© 2016 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 - 017/16 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anerkennung der Yeziden als Religionsgemeinschaft in Deutschland Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 2 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anerkennung der Yeziden als Religionsgemeinschaft in Deutschland Aktenzeichen: WD 10 - 3000 - 017/16 Abschluss der Arbeit: 24. März 2016 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 1.1. Grundlagen 4 1.2. Yeziden in Deutschland 5 1.2.1. Zwangsehe und sexuelle Unterdrückung 6 1.2.2. Stellungnahme des weltlichen Oberhauptes Mîr Tahsîn Beg 6 1.2.3. Stellungnahme des kirchlichen Oberhauptes Baba Sheikh 7 2. Religionsfreiheit als verfassungsmäßiger Grundsatz 7 3. Grenzen der Religionsfreiheit 8 4. Entscheidung und Kontrolle durch die Rechtsprechung 9 5. Ablauf der gerichtlichen Überprüfung in Bezug auf die Religionsausübung 9 6. Voraussetzungen für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft 9 7. Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts 10 8. Exkurs: Religionsfreiheit und die Organisationsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts für den Islam 12 9. Fazit 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 4 1. Einführung Das Yezidentum ist eine monotheistische, mündlich tradierte Religion, die von ihren Anhängern selbst oftmals als älteste Religion der Welt verstanden wird. Die Ursprünge und die Geschichte der Yeziden (auch „Jesiden“ oder „Ezidi“ geschrieben) sind bislang aber wenig erforscht. 1.1. Grundlagen Angenommen wird, dass das Yezidentum auf eine Vermischung unterschiedlicher religiöser Vorstellungen - etwa des orientalischen Christentums, des Islams und des Zorastrismus – zurückgeht ."1 Es gibt keine verbindlichen theologischen Schriften im Yezidentum. Die Weitergabe religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen beruht ausschließlich auf mündlicher Überlieferung . In der Literatur über die Yeziden werden dennoch zwei Bücher erwähnt, das „Buch der Offenbarung " (Kiteb-i Jilwe) und die „Schwarze Schrift" (Meshef Resch). Gegenüber Nicht-Yeziden gelten diese als geheim.2 Die Yeziden gehören zum Großteil dem kurdischen Volk an; die yezidische Sprache ist ein Dialekt des Kurdischen. Die Mehrheit lebt in den kurdischen Gebieten des Nordiraks, weitere große Siedlungsgebiete befinden sich im Nordosten Syriens, in Armenien und in Georgien.3 Gab es früher auch eine größere yezidische Volksgruppe in der Türkei, hat die Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden mittlerweile deutlich abgenommen.4 Über die Gesamtzahl der Yeziden weltweit gibt es keine zuverlässigen statistischen Daten. Je nach Quelle differieren die Schätzungen stark, von etwa 400.000 bis hin zu 2,9 Millionen.5 Yezide kann nur sein, wer als Kind einer yezidischen Familie geboren wird. Eine Konversion zum yezidischen Glauben ist folglich nicht möglich; auch kennt das Yezidentum dadurch keinen Missionierungsauftrag Anders- oder Nichtgläubiger. Seit dem 12. Jahrhundert besteht innerhalb der yezidischen Gemeinschaft durch ein striktes Kastensystem eine strenge Hierarchisierung. Die Gläubigen werden nach dem Erbprinzip einer der drei Kasten zugeordnet: den Laien (Murids) oder den zwei Klassen der Geistlichen (Pîrs oder Sheiks). Wechsel zwischen den Kasten sind nicht möglich, außerdem ist eine Heirat nur innerhalb derselben Kaste erlaubt (sogenannte Endogamie ). Das yezidische Kastensystem darf nicht mit dem Kastensystem, wie es z.B. in Indien praktiziert wird, gleichgesetzt werden. Dort herrscht ein Klassensystem; je tiefer die Kaste, desto niedriger ist die Würde der Angehörigen. Bei den Yeziden verhält es sich anders. Hier sind die Menschen in den verschiedenen Kasten einander gleichgestellt und genießen dieselbe Achtung und denselben Respekt. Die Hierarchie durch das Kastensystem ist also vorrangig religiöser und 1 Kartal, Yeziden in Deutschland: Einwanderungsgeschichte, Veränderungen und Integrationsprobleme, in: Kritische Justiz (2007), H. 3, 240-257, S. 241. 2 Enzyklopädie des Islam, Yeziden, http://www.eslam.de/begriffe/y/yeziden.htm (letzter Zugriff: 21.03.2016). 3 Grundlach, Kurzinformation Religion: Yeziden, in: Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst (Remid 2005), http://remid.de/pdf/remid-info-yeziden.pdf (letzter Zugriff: 16.03.2016). 4 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jelpke, Werner, Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/13854, Situation von Angehörigen der ezidischen Religionsgemeinschaft , S. 3, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/142/1714259.pdf (letzter Zugriff: 18.03.2016). 5 Grundlach, aaO., siehe Fn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 5 nicht sozialer Natur. An der Spitze der yezidischen Glaubensgemeinschaft steht ein weltlicher Führer, gegenwärtig Mîr Tahsîn Beg, und als geistliche Autorität der „Baba Sheik“ 6, der seit 2007 Khurto Hajji Ismail ist. 1.2. Yeziden in Deutschland Als kurdische und religiöse Minderheit erlebten die Yeziden in der Geschichte vielfach Verfolgung und Unterdrückung. Auch in der Türkei war die kurdische Glaubensgemeinschaft oftmals Diskriminierungen ausgesetzt, sodass in den 60er Jahren zunächst viele Yeziden als „Gastarbeiter “ nach Deutschland immigrierten. Nach dem türkischen Militärputsch im Jahr 1980 kamen Yeziden zunehmend als Asylsuchende in die Bundesrepublik.7 Mit Beginn des syrischen Bürgerkriegs und der Bedrohung durch die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ nimmt die Zahl yezidischer Flüchtlinge aus dem Nordirak und Syrien zu.8 Über die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Yeziden gibt es wiederum unterschiedliche Angaben, die zwischen 40.000 und 120.000 Angehörigen schwanken.9 2007 wurde der „Zentralrat der Yeziden in Deutschland“ mit Sitz in Oldenburg gegründet, der als Dachverband für vier yezidische Vereine agiert.10 Der Zentralrat versteht sich als Interessenvertretung der in Deutschland lebenden Yeziden und strebt perspektivisch u.a. die Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts und die Einführung eines yezidischen Religionsunterrichts an. 11 6 Grundlach, aaO., siehe Fn. 3. 7 Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Lexikon Yeziden/Eziden, http://www.ezw-berlin .de/html/3_171.php (letzter Zugriff: 18.03.2016). 8 So stellten nach ARD-Berichten im Jahr 2013 mindestens 6000 Yeziden einen Asylantrag in Deutschland, http://daserste.ndr.de/beckmann/sendungen/Jesidische-Gemeinden-in-Deutschland,jesiden262.html (letzter Zugriff: 18.03.2016). 9 Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen gibt 40.000 Yeziden in Deutschland an, aaO., siehe Fn. 7; nach Angaben der Heinrich-Böll-Stiftung leben rund 80.000 yezidische Menschen in der Bundesrepublik, Heinrich-Böll-Stiftung, Jesiden in Deutschland – neue Freiheiten für alte Bräuche, https://heimatkunde .boell.de/2013/11/18/jesiden-deutschland-%E2%80%93-neue-freiheiten-f%C3%BCr-alte-br%C3%A4uche ; die ARD schätzt die Zahl der Yeziden auf bis zu 120.000, http://daserste.ndr.de/beckmann/sendungen/Jesidische -Gemeinden-in-Deutschland,jesiden262.html (letzte Zugriffe jeweils: 18.03.2016) 10 Beck/Özdemir, Den Islam und andere Religionen der Einwanderer ins deutsche Religionsverfassungsrecht integrieren – Gleiche Rechte für Muslime, Aleviten und Jeziden!, in: Kirche und Recht 2015, S. 129 – 141. 11 So der Zentralrat der Yeziden auf seiner Internetpräsenz, http://www.yeziden.de/zentralrat/ (letzter Zugriff: 18.03.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 6 1.2.1. Zwangsehe und sexuelle Unterdrückung Zwangsheiraten und sogenannte „Ehrenmorde“ werden immer wieder in Zusammenhang mit der yezidischen Kultur gebracht.12 Die traditionellen Heiratsregelungen, die eine Ehe über die Grenzen der eigenen Kaste hinaus und erst recht außerhalb der eigenen Religionszugehörigkeit kategorisch verbieten, geben dem strengen Ehrbegriff eine zentrale Rolle innerhalb des Yezidentums und führen besonders in der westlichen Diaspora zu Spannungen. Laut einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beauftragten Studie über „Zwangsverheiratung in Deutschland“ aus dem Jahr 2011 waren unter den insgesamt 3.443 Frauen, die bei einer Beratungsstelle Hilfe wegen einer bevorstehenden Zwangsheirat suchten, rund 9,5 % Yezidinnen. Im Verhältnis zu der Gesamtzahl der yezidischen Gläubigen in Deutschland handelt es sich hierbei um eine auffällig hohe Quote.13 Auch ein sogenannter „Brautpreis“, der an die Eltern der Braut gezahlt wird, ist in Deutschland bei yezidischen Eheschließungen durchaus üblich.14 Religionswissenschaftler und yezidische Vertreter weisen darauf hin, dass derartige frauenverachtende Praktiken nicht religiösen Ursprungs, sondern vielmehr aus den „orientalisch-patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen“ der Herkunftsländern heraus zu erklären seien.15 Blutrache, Gewalt oder religiöse Vorschriften, die der Frau eine untergeordnete Stellung zuweisen, seien keine Elemente des yezidischen Glaubens.16 Der Zentralrat der Yeziden betont auf seiner Internetpräsenz , dass das Grundgesetz die Basis seiner Arbeit sei. 1.2.2. Stellungnahme des weltlichen Oberhauptes Mîr Tahsîn Beg In einem Interview mit der deutschsprachigen yezidischen „Religions- und Kulturzeitung Lalish Dialog“ bezieht das weltliche Oberhaupt Mîr Tahsîn Beg Position zu den benannten Problemkreisen . So sei das Brautgeld ein „absolutes Tabu“ und dürfe höchstens symbolischen Charakter haben . Zwangsheirat könne von ihm nicht toleriert werden und sei „Sünde“; Betroffene sollten sich Hilfe durch staatliche Institutionen holen. Zudem sollten alle Yeziden die „deutsche Grundordnung mit all seinen Gesetzen“ achten. Über eine Abweichung von den strengen Eheregelungen 12 Medial besonders intensiv verfolgt wurde der Fall der ermordeten Yezidin Arzu Özdem aus Detmold, siehe u.a.: http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article13816274/Zwangsehe-und-sexuelle-Unterdrueckung-bei- Jesiden.html (letzter Zugriff: 18.03.2016). 13 Mirbach/Schaak/Trieb, Zwangsverheiratung in Deutschland– Anzahl und Analyse von Beratungsfällen, Wissenschaftliche Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2011, S. 35. Hingewiesen wird explizit darauf, dass nur in 60 % der Beratungsfälle eine Angabe zur Religionszugehörigkeit gemacht wurde, siehe auch http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen /Zwangsverheiratung-in-Deutschland-Anzahl-und-Analyse-von-Beratungsf_C3_A4llen,property=pdf,bereich =bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (letzter Zugriff: 18. 03.2016) 14 Kartal, aaO., siehe Fn. 1, S. 247. 15 Kartal, aaO., siehe Fn. 1, S. 256; Nielsen, Wer sind die Jesiden? https://www.evangelisch.de/inhalte/113536/12- 08-2014/Wer%20sind%20die%20Jesiden%3F%20 (letzter Zugriff: 18. 03.2016). 16 Müser, „Dreimal am Tag sich der Sonne zuwenden.“ Einblicke in die Religion und Gesellschaft der Jesiden, WDR 5 Lebenszeichen, Manuskript, 11. Oktober 2015, S. 14, siehe http://www1.wdr.de/kultur/zeitgeist/religion -gesellschaft-der-jesiden-100.html (letzter Zugriff: 18.03.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 7 innerhalb des Kastenwesens sei Tahsîn Beg dagegen „nicht erfreut“. Bezüglich der Stellung der Frau erklärt der weltliche Führer, dass Männer nicht mehr Rechte und Befugnisse als Frauen hätten und er keine Einwände gegen eine Frau an der weltlichen Spitze der yezidischen Gemeinschaft habe. Zugleich wird betont, dass der Einfluss des Mîr in Deutschland begrenzt sei; sein Wort habe „bei den Eziden aus Deutschland keine große Bedeutung.“17 1.2.3. Stellungnahme des kirchlichen Oberhauptes Baba Sheikh Das religiöse Oberhaupt der Yeziden, der Baba Sheikh Khurto Hajji Ismail, wird als Reformer beschrieben , der die Yeziden weltweit zur Integration in die aufnehmenden Gesellschaften und zu einer aktiven Bildung aufrufe. 18 2. Religionsfreiheit als verfassungsmäßiger Grundsatz Als Garant für die freie Religionsausübung ist das Grundgesetz zu bezeichnen. Nach Art. 4 Grundgesetz (GG) ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit aller religiösen Richtungen festgeschrieben . Hiernach ist bestimmt: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Der Schutzbereich der Religionsfreiheit umfasst sowohl die Freiheit, sich eine eigene religiöse Überzeugung zu bilden (forum internum), als auch die Freiheit, seinen Glauben nach außen hin auszuleben (forum externum). Art. 4 Abs. 1 und 2 GG lassen sich in einen positiven und einen negativen Schutzbereich untergliedern. Hiernach wird positiv die Freiheit geschützt, eine religiöse Überzeugung oder Weltanschauung zu haben, zu äußern und danach zu handeln. In negativer Hinsicht wird die Freiheit geschützt, einen Glauben oder eine Weltanschauung nicht bekennen zu müssen, diese verschweigen zu können und glaubensbegleitende Handlungen zu unterlassen 19. Nach europäischem Recht ist die Religionsfreiheit in Deutschland durch die Charta der 17 Lalish Dialog, Interview mit Mîr Tahsîn Beg – Das weltliche Oberhaupt der Esiden, http://www.lalish-dialog .de/wordpress/interview-mit-mir-tahsin-beg-das-weltliche-oberhaupt-der-esiden/ (letzter Zugriff: 18.03.2016). 18 Blume, Der Baba Sheikh – Religiöses Oberhaupt der Yeziden und Reformer, http://www.scilogs.de/natur-desglaubens /der-baba-sheikh-religioeses-oberhaupt/ (letzter Zugriff: 21.03.2016). 19 Günzel, Die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG, 2012/2013, A I 3 a) und b), http://www.uni-trier.de/fileadmin /fb5/prof/OEF004/Wintersemester_2012_2013_Robbers/Folien.Internet.Pruefung.Art.4.GG.WS.2012.13.pdf (letzter Zugriff: 24.03.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 8 Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet. Aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9 EMRK) ist Deutschland völkerrechtlich zum Schutz der Religionsfreiheit verpflichtet. Grundsätzlich ist jeder Deutsche und Ausländer grundrechtsberechtigt. Dem Grundrecht auf Religionsfreiheit kommt eine stärkere Schutzwirkung als der Europäischen Menschenrechtskonvention zu, da sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts20 nicht unter dem Vorbehalt eines einschränkenden Gesetzes steht, sondern nur durch Grundrechte Dritter und aufgrund einer grundlegenden Werteentscheidung des Grundgesetzes einschränkbar ist. Der Begriff der Kirche ist dem Grundgesetz unbekannt, das über Art. 140 GG die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) übernommen hat. Mit Ausnahme der Körperschaften des öffentlichen Rechts, werden zur Religionsausübung Vereine gegründet, die den einfachgesetzlichen Regelungen unterfallen. 3. Grenzen der Religionsfreiheit Art. 4 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit lässt sich daher nicht durch die einfache Gesetzgebung einschränken. Dennoch besteht das Recht auf Religionsfreiheit nicht unbegrenzt. Die Religionsfreiheit wird begrenzt durch das Vorliegen anderer Grundrechte und durch sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang21. Zur Lösung eines Konfliktfalles ist eine Abwägung erforderlich. Auch wenn Art. 4 GG im Einzelfall durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden kann, bedeutet dies nicht, dass Art. 4 GG ganz zurücktreten muss. In diesem Fall muss eine ausführliche Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden. Unter dem Prüfungspunkt der Angemessenheit nimmt der Aspekt der praktischen Konkordanz der betroffenen Verfassungswerte eine wichtige Rolle ein. Hiernach muss ein schonender Ausgleich zwischen den Grundrechten oder sonstigen Verfassungswerten gefunden werden, so dass kein Grundrecht oder Verfassungswert gänzlich zurücktreten muss. Hierbei stellt sich die Frage, wer die Auslegung von Art. 4 GG durchzuführen hat. Einerseits darf der Staat wegen seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität keine endgültige Auslegung vornehmen . Das Selbstverständnis der Betreffenden muss den Ausgangspunkt bilden22. Andererseits kann der Staat sich, durch die Gefahr des Missbrauchs des Begriffs „Religion“, nicht vom Selbstverständnis Einzelner oder von Religionsgesellschaften abhängig machen. Als Lösung wird von der Lehre23 ein Mittelweg vorgeschlagen: Hierbei muss der Staat vom Selbstverständnis der Reli- 20 BVerfGE 33,23 (31). 21 Rhode, Religion und Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht, 2014, S. 51 f.. 22 Rhode, aaO., siehe Fn. 20, S. 46. 23 Rhode, aaO., siehe Fn. 20, S. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 9 gionsgemeinschaften ausgehen. Die Beschreibung bestimmter Tätigkeiten als „Religionsausübung “ darf er einer Plausibilitätskontrolle unterziehen, die nur im Konfliktfall durchgeführt und durch die Rechtsprechung ausgeübt wird. 4. Entscheidung und Kontrolle durch die Rechtsprechung Da dem Bund die Gesetzgebungskompetenz fehlt (vgl. Art. 70 GG), ist er nicht berechtigt, ein Gesetz zu erlassen, das den Inhalt der Religionsfreiheit näher bestimmt. Somit wird die Frage, welche Tatbestände von Art. 4 GG gedeckt sind, faktisch durch die Verwaltung und die Rechtsprechung (letztendlich durch das Bundesverfassungsgericht [BVerfG]) beantwortet24. 5. Ablauf der gerichtlichen Überprüfung in Bezug auf die Religionsausübung Der Ablauf einer gerichtlichen Überprüfung sieht folgendermaßen aus25: - Ein bestimmtes Verhalten wird als „Religionsausübung“ angesehen und vom Staat wird eine dementsprechende Behandlung verlangt (z.B. die Steuerbefreiung). - Die staatliche Verwaltung gewährt die erstrebte Folge nicht. - Gegen diese Entscheidung erfolgt eine Klage vor Gericht, das dann entscheidet, ob das entsprechende Verhalten als Teil einer „Religionsausübung“ zu bewerten ist. 6. Voraussetzungen für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft Im deutschen Recht ist eine abstrakte Anerkennung einer Gruppierung als „Religionsgemeinschaft “ nicht vorgesehen. Es gibt keine gesetzliche Definition für eine Religionsgemeinschaft. Gegebenenfalls überprüft ein Gericht im Streitfall, ob es sich um eine Religion handelt. Hierdurch ist eine indirekte Anerkennung möglich. Meist orientiert man sich an einer Definition eines Lehrbuches zur Weimarer Reichsverfassung26. Danach ist eine Religionsgemeinschaft „ein Verband, der die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses – oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse – für ein Gebiet zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Ausgaben zusammenfasst.“ 24 Rhode, aaO., siehe Fn. 20, S. 45. 25 Rhode, aaO., siehe Fn. 20, S. 47. 26 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 1960, Art. 137, Anm. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 10 Die Religionsgemeinschaft unterscheidet sich vom religiösen Verein durch das Kriterium der „allseitigen Erfüllung“. Letzterer verfolgt nur einzelne mit dem religiösen Bekenntnis zusammenhängende Aufgaben (z.B. Moscheebauverein, Caritasverband). Zu den Rechten der Religionsgemeinschaften werden u.a. gezählt27: - Das Recht auf Erteilung von Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 3 GG). - Das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV. - Die grundsätzliche Befähigung zum Erwerb des Körperschaftsstatus (Art. 137 Abs. 5 WRV). - Die Zulassung zur Anstaltsseelsorge (Art. 141 WRV). 7. Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV stellt die Grundlage des Körperschaftsrechts dar. Hiernach wird bestehenden Körperschaften ihr weiteres Bestehen zugesichert und neuen Gemeinschaften wird der Erwerb des Körperschaftsrechts ermöglicht. Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften können den Status einer kirchenrechtlichen Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben und nehmen damit eine Sonderstellung ein. Das Grundgesetz betrachtet die Religionsausübung in gewisser Weise als förderungswürdige „öffentliche Aufgabe“ (z.B. beim Religionsunterricht). Dem Staat ist es wegen der Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität nicht erlaubt, die Religionsgemeinschaften als Teil der Verwaltung zu führen. Infolgedessen sind die religiösen Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht nur organisatorisch aus dem Staat ausgelagert, sondern sind gerade kein Teil der öffentlichen Gewalt. Dem Staat ist eine Rechtsaufsicht verwehrt. In der Vergangenheit diente der öffentlich-rechtliche Status in der Regel dazu, die aus früheren Zeiten überkommenen Formen fortführen zu können (z.B. Pfarr- und kirchenrechtliche Beamtenverhältnisse, die Erhebung von Kirchensteuern). Nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV sind die beiden großen Kirchen wie die katholische und die evangelische Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Doch auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin oder die Zeugen Jehovas genießen die gleichen Rechte. Voraussetzung ist nach dem Grundgesetz für den Körperschaftsstatus, dass die Religionsgesellschaften „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten28.“ Zusätzlich 27 Religioholic, (2013), Religion und Staat I: Anerkennung als religiöse Körperschaft – ein steiniger Weg zum Erfolg , http://religioholic.de/?p=831 (letzter Zugriff: 21.03.2016). 28 Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 11 verlangt das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung die Rechtstreue. Das Gericht fordert29: „Neben den ausdrücklich in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV genannten Voraussetzungen muss eine Religionsgemeinschaft für die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts weitere, ungeschriebene Voraussetzungen erfüllen (vgl. BVerfGE 102, 370). Sie muss rechtstreu sein, insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des Religions - und Staatskirchenrechts nicht gefährdet. Sind die Voraussetzungen erfüllt, hat die antragstellende Religionsgemeinschaft einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Verleihung des Körperschaftsstatus. Die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität verwehrt es dabei dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten; diese können jedoch Rückschlüsse auf das von der Religionsgemeinschaft zu erwartende Verhalten zulassen.“ Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat verlangt das Grundgesetz nicht30. Weiterhin stellt das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Rechtstreue einer Religionsgemeinschaft und die Beurteilung von religiösen oder weltanschaulichen Fragen durch den Staat folgende Voraussetzungen auf31 : „Ob die antragstellende Religionsgemeinschaft die Gewähr der Rechtstreue bietet, richtet sich nicht nach ihrem Glauben, sondern nach ihrem Verhalten (vgl. BVerfGE 102, 370 <394>). Die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität, die bei jeder Auseinandersetzung staatlicher Stellen mit Zielen und Aktivitäten einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zu wahren ist, verwehrt es dem Staat, Glauben und Lehre einer Kirche oder Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten (vgl. BVerfGE 33, 23 <29>; 102, 370 <394>; 105, 279 <294>; 108, 282 <300>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2014 - 2 BvR 661/12 -). Die Regelung genuin religiöser oder weltanschaulicher Fragen, die parteiergreifende Einmischung in die Überzeugungen, Handlungen und die Darstellung Einzelner oder religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften sind dem Staat mangels Einsicht und geeigneter Kriterien untersagt (vgl. BVerfGE 12, 1 <4>; 41, 65 <84>; 72, 278 <294>; 74, 244 <255>; 93, 1 <16>; 102, 370 <394>; 108, 279 <300>). Dies schließt jedoch nicht aus, dass Glaube und Lehre, soweit sie sich nach außen manifestieren, Rückschlüsse auf das von der Religionsgemeinschaft zu erwartende Verhalten zulassen; das ist eine Frage des Einzelfalls (vgl. BVerfGE 102, 370 <394>).“ 29 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 59/2015 vom 11. August 2015 zu dem Beschluss vom 30. Juni 2015 2 BvR 1282/11. 30 BVerfG, Urteil des zweiten Senats vom 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97 - , http://www.bundesverfassungsgricht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2000/12/rs20001219_2bvr150097.html (letzter Zugriff: 16.03.2016). 31 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 30. Juni 2015 - 2 BvR 1282/11 –Rdnr. 95. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 12 8. Exkurs: Religionsfreiheit und die Organisationsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts für den Islam Zur Veranschaulichung der Problematik der Religionsfreiheit bei nichtchristlichen Religionsgemeinschaften und dem damit i.d.R. verbundenen Wunsch zur Beantragung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts wird auf die Situation islamischer Religionsgemeinschaften verwiesen. Die Religionsfreiheit gilt für alle Glaubensrichtungen und somit selbstverständlich auch für den Islam. In Deutschland haben sich muslimische Gemeinschaften in einer Grundsatzerklärung vom 20. Februar 2002 („Islamische Charta“)32 zu den rechtsstaatlichen Errungenschaften , zur Religionsfreiheit und auch zur Trennung von Staat und Religion bekannt. In seinen Heimatländern gewährt der Islam die Religionsfreiheit nicht oder nur ansatzweise. Diese Einschränkung mindert den Genuss des Grundrechts für Muslime in Deutschland nicht. Bei der Religionsfreiheit handelt es sich um ein Menschenrecht, welches nicht davon abhängig ist, dass man es anerkennt. Muslime können sich in Deutschland daher auf die Religionsfreiheit berufen auch wenn sie in ihrem Ursprungsland nicht anerkannt ist33. Auch den privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften steht der volle Umfang des Schutzes der verfassungsmäßigen Gewährleistungen zu. Durch die Verleihung der Körperschaftsrechte an eine Religionsgemeinschaft erfährt die Religionsfreiheit keine Steigerung oder Ausweitung . Den Muslimen ist die Organisationsform als Körperschaft des öffentlichen Rechts prinzipiell offen, so dass keine Diskriminierung in Deutschland vorliegt34. Dennoch bereitet es Schwierigkeiten die Muslime in dieses System einzubeziehen, da der Islam sich nach seiner Struktur und nach seinem Selbstverständnis kaum als vollgültige Religionsgemeinschaft sieht und organisieren kann. Muslimische Verbände und Gemeinden haben Bemühungen unternommen, sich entsprechend zu organisieren. In der Vergangenheit scheiterten sie jedoch an der mangelnden internen Organisation. Dies findet seine Ursache im historisch-theologischen Bereich35. Organisierte Religionsgemeinschaften wie es bei den christlichen Kirchen üblich ist, spielen im Islam keine Rolle. Das Selbstverständnis dieser Religion basiert auf einer direkten persönlichen Glaubensbeziehung zwischen Allah und dem Gläubigen. Aus diesem Grund gibt es keine Organisationsformen , wie sie bei den christlichen Kirchen geschaffen wurden. Dementsprechend sind von den ca. vier Millionen Muslime in Deutschland daher nur 20 Prozent in religiösen Verbänden oder Gemeinden organisiert36. Dennoch wurde versucht, in einen Dialog zwischen dem deutschen Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen einzutreten. Im Jahr 32 http://www.islam.de/?site=sonstiges/events/charta. (letzter Zugriff: 24.03.2016). 33 Von Campenhausen, de Wall, Staatskirchenrecht, 2006, S. 86. 34 Deckers, Das Grundgesetz setzt den Rahmen, in faz.net vom 27.2.2015. 35 Schmid, Schwieriger Weg zu Gleichstellung, in: Das Parlament vom 13.4.2015. 36 Stand: April 2015; Schmid, aaO., siehe Fn. 35. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 13 2006 wurde die Deutsche Islam Konferenz gegründet. Die Schwierigkeit von staatlicher Seite bestand darin, keinen legitimierten Ansprechpartner von islamischer Seite benennen zu können, da es bis heute keinen Zusammenschluss aller Angehörigen eines bestimmten Bekenntnisses innerhalb eines bestimmten Gebietes gibt. Die teilnehmenden Vereine und Dachverbände – darunter die drei größten Gemeinschaften, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITB), die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) und der Verband der islamischen Kulturzentren (VIKZ) – vertreten nicht die Mehrheit der Muslime. Es ist somit nicht möglich, “den Islam“ als Religionsgemeinschaft in Gänze anzuerkennen37 und zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu ernennen. Weiterhin ist der Islam pluralistisch geprägt und die einzelnen Glaubensrichtungen sind meist untereinander uneinig. In Deutschland gibt es neben Sunniten, Aleviten und Schiiten noch zahlreiche kleinere Konfessionen. Auch bei den Christen gibt es keine Körperschaft, die alle unter einem Dach vereint. Die katholische und die evangelische Kirche gelten jeweils als getrennte Körperschaften . Nach Art. 135 Absatz 8 WRV ist ausdrücklich geregelt: „(8) Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob.“ Hiernach ist es eine Angelegenheit der Länder, einzelne Religionsgemeinschaften zu Körperschaften des öffentlichen Rechts zu ernennen. Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten im Bereich der internen Organisation wurde einzelnen Glaubensgemeinschaften als Verein oder Gemeinden die Eigenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt. So hat das Land Hessen im Jahr 2013 der etwa 35.000 Mitglieder zählenden Ahmadiyya Muslim Jamaat auf deren Antrag als erster muslimischer Organisation den Körperschaftsstatus zuerkannt38. Ein Jahr später folgte das Land Hamburg dieser Entscheidung, obwohl der Koordinierungsrat der Muslime (KRM) das Islamverständnis dieser Organisation für unvereinbar mit dem Islam hält39. 9. Fazit Die grundsätzliche Einordnung einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft in das deutsche Religionsverfassungsrecht gestaltet sich schwierig, da dessen Kategorien und Rechtsformen einen anderen Ursprung haben und auf der Grundlage des christlichen Abendlandes entstanden sind. Hierbei müssen Lösungen gefunden werden, die einerseits dem Selbstverständnis der betreffenden Religionsgesellschaften entsprechen, andererseits darf die religionsverfassungsrechtliche 37 Schmid, aaO., siehe Fn. 35. 38 Deckers, aaO., siehe Fn. 34. 39 Deckers, aaO., siehe Fn. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 10 - 3000 - 017/16 Seite 14 Ordnung der deutschen Verfassung nicht aufgehoben werden. Das Grundgesetz schützt diese Ordnung und strebt keine multikulturelle Gesellschafts- und Verfassungsordnung an40. Bei dem Erwerb der Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde ist nach deutschem Recht zwischen einer staatsrechtlichen und einer religionsrechtlichen Regelung zu unterscheiden. Die Yeziden werden Teil ihrer religiösen Gemeinschaft automatisch durch die Geburt. Ein Austrittsrecht existiert nicht. Die staatsrechtliche Bestimmung, nach der die Kirchenzugehörigkeit durch die Geburt vermittelt wird, ist wegen Verstoßes gegen die Kirchenfreiheit (Art. 4 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) verfassungswidrig. Auch die religionsrechtliche Regelung, die nicht auf einem freiwilligen Beitrittsakt beruht, sondern auf der blutsmäßigen Abstammung, und somit nicht in der Verfügungsgewalt des Betroffenen liegt, verletzt das religiöse Selbstbestimmungsrecht des Staatsbürgers (Art. 4 GG)41. Weiterhin ist für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit bzw. der Einordnung der Yeziden als Religionsgemeinschaft oder als Körperschaft des öffentlichen Rechts, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein vorliegender Einzelfall zu bewerten. Ungeeignet ist z.B. die allgemeine Beurteilung der inneren Ordnungsstruktur nach hierarchischen oder demokratischen Regeln. Dies ist allein der Religionsgemeinschaft überlassen42. An der isolierten Betrachtung des Kastensystems und etwaige Heiratsregelungen lässt sich ein Verstoß gegen Art. 4 GG in jedem Fall bei Hinzutreten weiterer Einschränkungen durch Grundrechte Anderer z.B. von Art. 1 GG (Menschenwürde/Menschenrechte) und/oder Art. 2 GG (Persönliche Freiheitsrechte) annehmen oder durch sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang, die in der Lage sind, die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu beschränken. Im Konfliktfall wird die Entscheidung und Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch die Rechtsprechung ausgeführt. 40 Von Campenhausen, de Wall, aaO., siehe Fn. 33, S. 118. 41 Von Campenhausen, de Wall, aaO., siehe Fn. 33, S. 156. 42 Religioholic, (2013), aaO., siehe Fn. 27.