV gelten die Ausnahmen des Art. 36 S. 1 AEUV nur dann, wenn durch die Maßnahme weder eine willkürliche Diskriminierung stattfindet noch eine verschleierte Handelsbeschränkung bewirkt wird. Da die Einführung eines umfassenden Werbeverbotes für Tabakwaren und alkoholhaltige Getränke für alle Marktteilnehmer ob in- oder ausländisch, gleichermaßen gelten würde, können willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Handelsbeschränkung ausgeschlossen werden. 4.3.2. Verhältnismäßigkeit Darüber hinaus müsste ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren verhältnismäßig sein. Wie gesehen, soll ein derartiges Werbeverbot insbesondere dem Gesundheitsschutz und Jugendschutz dienen. Bei einem umfassenden Werbeverbot würde der Zugang 48 EuGH, Urteil vom 10.11.1994 – C-320/93 – „Ortscheid“, juris. 49 EuGH, Urteil vom 10.11.1994 – C-320/93 – „Ortscheid“, Rn. 10, juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 16 zu alkoholhaltigen Getränken und Tabakwaren zwar nicht eingeschränkt, aber ein Konsumrückgang wäre wohl zu erwarten, der dem Gesundheitsschutz dienen könnte. Im Rahmen des Gesundheitsschutzes wird eine Maßnahme aber nur dann als nicht gerechtfertigt angesehen, wenn sie offensichtlich ungeeignet ist.50 Bei einem umfassenden Werbeverbot besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass es zu weniger übermäßigen und gesundheitsschädlichen Konsum von alkoholhaltigen Getränken und Tabakwaren bestimmter Bevölkerungsgruppen kommt, daher kann ihm keine generelle Ungeeignetheit unterstellt werden. Erforderlich wäre ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren nur dann, wenn keine milderen Mittel mit gleicher Geeignetheit zur Verfügung stünden. In Betracht kommen hier vor allem Aufklärungskampagnen und Warnungen vor möglichen Gesundheitsschäden innerhalb der Werbung selbst sowie Beschränkungen der Ausstrahlung der Werbung in zeitlicher und geografischer Hinsicht. So könnte Werbung für alkoholische Getränke auf Orte wie Kioske oder Medien beschränkt werden, zu denen Minderjährige keinen Zugang haben oder im Fall von Kinofilmen, die für Jugendliche nicht freigegeben sind, so wie es für die Tabakwerbung bereits geregelt wurde. Zeitgleich könnte insbesondere Werbung auf Werbeflächen bei sportlichen Großveranstaltungen verboten werden. Derartige teilweise schon existierende Werbebeschränkungen richten sich hauptsächlich auf die Zielgruppe Jugendliche. Erwachsene wären von solchen zusätzlichen Schutzmaßnahmen weniger betroffen. Sollen auch diese vor übermäßigem Konsum alkoholischer Getränke und Tabakwaren und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken geschützt werden, wäre ein umfassendes Werbeverbot erforderlich, sofern sie zu der Bevölkerungsgruppe zählen, die die betroffenen Genussmittel übermäßig konsumieren und nicht über die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken im Bilde sind. Darüber hinaus gelten für die Erforderlichkeit eines umfassenden Werbeverbots für alkoholische Getränke und Tabakwaren bzw. der Verfügbarkeit von milderen Mitteln die Ausführungen zur Meinungsfreiheit in Gliederungspunkt 3.1 dieses Sachstandes. Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke und Tabakwaren wäre dann verhältnismäßig und würde nicht gegen die Warenverkehrsfreiheit verstoßen 5. Zusammenfassung Es gibt weitreichende Werbeverbote für alkoholische Getränke und Tabakwaren. Dies ist zum einen insbesondere im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der EU-Richtlinie 2010/13/EU vom 10.03.2010, dem Medienstaatsvertrag, dem Jugendschutzgesetz und zum anderen im Tabakerzeugnisgesetz geregelt, mit dem die Vorgaben der EU-Richtlinie 2003/33/EG vom 26. Mai 2003 umgesetzt wurden. Außerdem gibt es spezifische Verhaltensregeln des Deutschen Werberats. Ein weitergehendes umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke und für Tabakwaren würde gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit verstoßen. Darüber hinaus darf auch solche Werbung, die Werturteile enthält und daher von der Meinungsfreiheit geschützt ist, nicht im Wege eines Werbeverbots eingeschränkt werden. Sofern der individuelle übermäßige Konsum alkoholischer Getränke und Tabakwaren verringert und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken auch 50 Leible/T. Streinz in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, AEUV Art. 34, Rn. 124. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 030/21 Seite 17 tatsächlich gesenkt werden, erscheint im Rahmen der EU-rechtlich geregelten Warenverkehrsfreiheit ein umfassendes Werbeverbot für diese Erzeugnisse vor dem Hintergrund des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt und damit verfassungsrechtlich zulässig zu sein. Bei diesem Ergebnis ist hervorzuheben, dass es sich wesentlich auf Annahmen menschlichen Verhaltens stützt, was das Konsumverhalten des Verbrauchers betrifft, das von zahlreichen endogenen und exogenen Faktoren , von sich ändernden Rahmenbedingungen beeinflusst wird und nicht sicher vorausgesagt werden kann. ****