© 2020 Deutscher Bundestag WD 10- 3000 – 003/20 Überblick über den aktuellen Diskussionsstand und rechtliche Grundlagen zum Thema "Klarnamenpflicht im Internet" Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 2 Überblick über den aktuellen Diskussionsstand und rechtliche Grundlagen zum Thema "Klarnamenpflicht im Internet" Aktenzeichen: WD 10- 3000 – 003/20 Abschluss der Arbeit: 21. Februar 2020 Fachbereich: WD 10: Kultur, Medien und Sport Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 5 2. Begrifflichkeit 6 3. Überblick über den aktuellen Diskussionsstand 7 3.1. Gesellschaftliche Diskussion 7 3.2. Wissenschaftliche Diskussion 9 3.3. Politische Diskussion 10 3.3.1. Deutscher Bundestag 10 3.3.2. Bundesrat 14 3.3.3. Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder 16 3.3.4. Bundesregierung 16 4. Rechtliche Grundlagen 17 4.1. Rechtslage bis zum Inkrafttreten der Datenschutz- Grundverordnung am 25. Mai 2018 18 4.1.1. Verfassungsrechtliche Aspekte 18 4.1.1.1. Art. 5 GG – Meinungsfreiheit 18 4.1.1.2. Recht auf informationelle Selbstbestimmung 18 4.1.2. Einfachgesetzliche Regelung – § 13 Abs. 6 Telemediengesetz (TMG) 18 4.2. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters 19 4.2.1. Facebook 1: Vorgehen eines deutschen Datenschutzbeauftragten gegen Facebook Ireland 20 4.2.2. Facebook 2: Unwirksamkeit wegen Verstoßes gegen § 13 Abs. 6 TMG 21 4.3. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots und Anonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters 21 4.4. Klarnamenpflicht im Sinne eines Anonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters 21 4.5. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots aufgrund staatlicher Regelungen 22 4.6. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots und Anonymisierungsverbots aufgrund staatlicher Regelungen 22 4.7. Klarnamenpflicht im Sinne eines Anonymisierungsverbots auf Grund staatlicher Regelungen 23 4.8. Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Datenschutz- Grundverordnung (DGSVO) am 25. Mai 2018 23 5. Obiter dicta 24 5.1. Diensteanbieter mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland 24 5.2. Verhältnismäßigkeit 24 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 4 5.3. Praktische Umsetzung einer möglichen Identifizierungspflicht 25 5.4. Schäden bei Datenschutzpannen oder Hacker-Angriffen 25 5.5. Missbrauchspotenzial 26 5.6. Erforderlichkeit 26 6. Fazit 26 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 5 1. Vorbemerkung Der Vorschlag einer „Klarnamenpflicht“ im Internet steht im Zusammenhang mit der Diskussion über eine möglichst adäquate Reaktion auf Äußerungen in sozialen Netzwerken, die im Sprachgebrauch mit Begriffen wie, „Hassreden“, „Hetze“ und „Hasskriminalität“ bezeichnet werden, aber auch strafrechtliche Tatbestände wie „Beleidigungen“ und „Morddrohungen“ erfüllen. Viele Urheber dieser Botschaften nutzen Pseudonyme („nicknames“), um Ihre Identität zu verschleiern . Da eine Identifizierung – wenn überhaupt – nur mit einem erheblichen Ermittlungsaufwand seitens der Strafverfolgungsbehörden erfolgen kann, werden die meisten dieser Taten nicht verfolgt und geahndet. Weil geltendes Recht hier faktisch nicht durchgesetzt wird, erscheint das Internet als Raum, in dem die Regeln und Werte der analogen Welt nicht gelten. Wirksamkeit, rechtliche Rahmenbedingungen, Konsequenzen für die institutionelle Umsetzung, Risiken für Opfer und Auswirkungen auf das Verhalten der Täter und Zahl der rechtswidrigen Äußerungen sowie auf das verfassungsrechtliche Recht der Meinungsfreiheit werden kontrovers diskutiert. Problematisch sind dabei insbesondere die meist unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was unter „Hass“ und „Hetze“, zu verstehen ist, welche Äußerungen nach Art. 5 GG im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsäußerungsfreiheit zulässig sind - somit die Abgrenzung zwischen zulässigen, rechtswidrigen und strafbaren Äußerungen; weiterhin die Kompetenz und der rechtliche Status des Beurteilers sowie die Kapazitäten der Strafverfolgungsbehörden. Die Diskussion dieser Zusammenhänge hat sich mit den aktuellen Bestrebungen von Bundesregierung 1 und auch den Bundesländern2 zur Erleichterung der Identifizierung und Bekämpfung von sogenannter „Hasskriminalität“ im Internet intensiviert. Diese Problematik erscheint vor dem Hintergrund des Verhältnisses schon der Zahl der täglichen Nutzer in den sozialen Netzwerken zu der Zahl der von Diensteanbieter ergriffenen Maßnahmen bemerkenswert: Bei Facebook ist diese Verhältnis 0,00025 ‰, somit 25 Maßnahmen auf 100 Mio. 1 Siehe hierzu Ausführungen zu Gliederungspunkt „Aktuelle Diskussion“. 2 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 6 Nutzer3, bei Instagram 0,000023 ‰, somit zwei Maßnahmen auf 100 Mio. Nutzer4 und bei Twitter beträgt das Verhältnis 0,54 ‰, somit Tausend Maßnahmen auf 100 Mio. Nutzer.5 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich lediglich um Nutzerzahlen handelt und nicht um die hier eigentlich relevante Zahl von Äußerungen, die um ein Vielfaches höher sein dürfte.6 2. Begrifflichkeit Die Begriffe „Klarnamenpflicht“ und „Vermummungsverbot im Internet“ werden in der Öffentlichkeit nicht immer trennscharf benutzt. Diskutiert werden Anonymisierungsverbote und Pseudonymisierungsverbote . Pseudonymisierungsverbote sind dabei staatliche oder private Regelungen, die die Benutzung von Pseudonymen („nicknames“) ausschließen und die Verwendung des tatsächlichen Namens einer Person bei der Benutzung von Telediensten fordern. Anonymisierungsverbote sind staatliche oder private Regelungen, die die Benutzung von Pseudonymen erlauben, aber die Speicherung und Verifikation des echten Namens – und gegebenenfalls weiterer, eine Strafverfolgung ermöglichender Daten – des Benutzers durch den Telediensteanbieter statuieren. 3 Eigene Berechnungen: Facebook hatte im März 2019 32 Millionen Nutzer in Deutschland. 23 Millionen Deutsche nutzten Facebook dabei täglich. Facebook erhielt im zweiten Halbjahr 2019 3087 Beschwerden nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz. In diesem Zeitraum führten 562 Beschwerden nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu einer Löschung oder Sperrung von insgesamt 1043 Inhalten. Die Angaben stammen aus: AllFacebook .de – Social Media für Unternehmen. Abrufbar unter: https://allfacebook.de/zahlen_fakten/offiziell-facebook -nutzerzahlen-deutschland und Facebook. NetzDG Transparenzbericht. Januar 2020, S. 4 und 11. Abrufbar unter https://about.fb.com/wp-content/uploads/2020/01/facebook_netzdg_Januar_2020_German.pdf. 4 Eigene Berechnungen: Instagram nutzten 2019 17 Millionen Menschen monatlich in Deutschland. Der Dienst hatte täglich 9 Millionen aktive Nutzer. Bei Instagram gab es von Januar bis Juni 2019 nur 146 Beschwerden. Von diesen führten 38 zu einer Löschung oder Sperrung von Inhalten; Die Angaben stammen aus: Kontor4. Agentur für neue Medien: Social Media. Abrufbar unter: https://www.kontor4.de/beitrag/aktuelle-social-medianutzerzahlen .html und Instagram. NetzDG Transparenzbericht, S. 4., S. 10: Anmerkung: Eine einzige Beschwerde kann zu der Löschung mehrerer Inhalte führen. Abrufbar unter: https://scontent-dus1- 1.xx.fbcdn.net/v/t39.2365- 6/85066271_180408739890401_8818418356701888512_n.pdf?_nc_cat=110&_nc_ohc=zTPayPyucjkAX_BzK_u&_ nc_ht=scontent-dus1-1.xx&oh=9373e7c7c7b82bd5a411eca81635183b&oe=5EC05CF7. 5 Eigene Berechnungen: Twitter hatte 2019 monatlich ungefähr 12 Millionen Nutzer. 1,4 Millionen davon nutzten Twitter täglich. Bei Twitter gingen im zweiten Halbjahr 2019 843.527 Beschwerden ein. In 137.171 Fällen ergriff Twitter eine Maßnahme. Angaben stammen aus: Kontor4. Agentur für neue Medien:Social Media. Aktuelle Nutzerzahlen . Abrufbar unter: https://www.kontor4.de/beitrag/aktuelle-social-media-nutzerzahlen.html und Twitter . Netzwerkdurchsetzungsgesetzbericht: Juli - Dezember 2019. Abrufbar unter: https://www.heise.de/downloads /18/2/8/3/5/2/9/7/netzdg-jul-dec-2019.pdf. 6 Statistische Angaben über die Zahl von Nutzern sozialer Netzwerke sind gut dokumentiert – aber nicht die offenbar um ein Vielfaches größere – hier relevante – Zahl von Äußerungen der Nutzer. Im Rahmen des für die Bearbeitung des vorliegenden Sachstandes vorgegebenen Zeitraums konnten zuverlässige und verwertbare Zahlen dieser Art nicht ermittelt werden und es musste daher hilfsweise auf Nutzerzahlen zurückgegriffen werden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 7 Es handelt sich im juristischen Sinn um sechs voneinander zu unterscheidende Sachverhalte: Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters , Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots und Anonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters, Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots aufgrund staatlicher Regelungen , Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots und Anonymisierungsverbots aufgrund staatlicher Regelungen, Klarnamenpflicht im Sinne eines Anonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters , Klarnamenpflicht im Sinne eines Anonymisierungsverbots auf Grund staatlicher Regelungen . 3. Überblick über den aktuellen Diskussionsstand 3.1. Gesellschaftliche Diskussion Die Sicht der Befürworter eines Klarnamengebotes hat die Journalistin Evelyn Roll in der „Süddeutschen Zeitung“ pointiert zusammengefasst: „Nachrichten sind in dieser enthemmten Sphäre nur die Abschussrampe für private, wenig faktenbasierte Schnellfeuerkommentare und Gefühls-Tweets. Erstaunlich viele fühlen sich im Netz so anonym, scheinanonym oder pseudonym, dass sie ungehemmt pöbeln und trollen, rassistisch, sexistisch, obszön und in bemerkenswerter Stummel-Orthografie. Sie vergessen oder ignorieren, dass – anders als auf der Autobahn, wo niemand den Insassen eines anderen Autos hören kann – alle anderen ihn lesen können . Es scheint eine Art digitales Tourette-Syndrom7 zu sein, das die sogenannten sozialen Medien in asoziale Medien verwandelt.“8 Die Befürworter vertreten die Auffassung, dass die konsequente Anwendung sowie Durchsetzung des geltenden Rechts im Internet nur dann möglich sei, wenn die Nutzer untereinander wüssten, mit wem sie es zu tun hätten. Es wird die Ansicht vertreten, dass in dem Schutz der Anonymität 7 Definition der Deutschen Tourette-Gesellschaft: Das Tourette-Syndrom (TS) ist eine neuropsychiatrische Erkrankung , die sich in sogenannten Tics äußert. Unter Tics versteht man spontane Bewegungen, Laute oder Wortäußerungen, die ohne den Willen des Betroffenen zustande kommen und nicht zweckgebunden sind. Abrufbar unter: https://tourette-gesellschaft.de/tourette-syndrom/. 8 Roll, Evelyn: Pöbelmaschine. Im Internet kann man schamlos alles sagen und jeden beleidigen, glauben viele Nutzer. Ein Irrtum, denn die Grenzen zwischen privat und öffentlich werden gerade neu gezogen. Süddeutsche Zeitung vom 07.06.2014. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 8 Menschen sich anders verhielten, als wenn sie wüssten, dass sie erkannt würden.9 Außerdem äußerten sich Nutzer, die mit ihrem richtigen Namen für ihren Standpunkt eintreten, in aller Regel sachlicher und durchdachter als anonyme Nutzer.10 Die Gegner der Klarnamenpflicht sind dagegen der Ansicht, dass Pseudonyme wegen des verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sowie des Grundsatzes der Datensparsamkeit geboten seien. Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gebiete die Anonymität im Netz. Eine Klarnamenpflicht schränke auch die Meinungsfreiheit ein, da Menschen wegen des unüberschaubaren Empfängerkreises zögerten, Meinungen zu äußern, die ihnen schaden könnten. Ein oft genanntes Beispiel dafür ist die Kritik am Arbeitgeber.11 Ein anderes, die Möglichkeit als Online-Rollenspieler oder Mitglied des Forums der Anonymen Alkoholiker identifiziert zu werden, was nicht in allen Bevölkerungskreisen eine positive Resonanz findet.12 Die Schutzfunktion der Anonymität sei auch wichtig für Foren der Selbsthilfe, zu Gesundheitsthemen etc. Außerdem geben sie zu bedenken, dass hinter der verpflichtenden Angabe des Klarnamens als Nutzungsbedingung mancher sozialer Netzwerke eher kommerzielle Interessen zu vermuten seien. 9 So zum Beispiel: Schäuble, Wolfgang: „Wer Politiker wird, weiß, dass er sich in Gefahr begibt.“ Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble über Morddrohungen gegen Abgeordnete, Hass im Internet und den Konflikt mit dem Iran. Bild am Sonntag vom 12.01.2020 und Zuckerberg, Randi (Schwester von Facebook-Gründer Marc Zuckerberg ): „Ich denke, es sollte keine Anonymität im Internet geben. Menschen verstecken sich hinter der Anonymität und denken, sie können alles sagen.“ Zitiert nach: „Das Netz will dich wirklich. Zwischen Klarnamenpflicht und dem Recht, sich einen Diskursraum zu verschaffen – auf die Frage nach der wahren Online-Identität gibt es keine einfache Antwort.“ Der Tagesspiegel vom 01.03.2014 sowie Oehler, Jürgen in: nur mit Klarnamen im Netz? Eine Debatte über die Anonymität in Blogs und Foren. Das Internet ist kein Swingerclub. Kölner Stadt- Anzeiger vom 09.08.2011. 10 Stölb, Marcus, Leiter der Online-Lokalzeitung für Trier. Zitiert nach: „Anonyme Kommentare im Netz verbieten ?“. die Tageszeitung vom 31.08.2013. 11 „Das Netz will dich wirklich. Zwischen Klarnamenpflicht und dem Recht, sich einen Diskursraum zu verschaffen – auf die Frage nach der wahren Online-Identität gibt es keine einfache Antwort.“ Der Tagesspiegel vom 01.03.2014.. 12 CDU-Idee Klarnamenzwang. Ein Lob der Pseudonyme. Spiegel online vom 15.11.2010. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/cdu-idee-klarnamenzwang-ein-lob-der-pseudonyme-a- 729179.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 9 Schließlich gebe es auch im „wirklichen Leben“ ein Recht auf Anonymität.13 So hätten Bürger beispielsweise die Möglichkeit, anonym einen Aidstest zu machen.14 Zum Vorhalt, dass die Regeln und Werte der analogen Welt auch in der digitalen Welt gelten müssten und dazu die Anonymität nicht passe, wird entgegengehalten, dass Anonymität in der analogen Welt sehr wohl existiere. Bei Sitzungen von Interessengruppen, beim Besuch einer Demonstration oder einer Gastwirtschaft müssen keine Namensschilder getragen werden.15 Sehr wichtig sei auch die Möglichkeit, politische Meinungen anonym im Netz zu vertreten und sich dort zu organisieren. Insbesondere bei repressiven Regimen sei dies ein unverzichtbarer Schutz. 3.2. Wissenschaftliche Diskussion Die wissenschaftliche Diskussion um eine mögliche Enthemmung bei anonymen Meinungsäußerungen im Internet („online disinhibition effect“) hat bisher noch zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt: Einige Studien und Aufsätze kommen zu dem Ergebnis, dass die Anonymität des Internets Nutzer zu Aussagen verleitet, die sie sonst nicht tätigen würden, da sie im Internet nicht mit den Auswirkungen ihres Handelns auf andere konfrontiert würden; die Empathiefähigkeit sei durch die Unsichtbarkeit im Netz erheblich gesenkt. Dies wird mit fehlenden Augenkontakt bei der Kommunikation im realen Leben verglichen.16 13 Link, Michael: Kommentar: Eine Klarnamenpflicht würde viele Stimmen verstummen lassen, heise online, 07.02.2020, https://www.heise.de/newsticker/meldung/Kommentar-Eine-Klarnamenpflicht-wuerde-viele-Stimmen -verstummen-lassen-4654679.html. Detaillierte Auseinandersetzung: Caspar, Johannes: Klarnamenpflicht versus Recht auf pseudonyme Nutzung. ZRP 2015, 233ff. 14 Bär, Dorothee und Lauer, Christoph. Interview: „Wir befinden uns in einem Lernprozess“. Berliner Morgenpost vom 22.12.2011. 15 Ebenda. 16 S. dazu: Griess, Oliver: Klarnamenspflicht im Internet – verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer staatlichen Schutzpflicht (zugl. Diss. Köln 2016), Göttingen, 12016, S. 16f mwN; Joinson, A. N. (2001). Knowing me, knowing you: Reciprocal self-disclosure in Internet-based surveys. CyberPsychology & Behavior, 4, 587- 591. http://dx.doi.org/10.1089/109493101753235179; Joinson, A. N. (2001). Selfdisclosure in computer-mediated communication: The role of self-awareness and visual anonymity. European Journal of Social Psychology, 31, 177-192. http://dx.doi.org/10.1002/ejsp.36; Joinson, A. N. (2007). Disinhibition and the Internet. In J. Gackenbach (Ed.), Psychology and the Internet: Intrapersonal, interpersonal, and transpersonal implications (2nd ed., pp. 75-92). San Diego, CA, US: Academic Press; Joinson, A. N., & Paine, C. B. (2007). Self-disclosure , privacy and the Internet. In A. N. Joinson, K. Y. A. McKenna, T. Postmes, & U. D. Reips (Eds.), Oxford handbook of Internet psychology (pp. 237-252). Oxford, UK: Oxford University Press. http://dx.doi.org/10.1016/j.chb.2007.10.005; Joinson, A. N., Paine, C. B., & Buchanan, T. (2008). Measuring selfdisclosure online: Blurring and non-response to sensitive items in web-based surveys. Computers in Human Behavior, 24, 2158–2171; Suler, J. (2004). The online disinhibition effect. CyberPsychology & Behavior, 7, 321- 326. http://dx.doi.org/10.1089/1094931041291295; Suler, J. (2005). The online disinhibition effect. International Journal of Applied Psychoanalytic Studies, 2, 184-188. http://dx.doi.org/10.1002/aps.42. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 10 Eine 2016 veröffentlichte Studie des Instituts für Soziologie der Universität Zürich kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass bei „online firestorms“ sich nicht anonymisierte Personen aggressiver verhalten als anonymisierte Nutzer.17 Öffentliches Aufsehen erregte der Fall der österreichischen Nationalrätin und Klubobfrau des Grünen Parlamentsklubs, Sigrid „Sigi“ Maurer, die Opfer herabsetzender Äußerungen unter einem Klarnamen wurde.18 Ähnliche Erfahrungen machte die Redaktionsleiterin der Zeitschrift „Christ & Welt“.19 3.3. Politische Diskussion 3.3.1. Deutscher Bundestag Die Frage einer Klarnamenpflicht kam vor kurzem in der Plenarsitzung20 des Deutschen Bundestages vom 16. Januar 2020 zur Sprache. Der PStS Dr. Krings, MdB erklärte, aus Sicht der Bundesregierung müsse man sich mit „Beleidigungen oder Anfeindungen unter dem Schutz der Anonymität im Internet beschäftigen.“ „Die Anonymität schützt“ – Interview: Psychologe Arvid Kappas sieht Onlinekommentatoren als kleine Gruppe. Hessische Allgemeine vom 01.11.2013. Ähnlich das Landgericht Hamburg im Urteil vom 03.12.2007 – Az. 324 O 794/07 – Rn. 28 (juris): „Es steht außer Frage, dass die Möglichkeit, sich unter einem Pseudonym zu äußern, für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung von Nutzen sein kann. Das gilt besonders dann, wenn der Äußernde ohne diese Möglichkeit aus Angst vor ungerechtfertigten Repressalien von einem an sich schutzwürdigen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung abgehalten werden könnte. Es steht nach Einschätzung der Kammer aber ebenso außer Frage, dass die Möglichkeit der Verwendung von Pseudonymen die Gefahr maßgeblich erhöht, dass es in einer Diskussion zu Persönlichkeitsrechtsverletzungen Dritter kommt. Wer sich bei seinen Äußerungen hinter einem Pseudonym verstecken kann, wird sich weit eher dazu verleiten lassen, Persönlichkeitsrechte Dritter zu verletzen, als jemand, der befürchten muss, für seine Äußerungen persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden.“ 17 Rost, Katja; Stahel, Lea; Frey, Bruno S.: Digital Social Norm Enforcement: Online Firestorms in Social Media. PLoS One. 2016; 11(6); e0155923. Abrufbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4912099/. 18 Per Facebook belästigt, dann verklagt. Spiegel online vom 16.07.2018. Abrufbar unter: https://www.spiegel .de/panorama/justiz/oesterreich-empfaengerin-sexistischer-hassnachrichten-wird-verklagt-a-1218362.html. Gericht hebt Urteil gegen Ex-Politikerin Sigi Maurer auf. Spiegel online vom 12.03.2019. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/wien-gericht-hebt-urteil-gegen-ex-politikerin-sigi-maurer-auf-a- 1257404.html. 19 Sascha Lobo: Keine Anonymität ist auch keine Lösung. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.01.2015. 20 Vgl. Deutscher Bundestag, 140. Sitzung, Plenarprotokoll 19/140, 16.01.2020, Zusatzpunkt 18: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Kommunalpolitiker, Polizei und Rettungskräfte vor Drohungen und Gewalt wirksam schützen, S. 17508 C ff. und Tagesordnungspunkt 12 Antrag der Abgeordneten Manuel Höferlin, Stephan Thomae, Johannes Vogel (Olpe), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Meinungsfreiheit verteidigen – Recht im Netz durchsetzen Drucksache 19/1647, S. 17532 B ff., abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19140.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 11 Er persönlich sei nicht der Auffassung, „dass wir eine generelle gesetzliche Rechtspflicht zur Offenlegung von Klarnamen oder zur Aufhebung von Anonymität brauchen.“ Gleichzeitig vertrat er die Auffassung, dass seines Erachtens eine Kultur der Offenheit, des offenen Umgangs miteinander im Netz gebraucht würde. Er vertrat die Auffassung, dass „eine ernsthafte politische Streitkultur “ sich „in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht mit Anonymität oder oftmals sogar mit Duckmäusertum“ vertrage. Es sei geplant, Regelungen des Strafgesetzbuchs mit Bezug zur „Hasskriminalität“ zu ergänzen. Das betreffe zum Beispiel die Aufforderung zu Straftaten oder Billigung oder Verharmlosung von Straftaten. Ferner solle eine Meldepflicht für Diensteanbieter nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz eingeführt werden, etwa für Morddrohungen und Volksverhetzung. Weiterhin müssten Diensteanbieter zur Bekämpfung und Aufklärung von „Hasskriminalität“ auch einer Auskunftsverpflichtung , etwa gegenüber dem Bundeskriminalamt, unterfallen.“21 Dr. Irene Mihalic, MdB (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) betonte in diesem Zusammenhang, dass sich eine Klarnamenpflicht nachteilig für von Hass und Hetze Verfolgte auswirke. Nötig sei eine echte Reform zum Beispiel des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, ein verändertes Melderecht und damit ein viel besserer Schutz auch von Privatadressen.22 Christian Haase, MdB (CDU/CSU) erklärte, dass für den Bereich der Kommunen eine Klarnamenpflicht im Internet und in sozialen Netzwerken erforderlich sei, denn eine klare und einfache Identifizierungsmöglichkeit sei nötig, um den Ermittlungsbehörden die Arbeit zu ermöglichen.23 In ähnlichem Tenor äußerte sich Alois Karl, MdB (CDU/CSU). Die Forderung nach Klarnamen im Netz müsse aufgegriffen werden. Es gehe nicht, dass man in der Anonymität des Netzes beleidigt und herabsetzt und andere in ihrer Ehre verletzt würden.24 In derselben Plenarsitzung wurden bei der Diskussion des Antrags der Fraktion der FDP „Meinungsfreiheit verteidigen – Recht im Netz durchsetzen“25 weitere Aussagen zur Klarnamenpflicht im Internet getroffen. Der Vertreter der antragstellenden Fraktion Manuel Höferlin, MdB (FDP) hält das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) für wirkungslos. Es sei aufzuheben und ein seiner Stelle ein Regulierungsmix vorzusehen. Der Rechtsstaat sei beim Durchsetzen gegen Hass und Hetze zu stärken, um gegen Beleidigungen effektiv vorgehen zu können. Ein einheitliches Meldeverfahren für die sozialen Netze sei nötig, auch müsse man einen Überblick bekommen. Betroffene sollen in die Lage versetzt werden, auch selbst gegen Beleidigungen, Drohungen und 21 Ebenda, S. 17509 D. 22 Ebenda, S. 17515 C. 23 Ebenda, S. 17519 C. 24 Ebenda, S. 17522. 25 TOP 12 der Plenarsitzung vom 16.01.2020: Antrag der Abgeordneten Manuel Höferlin, Stephan Thomae, Johannes Vogel (Olpe), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP, Meinungsfreiheit verteidigen – Recht im Netz durchsetzen, BT-Drucksache 19/16477, 14.01.2020, abrufbar unter: http://dip21.bundestag .de/dip21/btd/19/164/1916477.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 12 Persönlichkeitsverletzungen vorzugehen. Zum Beispiel mit einem Online-Verfahren zur schnellen Meldung von Onlinehass und –hetze. Außerdem müsse ein wirksamer Auskunftsanspruch gegenüber sozialen Netzen vorgesehen werden. Es gehe ferner um digitale Beweissicherung.26 Carsten Müller, MdB (Braunschweig) (CDU/CSU) hält dagegen das NetzDG, auch nach Ansicht der Stakeholder in der Diskussion, für einen „Überraschungserfolg“.27 Was seine „Weiterentwicklung “ anbelange, so sei die Behauptung falsch, es würde eine Klarnamenpflicht angestrebt werden . Nach intensiver Debatte sei mit der Unionsfraktion eine Klarnamenpflicht nicht zu machen. Netzwerkbetreiber sollen aber durchaus ermutigt werden, Anreize für die Klarnamenverwendung einzuführen. Die Klarnamenverwendung könne durchaus die eine oder andere Hemmung gegenüber der üblen Beschimpfung und Herabsetzung von Personen darstellen. Sie sei allerdings nicht der einzige Schlüssel zum Erfolg. Anonymität sei eben auch ein Bestandteil der Meinungsfreiheit . Nach bisheriger Erfahrung schütze das NetzDG die Meinungsfreiheit.28 Ohne auf die Frage einer Klarnamenpflicht einzugehen, erklärt Stephan Brandner, MdB (AfD), dass „der Vorschlag zur Abschaffung des NetzDG von der AfD abgeschrieben worden sei.“29 Ebenfalls ohne auf die Frage der Klarnamenpflicht einzugehen, plädierte Florian Post, MdB (SPD) für eine Weiterentwicklung des NetzDG.30 Anke Domscheit-Berg, MdB (DIE LINKE) erklärt, dass eine Klarnamenpflicht in sozialen Netzen wie sie von der Verteidigungsministerin, dem Bundestagspräsidenten und von anderen gefordert werde, nicht nur verfassungswidrig sei, sondern die Bedrohungslage für Betroffene sogar noch verschärfen würde. Denn wie die Melderegisterauskunft erleichtere sie den Übergang von digitaler zu physischer Gewalt. Der Bundesgerichtshof habe schon vor elf Jahren geurteilt, dass eine Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, nicht mit Art. 5 GG vereinbar seien. Im Namen der Linksfraktion fordere sie die Bundesregierung daher auf, den Schutz Betroffener in den Vordergrund zu stellen und keine neuen Anlässe zu suchen, Verfassungsgrundrechte für alle zu beschneiden.31 Renate Künast, MdB (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) führte aus, dass eine Reform des NetzDG, das schon falsch gewesen sei, als es verabschiedet wurde, überfällig sei. Sie verweist auf einen Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus dem Herbst 2018, „in dem diesbezüglich konkrete Vorschläge enthalten seien. Eine Debatte darüber sei regelmäßig vertagt worden.32 Hier sei 26 Vgl. Deutscher Bundestag, 140. Sitzung, Plenarprotokoll 19/140, 16.01.2020, a.a.O., S. 17532 C, D. 27 Ebenda, S. 17533 D. 28 Ebenda, S. 17534 B. 29 Ebenda. 30 Ebenda, S.17536 C. 31 Ebenda, S. 17537 B. 32 Ebenda, S. 17538 A. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 13 nachrichtlich auf die Hinweise zu einer Klarnamenpflicht eingegangen. Im Antrag33 würden insbesondere „systematische anonyme Drohungen“34 problematisiert, aber keine Klarnamenpflicht gefordert. Allerdings werden zahlreiche Vorschläge gemacht, um insbesondere strafprozessuale Maßnahmen zu unterstützen und digitale Bürgerrechte zu stärken.35 Alexander Hoffmann, MdB (CDU/CSU) betonte, dass im Zuge der Weiterentwicklung des NetzDG den Plattformbetreibern „Manschetten angelegt“ werden müssten36 und Dr. Jens Zimmermann, MdB (SPD) hält die Vorlage der Bundesjustizministerin zur Weiterentwicklung des NetzDG für den richtigen Weg.37 Laut Hinweisen von Carsten Müller, MdB (Braunschweig) (CDU/CSU) gebe es dazu bereits einen Referentenentwurf.38 Er soll voraussichtlich am 1. April 2020 vom Kabinett beschlossen werden .39 Konkrete Aussagen zur Klarnamenpflicht werden auch im weiteren aktuellen Antrag der Fraktion der FDP „Meinungsfreiheit verteidigen – Recht im Netz durchsetzen“ gemacht:40 33 Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterentwickeln – Nutzerrechte stärken , Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken sicherstellen, BT-Drs. 19/5950, 22.11.2018, abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/059/1905950.pdf. 34 Ebenda, S. 9. 35 Zur Änderung, Aufhebung bzw. Teilaufhebung des NetzDG gibt es weitere parlamentarische Initiativen, die auf der Homepage des Deutschen Bundestages mit den wesentlichen Argumenten für das Für und Wider erläutert sind. Dazu zählen Gesetzentwürfe der Fraktion der AfD zur Aufhebung des NetzDG (19/81), abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/000/1900081.pdf, zur teilweisen Aufhebung des NetzDG von der Fraktion Die Linke (19/218), abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/002/1900218.pdf, ein Gesetzentwurfs der Fraktion der FDP zur Stärkung der Bürgerrechte (19/204 ) in dem ebenfalls die Aufhebung des NetzDG gefordert wird; abrufbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/002/1900204.pdf. 36 Vgl. Deutscher Bundestag, 140. Sitzung, Plenarprotokoll 19/140, 16.01.2020, a.a.O., S. 17539. 37 Ebenda, S. 17539 C. 38 Ebenda, S. 17533 C. Der Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität ist abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente /RegE_Bekaempfung_Hasskriminalitaet.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 39 Der vorbezeichnete Entwurf wurde bereits am 19.02.2020 vom Bundeskabinett beschlossen. Vgl. Krempl, Stefan , Kampf gegen Hass: Bundesregierung stimmt für Pflicht zur Passwortherausgabe, heise online, 19.02.2020, https://www.heise.de/newsticker/meldung/Kampf-gegen-Hass-Bundesregierung-stimmt-fuer-Pflicht-zur-Passwortherausgabe -4663947.html?view=print. Vgl. auch Roßmann, Robert, Facebook, Twitter und Co. - Justizministerin will NetzDG nachbessern, Süddeutsche Zeitung, 16.01.2020, https://www.sueddeutsche.de/digital /netzdg-lambrecht-zensur-straftaten-1.4758635. 40 Antrag der Abgeordneten Benjamin Strasser, weiterer Abg. und der Fraktion der FDP, Meinungsfreiheit verteidigen – Recht im Netz durchsetzen, BT-Dr. 19/14062, 16.10.2019, S. 5 f, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag .de/dip21/btd/19/140/1914062.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 14 „Auch die immer wieder vorgeschlagene Klarnamenpflicht in sozialen Netzwerken hilft nicht weiter. Sie käme autoritären Regimen gelegen, die Oppositionelle nur zu gerne im Internet anhand ihrer Klarnamen verfolgen möchten. Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert , einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vergleichbar mit dem Anspruch im Urheberrecht auch für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten einen eigenen, klar und eng umrissenen Auskunftsanspruch der betroffenen Personen zum Zweck der privatrechtlichen Rechtsverfolgung schafft.“ Eine „Klarnamenpflicht“ wurde in der rechtspolitischen Auseinandersetzung zwar immer wieder diskutiert, Eingang in konkrete Gesetzesvorhaben hat sie jedoch erkennbar bisher nicht gefunden. Auch die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat sich in der 17. Wahlperiode mit Fragen der anonymen Nutzung des Internets befasst und zieht hierzu ausdrücklich folgendes Fazit: „Eine anonyme oder pseudonyme Nutzung des Internets ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern im Einzelfall und nach ihrem eigenen Dafürhalten, eine Meinung frei artikulieren zu können, ohne eine unmittelbare Ächtung oder aber andere Nachteile hierfür befürchten zu müssen. Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer digital vernetzten Demokratie, kann aber auch Gefahren bergen, wenn dieses Recht missbraucht wird.“41 3.3.2. Bundesrat Der Bundesrat hat in seiner 985. Sitzung42 am 14.02.2020 den Entwurf43 eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes44 beraten. Die Länder Niedersachsen und Mecklenburg- Vorpommern hatten die Gesetzesinitiative eingebracht. 41 Siebter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ - Demokratie und Staat BT-Drs. 17/12290, S. 26. Abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712290.pdf. 42 Die Tagesordnung des Bundesrates ist abrufbar unter https://www.bundesrat.de/SharedDocs/TO/985/tagesordnung -985.html. 43 Gesetzesantrag der Länder Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zum Zweck der Erleichterung der Identifizierbarkeit im Internet für eine effektivere Bekämpfung und Verfolgung von Hasskriminalität, BR-Drs. 70/20, 07.02.2020, abrufbar unter: https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2020/0001-0100/70-20.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Der Gesetzentwurf ist auch im Dokumentations- und Informationssystem (DIP) des Deutschen Bundestages abrufbar : http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt?rp=http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/search- Documents/simple_search.do?nummer=70/20%26method=Suchen%26herausgeber=BR%26dokType=drs. 44 Netzwerkdurchsetzungsgesetz vom 1. September 2017 (BGBl. I S. 3352), abrufbar unter: https://www.gesetzeim -internet.de/netzdg/BJNR335210017.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 15 Damit soll u. a. eine Pflicht für Anbieter sozialer Netzwerke und für Anbieter von Spieleplattformen eingeführt werden, die Nutzerinnen und Nutzer bei der Registrierung durch Erhebung von Name und Anschrift sowie bei natürlichen Personen von deren Geburtsdatum zu identifizieren. Damit sollen die Identifizierbarkeit von Tatverdächtigten verbessert und Ermittlungen erleichtert werden. Eine Pflicht, Postings unter dem jeweiligen Klarnamen einzustellen, sei damit nicht verbunden .45 Der Gesetzesantrag wurde in den Rechts-, Innen- und Wirtschaftsausschuss überwiesen . Sobald diese ihre Beratungen abgeschlossen und eine Empfehlung für das Plenum erarbeitet haben, kommt die Vorlage wieder auf die Plenartagesordnung - dann zur Frage, ob der Bundesrat den Entwurf beim Deutschen Bundestag einbringen will. 46 Zielsetzung der Initiative Länder Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen ist es, die Identifizierbarkeit im Internet für eine effektivere Bekämpfung und Verfolgung von sogenannter „Hasskriminalität “ zu erleichtern. Die Initiative steht zumindest in der Zielsetzung offenbar im Einklang mit einem Maßnahmepaket der Bundesregierung vom 30.10.2019, mit dem u. a. Betreiber von Online-Plattformen strafrechtlich relevante Beiträge wie Morddrohungen oder volksverhetzende Inhalte künftig zentral melden müssen47. Hierbei ist – wie oben dargestellt – eine Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) vorgesehen. Zur bisherigen Prüf- und Löschpflicht rechtswidriger Inhalte kommen Prüf- und Meldeplichten strafrechtlicher Tatbestände. Darüber hinaus soll eine Meldepflicht normiert werden, die Provider dazu verpflichtet, u.a. die IP-Adressen der Absender strafrechtlich relevanter Beiträge wie Morddrohungen oder volksverhetzende Inhalte künftig zentral zu melden. Bisher gibt es lediglich eine Berichtspflicht der Provider über vollzogenen Löschaktivitäten bei rechtswidrigen Inhalten. Dazu soll eine spezielle Stelle im Bundeskriminalamt eingerichtet werden. Dabei sollen die Provider dazu verpflichtet werden, auch die IP-Adressen der Absender solcher Postings zu übermitteln. Für die von der Bundesregierung vorgesehenen Änderungen des NetzDG und anderer Gesetze (Strafgesetzbuch, 45 Vgl. Gesetzesantrag der Länder Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zum Zweck der Erleichterung der Identifizierbarkeit im Internet für eine effektivere Bekämpfung und Verfolgung von Hasskriminalität.BR-Drs. 70/20, B. Einzelbegründung zu Nummer 4, a.a.O., S. 8. 46 Beschluss des Bundesrates vom 14.02.2020. Abrufbar unter: https://www.bundesrat.de/DE/plenum/bundesratkompakt /20/985/58.html?nn=4352768#top-58. Das Plenarprotokoll mit den Reden der Innenminister von Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern lag zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit noch nicht vor. 47 Bundesregierung, Soziale Netzwerke, Maßnahmenpaket im Kabinett beschlossen: Bundesregierung geht gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität vor, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gegen-extremismus -und-hass-1686442 und Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität, Pressemitteilung vom 30.10.2019, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen /DE/2019/10/kabinett-beschliesst-massnahmen-gg-rechtsextrem-u-hasskrim.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 16 Strafprozessordnung, Bundesmeldegesetz, Bundeskriminalamtgesetz, Telemediengesetz) sowie die Einschränkung eines Grundrechts48 liegt seit dem 19.02.2020 ein Gesetzentwurf vor.49 3.3.3. Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder Die Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder stellte in ihrem Bericht vom 15. Mai 2017 zusammenfassend fest: „Nach § 13 Abs. 6 TMG muss der Diensteanbieter die Nutzung der Telemedien anonym oder Pseudonyme ermöglichen. Dadurch wird die Verfolgung von Rechtsverletzungen im Internet beeinträchtigt. Dieses Spannungsverhältnis sollte Gegenstand der gesellschaftlichen Diskussion sein. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf wird zurzeit nicht gesehen.“50 3.3.4. Bundesregierung Die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz plant derzeit nicht, eine Klarnamenpflicht einzuführen.51 Die Pressestelle des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat erklärte: „Eine Klarnamenpflicht oder eine Pflicht der Anbieter, die Klarnamen der Nutzer zu speichern und sie bei Bedarf herauszugeben, würde die Aufklärung von Rechtsverstößen deutlich erleichtern. Allerdings nur in engen verfassungsrechtlichen Grenzen. Aktuell seien aber keine diesbezüglichen Gesetzesänderungen geplant.“52 48 Das Fernmeldegeheimnis (Artikel 10 des Grundgesetzes) wird durch Artikel 2 Nummer 3 und Artikel 5 Nummer 2 eingeschränkt. 49 Wie oben angegeben, hat das Bundeskabinett den diesbezüglichen Gesetzentwurf bereits am 19.02.2020 beschlossen , siehe FN 34. 50 Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder. Bericht vom 15.02.2017, S. 313ff [323]. Abzurufen unter: https://www.justiz.nrw.de/JM/schwerpunkte/digitaler _neustart/zt_bericht_arbeitsgruppe/bericht_ag_dig_neustart.pdf. 51 Erklärung der Pressestelle des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz gegenüber tagesschau .de. – Klarnamenpflicht. Mit offenem Visier. tagesschau.de vom 13.01.2020. Abzurufen unter: https://www.tagesschau.de/inland/schaeuble-klarnamenpflicht-soziale-netzwerke-101.html. 52 Erklärung der Pressestelle des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat gegenüber tagesschau.de. – Klarnamenpflicht. Mit offenem Visier. tagesschau.de vom 13.01.2020. Abzurufen unter: https://www.tagesschau .de/inland/schaeuble-klarnamenpflicht-soziale-netzwerke-101.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 17 Auch im aktuellen Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung - Globale Umweltveränderungen - Unsere gemeinsame digitale Zukunft53 werden die im Zusammenhang mit einer Klarnamenpflicht stehende Gewährleistung der Anonymität in der Internetkommunikation thematisiert: „Anonymität in der Internetkommunikation gewährleisten und Grundrechte schützen: Der WBGU [Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen] plädiert sowohl für die generelle Notwendigkeit anonymer Onlinekommunikation zur Sicherstellung von Privatheit als auch für die Möglichkeit, in ausgewiesenen sicheren digitalen Räumen bewusst als Bürger*in nicht anonym zu kommunizieren. Eine generelle und umfassende Klarnamenpflicht ist nicht geboten. Ebenso teilt der WBGU in Bezug auf eine drohende privatwirtschaftliche Vorabzensur zur Erfüllung des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Kasten 4.2.6-2)54 oder Urheberrechtsvorschriften durch Upload-Filter die kritische Einschätzung der Stellungnahme der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit , für das Recht auf Privatheit und für den Grundrechtsschutz im Antiterrorkampf (Kaye et al., 2018)55. Aus Sicht des WBGU können nur unabhängige Institutionen, die ausschließlich der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet sind, eine grundrechtskonforme Regulierung von Onlinekommunikation gewährleisten.“ 4. Rechtliche Grundlagen Da umstritten ist, ob § 13 Abs. 6 Telemediengesetz (TMG)56 durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)57, die am 25. Mai 2018 in Kraft trat, ersetzt wird, wird im Folgenden zwischen der 53 Bundesregierung, Unterrichtung, Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung, Globale Umweltveränderungen - Unsere gemeinsame digitale Zukunft, BT-Drs. 19/15004, 21.10.2019, S. 234, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/150/1915004.pdf. 54 Im Kasten 4.2.6-2 des Hauptgutachtens auf S. 142 wird auf Chinas Sozialkreditsystem Bezug genommen. 55 Im Originaltext wird folgende Quelle darunter angegeben: Kaye, D., Cannataci, J. und Ní Aoláin, F. (2018): Mandates of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression ; the Special Rapporteur on the right to privacy and the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism. Internet: https://spcommreports.ohchr .org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=24234. Genf: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR). 56 Telemediengesetz vom 26. Februar 2007 (BGBl. I S. 179), das zuletzt durch Artikel 11 des Gesetzes vom 11. Juli 2019 (BGBl. I S. 1066) geändert worden ist. Abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/tmg/BJNR017910007.html. 57 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (Text von Bedeutung für den EWR). Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016R0679&from=DE. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 18 Rechtslage vor und nach diesem Datum unterschieden. Die Rechtslage nach dem 25. Mai 2018 wird unten unter 4.8. behandelt. 4.1. Rechtslage bis zum Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung am 25. Mai 2018 4.1.1. Verfassungsrechtliche Aspekte 4.1.1.1. Art. 5 GG – Meinungsfreiheit Art. 5 GG umfasst auch die Namensangabe. Die Nennung des eigenen Namens ist regelmäßig ein Recht des Äußernden, keine Pflicht. Ob Art. 5 Abs. 1 GG jegliche Form der anonymen Kommunikation schützt, sei dahingestellt. Nach herrschender Meinung wird ein Schutz jedenfalls dort anzunehmen sein, wodurch „übersteigerte (staatliche) Offenlegungspflichten zum Beispiel Verpflichtung zur Preisgabe des Namens von Leserbriefschreiber; Zwang zur Offenlegung des Klarnamens bei Teilnahme an Online-Foren etc.) ein „chilling effect“ dergestalt entsteht, dass durch die Verhinderung von anonymen Meinungskundgaben ein Klima erzeugt wird, in dem die Meinungsäußerung letztendlich unterdrückt wird.“58 4.1.1.2. Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Bundesverfassungsgericht hat im sogenannten Volkszählungs-Urteil vom 15.12.198359 entschieden , dass der Schutz des Einzelnen vor Weitergabe seiner personenbezogenen Daten vor allem unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung, aber auch außerhalb dieses Bereichs 60 als Recht auf informationelle Selbstbestimmung vom Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG erfasst ist. Dieses Grundrecht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.61 4.1.2. Einfachgesetzliche Regelung – § 13 Abs. 6 Telemediengesetz (TMG) Bei § 13 Abs. 6 TMG handelt es sich um die einfachgesetzliche Umsetzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Danach hat der Diensteanbieter die Nutzung von Telemedien 58 Grabenwarter, in: Maunz/Düring, GG, 74. EL Mai 2015, Art. 5 Rn.86 mwN. 59 BVerfG, Urteil vom 15.12.1983 – Az. 1 BvR 209/83 et al.. 60 BVerfG, Beschluss vom 09.03.1988 – Az. 1 BvL 49/86. 61 BVerfG, Beschluss vom 04.04.2006 – Az. 1 BvR 518/02 – Rn.70 (juris) mwN. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 19 und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Der Diensteanbieter muss den Nutzer über diese Möglichkeiten informieren .62 Es ist mit der überwiegenden Meinung davon auszugehen, dass sich der Anwendungsbereich der Norm auf den Schutz anderen Nutzern gegenüber beschränkt.63 Gegenüber ihnen kann sich der Nutzer hinter einem Pseudonym verbergen. Die Pseudonymität des Nutzers gegenüber dem Diensteanbieter beim Vertragsschluss bzw. beim Registrierungsvorgang ist nicht geschützt.64 Eine Klarnamenpflicht bei Registrierung ist daher zulässig, wenn dies nicht ausschließt, dass die anschließende Nutzung anonym bzw. pseudonym erfolgen kann.65 Den Umgang mit Bestandsdaten bei der Nutzung von Onlinediensten regelt dabei § 14 TMG. Ein Diensteanbieter darf personenbezogene Daten nur erheben und verwenden, soweit sie für die Begründung , inhaltliche Ausgestaltung oder Änderung eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Diensteanbieter und dem Nutzer über die Nutzung von Telemedien erforderlich sind. Die Vorschrift regelt lediglich die Befugnis eines Diensteanbieters, überhaupt entsprechende Daten zu erheben. Im Umkehrschluss besteht damit keine Pflicht zur Erhebung von Bestandsdaten. 4.2. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters Es ist davon auszugehen, dass auf Verlangen des Diensteanbieters in dem zwischen ihm und dem Nutzer privatautonom geschlossenen Dienstvertrag nicht vereinbart werden darf, dass die Nutzer bei der Nutzung der Dienste ihren Klarnamen verwenden müssen. 62 § 13 Abs. 6 TMG: „Der Diensteanbieter hat die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Der Nutzer ist über diese Möglichkeit zu informieren.“ 63 Lorenz, VuR 2014, 83, 89; Lauber-Rönsberg, MMR 2014, 10, 13; Spindler/Schuster/Spindler/Nink, § 13 TMG Rz. 22; a.A. insgesamt: Wilkat, S. 100, 102; Schmidt, S. 57. 64 Laut Caspar, Johannes: Klarnamenpflicht versus Recht auf pseudonyme Nutzung. ZRP 2015, 234 ist diese Auffassung jedoch umstritten. Zur Diskussion siehe ebenda, S. 233 ff. 65 Spindler/Schuster/Spindler/Nink, § 13 TMG Rz. 22; ähnlich: Schmitz in Spindler/Wiebe, Kap. 13 Rz. 57; Müller -Broich, § 13 TMG Rz. 10; OLG Düsseldorf v. 7.6.2006 - 15 U 21/06, ZUM-RD 2006, 384, 386; LG Köln v. 21.3.2007 - 28 O 15/07, ZUM 2007, 665, 670. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 20 4.2.1. Facebook 1: Vorgehen eines deutschen Datenschutzbeauftragten gegen Facebook Ireland Einige Diensteanbieter, so z.B. Facebook66, verlangen von ihren Nutzern, unter ihrem Klarnamen aufzutreten. Ergibt sich der Verdacht, dass ein Name nicht zutreffend verwendet wird, verlangt Facebook von dem jeweiligen Nutzer eine Ausweiskopie und sperrt ggf. das Nutzerkonto. Zurzeit wird in zwei causes célèbres um die Frage des Klarnamenzwangs in sozialen Netzwerken gestritten. Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte, der aufgrund des Sitzes der deutschen Facebook -Niederlassung in Hamburg zuständig ist, und das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz (ULD) in Schleswig-Holstein haben gegen Facebook ein Verfahren vor den Verwaltungsgerichten um die Frage geführt, ob es Facebook verboten werden könnte, deutsche Nutzer zur Angabe ihres Klarnamen zu zwingen. Das OVG Schleswig67 hat in einem Eilverfahren entschieden, dass deutsches Recht keine Anwendung findet, das OVG Hamburg68 hat die Frage offengelassen. Die Hauptsacheentscheidungen hierzu stehen noch aus. In einem ähnlich gelagerten Verfahren hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass ein deutscher Landesdatenschutzbeauftragter gegen ein außerhalb der Union ansässiges Unternehmen , das mehrere Niederlassungen in verschiedenen Mitgliedstaaten unterhält, gegenüber einer im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gelegenen Niederlassung dieses Unternehmens auch dann vorzugehen befugt ist, wenn nach der konzerninternen Aufgabenverteilung diese Niederlassung 66 Facebook, Auszug aus den Nutzungsbedingungen, https://de-de.facebook.com/help/112146705538576: „Welche Namen sind auf Facebook zugelassen? Facebook ist eine Gemeinschaft, in der alle Personen den Namen verwenden, mit dem sie im Alltag am häufigsten angesprochen werden. So weißt du immer, mit wem du dich verbindest. Dein Name darf Folgendes nicht enthalten: Symbole, Zahlen, ungewöhnliche Großschreibung, sich wiederholende Zeichen oder Satzzeichen Zeichen aus verschiedenen Sprachen Titel jeglicher Art, z. B. beruflich, religiös Wörter oder Formulierungen anstelle eines Namens Beleidigende oder anstößige Wörter jeglicher Art Wenn dein Name unseren Standards entspricht und du dennoch Schwierigkeiten hast, ihn zu ändern, finde die Gründe dafür heraus. Zudem gelten folgende Richtlinien: Bei dem Namen in deinem Profil sollte es sich um den Namen handeln, unter dem dich deine Freunde im Alltag kennen. Dieser Name sollte auch auf einem Ausweis oder Dokument aus unserer Ausweis-Liste erscheinen. Spitznamen können als Vorname oder zweiter Vorname verwendet werden, wenn es sich dabei um eine Variante deines wirklichen Namens handelt, z. B. Steffi anstelle von Stefanie. Du kannst für dein Konto auch einen anderen Namen angeben, z. B. Geburtsname, Spitzname oder beruflicher Name. Profile sind ausschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt. Für ein Unternehmen, eine Organisation oder eine Idee kannst du eine Seite erstellen. Es ist nicht gestattet, Organisationen oder Personen nachzuahmen, und vorzugeben, jemand oder etwas anderes zu sein.“ 67 OVG Schleswig, Beschluss vom 22.04.2013 – Aktenzeichen 4 MB 11/13. 68 OVG Hamburg, Beschluss vom 30.06.2016 – Aktenzeichen 5 Bs 40/16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 21 allein für den Verkauf von Werbeflächen und sonstige Marketingtätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuständig ist.69 4.2.2. Facebook 2: Unwirksamkeit wegen Verstoßes gegen § 13 Abs. 6 TMG In einem noch nicht rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Berlin vor Inkrafttreten der DSGVO stellte das Gericht fest, dass eine Klausel, mit der sich die Nutzer verpflichteten, auf Facebook nur ihre echten Namen und Daten zu verwenden, wegen Verstoßes gegen § 13 Abs. 6 TMG unzulässig sei.70 4.3. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots und Anonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters Denkbar wäre, dass der Diensteanbieter im Rahmen des Pseudonymisierungsverbots durch die Verifikation weitere Daten wie Adresse und Geburtsdatum erhebt, die für die Abwicklung des Vertrages zwischen den Parteien nicht erforderlich sind und damit dem Grundsatz der Datensparsamkeit widerspricht. In Anbetracht der Bedenken gegen das bloße Pseudonymisierungsverbot auf Verlangen des Diensteanbieters ist die rechtliche Zulässigkeit einer Kombination eines Pseudonymisierungsverbots und eines Anonymisierungsverbots nicht gegeben. 4.4. Klarnamenpflicht im Sinne eines Anonymisierungsverbots auf Verlangen des Diensteanbieters Ebenfalls denkbar wäre, dass der Diensteanbieter von dem Nutzer im Rahmen der Registrierung eine Identifizierung verlangt. 69 Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 05.06.2018 – Aktenzeichen C-210/16 –, Rn. 64 (juris) – Fanpage: .„Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 4 und 28 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass dann, wenn ein außerhalb der Union ansässiges Unternehmen mehrere Niederlassungen in verschiedenen Mitgliedstaaten unterhält, die Kontrollstelle eines Mitgliedstaats zur Ausübung der ihr durch Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie übertragenen Befugnisse gegenüber einer im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gelegenen Niederlassung dieses Unternehmens auch dann befugt ist, wenn nach der konzerninternen Aufgabenverteilung zum einen diese Niederlassung allein für den Verkauf von Werbeflächen und sonstige Marketingtätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuständig ist und zum anderen die ausschließliche Verantwortung für die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten für das gesamte Gebiet der Union einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Niederlassung obliegt.“ Anschließend: BVerwG, Urteil vom 11.o9. 2019 – Az. 6 C 15.18. 70 LG Berlin, Urteil vom 16. Januar 2018 – Az. 16 O 341/15 –, Rn. 151(juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 22 Der Diensteanbieter darf nach § 14 TMG71 grundsätzlich personenbezogene Daten eines Nutzers erheben und verwenden. Dies gilt allerdings nur für den Fall, dass sie für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung oder Änderung eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Diensteanbieter und dem Nutzer über die Nutzung von Telemedien erforderlich sind. Ein solcher Fall ist bisher noch nicht entschieden worden. Hier käme es darauf an, wie der Diensteanbieter das Erfordernis der Erhebung von Bestandsdaten rechtfertigt.72 4.5. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots aufgrund staatlicher Regelungen Vorstellbar wäre, dass aufgrund einer staatlichen Regelung eine Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots statuiert würde. Aller Voraussicht nach müssten dann wie bei den SIM-Karten (§ 111 TKG73) die Diensteanbieter den Klarnamen verifizieren. Eine solche Regelung wäre wahrscheinlich wegen Verstoßes gegen das Recht auf Meinungsfreiheit durch Verschweigen des Namens und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (s.o.) verfassungswidrig. 4.6. Klarnamenpflicht im Sinne eines Pseudonymisierungsverbots und Anonymisierungsverbots aufgrund staatlicher Regelungen Eine Kombination zwischen Pseudonymisierungsverbot und Anonymisierungsverbot wäre wegen der Verfassungswidrigkeit des Pseudonymisierungsverbots ebenfalls verfassungswidrig. 71 § 14 in der Fassung vom 11.07.2019. Abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/tmg/__14.html. 72 Befürwortend: Nick/Spindler, in: Spindler/Schuster, TMG (Fn. 14), § 13 Rn. 21f. 73 § 111 TKG: Daten für Auskunftsersuchen der Sicherheitsbehörden: „(1) Wer geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringt oder daran mitwirkt und dabei Rufnummern oder andere Anschlusskennungen vergibt oder Telekommunikationsanschlüsse für von anderen vergebene Rufnummern oder andere Anschlusskennungen bereitstellt, hat für die Auskunftsverfahren nach den §§ 112 und 113 1. die Rufnummern und anderen Anschlusskennungen, 2. den Namen und die Anschrift des Anschlussinhabers , 3. bei natürlichen Personen deren Geburtsdatum, 4. bei Festnetzanschlüssen auch die Anschrift des Anschlusses , 5. in Fällen, in denen neben einem Mobilfunkanschluss auch ein Mobilfunkendgerät überlassen wird, die Gerätenummer dieses Gerätes sowie 6. das Datum des Vertragsbeginns vor der Freischaltung zu erheben und unverzüglich zu speichern, auch soweit diese Daten für betriebliche Zwecke nicht erforderlich sind; das Datum des Vertragsendes ist bei Bekanntwerden ebenfalls zu speichern. Satz 1 gilt auch, soweit die Daten nicht in Teilnehmerverzeichnisse (§ 104) eingetragen werden. Bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten ist die Richtigkeit der nach Satz 1 erhobenen Daten vor der Freischaltung zu überprüfen durch ...“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 23 4.7. Klarnamenpflicht im Sinne eines Anonymisierungsverbots auf Grund staatlicher Regelungen Schließlich wäre noch eine staatliche Regelung denkbar, die eine Identifikation des Nutzers gegenüber dem Diensteanbieter statuiert. Der Diensteanbieter würde dann – wie in § 111 TKG für die SIM-Karte vorgesehen – von dem Nutzer Daten für eine Identifikation erheben und speichern. Der Nutzer könnte dann unter einem Pseudonym den Dienst des Anbieters nutzen, könnte aber bei strafrechtlich relevantem Verhalten durch Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die hinterlegten Daten leicht identifiziert werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied am 30. Januar 2020, dass Speicherung und Bereitstellung der Bestandsdaten von Prepaid-SIM-Karten-Nutzern in Deutschland gemäß § 111 TKG verhältnismäßig im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei.74 Es spricht daher viel dafür, dass eine Speicherung von Bestandsdaten nach dem Vorbild von § 111 TKG zum Zwecke der Strafverfolgung grundsätzlich zulässig wäre. Hier würde sich dann die Frage stellen, unter welchen Umständen und bei welchen Straftaten die Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf die Daten hätten. 4.8. Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DGSVO) am 25. Mai 2018 Es ist umstritten, ob § 13 Abs. 6 TMG nach dem Inkrafttreten der DGSVO am 25. Mai 2018 wegen des Anwendungsvorgangs der DGSVO noch gültiges Recht ist oder von der DGSVO ersetzt worden ist. 75 Nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion würde aber auch die Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung wegen des Prinzips der Datensparsamkeit dazu führen, dass Pseudonymisierungsverbote durch Telediensteanbieter unzulässig sind. 74 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 30.01.2020, Az.: 50001/12, Breyer ./. Deutschland, Rn. 88ff. Abrufbar unter: https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-200442%22]}. 75 Dagegen: Zur Anwendbarkeit des TMG für nicht-öffentliche Stellen ab dem 25. Mai 2018. Positionsbestimmung der Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder. Düsseldorf, 26. April 2018. Abrufbar unter: https://www.datenschutzkonferenz-online.de/media/ah/201804_ah_positionsbestimmung _tmg.pdf; Nebel, Maxi: die Zulässigkeit der Erhebung des Klarnamens nach den Vorgaben der Datenschutz -Grundverordnung. K&R 2019, S. 148ff mwN. Vermittelnd: Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder. Bericht vom 15.05.2017, S.312ff [313]. Abrufbar unter: https://www.justiz.nrw.de/JM/schwerpunkte/digitaler_neustart/zt_bericht_arbeitsgruppe/bericht _ag_dig_neustart.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 24 Die Ausführungen über mögliche Anonymisierungsverbote und Pseudonymisierungsverbote aufgrund staatlicher Regelungen gelten auch für die Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Datenschutz -Grundverordnung. 5. Obiter dicta 5.1. Diensteanbieter mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland Problematisch ist hier, ob und inwieweit gegenüber Diensteanbietern mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere wenn hierzulande oder in der Europäischen Union keine Niederlassung unterhalten werden – gesetzliche Regelungen der Bundesrepublik Deutschland theoretisch gelten und faktisch gegebenenfalls vollstreckt werden könnten.76 Des Weiteren ist die Behandlung und Sicherheit der Diensteanbietern mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland übermittelten Daten in vielen Fällen nicht überprüfbar. Dort könnte es laut Link77 interessierte Kreise geben, die Verwendung für beispielsweise Anschriftenlisten von Bürgerinitiativen jedweder Art haben. Nach einer Stellungnahme von facebook stünden außerdem international tätige Diensteanbieter vor dem Problem, diejenigen Nutzer zu erkennen, bei denen sie gegebenenfalls Identitätsprüfung vornehmen müssen.78 5.2. Verhältnismäßigkeit Der Forderung nach einer Klarnamenpflicht für Posts im Internet und selbst nur eine Identifizierungspflicht beim Betreiber hält Link79 entgegen, dass die eher gering anmutende Zahl bisheriger Ermittlungsverfahren gegen Hasskommentare und Drohungen bei den bereits bestehenden Strafverfolgungsmöglichkeiten in keinem Verhältnis zueinander stünden. Mögliche Kollateralschäden, die dadurch entstünden, dass unter Umständen Millionen von Daten in falsche Hände geraten, 76 Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder. Bericht vom 15.05.2017, S.312ff [323]. Abrufbar unter: https://www.justiz.nrw.de/JM/schwerpunkte/digitaler_neustart /zt_bericht_arbeitsgruppe/bericht_ag_dig_neustart.pdf. 77 Link, Michael, Kommentar: Eine Klarnamenpflicht würde viele Stimmen verstummen lassen, heise online, 07.02.2020, https://www.heise.de/newsticker/meldung/Kommentar-Eine-Klarnamenpflicht-wuerde-viele-Stimmen -verstummen-lassen-4654679.html. 78 Stellungnahme von facebook vom 23. Mai 2019 zum Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem ein Bundesgesetz über Sorgfalt und Verantwortung im Netz (SVN-G) erlassen und das KommAustria-Gesetz geändert wird. Abrufbar unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_04687/imfname_753953.pdf. 79 Link, Michael, Kommentar: Eine Klarnamenpflicht würde viele Stimmen verstummen lassen, a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 25 könnten zu einem Vielfachen an Ermittlungsverfahren und Überlastung der Strafverfolgungsbehörden führen, als es derzeit mit der Strafverfolgung von Hasskriminalität im Netz der Fall sei.80 5.3. Praktische Umsetzung einer möglichen Identifizierungspflicht Nach einer Stellungnahme von ISPA81, des Verbandes der österreichischen Provider, anlässlich eines österreichischen Gesetzentwurfes seien auch die erheblichen Aufwendungen der Diensteanbieter bei einer Identifizierungspflicht zu berücksichtigen. Insbesondere gelte dies bei einer schon bestehenden größeren Nutzerzahl, bei der dann die Identitätsprüfung innerhalb einer bestimmten Frist vorgenommen werden müsste. Auch eine Identifizierungspflicht bei zulässiger Nutzung von Pseudonymen berge laut Link82 größere und inakzeptable Risiken. Wenn Nutzer lediglich "persönliche Daten hinterlegen" sollen, so können diese frei erfunden sein. Überprüfbar seien Namen und Anschrift nur, wenn man den Plattformbetreibern künftig aufbürdet, eine Infrastruktur aufzusetzen, die der bei der Freischaltung einer Prepaid-SIM gleichkäme und mit der beispielsweise der Forumsbetreiber des örtlichen Kaninchenzüchtervereins bei der Anmeldung die Identität eines Nutzers absurderweise prüfen muss, obwohl er seine Mitglieder schon kennt. Ein solcher Prüf-Overkill wäre aber das Aus für jede nichtkommerzielle Plattform. 5.4. Schäden bei Datenschutzpannen oder Hacker-Angriffen Nicht nur kriminelle Motive spielten laut Breyer83 beim Identitätsdiebstahl eine Rolle. So habe bei dem Datenskandal Anfang 2019 ein jugendlicher Hacker persönliche Daten von rund 1000 Politikern und Prominenten veröffentlicht, weil ihm Äußerungen der Betroffenen missfielen.84 Wenn zu dieser Problematik noch Fahrlässigkeit beim Aufbewahren von Daten wie derzeit bei 80 Ebenda. Die Herausforderung für Strafverfolgung kann bei schon am Beispiel der Zahl von Hackerangriffen im Bereich der Bundeswehr erahnt werden: Die Zahl der Cyber-Attacken steigt drastisch. Focus vom 15.02.2020, S. 20: Nach dem Artikel registrierte die Bundeswehr 2018 3,54 Millionen Cyber-Attacken, 2019 schon 5,74 Millionen . Das entspricht einer Steigerung von 160 %. 81 S. dazu: Stellungnahme der ISPA – Internet Service Providers Austria vom 20. Mai 2019 zum Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem ein Bundesgesetz über Sorgfalt und Verantwortung im Netz (SVN-G) erlassen und das KommAustria-Gesetz geändert Abrufbar unter: https://www.parlament .gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_04561/imfname_753372.pdf. 82 Link, Michael, Kommentar: Eine Klarnamenpflicht würde viele Stimmen verstummen lassen, a.a.O. 83 Anreize zu Identitätsdiebstahl und illegalen Datenhandel sieht auch Breyer. Vgl. Breyer, Patrick, zum geforderten Identifizierungszwang im Netz: Nehmt die Hass-Brille ab!, PRESSEPORTAL, 13.02.2020, https://www.presseportal .de/pm/76876/4519952. 84 Vgl. Deutsche Welle, Hacker nennt als Motiv Ärger über Politiker-Aussagen, 08.01.2019, https://www.dw.com/de/hacker-nennt-als-motiv-%C3%A4rger-%C3%BCber-politiker-aussagen/a-46991582. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 26 Patientendaten in Frankreich85 und das Hacken von Bankkonten zur Veröffentlichung von Kontobewegungen mit Absenderdaten hinzukommt bieten sich außergewöhnliche Risiken und Konstellation im Hinblick auf die Privatsphäre und das Umfeld von interessierenden Personen, insbesondere von Politikern und Prominenten. 5.5. Missbrauchspotenzial Problematisch ist nach Nebel86, dass die angegebenen Klarnamen in der Hand weniger Konzerne mit großer Marktmacht seien. So unterlägen diese Daten nicht nur der Gefahr der Ausspähung durch Dritte, sondern auch der des Missbrauchs durch diese Unternehmen. Die Marktmacht schon jetzt dominierender Unternehmen würde weiter gestärkt und illegalem Datenhandel Vorschub geleistet. 5.6. Erforderlichkeit Link87 ist der Auffassung, dass sich mit den Polizeigesetzen der Bundesländer, dem NetzDG und etlichen anderen Vorschriften (insbesondere aus dem Strafgesetzbuch) das Instrumentarium, gegen missliebige Inhalte im Netz vorzugehen, erheblich erweitert habe. Was aber fehle, sei das geeignete Personal, internetmotivierter Kriminalität zu begegnen. Noch immer würden auf Polizeiwachen Menschen achselzuckend abgewiesen, die Drohungen aus dem Netz ausgesetzt sind. Bloß weitere Gesetze zu machen, sei nicht mehr als billiger Aktionismus. 6. Fazit Eine Klarnamenpflicht bzw. ein Anonymisierungsverbot wird nach überwiegender Auffassung unter bestimmten Voraussetzungen für den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden als rechtlich zulässig gehalten. Dem stehen zahlreiche Einwände gegenüber. Kritiker sehen neben der Gefährdung der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit als konstitutives Element einer freiheitlich demokratischen Ordnung und eines äußerst fragwürdigen Beitrags zur beabsichtigten Zielsetzung eine Vielzahl von unerwünschten Nebeneffekten: Erhöhung von Risiken wie Gefährdung (Boßstellung, Erpressung) von Politikern und Prominenten, 85 Vgl. Born, Günter, Patientendaten aus französischer Medizin-Cloud offen im Internet, heise online, 15.02.2020, https://www.heise.de/security/meldung/Patientendaten-aus-franzoesischer-Medizin-Cloud-offen-im-Internet- 4661592.html?wt_mc=rss.red.ho.ho.atom.beitrag.beitrag. Dabei geht es um intime Patientendaten zu Schönheitsoperationen , die im Netz frei einsehbar und verfügbar waren. 86 Nebel, Maxi: die Zulässigkeit der Erhebung des Klarnamens nach den Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung . K&R 2019, 148ff [152]. 87 Link, Michael, a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10- 3000 – 003/20 Seite 27 Verstärkung der Marktmacht ohnehin dominierender Internetunternehmen, Marktmachtmissbrauch , illegaler Datenhandel, Ausweitung krimineller Aktionsräume. Dabei würde es wiederum zu erheblichen zusätzlichen Herausforderungen für die Strafverfolgungsbehörden kommen, deren personelle Kapazitäten nach Auffassung zahlreicher Stimmen aus dem Parlament schon jetzt nicht ausreichten. In diesem Zusammenhang sei auf das eingangs erwähnte bemerkenswerte Verhältnis der Zahl von Nutzern ausgewählter sozialer Medien zur Zahl von Maßnahmen dieser Diensteanbieter verwiesen , wobei bei Berücksichtigung der noch viel höheren Zahl an Äußerungen sich dieses Verhältnis weiter reduziert. ****