Deutscher Bundestag Internet Governance unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit der Institution ICANN Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 10 – 3000/25-2012 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 2 Internet Governance unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit der Institution ICANN Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 10 – 3000/25-2012 Abschluss der Arbeit: 26.04.2012 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Geschichte der Internet Governance 5 3. Entwicklung während des Bestehens von ICANN 9 4. Theoretische Überlegungen zur Internet Governance 13 4.1. Zum Begriff der „Governance“ 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 4 1. Einleitung Die umwälzenden Veränderungen, die durch die Digitalisierung und die weltweite Nutzung des Internet in allen Bereichen des Lebens im 21. Jahrhundert – politisch, ökonomisch, gesellschaftlich – eingetreten sind, sind heute allgegenwärtig. Das Internet ist zu einer wichtigen infrastrukturellen Ressource geworden. Obwohl diese Entwicklung nach herkömmlichen Maßstäben noch „jung“ ist, zeigt sich bei näherer Betrachtung doch, dass die Zeit des unbegrenzten Idealismus bezüglich des Netzes1 bereits seit einigen Jahren weitgehend vorbei ist. Heute wird die Faszination über die breiten technischen Anwendungsmöglichkeiten vielfach von dem Bewusstsein der Gefahren überlagert, die durch bedrohliche Computerviren, Spam, Trojaner , Datenschutzprobleme oder durch Vorteile, die das Netz eben auch für illegale Zwecke (z.B. Urheberrechtsverletzungen) oder kriminelle Ziele (z.B. Terrorismus oder Kinderpornografie) bereithält . Gleichzeitig trat seit Ende der 1990er Jahre die Notwendigkeit, bestimmte technische Kernfragen des weltweiten Internetbetriebs auf eine für alle Beteiligten akzeptable Weise zu regeln , immer dringlicher zutage. Damit wurde der Ruf nach einer Regulierung des Internets laut, die jedoch auf zwei grundlegende Schwierigkeiten trifft. Erstens entzieht sich das „World Wide Web“ einer nationalen Kontrolle , so dass eine wirksame Regulierung nur auf internationaler Ebene möglich ist. Zweitens betrifft Internetregulierung eine ganze Reihe von Akteuren, so dass sich traditionelle rein hierarchische Instrumente für die anstehenden Regulierungsprozesse als nicht geeignet erweisen. Überdies verfolgen die verschiedenen Gruppen Betroffener je eigene Ziele: Während viele Regierungen mehr Kontrolle begehren, streben Strafverfolgungsbehörden nach stärkeren Überwachungsmöglichkeiten , Urheberrechtsinhaber nach Regulierung und Markenrechtsinhaber eher nach Restriktionen (KLEINWÄCHTER 2012). Weitere wichtige Interessengruppen in diesem Zusammenhang sind technisch interessierte Netzaktivisten sowie involvierte internationale Organisationen . Sie alle werden in der Fachdiskussion mit dem englischen Begriff Stakeholder bezeichnet. Zahlreiche fehlgeschlagene Regulierungsversuche auf verschiedenen Ebenen (national und international ) haben zwischenzeitlich zu der Erkenntnis geführt, dass keiner der Stakeholder den ganzen Entscheidungsprozess zur Zukunft des Internets allein kontrollieren kann und alle aufeinander angewiesen sind (KLEINWÄCHTER 2012). Somit sind neue Formen der Regulierung gefragt. Nicht „Government“ als traditionelles Instrument eines hierarchischen, von oben nach unten verlaufenden Entscheidungsprozesses, sondern „Governance“ als zeitgemäßer Regulierungsprozess, der unter mehreren gleichberechtigten, internationalen Akteuren (Multi-Stakeholder) verläuft, ist hier das Stichwort. Die nachfolgende Ausarbeitung stellt in einem ersten Teil zunächst die Geschichte des Internet und der damit verbundenen Regulierungsprozesse dar und konzentriert sich dabei auf die Arbeit 1 Ein starker Ausdruck des Idealismus bezüglich nicht nur der technischen Möglichkeiten des Internets, sondern auch dessen Implikationen für einen neuen gesellschaftlichen und politischen Umgangsstil, ist die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“, die am 08.02.1996 von dem amerikanischen Netzaktivisten John P. Barlow im Internet verbreitet wurde (BARLOW 1996). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 5 der 1998 in den USA gegründeten Institution Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Die ab dem Jahr 2003 im Rahmen internationaler Organisationen intensivierten Bemühungen um kollektive Übereinkünfte zur Regulierung des Internets werden an anderer Stelle eingehender behandelt.2 Die vorliegende Untersuchung widmet sich im zweiten Teil theoretischen Betrachtungen zum aktuellen Forschungsstand der Internet Governance. 2. Geschichte der Internet Governance Eine Betrachtung der historischen Entwicklung der Internet Governance bietet interessante Hinweise auf die auch heute noch vorhandenen Konfliktlinien in diesem Feld. Internet Governance im Sinne eines internationalen Multi-Stakeholder- Ansatzes begann eigentlich erst mit den Vorläufern der Gründung der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) ab 1997. Bis dahin waren zentrale technische Funktionen des Internet überwiegend im Wege der Selbstregulierung und ausschließlich in den USA, erhalten und gepflegt worden (DINTER 2009: 208; MATHIASON 2009: 49). Von den Einflussmöglichkeiten her gesehen besteht bezüglich dieser technischen Funktionen eine wichtige Ausnahme zu der ansonsten dezentralen Struktur des „Netzes der Netze“ (Internet). Denn für die Datenübertragung ist es notwendig, dass alle beteiligten Netzwerkgeräte „die gleiche Sprache sprechen“. Die Sicherung dieser „Verständigungsmöglichkeiten“ wird insbesondere durch vier technische Funktionen gewährleistet, die zentral gesteuert werden müssen: einheitliche technische Übertragungsstandards, die zentrale Vergabe der IP-Adressen, die Verwaltung des Domain Name Service (DNS) und der Betrieb der Root-Server. In den Anfangszeiten des Internet konnten diese zentralen Funktionen leicht ohne jegliche institutionellen Strukturen geregelt werden. Das Netz entwickelte sich aus einem Computernetzwerk, das in den 1960er Jahren für die amerikanische Wissenschaft und Forschung aufgebaut wurde. Zwar wurde das Projekt durch die amerikanische Regierung finanziell unterstützt3, dennoch funktionierten die Verwaltungsstrukturen für das Netzwerk in den ersten Jahren regierungsunabhängig und informell: „The Internet began in a scientific and technical environment in which governments were absent, except as a funding source.“ (MATHIASON 2009: 3). Die Verwaltung der Netzwerkressourcen ebenso wie die Standardisierung der verwendeten Übertragungsprotokolle erledigten junge Wissenschaftler der beteiligten Institute gemeinsam mit den Ingenieuren der Firmen, die die eingesetzte Hardware lieferten. Zwar hatten sich die Entwickler zu einer Gruppe namens Network Working Group zusammengeschlossen. Diese bildete jedoch nur einen losen Zusammenschluss ohne feste Organisationsstruktur und mit „flachen Hierarchien“ (DINTER 2009: 191). Zu regelnde Fragen und Probleme wie auch die notwendigen technischen Standards wurden gemeinschaftlich entwickelt, indem jemand aus der Gruppe einen Vorschlag machte und zu diesem dann um Kommentare - „Requests for 2 Vgl. Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes WD 10-3000/040-2012: Internet Governance im Rahmen internationaler Organisationen. 3 Die Kosten wurden durch eine Agentur des US-Verteidigungsministeriums namens Advanced Research Projects Agency (ARPA) getragen. Deshalb erhielt das Netzwerk ursprünglich den Namen „ARPANET“ (DINTER 2009: 191). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 6 Comments“ (RFC) - bat. Auch für die dann folgende Entscheidungsfindung gab es kein festgelegtes Verfahren und keine offizielle Organisation. Es kam allein darauf an, ob die vorgeschlagene Lösung technisch machbar war. Wenn sie dann von möglichst vielen der Netzwerkadministratoren umgesetzt wurde, entstand ein „Quasi-Standard“. Die Umsetzung blieb dennoch freiwillig (DINTER 2009: 192). Somit entwickelte sich das Internet in einer Kultur, in der „eleganten technologischen Neuerungen ein weit höherer Stellenwert zugewiesen [wurde] als Fragen prozeduraler Legitimität“. Mehr noch, dieses Umfeld zeichnete sich durch eine allgemeine Abneigung gegenüber Konzepten einer formellen Governance aus (NYE/DONAHUE 2000: 264). Praktiziert wurde eine „Entscheidungsfindung von unten“, eine Selbstregulierung, die sich durch „offene Kooperation, eine partizipative Kultur und durch hohe Problemlösungsfähigkeit“ auszeichnete (DINTER 2009: 193). Organisatorisch stellten sich keine Probleme, solange die Zahl der beteiligten Rechner überschaubar blieb. Dies war noch Anfang der 1970er Jahre mit nur 200 angeschlossenen PCs der Fall. Nachdem im Jahr 1973 der erste Rechner außerhalb der USA mit dem Netzwerk verbunden wurde, wuchs das Netzwerk stetig. Überdies wurden zwischenzeitlich auch an anderen Orten in den USA sowie in anderen Regionen der Welt Computernetzwerke entwickelt. Als diese im November 1977 – ermöglicht durch die zwischenzeitliche Entwicklung des TCP/IP-Protokolls durch die Entwickler Robert Kahn und Vincent Cerf – erstmals miteinander verbunden wurden, entstand mit diesem „Netzwerk der Netze“ das eigentliche Internet. Damit wurde es auch notwendig, neue Übertragungsstandards zu schaffen und das DNS zu überarbeiten, das seither in der heutigen Struktur besteht (DINTER 2009: 194). Auch die rein informellen Verwaltungsstrukturen ließen sich nicht mehr halten und wurden stärker strukturiert. 1979 errichtete die nunmehr DARPA genannte Regierungsagentur ein Steuerungsgremium namens Internet Configuration Board, dem später das Internet Architecture Board (IAB) folgte. Dieses bildete zwar durch seine enge Zusammenarbeit eine Schnittstelle zwischen den Internetentwicklern und der amerikanischen Regierung. Dennoch „nahm die Regierung der Vereinigten Staaten weiterhin keinen Einfluss auf die Entwicklung des Netzes. (...) Wie bisher wurden die Entscheidungen über die weitere Entwicklung des Internets von einer 'Wissensgesellschaft' von Ingenieuren und Wissenschaftlern gesteuert.“ (DINTER 2009: 195). Jedoch gaben sich die bis dahin auf Basis der Requests for Comments (RFC) zusammenarbeitenden Ingenieure, Forscher und Netzentwickler mit der Gründung der Internet Engineering Task Force (IETF) im Jahr 1986 eine nach außen erkennbarere, gleichwohl sehr lockere, institutionelle Struktur: „Die IETF ist eine nicht offizielle, nicht eingetragene Vereinigung. Sie stellt keine juristische Person dar und verfügt weder über eine Geschäftsstelle noch über einen Vorstand. (…) Den von der IETF formulierten RFCs wurde von keiner Regierungseinrichtung offizielle Geltung verschafft, und so gesehen war die Beachtung der von der IETF vorgeschlagenen Protokolle freiwillig. Allerdings waren sie praktisch gesehen insofern doch bindend, als dass ein Ignorieren der Vorschläge zu Inkompatibilitäten und Fehlfunktionen im Internet geführt hätte.“ (JFK- SCHOOL 2001: 91). Nach der Abtrennung der Teile aus dem ARPANET, die von militärischen Einrichtungen genutzt wurden, wurde das Internet als rein ziviles Forschungsprojekt weitergeführt. Ab 1985 ging die Finanzierung des Netzes von der bisher dem Verteidigungsministerium unterstellten Agentur auf die der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergleichbaren „National Science Foundation“ (NSF) über. Durch den somit geförderten Aufbau eines leistungsstärkeren Übertragungsnetzes, stieg die Zahl der an das Netzwerk angeschlossenen Rechner weiter stark an Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 7 (DINTER 2009: 195). Allerdings war die Nutzung des Übertragungsnetzes des NSF in dieser Phase für kommerzielle Zwecke untersagt4 und ausschließlich wissenschaftlichen Institutionen weltweit sowie öffentlichen Einrichtungen in den USA vorbehalten. Diese Vorgabe änderte sich zu Beginn der 1990er Jahre zunächst durch die Zulassung kommerzieller E-Mail-Anbieter. Der sukzessive Fortfall öffentlicher Gelder für die Unterhaltung des Internets brachte es in den Folgejahren mit sich, dass immer mehr der kleineren regionalen und lokalen Netzwerke eine Kooperation mit kommerziellen Anbietern eingingen. Bis 1995 hatte sich die Situation soweit entwickelt, dass die physische Infrastruktur des Internets überwiegend durch private Firmen oder beteiligte öffentliche Einrichtungen betrieben wurden. Damit wurde der Betrieb einer Datenleitung, die durch öffentliche Mittel finanziert wurde, als überflüssig angesehen, was 1995 zur Abschaltung des durch den NSF betriebenen Übertragungsnetzes führte (DINTER 2009: 196). Das Ende des Internets als reines Wissenschaftsnetz und seine zunehmend kommerzielle Nutzung sowie wichtige technische Weiterentwicklungen5 führten zu einer raschen Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten des neuen Kommunikationsraumes. Das Internet wurde zu einer alltäglichen Infrastruktur für weite Teile der zivilen Gesellschaft wie auch für Wirtschaft und Handel. Die zunehmende Zahl von mit der Internetnutzung verknüpften Geschäftsmodellen führte bald dazu, dass die kommerziellen Nutzer mehr Einblick und Transparenz der Verfahren verlangten, mit denen zentrale Verwaltungsentscheidungen zum Internet getroffen wurden. Zu den zunächst nur technisch motivierten Fragestellungen (z. B. Entwicklung neuer Standards) kamen nun wirtschaftliche, politische und auch rechtliche Aspekte dazu (DINTER 2009: 197). So gab es 1997 mit der Firma Network Solutions Incorporated (NSI) im Wesentlichen eine Stelle, die Domainnamen vergeben konnte. Aufgrund der immensen Zahlen immer neuer Internetnutzer, die die ab 1995 kostenpflichtige Dienstleistung in Anspruch nahmen, erwies sich diese Aufgabe für das allein zuständige Unternehmen NSI als äußerst lukrativ (MATHIASON 2009: 51). Allerdings entstanden auch erhebliche patent- und markenrechtliche Probleme dadurch, dass NSI mehrfach Domainnamen vergab, die bereits durch ein eingetragenes Warenzeichen gesetzlich geschützt waren. Zahlreiche Gerichtsverfahren gegen NSI waren die Folge. Gleichzeitig gab es von Seiten der zunehmend selbstbewusster auftretenden „Nutzergemeinde“ des Internets (Netizens) zunehmend Kritik an Kostengestaltung und Management der Firma sowie generell eine wachsende Unzufriedenheit in Ländern außerhalb der USA über die alleinige Konzentration und Entscheidungsbefugnis über zentrale Infrastrukturen des Internets in den USA: „Der Kommerzialisierung des Internet folgte daher eine „Politisierung“ der Fragen nach den künftigen Verwaltungsstrukturen“ (DINTER 2009: 197), die spürbare Spannungen mit sich brachte. Der 1997 / 1998 auslaufende Vertrag des NSI mit der National Science Foundation bot schließlich den Anlass, zu einer insgesamt neuen Regelung der zentralen Verwaltungsmechanismen des nunmehr weltweit bedeutenden Internets zu kommen. Während einer Zwischenphase, die von Auseinandersetzungen sowohl unter den mit dem Internet beschäftigten Organisationen und Experten innerhalb der USA sowie immer lauter werdenden Forderungen anderer Staaten nach einer Internationalisierung der zentralen Verwaltungsstrukturen des Netzes gekennzeichnet 4 Diese Bedingungen waren in einer Benutzungsordnung des NSF als Acceptable Use Policy festgelegt (DINTER 2009: 196). 5 Hier sind insbesondere die Einführung der WWW-Protokolle und die Erfindung des Web-Browsers zu Beginn der 1990er Jahre zu nennen (JFK-SCHOOL 2001: 90). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 8 war, wurden verschiedene Konzepte für die zukünftige Regelung dieser Fragen diskutiert. Insbesondere eine auf Eigeninitiative einiger der wichtigsten mit dem DNS befassten Organisationen in den USA gegründete „quasi-offizielle Organisation“ stellte „viele bislang unterschwellige Fragen über Kompetenzen im Internet in den Vordergrund“. Das Internet International Ad Hoc Committee (IHAC) war eigentlich eine Arbeitsgruppe einer ganzen Reihe von Organisationen und öffnete durch die Einbeziehung von internationalen Organisationen wie der World Intellectual Property Organization (WIPO), der International Telecommunication Organization (ITU) sowie der International Trademark Association (INTA) 6 Regulierungsfragen bezüglich des Internets erstmals einer internationalen Perspektive. 7 Angesichts der nach diesen Debatten entstandenen erheblichen Unstimmigkeiten auch innerhalb der amerikanischen Internet-Community, legte sich die Clinton Administration dahingehend fest, dass die zukünftige Verwaltung der technischen Infrastruktur des Internets auf eine privatrechtliche Organisation übergehen sollte. Gleichzeitig beharrte sie entgegen den sowohl von internationaler Seite wie auch aus Teilen der Internet-Community erhobenen Forderungen nach einer Internationalisierung der Kontrolle über zentrale Internet-Funktionen darauf, dass diese Aufgaben zukünftig durch eine privatwirtschaftliche Organisation mit Sitz in den USA wahrgenommen werden sollten. Mit der Vorbereitung dieser Gründung wurde die Regierungsbehörde National Telecommunication and Information Administration (NTIA) mit dem Ziel beauftragt, „alle Anstrengungen zu unterstützen, die darauf abzielen, die Steuerung des Domainnamen-Systems nach privatwirtschaftlichen und wettbewerbsorientierten Prinzipien zu organisieren und ein vertraglich festgelegtes Selbstregulierungs-Regime zu errichten, das sich mit potenziellen Konflikten zwischen der Nutzung von Domainnamen und der Anwendung von Markenschutzvorschriften auf internationaler Ebene befasst“.8 Gleichzeitig war es jedoch auch unbestritten, dass in den nun folgenden Vorbereitungsprozess für die neue Organisation internationale Interessen einzubeziehen waren. Daher veröffentlichte das zuständige Handelsministerium die beabsichtigten Pläne zunächst in einem „Grünbuch“, für das zwei Kommentierungsdurchläufe vorgesehen waren. In dem unter Einbeziehung von 650 eingereichten Kommentaren verfassten Abschlussbericht („Weißbuch“) wurde zunächst deutlich, dass die US-Administration trotz anderslautender Forderungen daran festhielt, dass die neue Organisation „als nicht gewinnorientiert arbeitende Gesellschaft nach USamerikanischem Recht mit Sitz in den USA gegründet“ werden sollte (DINTER 2009: 207). 6 Die WIPO bzw. ihre Vorläuferorganisation United International Bureaux for the Protection of Intellectual Property besteht seit 1893 und widmet sich als zwischenstaatliche Organisation dem Schutz des geistigen Eigentums. Die INTA ist ein seit 1873 bestehender Verband von Markeninhabern und setzt sich aus dem spezifischen Blickwinkel dieser Interessengruppe ebenfalls für den Schutz von Rechten an geistigem Eigentum ein. Die ITU ist eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, an der staatliche Stellen und private Organisationen aus dem Telekommunikationssektor beteiligt sind. 7 IHAC wurde gegründet von der gemeinnützigen Interessengruppe Internet Society (ISOC) und der für das DNS und IP-Protokolle zuständigen Internet Assigned Numbers Authority (IANA). Die Arbeitsgruppe hatte sich angesichts der Probleme, die sich aus der alleinigen Zuständigkeit von Network Solutions für das DNS ergaben, das Ziel gesetzt, eine neue Verfahrensweise für die Zukunft zu entwickeln. Das in kurzer Zeit ausgearbeitete und von anfänglich 60 Signataren unterzeichnete Schlussdokument Generic Top Level Domain Memorandum of Understanding schlug unter anderem vor, 28 neue Registrierungsstellen aufzubauen, die mit der Firma Network Solutions in Konkurrenz treten sollten (JFK-SCHOOL 2001: 107) 8 Zitiert nach JFK-SCHOOL 2001: 110. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 9 Gleichwohl ließ die ungewöhnliche Kategorisierung des Weißbuches als unverbindlicheres Format eines Statement of Policy auch erkennen, dass mit diesem Bericht nicht die Struktur der neuen Organisation verbindlich festgelegt werden sollte. Vielmehr wurden die grundlegenden Vorstellungen formuliert, an denen entlang die neue Organisation nach ihrer Gründung selbst ihre genaue Struktur sowie ihre Entscheidungs- und Arbeitsprozesse festlegen sollte. Ein Vergleich der entsprechenden Passagen im Grünbuch und im späteren Weißbuch der US- Administration zeigt, dass die zahlreichen Kommentare vor allem von internationaler Seite Berücksichtigung fanden (MATHIASON 2009: 57). Sie wurden bei den vier formulierten „Grundprinzipien“ unter dem Stichwort „Repräsentativität“ behandelt, das in besonderer Weise die weltweite Bedeutung des Internets und dessen besondere „Nutzerkultur“ zu berücksichtigen suchte. Demnach sollte die neue Organisation als privates Unternehmen für das Wohl der gesamten Internet-Community agieren. Die Entwicklung vernünftiger, fairer und allgemein akzeptierter Grundsätze für die DNS-Verwaltung solle unter aktiver Beteiligung der Gemeinschaft der Internet-Nutzer geschehen. Sowohl Verwaltungsstrukturen als auch Entscheidungsprozesse der neuen Organisation sollten der Internationalität des Internet Rechnung tragen (JFK-SCHOOL 2001: 113). Eine Rolle für internationale Organisationen sieht die US-Administration nur im Zusammenhang mit der Schlichtung von Streitigkeiten über Markenrechtsverletzungen durch vergebene Domainnamen (DINTER 2009: 207). Die weiteren Grundprinzipien des Weißbuches waren: „Stabilität“ (bevorstehende Umstrukturierungen dürfen die Stabilität des Netzes nicht gefährden); „Wettbewerb“ (das Internet soll dezentral und frei bleiben für Wettbewerbsprozesse und Marktmechanismen) und „Koordination von ‚unten-nach-oben‘“ (Vorzug einer Koordination durch private Akteure vor Regierungsstellen). Der komplexe Vorbereitungsprozess für die neue Organisation hatte bereits einige wesentliche Grundlinien der bis heute bestehenden Kontroversen um die Internet Governance erkennen lassen, vor allem die starken Interessengegensätze der beteiligten Akteure oder Stakeholder. Zwar hatte die US-Administration in ihrem Weißbuch gefordert, die neue Organisation solle ihre Legitimierung „durch die Beteiligung von zentralen Stakeholdern und die Vertretung der unmittelbaren Interessen der Internet-Nutzer erlangen“ (JFK-SCHOOL 2001: 128). Dennoch ist es bis heute kaum möglich, Regelungen für die Internetverwaltung zu finden, die die Akzeptanz sowohl von Regierungen als auch von kommerziellen Anbietern oder Nutzern, internationalen Organisationen sowie der privaten Internet-Nutzercommunity finden. Als ICANN am 18. September 1998 als nicht gewinnorientiertes Unternehmen mit Sitz im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien gegründet wurde, war dies auch der Beginn eines „Experimentes globaler Co-Regulierung“, für das es bis dahin kein Vorbild gab. 3. Entwicklung während des Bestehens von ICANN ICANN war von Beginn mit sehr heiklen und schwierigen Problemen konfrontiert. Dies waren zum einen die sachlichen Themen bezüglich der Streitfragen zum geistigen Eigentum und Markenrechten wie auch Registrierungsfragen Top-level domains, neue Länder-Domainnamen sowie die Ausweitung von verfügbaren Top-level domains zur Ermöglichung neuer Namensvergaben. Zudem war ein funktionierendes Geschäftsmodell für die neue Institution zu entwickeln, die sich eigenständig finanzieren. Auch die genauen Strukturen und Entscheidungsprozesse, die die konzeptionellen Grundprinzipien abbilden sollten, waren festzulegen (MATHIASON 2009: 74). Sogar über die Formulierung der Ziele von ICANN gab es anfänglich Kontroversen: „Die eigentli- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 10 che Streitfrage war, ob es sich bei ICANN um eine kleine, der technischen Koordinierung des Internets dienende oder um eine politisch orientierte und politische Entscheidungen treffende Organisation handelte.“ (JFK-SCHOOL 2001: 123). Angesichts der immensen weltweiten Bedeutung des Internets in gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ist eine klare Abgrenzung rein „technischer Fragen“ von politischen Implikationen allerdings wohl kaum praktikabel . Daher kam der Organisationsstruktur der neuen Institution, die möglichst viele Stakeholder in irgendeiner Form einbinden sollte, eine große Bedeutung zu. Als wichtiges Zugeständnis auf entsprechende Kritik, die bereits in der Vorphase aus dem Bereich der Internet-Community gegen ICANN vorgebracht worden war, war in der Satzung „die Einrichtung einer Mitgliedschaft aller Internet-Nutzer“, sogenannte At-Large-Membership, vorgenommen worden (JFK-SCHOOL 2001: 124). Dafür mussten neun der insgesamt 19 ICANN-Direktoren von den Internetnutzern gewählt werden. In einem aufwendigen Wahlverfahren, an dem sich schließlich weltweit ca. 34.000 Wähler über das Internet beteiligten, wurden fünf der neun Posten besetzt. Zwar wurde von unabhängigen Beobachtern bestätigt, dass es sich bei diesem Prozess um ordnungsgemäße Wahlen handelte, dennoch blieb dieser Versuch ICANNs zur Gewährleistung demokratischer Legitimation nicht unumstritten (DINTER 2009: 213). Nach diesem ersten, sehr komplizierten Wahldurchgang für die At-large-Members, setzte sich die Erkenntnis durch, dass dieses Verfahren zu komplex und unberechenbar war. Entsprechende Änderungen mit Einschränkungen für die basisdemokratischen Elemente des Wahlverfahrens waren die Folge (MA- THIASON 2009: 82). Die weitere Entwicklung von ICANN blieb wechselhaft und reich an Kontroversen.9 Nur zwei Jahre nach seiner Gründung war bereits die Hälfte der anfänglichen Direktoren, bis 2003 alle von ihnen ausgeschieden (MATHIASON 2009: 74). Auch die Struktur der Institution wurde innerhalb sehr kurzer Zeit wieder grundlegend verändert. Bereits im Jahr 2002 kam es zur Gründung eines „Ausschusses für Restrukturierung“. Die folgende Grafik zeigt den Aufbau von ICANN seit der Umstrukturierung von 2002: 9 Für eine detaillierte Schilderung der Entwicklung von ICANN siehe JFK School 2001 (für die ersten Jahre) und MATHIASON 2009. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 11 Quelle: http://www.icann.org/en/about/welcome In der Organisationsstruktur wird zahlreichen Akteursgruppen eine Funktion zugewiesen. Im Vorstand von ICANN sind alle wichtigen Stakeholder vertreten: die private Wirtschaft sowie Nichtregierungsorganisationen und Vertreter akademischer Einrichtungen sowie Vertreter der Internet -Nutzer. Die einzige Gruppe „not strongly represented is government“, wie MATHIASON bezogen auf das Jahr 2007 feststellte (MATHIASON 2009: 84). Eine Reihe weiterer Gremien dient der Repräsentation der verschiedenen Stakeholder. Regierungen sind im Governmental Advisory Committee (GAC) vertreten. Mit der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung von Fragen der Internetregulierung wuchs auch das Interesse von Regierungen an der Arbeit von ICANN und die Rolle des GAC wurde seit 1998 gestärkt. Dennoch werden Regierungen grundsätzlich als die Akteursgruppe angesehen, die innerhalb von I- CANN einen eher „begrenzten Einfluss“ hat (MATHIASON 2009: 88). Nutzerinteressen werden vom At-Large Advisory Committee vertreten. Sie sollen jedoch auch in der Generic Names Supporting Organization (GNSO) Einfluss finden, wo allerdings von sechs Untergruppen der GNSO nur eine mit dem Namen „Nichtkommerzielle Interessen“ die Anliegen privater Nutzer vertritt. Die bereits erwähnte Unterorganisation GNSO ist mit der Verwaltung der generischen Domainnamen höchster Stufe (Top-Level, gTLD) befasst. Sie vereint alle bei der ICANN unter Vertrag stehenden Registrierungsorganisationen für gTLD sowie alle akkreditierten Registrare (häufig Internet Service Provider), die Gruppe der Internet Service Provider, die Vertreter kommerzieller Interessen , Experten für Fragen geistigen Eigentum und Markenrechten sowie die Gruppe der nichtkommerziellen Nutzer (MATHIASON 2009: 90). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 12 Dagegen werden die länderspezifischen Domainnamen in der Unterorganisation Country Code Domain Names Supporting Organization (ccNSO) behandelt. Vertreten sind die länderspezifischen Registrierungsorganisationen. Einer weitere Unterorganisation, der Address Supporting Organization (ASO), gehören die regionalen Registrierungsorganisationen aus allen Kontinenten an (Vgl. Anhang 1). Die anfänglich Protocol Supporting Organization genannte Unterorganisation, die mit zentralen technischen Fragen wie der Standardisierung und der Root Server befasst war, wurde bei der Umstrukturierung im Jahr 2002 in drei Gremien aufgeteilt. Das Security and Stability Advisory Committee (SSAC), das Root Server System Advisory Committee (RSSAC) und die Technical Liaison Group (TLG) befassen sich mit diesen Themen. Sie stehen dabei in enger Zusammenarbeit mit der eigentlich für sich stehenden Internet Engineering Task Force (IETF), die als eine der wenigen der in den Anfängen des Internet gebildeten Expertenzusammenschlüsse bis heute besteht 10 und ICANN zuarbeitet. Wenn ICANN insgesamt nur technische Aufgaben hätte, hätte es seine Arbeit vermutlich „relativ im Verborgenen“ erledigen können (MATHIASON 2009: 92). Weil es jedoch auch immer wieder mit Fragen befasst ist, die politische und / oder wirtschaftliche Konsequenzen nach sich zogen, wurde die Organisation weit mehr als vor Jahren im Weißbuch der US-Administration skizziert, in politisch kontroverse Einzelfragen hineingezogen. Ein Beispiel hierfür waren die jahrelangen Diskussionen im Vorfeld der Entscheidung für die Einrichtung einer eigenen Top-Level Domain für Webseiten mit pornografischen Inhalten.11 ICANN war in der relativ kurzen Geschichte ihres Bestehens vielfachen Spannungen ausgesetzt, die sich, wie die vorangegangene Schilderung gezeigt hat, zum Teil aus Interessengegensätzen beteiligter Stakeholder wie auch aus politischen Gründen entwickelten. Die politischen Implikationen der Arbeit von ICANN verschärften sich im Laufe der ersten zehn Jahre seines Bestehens aus Gründen, die nicht allein in den Strukturen und den Entstehungsbedingungen der Institution selbst zu suchen waren. Mit der weltweiten Verbreitung des Internets und den zusätzlichen Nutzungsmöglichkeiten traten bislang in dieser Form unbekannte Themen und Regulierungsforderungen auf die internationale Tagesordnung wie Urheberrechtsverletzungen durch unberechtigte Downloads, terroristische oder kriminelle, einschließlich kinderpornografische Aktivitäten (MA- THIASON 2009: 59). 10 Zwischenzeitlich besteht die Gruppe weltweit aus mehreren tausend Ingenieuren und Wissenschaftlern und ist auch heute für den gesamten Standardisierungsprozess bezüglich des Internets zuständig. Sie arbeiten nach wie vor über das in den 1970er Jahren entwickelte System der Requests for Comments plus jährlich etwa drei Tagungen. Eine Steuerungsgruppe koordiniert die Aktivitäten der IETF. Die Teilnahme steht jedem Interessierten offen, eine formelle Mitgliedschaft gibt es nicht (LEIB 2008). Offenbar ist es in diesem allein auf technische Fragen bezogenen Bereich weiterhin möglich, frei von politischen oder wirtschaftlich orientierten Interessen sachorientiert und „geräuschlos“ nach Lösungen zu suchen. 11 Die Entscheidung von ICANN wurde im März 2011 verkündet. Kontroversen zu diesem Thema gab es aber bereits seit dem Jahr 2000 (IANA 2011). Insbesondere das Governmental Advisory Board zeigte großes Interesse an diesem Thema. Auch wurde im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung Befürchtungen einer unbotmäßigen politischen Einflussnahme seitens der US-Administration neue Nahrung gegeben (MATHIASON 2009: 95f). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 13 Wie MATHIASON unterstreicht, ist auch in der Konstruktion der Organisation ein bestimmtes Spannungspotential angelegt: Zwar ist ICANN von ihren Aufgaben her eine internationale Institution . Dennoch handelt es sich formal um ein nicht gewinnorientiertes Unternehmen mit Sitz im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien. Gegenüber anderen Institutionen dieser Art hat die ICANN jedoch eine größere Autorität, weil sie mit Mehrheitsprinzip bindende Entscheidungen treffen kann.12 Gerade diese bedeutende Kompetenz in Bezug auf das weltweit mit intensiven, jedoch oft widersprüchlichen Interessen belegte Internet sowie der anhaltende Argwohn bezüglich einer befürchteten amerikanischen Dominanz werden vermutlich weiter dafür sorgen, dass Bestrebungen nach einer stärkeren Internationalisierung der Internet-Verwaltung – zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen – intensiviert werden.13 4. Theoretische Überlegungen zur Internet Governance Der Verlauf der Entwicklung von Regulierungsversuchen bezüglich des Internets sowohl durch ICANN wie auch im Rahmen anderer internationaler Foren, hat die Vorstellungen und Ziele über Internet Governance als neues Thema auf der internationalen Agenda mitgeformt. Die besonderen Anforderungen an wirksame Regulierungsmethoden in diesem Bereich ergeben sich daraus, dass in dem weltweiten „Netzwerk der Netze“ unterschiedliche Regulierungen und Moralvorstellungen aufeinander treffen und Unklarheit darüber besteht, für wen welche Regulierung gilt (PUPPIS 2010: 259). Das Internet an sich ist kein neues Medium, sondern lediglich ein „technischer Distributionskanal“, der verschiedenste Anwendungen ermöglicht und selbst nichts über seine Nutzung oder über die über ihn verbreiteten Inhalte aussagt (PUPPIS 2010: 257). Die Geschichte bisheriger Regulierungsversuche des Internets zeigt, dass eine wirksame Internetregulierung nur möglich ist, wenn ökonomische, politische und gesellschaftliche Akteure auf nationaler und internationaler Ebene zusammenarbeiten. Somit bedarf es neuer Formen der internationalen Kooperation unter Einbeziehung verschiedenster Akteure an der Regulierung (PUPPIS 2010: 260). Hierfür bietet sich der Begriff Governance an, da er als analytisches Konzept eine integrierende Betrachtung verschiedener Formen von Politik und Regulierung ermöglicht (DONGES/ PUPPIS 2010: 84). 12 Es gibt im internationalen Bereich auch andere Institutionen, die privat organisiert sind, wie beispielsweise die International Organization for Standardization (ISO). Sie hat die Aufgabe, Übereinkünfte über internationale Standards herbeizuführen und setzt sich aus 157 nationalen Standardisierungsinstituten zusammen, von denen einige regierungsgebunden , andere privat organisiert sind. Vor diesem Hintergrund sieht MATHIASON die Kategorisierung der ISO als Nichtregierungsorganisation als zweifelhaft an. Ihre Arbeitsweise ist der der oben beschriebenen IETF vergleichbar , ebenso wie dort werden Entscheidungen nur im Konsens getroffen (MATHIASON 2009: 71). 13 NYE und DONAHUE unterstreichen, dass es in der Sichtweise von ICANN als Mechanismus für die Internet-Verwaltung „interessante Unterschiede zwischen der amerikanischen und der internationalen“ Perspektive gibt (NYE / DONA- HUE 2001: 271f). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 14 4.1. Zum Begriff der „Governance“ Eine Betrachtung aller Regulierungsformen im Bereich des Internets ergibt ein breites und sehr divergentes Feld: es gibt Regelungen auf nationaler, transnationaler oder internationaler Ebene unterschiedlicher Verbindlichkeiten sowie Formen der Selbst- und Koregulierung. Es gibt eine Vielzahl von Akteuren, zu denen neben Regierungen, internationalen Organisationen und dem kommerziellen Sektor auch privatrechtliche Organisationen (z.B. ICANN), sehr einflussreiche, jedoch informelle Zusammenschlüsse von technischen Experten (z. B. IETF) und private Interessengruppen gehören. Governance als Konzept bezieht sich nicht auf die Analyse eines einzelnen Regelungsvorganges, sondern ermöglicht eine Betrachtung eines komplexen Feldes verschiedener Regulierungsansätze . Mithin kann Governance definiert werden als „Gesamtheit aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionellen zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zum hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure.“ (DONGES / PUPPIS 2010: 84). Governance kann begriffen werden als eine horizontale wie auch vertikale Ausweitung des klassischen Begriffs von Regierung („Government“). In horizontaler Ausweitung des traditionellen Begriffs wird somit eine Analyse sämtlicher staatlicher und nicht-staatlicher Regulierungsformen (insbesondere Selbst- und Koregulierung) möglich. In vertikaler Hinsicht erlaubt der weitere Governance-Begriff die Betrachtung verschiedener Ebenen der Regulierung (DONGES / PUPPIS 2010: 84). Wenn nun in die Betrachtung verschiedene Formen und verschiedene Ebenen von Regulierung einbezogen sind, kann weiter gefragt werden, welche inhaltlichen Bereiche unter Internet Governance fallen. Hier werden drei Ebenen genannt. Dies ist zum einen der Bereich der elektronischen Kommunikationsinfrastruktur, den PUPPIS als „physische Ebene“ bezeichnet (2010: 261). Fragen der Bereitstellung von funktionierenden Netzen, von Zugangsmöglichkeiten oder Netzneutralität würden dazu gehören. Darauf aufbauend bestimmt der „Code“, ob und wie das Internet funktioniert. Ohne standardisierte Protokolle und ohne ein zentrales Management der Kernressourcen des Internet (IP-Adressen , Domain Name System und Root-Server) ist Verständigung im WWW nicht möglich. Doch besonders wichtig ist der Code bzw. die „Architektur des Internets“, denn sie, „also die benutzten Technologien und deren Funktionsweise, bestimmen darüber, was online möglich ist und was nicht.“ Der amerikanische Internetexperte Lawrence LESSIG formulierte noch drastischer, „Der Code ist das Gesetz“. Auch für die Regulierung des Internets ist die Ebene des Codes (code layer) besonders wichtig, denn manche Internet-Architekturen „erlauben eine größere Regulierbarkeit und eine größere Kontrolle als andere“.14 Nach PUPPIS ‘ Ansicht könnte durch eine Veränderung des Codes das Internet „regulierbar“ werden, indem bestimmte Inhalte oder Verhaltensweisen ihren Verursachern durch entsprechende Identifizierungssysteme eindeutig zugewiesen werden könnten (2010: 264). 14 LAWRENCE LESSIG in seinem Buch „Code und andere Gesetze aus dem Cyberspace“, zitiert nach DONGES / PUPPIS 2010: 263. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 15 Schließlich ist die dritte Ebene des Content Layer zu betrachten, die Inhalte und Nutzerverhalten im Internet umfasst. In diesen Bereich fallen Stichworte wie Suchmaschinenneutralität, Datenschutzfragen in kommerzieller wie auch politischer Hinsicht, Probleme sozialer Netzwerke, illegale oder unerwünschte Inhalte bzw. Urheberrechtsfragen sowie die Etablierung von Rahmenbedingungen für elektronischen Handel (PUPPIS 2010: 264ff). Auf allen drei Ebenen können regulatorische Maßnahmen erfolgen, jedoch bauen sie aufeinander auf „Die Ausgestaltung der stützenden Schichten bestimmt jeweils die regulierbarkeit der höheren Schichten“ (PUPPIS 2010: 262). Für das Internet war in seinen Anfangszeiten das aus der Medienkommunikationstheorie stammende „Common-Carrier-Modell“ prägend, das im Bereich der Telekommunikationsinfrastruktur entstanden war. Demnach bezogen sich staatliche Regulierungsmaßnahmen traditionell nur auf die Infrastruktur, nicht jedoch auf die transportierten Inhalte. Bezogen auf das Internet ist dieses Prinzip inzwischen nicht mehr zutreffend, denn bestimmte Regulierungsmaßnahmen gehen deutlich über die Infrastruktur hinaus. Ein „neues Modell der Internetregulierung ist im Entstehen begriffen“. (PUPPIS 2010: 64). Dabei ermöglicht die Offenheit des Governance-Begriffes auch die Einbeziehung des eigentlichen Entstehungsprozesses neuer Normen und Übereinkünfte, denn der Begriff enthält eine „Prozessund eine Strukturdimension“(LEIB 2008: 39). Die Prozessdimension kommt in der Definition der Working Group on Internet Governance (WGIG) der Vereinten Nationen zum Ausdruck, in der sie als entscheidend die Bedeutung der Entwicklung und Anwendung von Regulierungsansätzen nennt: „Internet Governance is the development and application by Governments, the private sector and civil society, in their respective roles, of shared principles, norms, rules, decisionmaking procedures, and programmes that shape the evolution and use of the Internet.“ (WGIG 2005: 4). 5. Ergebnis und Ausblick Die vorangegangene Untersuchung hat sich bezüglich der bisherigen Praxis der Internet Governance auf die Darstellung der frühen Entstehungsgeschichte und die Arbeit der in den USA ansässigen Institution ICANN beschränkt. Deren Arbeit wird auch weiterhin von verschiedenen Seiten kritisiert. So wurden von Seiten der Nutzercommunity Stimmen laut, die ICANN für zu hierarchisch hielten und die Gruppe der Nutzer bzw. der Zivilgesellschaft als Stakeholder für unterrepräsentiert hielten. Demgegenüber kritisierten einige Regierungen, die Hierarchie von I- CANN sei zu schwach ausgebildet und gäbe Nichtregierungsinteressen einen zu großen Einfluss (COLLINS 2009: 199). Vor dem Hintergrund dieser kritischen Haltung werden seit 2003 verstärkt auf internationaler Ebene Bemühungen um eine kollektive Regulierung der Verwaltung des Internet unternommen. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren bezüglich der Internet Governance wichtige neue Weichenstellungen erfolgen werden. Dem Experten für Internet Governance WOLFGANG KLEINWÄCHTER zufolge ist jedoch offen, in welche Richtung dieser zwischen zwei extremen Polen verlaufende Prozess ausgehen wird: Während einige Stimmen die Einrichtung einer zentralisierten zwischenstaatlichen Organisation favorisieren, treten andere für ein dezentral funktionierendes Multistakeholder-Governance-Modell einer gleichberechtigten Zusammenarbeit ein (KLEINWÄCHTER 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 16 Sicherlich haben die Erfahrungen mit den immer neuen Nutzungsmöglichkeiten des Internets gerade auch für kriminelle oder politische Zwecke dazu geführt, das Interesse nach stärkeren staatlichen Kontrollmöglichkeiten des Internets deutlich zu verstärken. Andererseits würde dies eine grundlegende Neuausrichtung der „Kultur des Internets“ mit sich bringen. Diese war, wie die vorangegangene Untersuchung gezeigt hat, von Anfang an von antihierarchischen Vorstellungen eines freien und weitgehend selbstbestimmten Kommunikationsraumes geprägt, in dem auf eine egalitäre Weise sehr pragmatisch Lösungen für anstehende Probleme gesucht werden. Mag diese Sicht zu Anfang auch stark von Vorstellungen der amerikanischen „Hippie-Generation“ der 1960er Jahre geprägt gewesen sein, so ist doch heute unbestreitbar, dass diese Ideen inzwischen weltweit das Bild junger internetaffiner Menschen von „ihrem WWW“ ausmachen. Verschiedene Anlässe der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Lösungen „von oben“ gerade im Bereich Internetregulierung auf erbitterten und oftmals wirkungsvollen Widerstand gerade dieser jüngeren Generation stoßen. Deshalb dürften auch zukünftige Modelle von Internet Governance ohne eine Beteiligung aller Stakeholder kaum umsetzbar sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 17 Quellenverzeichnis: BARLOW, JOHN PERRY 1996. Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Am 08.02.1996 im Internet veröffentlichte Erklärung. In deutscher Übersetzung von Stefan Münker bei Telepolis / heise.de unter http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/1/1028/1.html (Stand: 20.4.2012) COLLINS, RICHARD 2009. Three Myths of Internet Governance. Intellect Books: Chicago 2009. DINTER, JAN 2009. Internationale Infrastrukturprojekte im Telekommunikationssektor. Nomos Verlagsgesellschaft: Baden-Baden 2010 DONGES, PATRICK; PUPPIS, MANUEL 2010. Kommunikations- und medienpolitische Perspektiven: Internet Governance. In: Handbuch Online-Kommunikation. Hrsg. Wolfgang Schweiger. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2010, S. 80 – 104. IANA 2011. Delegation of the .XXX top-level domain. Bericht der IANA-Delegation. Im Internet unter http://www.iana.org/reports/2011/xxx-report-20110407.pdf (Stand 24.04.2012). JOHN F. 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From the beginning, every device directly connected to the Internet needed an IP (Internet Protocol) address - a unique number that identifies the device and allows it to be located on the network. For the system to work every connected device must have a unique address, so it was important that the allocation of IP addresses was carefully registered to avoid conflicts. In the beginning, the global IP address registry was simply a list of IP address ranges, along with details of the organizations to which these had been allocated. Of course as more organizations joined the Internet, this list grew. Before long this important role was formalized as IANA - the Internet Assigned Numbers Authority. Even so, the list of organizations continued to grow. So, following the Internet's rapid expansion across the world, it became clear that even IANA would be unable to scale to meet the demand for addresses or be able to service the wide range of different regional needs. In 1992, the Internet Engineering Task Force (IETF) recommended that Internet number resources be managed by subsidiary organizations at a regional level. As a result, the Regional Internet Registries (RIRs) were established to assume this regional allocation and management role in cooperation with IANA. Today, there are five RIRs - APNIC, ARIN, RIPE NCC, LACNIC, and AfriNIC. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 – 3000/25-2012 Seite 19 With the active support of their respective communities, the RIRs have the authority within their regions to administer and register IP address space and Autonomous System numbers and to provide related services. RIRs operate as industry self-regulatory bodies. Their open structures encourage direct participation by any interested party through consensus-driven, bottom-up decisionmaking processes. This ensures that those who directly use these numeric Internet resources define the policies that govern their distribution and use. All RIRs are notfor -profit organizations which are entirely self-funded by their Members and those that use the resources. For over a decade now, this framework has provided a number resources management system that is scalable, effective, stable, open, and fair. This has been critical to the successful growth of the Internet in the past and will ensure its stability into the future. While RIRs work independently within the regions they serve, they also cooperate and coordinate their activities with each other. Some of this work is done through the Number Resources Organization (NRO), which is a coordinating body that unites the five RIRs.