© 2017 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 - 026/17 Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 2 Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes Aktenzeichen: WD 10 - 3000 - 026/17 Abschluss der Arbeit: 7. Juni 2017 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Kurzer Überblick: Inhalt des NetzDG-E 4 3. Materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes 5 3.1. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG (Meinungsfreiheit) 5 3.1.1. Schutzbereich 5 3.1.2. Grundrechtseingriff 7 3.1.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs 9 3.2. Ergebnis 16 4. Fazit 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 4 1. Einleitung Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung ist die Frage, ob der vom Bundeskabinett am 5. April 2017 verabschiedete Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetzes – NetzDG) mit der verfassungsrechtlich verankerten Meinungsfreiheit vereinbar ist. Der Gesetzentwurf (BT-Drucksache 18/12356) wurde von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur ersten Beratung am 19. Mai 2017 in den Bundestag eingebracht.1 Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf (BR-Drucksache 315/17) in seiner Sitzung am 2. Juni 2017 behandelt 2 und seine Stellungnahme (BR-Drucksache 315/17 Beschluss) mit Empfehlungen der Ausschüsse (BR-Drucksache 315/1/17) beschlossen. 2. Kurzer Überblick: Inhalt des NetzDG-E Der Entwurf des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG-E) beinhaltet gesetzliche Compliance- Regeln für soziale Netzwerke. Diese sollen ermöglichen, Beschwerden im Zusammenhang mit Hasskriminalität und anderen rechtswidrigen Inhalten schneller und umfassender zu bearbeiten. Gemäß § 1 Abs. 1 NetzDG-E gilt das Gesetz für Telemediendienstanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben, die es Nutzern ermöglichen, beliebige Inhalte mit anderen Nutzern auszutauschen, zu teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Legaldefinition des sozialen Netzwerks). Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten , die vom Dienstanbieter selbst verantwortet werden, gelten hingegen nicht als soziale Netzwerke. Es wird in der Entwurfsbegründung darauf hingewiesen, dass die Zuständigkeit der Länder in diesen Fällen weiterhin greifen soll.3 Des Weiteren sind gemäß § 1 Abs. 2 NetzDG-E nur soziale Netzwerke betroffen, welche im Inland über mehr als zwei Millionen Nutzer verfügen . Schließlich werden in § 1 Abs. 3 NetzDG-E rechtswidrige Inhalte als solche definiert, welche den objektiven Tatbestand der genannten Strafgesetze erfüllen. § 2 NetzDG-E sieht eine vierteljährliche Berichtspflicht für Anbieter sozialer Netzwerke über den Umgang mit Nutzerbeschwerden vor. Des Weiteren verpflichtet § 3 Abs. 1 NetzDG-E Anbieter sozialer Netzwerke dazu, ihren Nutzern ein wirksames und transparentes Verfahren für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte zur Verfügung zu stellen. Gemäß § 3 Abs. 2 NetzDG-E muss dieses Verfahren gewährleisten , dass der Anbieter des sozialen Netzwerks unverzüglich von der Beschwerde Kenntnis nimmt und prüft, ob der Inhalt rechtswidrig und zu entfernen oder der Zugang zu ihm zu sperren ist. 1 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG), BT-Drucksache 18/12356, abrufbar unter: http://dip21.bundestag.btg/dip21/btd/18/123/1812356.pdf. Im Folgenden kurz: BT-Drucksache 18/12356. 2 TOP 25, abrufbar unter: http://www.bundesrat.de/SharedDocs/TO/958/tagesordnung-958.html. 3 BT-Drucksache 18/12356, S. 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 5 Offensichtlich rechtswidrige Inhalte sind innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren. Im Übrigen gilt eine Frist von sieben Tagen. Wird ein Inhalt entfernt, so muss dieser zu Beweiszwecken gesichert und für die Dauer von zehn Wochen im Inland gespeichert werden. Des Weiteren müssen der Beschwerdeführer und der Nutzer über jede begründete Entscheidung unverzüglich informiert werden. Sämtliche auf den Plattformen befindliche Kopien des rechtswidrigen Inhalts sind ebenfalls unverzüglich zu entfernen oder zu sperren. Eine vorsätzliche oder fahrlässige Missachtung der genannten Regelungen wird gemäß § 4 NetzDG-E als Ordnungswidrigkeit geahndet, die eine Bußgeldstrafe4 zur Folge hat. 3. Materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Zur Frage, ob die Regelungen des NetzDG-E mit dem grundrechtlich geschützten Recht der Meinungsfreiheit vereinbar sind, ist zunächst zu überprüfen, ob die betroffenen Äußerungen vom Schutzbereich erfasst sind. Anschließend wird ein Grundrechtseingriff und bei dessen Vorliegen eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung überprüft. 3.1. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG (Meinungsfreiheit) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“ Die in Art. 5 Abs. 1 Satz 1. Hs. 1 GG verankerte Meinungsfreiheit gewährleistet jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei und ungehindert von staatlichem Einfluss zu äußern und zu verbreiten. Als Abwehrrecht garantiert sie die Selbstbestimmung des Individuums im Bereich der Kommunikation.5 Die Freiheit der Meinungsäußerung wird ferner als Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit verstanden.6 Neben der abwehrrechtlichen Funktion ist die Meinungsfreiheit darüber hinaus grundlegend für einen freiheitlich demokratischen Staat.7 3.1.1. Schutzbereich Die vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG erfasste Meinung ist grundsätzlich weit zu verstehen. Geprägt ist sie durch Elemente der subjektiven Stellungnahme, des Dafürhaltens 4 Bis zu 5 Mio. Euro bzw. 50 Mio. Euro, vgl. BT-Drucksache 18/12356, S. 10. 5 Schwarz, Kyrill-A., Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, JA 2017, 241; Merten/Papier/Jestaedt, Handbuch der Grundrechte IV, 2011, § 102, Rn. 7. 6 BVerfGE 7, 198 (208). 7 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 6 und des Meinens.8 Unter einer Meinung versteht man folglich Ansichten, Auffassungen, Überzeugungen , Wertungen, Urteile, Einschätzungen und Stellungnahmen. 9 Bestimmt wird der sachliche Schutzbereich durch die persönliche Auffassung des sich Äußernden.10 Da Meinungen keinem empirischen Beweis zugänglich sind, lässt sich der Wahrheitsgehalt nicht feststellen.11 Des Weiteren kommt es für die Eröffnung des Schutzbereichs nicht darauf an, ob die Meinung wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, gefährlich oder harmlos, emotional oder rational ist.12 Zum Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG zählen auch Tatsachenbehauptungen.13 Tatsachenbehauptungen beschreiben dem Beweis zugängliche Umstände. Im Gegensatz zu Werturteilen sind bei Tatsachenbehauptungen Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens nicht erkennbar, trotzdem sind sie schützenswert, „weil und soweit sie Voraussetzung der Meinungsbildung sind.“14 Tatsachenbehauptungen, die erwiesen oder bewusst unwahr sind, können in aller Regel nicht zur Meinungsbildung beitragen und sind somit nicht vom Schutzbereich erfasst.15 Unrichtige Information ist kein schützenswertes Gut16, da die Meinungsfreiheit die Lüge verpönt17 – ebenso wie das unrichtige Zitat. 18 Auch beleidigende Äußerungen sind durch die Meinungsfreiheit geschützt, da andernfalls die Grundrechtsschranke des Art 5 Abs. GG (Recht der persönlichen Ehre) überflüssig wäre.19 Formalbeleidigungen und Schmähkritiken sind dagegen nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt . Während das Bundesverfassungsgericht die Formalbeleidigung bereits aus dem Schutz- 8 BVerfGE 7, 198 (210), BVerfGE 61, 1 (8); ähnlich BVerfGE 85, 1, 14 (14). 9 Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 22; BVerfGE 7, 198 (210). 10 Schwarz, a.a.O, 242. 11 BVerfGE 90, 241 (247). 12 BVerfGE 90, 241 (247); 124, 300 (320); Fechner, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 5 GG, Rn. 88. 13 Maunz/Dürig/Grabenwarter, Grundgesetz-Kommentar, 78. EL September 2016, GG Art. 5 Rn. 48. 14 BVerfGE 61, 1 (8). 15 BVerfGE, 208 (219); 61, 1 (8); anders: Maunz/Dürig/Grabenwarter, Grundgesetz-Kommentar, 78. EL September 2016, GG Art. 5 Rn. 51. 16 BVerfGE 85, 1 (15); 90, 1 (15). 17 Isensee, Josef, Grundrecht auf Ehre, in: Burkhardt Ziemske (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik : Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S. 5. 18 BVerfGE 54, 148 (219). 19 BVerfGE 33, 1 (15). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 7 bereich der Meinungsfreiheit fallen lässt, wird die Schmähkritik noch von ihr umfasst. Allerdings kommt ihr im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung grundsätzlich im Verhältnis zum Ehrenschutz ein gegen Null tendierendes Gewicht zu.20 Das im NetzDG-E vorgesehene Verfahren zur Bearbeitung von Beschwerden betrifft Äußerungen in sozialen Netzwerken. Soweit keine der obengenannten Ausnahmen vorliegen, ist von der Schutzwürdigkeit dieser Äußerungen zunächst auszugehen. 3.1.2. Grundrechtseingriff Fraglich ist, ob die Vorgaben des NetzDG-E in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu Lasten der Nutzer betroffener sozialer Netzwerke eingreifen. Bei der Prüfung, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt, ist vom modernen Eingriffsbegriff auszugehen . Darunter versteht man jedes staatliche Handeln, das ein grundrechtlich geschütztes Verhalten , ganz oder teilweise unmöglich macht.21 Gemeint ist folglich jede dem Staat zurechenbare Grundrechtsbeeinträchtigung.22 In Betracht könnte ein Eingriff durch die Löschung grundrechtlich geschützter Inhalte der sich in sozialen Netzwerken äußernden Personen kommen. Kritiker sehen aufgrund der festen - insbesondere kurzen - Löschfristen und die hohe Bußgeldandrohung (bis zu 5 Mio. Euro bzw. 50 Mio. Euro23) bei Nichteinhaltung der Regelungen des § 3 NetzDG-E eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Derartige - in vielen Fällen auch existenzbedrohende - Bußgeldandrohungen erhöhten das Risiko, dass Unternehmen ohne sorgfältige vorherige Prüfung und vor allem in Zweifelsfällen auch legale Inhalte entfernten (sog. „Overblocking“). In 20 BVerfGE 66, 116 (151); 82, 43 (51), 82, 234, 242; 93, 246 (292 ff.). 21 BVerfGE 105, 279 (300). 22 Papier, Hans-Jürgen / Krönke, Christoph, Grundkurs Öffentliches Recht 2, 2. Aufl. 2015, S. 61, Rn. 137. 23 Siehe Fußnote 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 8 der Bußgeldandrohung wird somit auch ein Einschüchterungseffekt (Chilling-Effekt) gesehen, dass aus Angst vor Sanktionen auch rechtmäßige Äußerungen gelöscht werden. 24 Nach Kubiciel ist ein Eingriff von vornherein zu verneinen. Seiner Ansicht nach verpflichtet das Gesetz nicht primär zur Löschung der einzelnen Posts, sondern zur Bereitstellung eines Beschwerde -Management-Systems.25 Ferner sei nicht die Anlasstat Anknüpfungspunkt für das Bußgeld , sondern „die unzureichende interne Organisation des sozialen Netzwerks, das die Begehung der Tat gefördert hat.“26 Eine unterbliebene Löschung würde demnach nicht unmittelbar eine Sanktion auslösen und „erst recht wird bei der Fehlbeurteilung eines schwierigen Falles keine Fahrlässigkeit i.S.d. § 4 NetzDG vorliegen.“27 Er führt an:28 „Ein vom Gesetz nicht beabsichtigter und dort auch nicht angelegter „exzesshafter“ Vollzug kann dem Staat nicht als eigener (mittelbarer) Eingriff zugerechnet werden. Wäre es anders, hätten die Unternehmen die Möglichkeit, durch die Art ihres Umgangs mit einem Gesetz (absichtlich) dessen Verfassungswidrigkeit herbeizuführen.“ Demgegenüber weisen Wimmers und Heymann auf die einschränkenden Effekte für die Meinungsfreiheit hin, welche durch die hohe Wahrscheinlichkeit der Entfernung zulässiger Inhalte zu erkennen und zu erwarten seien. 29 Die Meinungsfreiheit sei demnach bereits aufgrund der zu kurzen Prüfungsfristen nicht gewährleistet. Ferner würden „die Belange des sich Äußernden nicht berücksichtigt.“30 Sie kritisieren darüber hinaus, dass „der Entwurf des NetzDG keinerlei 24 Vgl. Feldmann, Thorsten, Zum Referentenentwurf eines NetzDG: Eine kritische Betrachtung, Kommunikation und Recht (K&R) 2017, S. 292 (296); Liesching, Marc, „Das Bundesverfassungsgericht wird das Netzwerkdurchsetzungsgesetz kippen“, (unter II 1 b) bb)), beck-blog 27. April 2017, abrufbar unter https://community .beck.de/2017/04/27/das-bundesverfassungsgericht-wird-dasnetzwerkdurchsetzungsgesetz-kippen; Ladeur, Karl-Heinz/Gostomzyk, Thomas, Zur Verfassungsmäßigkeit des "Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“- Ergebnisse eines Gutachtens, S. 81 f, abrufbar unter https://www.bitkom.org/noindex/Publikationen/2017/Sonstiges /NetzDG-Gutachten-Gostomzyk-Ladeur.pdf. Neben anderen Kritikpunkten befürchtet auch der Sonderbeauftragte der UN für die Meinungsfreiheit, David Kaye, dass die hohen Bußgelder zur Löschung rechtmäßiger Inhalte führten. Vgl. David Kaye, Mandate of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression, REFERENCE: OL DEU 1/2017, 1. Juni 2017, S. 4 f., abrufbar unter http://www.ohchr.org/Documents/Issues/Opinion/Legislation/OL-DEU-1-2017.pdf. Siehe auch Bundesrat, Stellungnahme des Bundesrates: Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG), Bundesratsdrucksache 315/17 (Beschluss), S. 11 f. (unter 18.). 25 Kubiciel, Michael, Neuartige Sanktionen für soziale Netzwerke? Der Regierungsentwurf zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken, jurisPR-StrafR 7/2017 Anm. 1, unter III. 3. 26 Ebenda. 27 Ebenda. 28 Ebenda. 29 Wimmers, Jörg / Heymann, Britta: „Zum Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) – eine kritische Stellungnahme“, in: Archiv für Presserecht (AfP) 2017, S. 93 (99). 30 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 9 Vorgaben zum Inhalt eines Hinweises und zur notwendigen Substantiierung der Rechtswidrigkeit “ vorsieht. Eine sichere Feststellung der Rechtswidrigkeit sei somit zweifelhaft.31 Die vorgebrachten Einwände lassen zumindest einen mittelbaren Eingriff des Staates erkennen. Die Vorgaben geben zahlreiche und nachhaltige Anreize für Diensteanbieter, als private zwischengeschaltete Instanz vorsorglich Inhalte zu löschen oder zu sperren, welche sich in einer gerichtlichen Überprüfung als rechtmäßig erweisen könnten. Eine dem Staat zurechenbare Grundrechtsbeeinträchtigung ist zu erwarten. Im Ergebnis kann eine Grundrechtsbeeinträchtigung durch die Entfernung grundrechtlich geschützter Inhalte von Nutzern nicht ausgeschlossen werden. § 3 NetzDG-E stellt demzufolge einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. 3.1.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs Zu prüfen ist, ob der Eingriff in die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass der NetzDG-E sich innerhalb der in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Schranken bewegt. Gemäß Art. 5 Abs. 2 GG findet das Grundrecht der Meinungsfreiheit seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Bei der Einordnung des NetzDG-E als Schranke i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG ist zu differenzieren: So greift in den Fällen der §§ 185 bis 187 StGB (Beleidigung, Üble Nachrede, Verleumdung) das Recht der persönlichen Ehre als zulässige Schranke, während für § 184b StGB (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften) die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend als zulässige Schranke einschlägig sind.32 Was andere aufgelistete Straftatbestände (so z.B. § 90a StGB Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole oder § 111 StGB Öffentliche Aufforderung zu Straftaten) angehen, könnte es sich bei dem NetzDG-E um ein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG handeln.33 31 Ebenda. 32 Vgl. Deutscher Anwaltverein (Hrsg.), Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch die Ausschüsse Informationsrecht und Strafrecht, Regierungsentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz - Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG), Stellungnahme Nr.: 41/2017 von Mai 2017, S. 14, abrufbar unter https://anwaltverein .de/de/newsroom/sn-41-17-netzwerkdurchsetzungsgesetz-netzdg . 33 Vgl. ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 10 Allgemeine Gesetze sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Gesetze, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, sondern vielmehr den Schutz eines zu schützenden Rechtsgutes dienen, d.h. dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit Vorrang hat.34 Bei der Anwendung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG ist ferner darauf zu achten, dass die allgemeinen Gesetze ihrerseits verfassungskonform ausgelegt werden müssen (sog. Wechselwirkungslehre).35 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass selbst wenn eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zum Schutz eines Rechtsguts erkennbar ist, dies nicht zwangsläufig zur Ablehnung des Charakters des Gesetzes als allgemeines Gesetz führen muss. Vielmehr ist im Rahmen einer Güterabwägung zu klären, ob die Schutzwürdigkeit des Rechtsguts überwiegt.36 Der NetzDG-E soll offenbar der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie dem Schutz von Persönlichkeitsrechten und somit schützenswerten Rechten und Rechtsgütern dienen .37 Allerdings ist problematisch, dass wichtige Strafrechtsnormen und andere Vorschriften38 nicht vom NetzDG-E erfasst werden, sodass ein Ungleichgewicht bei der Durchsetzung der Entfernung rechtswidriger Inhalte entstehen könnte. Auch die Beschränkung des NetzDG-E auf ausschließlich soziale Netzwerke lässt dies erwarten. Im Ergebnis würden bestimmte rechtswidrige Inhalte bzw. bestimmte Meinungen stärker geahndet als andere.39 Der NetzDG-E richtet sich somit nicht direkt gegen eine bestimmte Meinung, würde jedoch ein beachtliches Ungleichgewicht bei der Bekämpfung rechtswidriger Inhalte verursachen. Ob dies bereits für die Verneinung des allgemeinen Charakters des NetzDG-E als Ermächtigungsnorm für den Eingriff ausreicht, kann dahinstehen, wenn das NetzDG-E ohnehin an der Verhältnismäßigkeitsprüfung scheitert. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt voraus, „dass ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist.“40 Die Vorschriften des NetzDG-E müssten zunächst einen legitimen Zweck verfolgen. Darunter versteht man grundsätzlich alle öffentlichen Interessen. Der Gesetzentwurf hat zum Ziel, Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten auf den Plattformen sozialer Netzwerke entgegenzutreten, um so das friedliche Zusammenleben in einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft zu fördern.41 Zweck des Entwurfs ist demzufolge in erster Linie die Wahrung der öffentlichen Si- 34 BVerfGE 7, 198 (209). 35 BVerfGE 7, 198 (208). 36 BVerfGE 117, 244 (270). 37 BT-Drucksache 18/12356, S. 13. 38 Vgl. hierzu die detaillierten Angaben des Deutschen Anwaltvereins, a.a.O., S. 14 ff. 39 Vgl. Deutscher Anwaltverein, a.a.O., S. 14. 40 BVerfGE 120, 274 (318 f.). 41 BT-Drucksache 18/12356, S. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 11 cherheit und Ordnung sowie der Schutz von Persönlichkeitsrechten. Dies ist als legitim anzusehen . Ferner müssten die Regelungen des NetzDG-E ein geeignetes Mittel darstellen. Hierbei genügt bereits , wenn das Mittel die Erreichung des Zwecks zumindest fördert. § 3 NetzDG-E sieht ein Beschwerdeverfahren vor, welches eine effizientere Bearbeitung bzw. Löschung oder Sperrung von gemeldeten rechtswidrigen Inhalten regeln soll. Für die Bekämpfung von Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten ist dieses Regelungsvorhaben grundsätzlich geeignet. Des Weiteren muss das NetzDG-E erforderlich sein. Erforderlichkeit liegt vor, wenn kein milderes Mittel zur Zweckerreichung gegeben ist oder mildere Mittel zur Zweckerreichung nicht gleich geeignet sind. Hinsichtlich der gleichen Eignung wird dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative bzw. ein Beurteilungsspielraum eingeräumt.42 Beim Vergleich von unterschiedlichen Mitteln müssen die „Eigenart und Intensität des Eingriffs, die Zahl der Betroffenen, belastende und begünstigende Einwirkungen auf Dritte und Nebenwirkungen der belastenden Maßnahme“ berücksichtigt werden.43 Als milderes Mittel könnte zunächst angeführt werden, dass zur Löschung- oder Sperrung von Inhalten nur auf Grundlage eines richterlichen Urteils verpflichtet werden darf. Hiergegen spricht jedoch, dass Gerichtsverfahren meist langwierig sind. Es ist nicht zu erwarten, dass Gerichte der Herausforderung hinsichtlich der effizienten Entfernung rechtswidriger Internetinhalte , welche sich meist sehr schnell und leicht verbreiten, wirkungsvoll entgegentreten können. Das impliziert, dass derzeit keine Möglichkeiten zur effizienten und wirksamen Beschleunigung von Gerichtsverfahren bestehen. Ein anderes Mittel könnte die regulierte Selbstregulierung darstellen. Der Deutsche Anwaltverein schlägt diesbezüglich in seiner Stellungnahme vor, auf Selbstkontrolleinrichtungen wie der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) und unabhängige Meldestellen zu setzen , wobei die gesetzlichen Rahmenbedingungen vom Gesetzgeber bestimmt werden könnten.44 Mit Blick auf die Gefahr des Overblockings für die Meinungsfreiheit und eine voraussichtlich nicht unerhebliche Zahl von Betroffenen, könnte dieses Mittel grundsätzlich ein milderes Mittel 42 Klatt, Matthias / Meister, Moritz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Ein Strukturelement des globalen Konstitutionalismus, in: Juristische Schulung (JuS) 2014, S. 193 (195). 43 Reuter, Thomas, Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – das unbekannte Wesen, in: Juristische Ausbildung (JURA) 2009, S. 511 (513). 44 Deutscher Anwaltverein, a.a.O., S. 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 12 darstellen. Es sprechen gute Gründe für die Wahl eines milderen Mittels in Form von unabhängigen Selbstkontrolleinrichtungen, da diese bereits eine zufriedenstellende Zweckerreichung gewährleisten können.45 Schließlich muss der mit dem NetzDG-E verbundene Eingriff angemessen sein. Bei der Prüfung der Angemessenheit darf die Schwere des Grundrechtseingriffs nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen. Dies wird im Rahmen einer Güterabwägung mit Blick auf die widerstreitenden Belange ermittelt.46 Die folgende Abwägung umfasst die Meinungsfreiheit und den verfolgten Zweck des NetzDG-E, hier die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie Persönlichkeitsrechte , indem Hasskriminalität und strafbare Inhalte in sozialen Netzwerken bekämpft werden sollen. Problematisch ist zunächst die gewünschte Zielsetzung des Gesetzes. Kritiker weisen mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshof darauf hin, dass es oftmals überaus schwierig zu bestimmen sei, wann eine Meinungsäußerung rechtswidrig und wann sie noch durch die Meinungsfreiheit geschützt ist.47 In diesem Zusammenhang ist auf die Problematik hinzuweisen, objektiv den Tatbestand von Hasskriminalität und falsche Nachrichten („Fake News“) im Sinne der in § 1 Absatz 3 NetzDG-E genannten Strafrechtsnormen zu bestimmen. Schon bei der Definition von „Hate Speech“ treten Schwierigkeiten auf. So ist nach Stefanowitsch der Begriff Hate Speech ein umstrittener politischer Begriff mit mehr oder weniger starken Bezügen zu juristischen Tatbeständen (§ 130 (1) StGB).48 45 Als Beispiele können im Bereich anderer Medien weitere Selbstkontrolleinrichtungen angeführt werden: u.a. der Deutsche Presserat (seit 1956), Interessengemeinschaft DT-Control (seit 1995), der Deutsche Werberat (seit 1972), der Deutsche Rat für Public Relations (DRPR) (seit 1987), die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) (gegründet 1994, seit 2003 als Selbstkontrolleinrichtung anerkannt), rundfunkspezifische Gesellschaftskontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Rundfunk- und Fernsehräte), Landesmedienanstalten im privaten Rundfunk , Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) (seit 1949). 46 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 47 Wimmers / Heymann, a.a.O., S. 9 ff.; Deutscher Anwaltverein, a.a.O., S. 16; Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia -Diensteanbieter e.V. – FSM (Hrsg.), Stellungnahme der FSM zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz: Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG) vom 30.3.2017, S. 10-12, abrufbar unter https://www.fsm.de/sites/default/files /20170330_fsm_stellungnahme_zum_netzdg.pdf; Deutscher Journalisten-Verband e.V. – DJV (Hrsg.), Stellungnahme zum Referenten-Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 28. März 2017, S.10, abrufbar unter https://www.djv.de/fileadmin/user_upload/Infos_PDFs/Medienpolitik/DJV-StN_NetzDG-E_28.03.2017.pdf; Reporter ohne Grenzen (Hrsg.), Stellungnahme zum Regierungsentwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG) vom 19. April 2017, S. 6, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2017/Downloads/04192017_Stellungnahme _RoG_RefE_NetzDG.pdf;jsessionid =8B2C65D85BF900C88BA64C17A999D437.1_cid324?__blob=publicationFile&v=2. So auch: Höch, Dominik, Nachbessern: ja, verteufeln: nein. Das NetzDG ist besser als sein Ruf, in: Kommunikation und Recht (K & R) 2017, S. 290. 48 Vgl. Stefanowitsch, Anatol, „Was ist überhaupt Hate Speech?“, Amadeu-Antonio-Stiftung, abrufbar unter http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/hatespeech/was-ist-ueberhaupt-hate-speech/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 13 Ebenso schwierig ist es, den Begriff Falschnachrichten (Fake News) abzugrenzen. „Fake News“ ist kein Rechtsbegriff. Was darunter zu verstehen ist, wird im NetzDG-E bis auf den Verweis auf die Tatbestände der in § 1 Absatz 3 NetzDG-E aufgeführten Strafrechtsnormen nicht erläutert.49 Zum anderen können bei Fake News Tatsachenbehauptungen mit Meinungsäußerungen untrennbar verknüpft sein. Diese sogenannten „Mischäußerungen“, bei denen Tatsachengehalt und Meinungsäußerung untrennbar vermischt sind, hat das BVerfG in ihrer Gesamtheit als grundsätzlich geschützte Meinungsäußerung angesehen.50 Wenn es keine allgemeingültige Definition von Fake News gibt, lassen sich deren Wirkung – insbesondere destruktive - kaum nachweisen. Das gilt vor allem auch dann, wenn andere als Internet -Medien betroffen sind. So gibt es laut Hammer auch noch keine belastbaren Studien zu deren Gefahrenpotential. 51 In der Begründung des Gesetzentwurfs wird hervorgehoben, dass bei der derzeitigen Rechtslage und Praxis die sozialen Netzwerke dem Gebot nicht hinreichend und nicht schnell genug nachkommen, rechtswidrige Inhalte zu löschen, die die in § 1 Absatz 3 normierten Straftatbestände erfüllen.52 49 Vgl. Liesching, Marc, a.a.O., unter 3. 50 BVerfG NJW 1992, 1439, 1442; hierzu z. B. auch Ladeur, Karl-Heinz, Zum Umgang mit Fake News im Internet, in: epd medien Nr. 4/2017, S. 5. 51 Vgl. Hammer, Alexander / Hammer, Bettina, „Für die beschworene Gefahr durch Fake News fehlt es selbst an Fakten“, Telepolis, 7.2.2017, abrufbar unter https://www.heise.de/tp/features/Fuer-die-beschworene-Gefahrdurch -Fake-News-fehlt-es-selbst-an-Fakten-3618585.html. 52 BT-Drucksache 18/12356, S. 20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 14 Über Löschgeschwindigkeit und -umfang wird hierzu auf ein Monitoring des jugendschutz.net verwiesen.53 Studien über die Zahl und Entwicklung der Häufigkeit der Fälle von Hasskriminalität und anderen Fällen strafbarer Inhalte einschließlich der vom Gesetzentwurf erfassten Falschnachrichten (Fake News) 54 werden nicht angegeben.55 Beispiele werden auch nicht genannt.56 Es besteht demnach – wie oben bereits erläutert – stets die Gefahr, dass auch rechtmäßige Inhalte entfernt oder gelöscht werden. Insbesondere die hohe Bußgeldandrohung von bis zu 50 Millionen Euro und die kurzen Fristen, gerade bei den vermeintlich offensichtlichen Fällen, verstärken diese Vermutung.57 Zwar knüpft das Bußgeld nicht an die einzelnen nicht vorgenommenen Löschungen von Inhalten an, sondern gemäß § 4 NetzDG-E an Fälle, in denen beispielsweise ein Verfahren nicht oder nicht richtig zur Verfügung gestellt wurde oder bei fehlender oder nicht richtiger Überwachung des Umgangs mit Beschwerden. Dennoch ist ein verstärkter Anreiz für Unternehmen zu befürchten, 53 BT-Drucksache 18/12356, S. 1 f. 54 BT-Drucksache 18/12356, S. 10. 55 In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der Bundesregierung angeblich kein einziger Fall einer strafbaren Falschnachricht (Fake News) bekannt sei. Dies berichtet das Internet-Nachrichtenportal Golem auf seine diesbezügliche Anfrage. Vgl. Greis, Friedhelm, „HATE-SPEECH-GESETZ: Regierung kennt keine einzige strafbare Falschnachricht“, golem.de, 19.4.2017, abrufbar unter https://www.golem.de/news/hate-speech-gesetzregierung -kennt-keine-einzige-strafbare-falschnachricht-1704-127370.html. 56 Zum analogen Problemfeld der „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole - § 90a StGB, der im § 3 NetzDG-E aufgeführt ist, vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole - § 90a StGB, Aktueller Begriff Nr. 17/17 vom 29. Mai 2017. Dort werden einige Beispiele von umstrittenen Meinungen und die dazu getroffenen die Meinungsfreiheit schützenden Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts angegeben. Auch das analoge Beispiel für einen strittigen Fall im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit der Beleidigung eines Staatsrepräsentanten zeigt die Schwierigkeit der straf- und rechtswidrigen Einschätzung extrem beleidigender Äußerungen. So erkannten die Staatsanwaltschaften Mainz und Koblenz im Schmähgedicht, das der Fernsehmoderator Jan Böhmermann in der ZDF-Sendung „Neo Magazin Royale“ am 31.03.2016 vortrug, keine strafbare Handlung. Vgl. zur detaillierten Begründung Staatsanwaltschaft Mainz, Pressemeldung , Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts eingestellt, 4.10.2016, http://www2.mjv.rlp.de/icc/justiz/nav/634/broker.jsp?uMen=634b8385-d698- 11d4-a73d-0050045687ab&uCon=86c6d096-9dd8-751e-6a1a-b5402e4e2711&uTem=aaaaaaaa-aaaa-aaaa-aaaa- 000000000042 und Brauer, Generalstaatsanwalt, Koblenz, Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann wegen Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten usw., Vermerk zur rechtlichen Bewertung, 13.10.2016, http://www2.mjv.rlp.de/icc/justiz/nav/634/binarywriterservlet?imgUid=b3420dc9-0951-c751-b5e8- 0d0102e4e271&uBasVariant=11111111-1111-1111-1111-111111111111. Dagegen war das Hanseatische Oberlandesgericht der Auffassung, dass das Schmähgedicht den Kern des Persönlichkeitsrecht berühre, was zur Untersagung von Teilen davon führte. Vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht, Entscheidung im Verfahren Erdoğan gegen Böhmermann, 10. Februar 2017, http://justiz.hamburg.de/pressemitteilungen/8138326/pressemitteilung- 2017-02-10-olg-01/. 57 Siehe Fußnote 24. Vgl. auch Google / YouTube (Hrsg.), Stellungnahme an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDGE), S. 19f., abrufbar unter http://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren /Stellungnahmen/2017/Downloads/03302017_Stellungnahme_google_you Tube_RefE_NetzDG.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Facebook Germany (Hrsg.), Stellungnahme zum Entwurf des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes BR-Drucksache 315/17 - BT-Drucksache 18/12356, unter II., abrufbar unter https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2017/05/Facebook_Stellungnahme_zum_Entwurf_des_NetzDG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 15 Inhalte ohne genaue vorherige Prüfung zu entfernen, um den Anforderungen eines Beschwerdeverfahrens i.S.d. § 3 NetzDG-E gerecht zu werden. Denn unterbliebene Löschungen können zu der Annahme einer „unzureichenden Organisation“ des sozialen Netzwerks hinsichtlich des Beschwerdefahrens führen, die wiederum den „Anknüpfungspunkt für das Bußgeld“58 darstellt. Auch Guggenberger weist auf die drohende Gefahr des „Overblockings“ hin und erkennt in dem vorgegeben Verfahren des NetzDG-E einen unvermeidlichen Anreiz zur Löschung. 59 Im Gesetzesentwurf wird darauf hingewiesen, dass bei nicht eindeutigen Fällen bis zur Klärung der Rechtswidrigkeit ein Bußgeldverfahren nicht angezeigt ist, sondern vielmehr das Bundesamt für Justiz ein Vorabentscheidungsverfahren nach § 4 Abs. 5 NetzDG-E durchführen muss. In solchen Fällen muss demzufolge vorab eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt werden. In der Begründung heißt es: 60 „Zum Schutz der Meinungsfreiheit ist generell ein behutsames Vorgehen der Bußgeldbehörde angezeigt. Auch soll ein Bußgeldverfahren nicht eingeleitet werden, wenn die Rechtswidrigkeit eines Inhalts von dessen Wahrheitsgehalt abhängt und das soziale Netzwerk keine Möglichkeit hat, den Wahrheitsgehalt zeitnah zu klären und den Inhalt deswegen nicht innerhalb der in § 3 Abs. 2 Nr. 2 genannten Frist entfernt oder sperrt.“ Der Deutsche Richterbund lehnt jedoch ein Verfahren nach § 4 Abs. 5 NetzDG-E ab. Es wird darauf hingewiesen, dass eine solche gerichtliche Vorabentscheidung ein „völliges Novum“ darstelle und dass die zuständige Behörde über eine Bußgeldverhängung in eigener Verantwortung zu entscheiden hätte.61 Ferner seien Gerichte im Ordnungswidrigkeitsverfahren erst dann zuständig , wenn die Entscheidung der Behörde angegriffen wurde. Auch könne keine gerichtliche Vorabentscheidung verlangt werden, wenn zu prüfen ist, ob Strafnormen verletzt worden sind. Der Deutsche Richterbund macht deutlich, dass es beim Erlass eines Bußgeldbescheides nicht um die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen ginge. Auch seien die Verfahrensrechte der sozialen Netzwerke nicht betroffen. Eine gerichtliche Vorabentscheidung sei damit nicht notwendig. Auch sei von einer erheblichen Belastung des Amtsgerichts Bonn auszugehen.62 Auch beschränkte Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen führen zu erheblichen Zweifeln an der Angemessenheit des Eingriffs: 58 Kubiciel betont insbesondere die „unzureichende interne Organisation des sozialen Netzwerkes“ als Anknüpfungspunkt für das Bußgeld. Vgl. Fußnote 26. 59 Guggenberger, Nikolaus, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – schön gedacht, schlecht gemacht, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP 2017), S. 98 (99). 60 BT-Drucksache 18/12356, S. 23. 61 Deutscher Richterbund, Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken, März 2017, unter B. Bewertung im Einzelnen , abrufbar unter http://www.drb.de/fileadmin/docs/Stellungnahmen/2017/DRB_170327_Stn_14_Rechtsdurchsetzung _in_sozialen_Netzwerken.pdf . 62 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 16 Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 5 NetzDG-E müssen der Beschwerdeführer und der Nutzer unverzüglich über jede Entscheidung mit Begründung informiert werden. Das Einholen einer Stellungnahme von den Betroffenen sieht der Gesetzentwurf nicht vor. In der Entwurfsbegründung wird darauf hingewiesen, dass das soziale Netzwerk innerhalb der Lösch- und Sperrfrist den Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Beschwerden geben kann.63 Eine Pflicht sieht der Entwurf jedoch nicht vor. Nach Wimmers und Heymann verstößt der Entwurf gegen die von der Rechtsprechung entwickelten Abläufe:64 „Das in diesen Entscheidungen vorgesehene Verfahren – Stellungnahme des sich Äußernden einholen, bei substantiierter Stellungnahme den Betroffenen anschreiben, der seinerseits dann Stellung zu nehmen und Nachweise beizubringen hat – ist binnen der starren Fristen nicht einzuhalten.“ Zwar soll mit einer im Gesetzentwurf geforderten Begründung der Löschung oder Sperrung sichergestellt werden, dass Nutzer, die gegen diese Maßnahmen vorgehen möchten, „die geeigneten rechtlichen Schritte zur Wahrung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit“ wahrnehmen können.65 Der Deutsche Anwaltverein weist jedoch zurecht auf die Verkürzung von Rechtsschutzmöglichkeiten hin. Denn für die Betroffenen besteht nicht die Option, sich im Rahmen des effektiven Rechtschutzes i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG gegen eine hoheitliche Maßnahme zu wehren, da die Entfernung oder Sperrung nicht durch den Staat, sondern durch einen Privaten erfolgt. Demzufolge bestehen nur zivilrechtliche Möglichkeiten gegen die Diensteanbieter und somit auf privatrechtlicher Ebene. Abwehrmöglichkeiten gegen den Staat sind hingegen nicht möglich und führen demnach zu einer wesentlichen Einschränkung von Rechtsschutzmöglichkeiten.66 Vor diesem Hintergrund erscheint eine Rechtfertigung nicht hinreichend begründbar. Angesichts der Bedeutung der Meinungsfreiheit für ein freiheitlich demokratisches Staatswesen, wird der Eingriff insgesamt als unangemessen und verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt angesehen. 3.2. Ergebnis Im Ergebnis kann in den Vorgaben des § 3 NetzDG-E ein Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit erkannt werden. Dieser Eingriff erscheint nach Abwägung der erörterten Belange nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein. 63 BT-Drucksacke 18/12356, S. 21. 64 Wimmers / Heymann, a.a.O., S. 11 ff.; in Anlehnung an: BGH, Urteil v. 25.10.2011 – VI ZR 93/10 und BGH, Urteil v. 1.3.2016 – VI ZR 34/15. 65 BT-Drucksache 18/12356, S. 21. 66 Vgl. hierzu die detaillierten Angaben des Deutschen Anwaltvereins, a.a.O., S. 17. Siehe auch Stellungnahme des Bundesrates, Bundesratsdrucksache 315/17 (Beschluss), S. 5f. (unter 10.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 026/17 Seite 17 4. Fazit Meinungsfreiheit ist in einem freiheitlichen demokratischen Staatswesen ein essentielles Gut. Sie ist für eine freiheitlich-demokratische Ordnung konstituierend. Nur in besonderen Fällen darf das verfassungsrechtlich verankerte Grundrecht der Meinungsfreiheit beschränkt werden. In Zweifelsfällen hat das Bundesverfassungsgericht regelmäßig zugunsten der Meinungsfreiheit entschieden . Mit den vorgesehenen Regelungen im Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes wird in dieses Recht eingegriffen. Bei der Güterabwägung im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ist hervorzuheben , dass es schon bei der begrifflichen Abgrenzung der zu löschenden rechtswidrigen Inhalte und strafbaren falschen Nachrichten („Fake News“) erhebliche Schwierigkeiten gibt. Orientierungshilfen , Beispiele oder Hinweise auf ausgewählte Beispiele für offensichtlich rechtswidrige , rechtswidrige oder strafbare Inhalte werden im Gesetzentwurf nicht angegeben. Es wird lediglich auf ein Monitoring-Bericht des jugendschutz.net zu Löschgeschwindigkeit und -umfang hingewiesen mit dem Ergebnis: Es werde zu langsam und zu wenig gelöscht. Dagegen wären zur ordnungsgemäßen Beurteilung der Gefahr durch die Verbreitung von Hasskriminalität und strafbaren falschen Nachrichten („Fake News“) aber Angaben über Zahl, Entwicklung der Fälle und Studien über die vermuteten destruktiven Wirkungen äußerst hilfreich. Diese werden nicht angegeben . Offenbar lassen auch hier Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten kaum aussagekräftige Angaben und Wirkungsanalysen zu. Das bekräftigt das Ergebnis der vorliegenden Ausarbeitung. ****