© 2021 Deutscher Bundestag WD 10 – 3000 – 027/20 Chancengleichheit der im Bundestag vertretenen politischen Parteien bei Einladungen zu politischen Gesprächssendungen im öffentlichrechtlichen Rundfunk Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 2 Chancengleichheit der im Bundestag vertretenen politischen Parteien bei Einladungen zu politischen Gesprächssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Aktenzeichen: WD 10 – 3000 – 027/20 Abschluss der Arbeit: 11. November 2020 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk 4 2.1. Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks 4 2.2. Verfassungsrechtlicher Hintergrund 4 2.2.1. Rundfunkfreiheit als Grundrecht 4 2.2.2. Staatsferne und inhaltliche Ausgewogenheit des Rundfunks 5 2.2.3. Rundfunk als Faktor der öffentlichen Meinungsbildung 5 2.2.4. Tendenzen von Rundfunkprogrammen 5 3. Exkurs: private Rundfunkveranstalter 7 4. Grundsatz: Prinzip der abgestuften Chancengleichheit politischer Parteien 8 5. Auswahl der Teilnehmer nach sachgerechten Erwägungen 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Dieser Sachstand stellt das verfassungsrechtliche Spannungsfeld zwischen dem Recht politischer Parteien auf Gleichbehandlung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 iVm Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG)1 einerseits und der in Art. 5 Abs. 1 S. 2, 2. Alt. GG verankerten Freiheit des Rundfunks, Inhalt und Gestaltung des Programms selbst nach publizistischen Kriterien auszurichten, andererseits dar. 2. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk 2.1. Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks § 11 des Staatsvertrags für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag - RStV)2 definiert den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollen danach durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung wirken. Dadurch sollen sie die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllen. Dabei müssen Sie die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote berücksichtigen. 2.2. Verfassungsrechtlicher Hintergrund 2.2.1. Rundfunkfreiheit als Grundrecht Art. 5 GG garantiert nicht nur das individuelle Grundrecht des Bürgers gegen den Staat auf ungehinderte Meinungsäußerung, sondern gewährleistet durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG auch die „institutionelle Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung“3. Dem steht nach Art. 5 Abs. 1 S. 2, 2. Alt. GG „die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film" gleich. Die institutionelle Freiheit ist „für den Rundfunk als einem neben der Presse stehenden, mindestens gleich bedeutsamen, unentbehrlichen modernen 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15. November 2019 (BGBl. I S. 1546) geändert worden ist. Abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html. Zuletzt abgerufen – wie alle URL in diesem Sachstand – am 11. November 2020. 2 Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag - RStV) vom 31. August 1991 in der Fassung des Zweiundzwanzigsten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Zweiundzwanzigster Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Kraft seit 1. Mai 2019. Abrufbar unter: https://medienanstalt-mv.de/media/law/8/attachment.pdf. 3 BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1959 – 1 BvL 118/53 –, juris Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 5 Massenkommunikationsmittel und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung“4 nicht weniger wichtig. 2.2.2. Staatsferne und inhaltliche Ausgewogenheit des Rundfunks Rundfunk muss staatsfern sein. Aus Art. 5 GG folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, „daß dieses moderne Instrument der Meinungsbildung weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird. Die Veranstalter von Rundfunkdarbietungen müssen also so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und daß für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten.“5 2.2.3. Rundfunk als Faktor der öffentlichen Meinungsbildung Schon in dem ersten Rundfunkurteil vom 28. Februar 1961 betonte das Bundesverfassungsgericht, dass der Rundfunk mehr als ein „bloßes Medium der öffentlichen Meinungsbildung“ sei. Das Gericht sah den Rundfunk vielmehr als einen „eminenten Faktor der öffentlichen Meinungsbildung“6. 2.2.4. Tendenzen von Rundfunkprogrammen Das Bundesverfassungsgericht billigt Rundfunkprogrammen „eine gewisse Tendenz“ zu. Dies betrifft insbesondere die Entscheidung darüber, „was nicht gesendet werden soll, was die Hörer nicht zu interessieren braucht, was ohne Schaden für die öffentliche Meinungsbildung vernachlässigt werden kann, und wie das Gesendete geformt und gesagt werden soll.“7 2.3. Anforderungen an die Rundfunkgesetze der Länder Die Rundfunkgesetze der Länder müssen die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung oder Einflussnahme gewährleisten. Die individuelle und öffentliche Meinungsbildung durch den Rundfunk verlangt – s.o. - zunächst die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung und Einflussnahme. Insoweit hat die 4 BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 – 2 BvG 1/60 – Deutschland-Fernsehen - erstes Rundfunkurteil –, juris Rn. 183. 5 BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 – 2 BvG 1/60 – Deutschland-Fernsehen - erstes Rundfunkurteil –, juris Rn. 186. 6 BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 – 2 BvG 1/60 – Deutschland-Fernsehen - erstes Rundfunkurteil –, juris Rn. 183. 7 BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 – 2 BvG 1/60 – Deutschland-Fernsehen - erstes Rundfunkurteil –, juris Rn. 183. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 6 Rundfunkfreiheit, wie die klassischen Freiheitsrechte, abwehrende Bedeutung.8 Dies gilt auch für den privaten Rundfunk.9 Der Gesetzgeber trägt die Verantwortung dafür, „daß ein Gesamtangebot besteht, in dem die für die freiheitliche Demokratie konstitutive Meinungsvielfalt zur Darstellung gelangt. Es muß der Gefahr begegnet werden, daß auf Verbreitung angelegte Meinungen von der öffentlichen Meinungsbildung ausgeschlossen werden und Meinungsträger, die sich im Besitz von Sendefrequenzen und Finanzmitteln befinden, an der öffentlichen Meinungsbildung vorherrschend mitwirken.“10 Dazu bedarf es „einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und daß auf diese Weise umfassende Information geboten wird. Um dies zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will.“11 Dabei bleibt es dem Landesgesetzgeber überlassen, wie er dieses Ziel erreicht. Dies bedeutet konkret, dass die Landesgesetze vorsehen müssen: verbindliche Leitgrundsätze, die ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten, eine begrenzte Staatsaufsicht, die ausschließlich die Einhaltung der zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit ergangenen Bestimmungen überwacht, Regelungen des Zugangs zu der Veranstaltung von privaten Rundfunksendungen und 8 BVerfG, Urteil vom 16. Juni 1981 – 1 BvL 89/78 – Privatrundfunk Saarland/FRAG – drittes Rundfunkurteil –, juris Rn. 88. 9 BVerfG, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BvF 1/84 – Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz – viertes Rundfunkurteil –, juris Rn. 102. 10 BVerfG, Urteil vom 16. Juni 1981 – 1 BvL 89/78 – Privatrundfunk Saarland/FRAG – drittes Rundfunkurteil –, juris Rn. 94. 11 BVerfG, Urteil vom 16. Juni 1981 – 1 BvL 89/78 – Privatrundfunk Saarland/FRAG – drittes Rundfunkurteil –, juris Rn. 88. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 7 ggf. Auswahlregelungen.12 3. Exkurs: private Rundfunkveranstalter Die Anforderungen an die Programme privater Rundfunkveranstalter sind hinsichtlich der Aufgabe umfassender Information der Bürger geringer als diejenigen, die an den öffentlichrechtlichen Rundfunk gestellt werden.13 Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass „von privatem Rundfunk kein in seinem Inhalt breit angelegtes Angebot erwartet werden“ könne, „weil die Anbieter zur Finanzierung ihrer Tätigkeit nahezu ausschließlich auf Einnahmen aus Wirtschaftswerbung angewiesen sind. Diese können nur dann ergiebiger fließen, wenn die probaten Programme hinreichend hohe Einschaltquoten erzielen. Die Anbieter stehen deshalb vor der wirtschaftlichen Notwendigkeit, möglichst massenattraktive, unter dem Gesichtspunkt der Maximierung der Zuschauer- und Hörerzahlen erfolgreiche Programme zu möglichst niedrigen Kosten zu verbreiten.“14 Daher werde auch die ausgewogene Darstellung der verschiedenen Meinungsrichtungen Schwankungen bzw. Störungen unterliegen.15 Deshalb sei die umfängliche Grundversorgung Sache der öffentlich-rechtlichen Anstalten, da diese „nicht in gleicher Weise wie private Veranstalter auf hohe Einschaltquoten angewiesen“ seien, sondern sich aus Gebühren [heute: Beiträge – d.V.] finanzierten.16 Bei den privaten Rundfunkveranstaltern reicht die „Chance des Zugangs“ für verschiedene Meinungen aus. Es ist nicht erforderlich, dass sie auch tatsächlich zu Wort kommen.17 12 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG, Urteil vom 16. Juni 1981 – 1 BvL 89/78 – Privatrundfunk Saarland/FRAG – drittes Rundfunkurteil –, juris Rn. 101ff. BVerfG, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BvF 1/84 – Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz – viertes Rundfunkurteil –, juris Rn. 91ff. 13 BVerfG, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BvF 1/84 – Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz – viertes Rundfunkurteil –, juris Rn. 96. 14 BVerfG, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BvF 1/84 – Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz – viertes Rundfunkurteil –, juris Rn. 98. 15 BVerfG, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BvF 1/84 – Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz – viertes Rundfunkurteil –, juris Rn. 103ff. 16 BVerfG, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BvF 1/84 – Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz – viertes Rundfunkurteil –, juris Rn. 91ff.bf 17 Fechner, Frank: Medienrecht. 18. Auflage, Tübingen 2017, S. 305, Rn. 104. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 8 4. Grundsatz: Prinzip der abgestuften Chancengleichheit politischer Parteien Art. 21 Abs. 1 S. 1 iVm Art. 3 Abs. 1 GG statuiert das Recht auf Gleichbehandlung politischer Parteien durch staatliche Organe. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG garantiert den politischen Parteien nicht nur die Freiheit ihrer Gründung und die Möglichkeit der Mitwirkung an der politischen Willensbildung, sondern auch, dass diese Mitwirkung auf der Basis gleicher Rechte und gleicher Chancen erfolgt. § 5 Abs. 1 S. 1 Parteiengesetz (PartG)18 erweitert den Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 1 GG auf sämtliche Träger öffentlicher Gewalt, wobei nur Parteien schutzwürdig sind, deren Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt wurde.19 Dies gilt grundsätzlich auch für öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten. Redaktionell gestaltete, von den Rundfunkanstalten verantwortete Sendungen sind aber keine Wahlwerbesendungen und unterfallen daher trotz einer möglicherweise von ihnen ausgehenden Werbewirkung nicht dem Begriff der „öffentlichen Leistungen“ iSd § 5 Abs. 1 S. 1 PartG.20 Sendungen, die „auf einem schlüssigen und folgerichtig umgesetzten journalistischen Konzept“21 beruhen, stehen unter Schutz der in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG garantierten Rundfunkfreiheit. Diese ist „in ihrem Kern Programmfreiheit“ und gewährleistet, „daß der Rundfunk frei von externer Einflussnahme entscheiden kann, wie er seine publizistische Aufgabe erfüllt.“22 „Dieses Grundrecht umfaßt auch das Recht der Rundfunkanstalt, selbst zu bestimmen, wen sie als Diskussionspartner zu einer redaktionell gestalteten Fernsehdiskussion einladen will.“23 „Soweit solche Sendungen wahlwerbende Wirkung haben, hat die Rundfunkanstalt das Recht der Parteien auf gleiche Chancen im Wettbewerb um Wählerstimmen zu beachten. Dabei darf der Begriff der wahlwerbenden Wirkung nicht zu eng bestimmt werden. Wahlwerbend sind zunächst typische Wahlhearings, darüber hinaus aber auch solche redaktionell gestalteten Sendungen, die es im Wahlkampf stehenden Parteien und 18 Parteiengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl. I S. 149), das zuletzt durch Artikel 13 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. Abrufbar unter: https://www.gesetzeim -internet.de/partg/BJNR007730967.html. 19 Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 1. März 1974 – Bf I/13/74 –, juris Ls. 1.. 20 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. August 2002 – 2 BvR 1332/02 – TV-Duell der Kanzlerkandidaten –, juris Rn. 4. 21 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. August 2002 – 2 BvR 1332/02 – TV-Duell der Kanzlerkandidaten –, juris Rn. 6. 22 BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 1 BvR 661/94 – extra radio –, juris Rn. 54 mwN. 23 BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 10. Mai 1990 – 1 BvR 559/90 – Teilnahme an Fernsehdiskussion –, juris Rn. 10. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 9 Wählergruppen objektiv ermöglichen, unmittelbar Einfluß auf das Wahlverhalten zu nehmen.“24 Dennoch unterliegen die Rundfunkveranstalter auch bei diesen Sendungen „einer strengen Bindung an den Grundsatz der Chancengleichheit“25. „Das Neutralitätsgebot verbietet es den Rundfunkanstalten, bestimmte Parteien - etwa aufgrund ihrer parteipolitischen Richtung - zu bevorzugen oder zu benachteiligen, denn eine Bevorzugung oder Benachteiligung würde die verfassungsrechtlich gewährleistete Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) verletzen.“26 Der Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen umreißt das Spannungsfeld zwischen Rundfunkfreiheit und Chancengleichheit der politischen Parteien: „Die Programmfreiheit des Rundfunks ist aber durch die ebenfalls auf Verfassungsebene garantierte Freiheit und Gleichheit der Parteien beschränkt … Die politischen Parteien sind die verfassungsrechtlich notwendigen Instrumente, derer die Demokratie bedarf, um die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen und ihnen so einen wirksamen Einfluß auf das staatliche Geschehen zu ermöglichen. Sie nehmen an der politischen Willensbildung des Volkes vornehmlich durch ihre Beteiligung an den Wahlen teil, die ohne die Parteien nicht durchgeführt werden könnten … Dabei sind Information, Argument und Überzeugung die wesentlichen Mittel, die die Parteien im Verhältnis zu den Bürgern einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen … Für die Verbreitung ihrer Informationen, Argumente und wertenden Selbstdarstellungen kommt dem Rundfunk wegen seiner Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft besondere Bedeutung zu … Die Freiheit des Rundfunks zur Programmgestaltung und die Freiheit und Gleichheit der Parteien müssen im Wege der praktischen Konkordanz einander so zugeordnet werden, daß keine der konkurrierenden Freiheiten einseitig zu Lasten einer anderen durchgesetzt wird. Das bedeutet nicht nur, daß die Programmgestaltung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten einem strikten Neutralitätsgebot unterliegt, sondern schließt es auch aus, den Zugang zu den Rundfunkprogrammen ausschließlich in die Verfügungsgewalt der Rundfunkanstalten zu geben. Vielmehr ergibt sich aus der der Meinungsfreiheit und dem Informationsanspruch der Bürger dienenden Funktion der Rundfunkfreiheit einerseits und aus der Bedeutung des Mediums Rundfunk für die Parteienfreiheit und - Gleichheit andererseits, daß die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten während des Wahlkampfes in ihrem Gesamtprogramm in angemessener Weise über alle nicht nach 24 Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 23. Dezember 1996 – St 5/96 – Chancengleichheit der Parteien bei redaktionellen Sendungen –, juris Rn. 64 mwN. 25 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. August 2002 – 2 BvR 1332/02 – TV-Duell der Kanzlerkandidaten –, juris Rn. 5. Fechner, Frank: Medienrecht. 18. Auflage, Tübingen 2017, S. 307, Rn. 118. 26 BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1991 – 7 C 13/90 – Wahlwerbesendungen der Parteien –, juris Rn. 17. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 10 Art. 21 Abs. 2 GG verbotenen politischen Parteien informieren und ihnen dabei auch Raum zur Selbstdarstellung geben müssen.“27 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfordert der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität „auch außerhalb von Wahlkampfzeiten.“ „Denn der Prozess der politischen Willensbildung ist nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet fortlaufend statt.“28 Insofern ist es geboten, diese Grundsätze auch auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu übertragen. 5. Auswahl der Teilnehmer nach sachgerechten Erwägungen Die Auswahl der Teilnehmer muss auf „sachgerechten Erwägungen“29 beruhen und darf nicht willkürlich sein. Kriterien für die Einladung von Diskussionspartnern bzw. Teilnehmern an Talkshows können daher beispielsweise sein: Differenzierung nach der politischen Bedeutung der Partei,30 publizistisches Gewicht der Sendung,31 Partei ist bereits in einem oder mehreren Landtagen und/oder dem Deutschen Bundestag vertreten,32 Chancen bei bevorstehenden Wahlen,33 27 Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 23. Dezember 1996 – St 5/96 – Chancengleichheit der Parteien bei redaktionellen Sendungen –, juris Rn. 56f mwN. In diesem Zusammenhang kann auf eine Studie aus 2013 verwiesen werden, in der auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung für den Zeitraum von September 2011 bis Oktober 2012 die thematische und personelle Zusammensetzung von 107 Sendungen fünf populärer „PolitTalkshows“ in ARD und ZDF ausgewertet wurden. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass insgesamt die Parteien gemäß der Reihenfolge ihrer Fraktionsstärke in den Talkshows repräsentiert waren. Vgl. Winkelmann, Rolf, Onken, Holger und Rogge, Jana, Talkshows und Parteien – Repräsentation der Bundestagsparteien in politischen Talkshows von ARD und ZDF, in: Mitteilungen des Instituts für deutsches und internationales Parteienrecht und Parteienforschung, 19. Jg. 2013, S. 73 - 82; https://www.pruf.de/fileadmin/redaktion/Oeffentliche_Medien/PRuF/MIP/MIP_2013.pdf. 28 BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2018 – 2 BvE 1/16 – „Rote Karte für Wanka“/AfD –, juris Rn. 46 mwN. 29 BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1991 – 7 C 13/90 – Wahlwerbesendungen der Parteien –, juris Rn. 13. 30 Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 7. März 2017 – 3 L 321/17 – Anspruch von Parteien auf Teilnahme an Fernsehsendungen vor einer Wahl –, juris Rn. 18 mwN; Rn. 23f mwN. 31 Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 7. März 2017 – 3 L 321/17 – Anspruch von Parteien auf Teilnahme an Fernsehsendungen vor einer Wahl –, juris Rn. 16 mwN. 32 BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Oktober 1990 – 2 BvR 1316/90 – Teilnahme eines FDP-Vertreters an Diskussion im Vorfeld der bayerischen Landtagswahlen –, juris Rn. 2. 33 Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 23. Dezember 1996 – St 5/96 – Chancengleichheit der Parteien bei redaktionellen Sendungen –, juris Rn. 56f mwN. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 – 3000 – 027/20 Seite 11 zeitliche Nähe des Wahltermins, sodass eine Information des Bürgers/Wählers für dessen Wahlentscheidung relevant sein könnte,34 Nichteinladung eines Parteivertreter könnte die Wahlchancen der Partei reduzieren,35 Umfang der bisherigen Berichterstattung über eine Partei.36 Je nach den Gesamtumständen kann auch ein Anspruch auf Teilnahme an einer konkreten Sendung bestehen.37 **** 34 BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Oktober 1990 – 2 BvR 1316/90 – Teilnahme eines FDP-Vertreters an Diskussion im Vorfeld der bayerischen Landtagswahlen –, juris Rn. 2 35 Ebd. 36 Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 7. März 2017 – 3 L 321/17 – Anspruch von Parteien auf Teilnahme an Fernsehsendungen vor einer Wahl –, juris Rn. 17 mwN. 37 Ebd.