© 2021 Deutscher Bundestag WD 10 - 3000 - 002/21 Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke Die Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Werbeverbotes für alkoholhaltige Getränke Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Rechtfertigungsgründe 11 4.3.2. Verhältnismäßigkeit 11 5. Ergebnis 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 4 1. Vorbemerkung In diesem Sachstand wird der Frage nachgegangen, ob ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke verfassungsgemäß ist. 2. Übersicht über die bereits bestehenden Regelungen Es bestehen bereits einige Regelungen, die die Werbefreiheit für alkoholische Getränke einschränken . Demnach muss Werbung für alkoholhaltige Getränke bestimmte Mindeststandards insbesondere mit Hinblick auf den Jugendschutz erfüllen. Nach § 6 Abs. 5 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag1 darf sich Werbung für alkoholische Getränke weder an Kinder oder Jugendliche richten, noch durch die Art der Darstellung Kinder und Jugendliche besonders ansprechen oder diese beim Alkoholgenuss darstellen. Auch Art. 9 Abs. 1 lit. e) RL 2010/13/EU2 verbietet, Werbung für alkoholische Getränke speziell an Minderjährige zu richten oder solche Werbung die den Genuss alkoholischer Getränke fördert. Art. 9 Abs. 1 lit. c) iii) RL 2010/13/EU verbietet zusätzlich Werbung, die gesundheitsgefährdende Maßnahmen fördern könnten. Für Fernsehwerbung und Teleshopping für alkoholische Getränke legt die RL 2010/13/EU in Art. 12 zudem fest „a) sie dürfen nicht speziell an Minderjährige gerichtet sein und insbesondere nicht Minderjährige beim Alkoholgenuss darstellen; b) es darf keinerlei Verbindung zwischen einer Verbesserung der physischen Leistung und Alkoholgenuss oder dem Führen von Kraftfahrzeugen und Alkoholgenuss hergestellt werden ; c) es darf nicht der Eindruck erweckt werden, Alkoholgenuss fördere sozialen oder sexuellen Erfolg; d) sie dürfen nicht eine therapeutische, stimulierende, beruhigende oder konfliktlösende Wirkung von Alkohol suggerieren; e) Unmäßigkeit im Genuss alkoholischer Getränke darf nicht gefördert oder Enthaltsamkeit oder Mäßigung nicht negativ dargestellt werden; 1 Hier beispielhaft der bayerische Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) vom 13.09.2002 (GVBl. 2003 S. 147, BayRS 02-21-S), zuletzt geändert durch Art. 5 des Abkommens vom 03.12.2015 (GVBl. 2016 S. 52) m.W.v. 07.11.2020. 2 Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10.03.2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 5 f) die Höhe des Alkoholgehalts von Getränken darf nicht als positive Eigenschaft hervorgehoben werden.“ Ein Verkaufsverbot für alkoholische Getränke an Jugendliche findet sich in § 9 Jugendschutzgesetz 3 (JuSchG), wobei umstritten ist, ob das Verbot auch für das Internet und hierüber getätigte Bestellungen gilt.4 § 8 Abs. 10 Medienstaatsvertrag5 (MStV) bestimmt, dass die Werbung für alkoholische Getränke nicht den übermäßigen Konsum ebendieser fördern darf und schützt damit nicht nur Jugendliche . Die Verhaltensregeln des Deutschen Werberats über die kommerzielle Kommunikation für alkoholhaltige Getränke6 enthalten zusätzlich umfassende Regelungen zur Werbung für alkoholische Getränke. Verstöße gegen diese Regelungen werden im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens vom Werberat bearbeitet, was idR zur Rücknahme der beanstandeten Werbung führt.7 3. Verfassungsrecht Die Einführung eines umfassenden Werbeverbots für alkoholhaltige Getränke, das über die bereits bestehenden Regelungen hinausgeht, könnte gegen Grundrechte der Hersteller alkoholischer Getränke verstoßen. 3.1. Meinungsfreiheit Es könnte ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit vorliegen. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz8 (GG) erfasst das Äußern und Verbreiten von Meinungen, das heißt von wertenden Stellungnahmen. Darunter fallen auch 3 Jugendschutzgesetz vom 23.07.2002 (BGBl. I S. 2730), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.10.2020 (BGBl. I S. 2229) m.W.v. 01.01.2021. 4 Boemke in Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 53. EL August 2020, Teil 11, Rn. 117. 5 Hier beispielhaft der bayerische Medienstaatsvertrag (MStV) vom 23.04. 2020 (GVBl. S. 450, 451, BayRS 02-33- S) m.W.v. 07.11.2020. 6 Deutscher Werberat, Verhaltensregeln über die kommerzielle Kommunikation für alkoholhaltige Getränke (Fassung von April 2009). 7 Boemke in Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 53. EL August 2020, Teil 11, Rn. 119. 8 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.09.2020 (BGBl. I S. 2048) m.W.v. 08.10.2020 bzw. 01.01.2021. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 6 „kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat.“9 Somit sind solche Werbungen durch die Meinungsfreiheit geschützt , die Werturteile enthalten. Das heißt auf der anderen Seite, dass solche Werbung, die kein Werturteil enthält, nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt ist.10 Folglich fallen nur einige Arten der Werbung unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Ein Eingriff in die so geschützte Werbung liegt vor, wenn durch ein Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke eine entsprechende Meinungskundgabe nicht mehr möglich ist. 3.1.1. Rechtfertigungsmöglichkeiten (Schranken) Die Meinungsfreiheit findet aber nach Art. 5 Abs. 2 GG „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Ein Gesetz, das ein umfassendes Verbot der Werbung für alkoholhaltige Getränke konstituieren würde, würde nicht nur den Jugend- und Ehrschutz betreffen, sondern vielmehr darüber hinausgehen . Es bleibt daher nur eine Einschränkung anhand eines allgemeinen Gesetzes. Allgemeine Gesetze sind solche, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, sondern die dem Schutz eines umfassenden Rechtsgutes dienen und zufällig nur durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit erfüllt werden können.11 3.1.2. Rechtfertigungsvoraussetzungen (Schranken-Schranken) Ein Gesetz, dass das Bewerben alkoholhaltiger Getränke grundsätzlich verbieten würde, müsste also einem von der Meinungsäußerung unabhängigen umfassenden Rechtsgut dienen. Bei dem Genuss alkoholhaltiger Getränke kann es neben körperlichen Schäden auch zu psychischen Schäden wie der Abhängigkeit kommen. Ein Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke wäre nicht allein gegen eine Meinung in Form der kommerziellen Anpreisung alkoholhaltiger Getränke gerichtet , sondern hätte zunächst den Gesundheitsschutz der Bevölkerung als Ziel. Damit würde ein solches Gesetz ein allgemeines im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG darstellen. Ein Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke, das über die bereits bestehenden Verbotsregelungen hinausgeht, müsste auch verhältnismäßig, das heißt geeignet, erforderlich und angemessen sein. Bei einem Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke kommt vor allem der Gesundheitsschutz als Zweck in Betracht. Unter der Annahme, dass bei einem Ausbleiben jeglicher Werbung für alkoholhaltige Getränke sich ein übermäßiger Konsum und damit eine schädliche Wirkung dieser Getränke verringerten, würde sich ein positiver Effekt für den Gesundheitsschutz ergeben. 9 BVerfG, Urteil vom 12.12.2000 - 1 BvR 1762/95 u. 1787/95 – „Benetton-Schockwerbung“, Rn. 40, juris. 10 Vgl. Huster, Stefan, Der praktische Fall - Öffentliches Recht und Europarecht: Das nationale Alkoholwerbeverbot , JuS 2002, 262, 264. 11 Vgl. Bethge in Sachs, GG Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 5, Rn. 143. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 7 Werbung beeinflusse nicht nur die Markenwahl, sondern auch die Gesamtnachfrage am entsprechenden Produkt.12 Als milderes Mittel kämen Aufklärung und Warnhinweise zur schädlichen Wirkung des übermäßigen Konsums alkoholhaltiger Getränke in Betracht, wie sie bereits im Zusammenhang mit Tabakprodukten verwendet werden. Allerdings sind nur solche Maßnahmen als mildere Mittel in Betracht zu ziehen, die gleichsam effektiv sind, wie die angestrebte Maßnahme selbst. Es wird erwartet, dass mit Warnhinweisen versehene Werbung für alkoholhaltige Getränke weniger Menschen vom übermäßigen und gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum abbringen wird als das Unterlassen von Werbung. Man könnte auch über ein Werbeverbot nachdenken , welches nur Spirituosen mit einem Alkoholgehalt von über 15 Volumenprozenten betrifft. Auch hier ist aber zu bedenken, dass ein solches Verbot vermutlich nicht gleichermaßen wirkt und nicht gleich geeignet ist wie ein umfassend geltendes. Mithin dürfte es kein milderes Mittel mit gleicher Wirkung geben. Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke müsste angemessen sein. Hier ist eine Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (hier: in Form der Werbung) und den Interessen erforderlich, die mit den allgemeinen Gesetzen verfolgt werden (hier: der Gesundheitsschutz ), wobei der Wert der Meinungsfreiheit angemessen zu berücksichtigen ist. Es ist zunächst zu beachten, dass ein Werbeverbot an sich noch gar nicht zu einem geringeren übermäßigen und gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum führen kann, sondern erst die hiermit angestrebte Reaktion der Zielgruppe. Mithin handelt es sich hier um eine Maßnahme, die erst mit dem Eintreten einer erwünschten Verhaltensänderung ihr Ziel erreichen kann. Der protektionistische Charakter des Werbeverbots spricht der Zielgruppe zu einem gewissen Teil die Eigenverantwortung ab. Insbesondere bei einem Eingriff in die Meinungsfreiheit muss gewährleistet sein, dass nicht von vornherein jeglicher individueller Willensbildungsprozess verhindert wird. Bei dem bereits eingeführten weitreichenden Tabakwerbeverbot13 wird zwar ebenfalls ein protektionistischer Ansatz verfolgt. Im Vergleich zu Tabakkonsum soll übermäßiger Alkoholkonsum aber weniger Suchtkrankheiten , Todesfälle und frühere Tode verursachen.14 Das Bundesverfassungsgericht führte in einem Beschluss zu Warnhinweisen für Tabakerzeugnisse hierzu sogar aus: „Das Rauchen tötet mehr Menschen als Verkehrsunfälle, Aids, Alkohol, illegale Drogen, Morde und Selbstmorde zusammen (vgl. Martina Pötschke-Langer, Bericht über die IX. Weltkonferenz über Tabak und Gesundheit vom 10. bis 14. Oktober 1994 in Paris, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung – ZaeF – 89 12 Siekmann, Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Verbots der Werbung für Tabakprodukte, DÖV 2003, S. 657, 661. 13 „Verboten ist Tabakwerbung bereits in der Presse und in anderen gedruckten Veröffentlichungen, ebenso im Internet, im Hörfunk und Fernsehen. […] Die geänderten Vorgaben für Kinowerbung sowie ein Verbot von Gratisproben außerhalb von Fachgeschäften – etwa bei Musikfestivals und Tabakprodukten - und als Gewinne bei Preisausschreiben – soll schon zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Die Verbote für Außenwerbung wie auf Plakatwänden oder Haltestellen für herkömmliche Tabakprodukte sollen ab dem 1. Januar 2022 gelten. Ab dem 1. Januar 2023 gilt das Werbeverbot dann auch für sogenannte Tabakerhitzer und ab dem 1. Januar 2024 für elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter.“ Die Bundesregierung, Tabakwerbung wird weitestgehend verboten, 29.10.2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/tabakwerbeverbot-1766070. 14 Vgl. IFT Institut für Therapieforschung, Epidemiologische Suchtsurvey (ESA), Erhebung 2018, Geschätzte Prävalenzen des Tabak- und Alkoholkonsums sowie von Hypnotika/Sedativa nahmen im zeitlichen Verlauf ab, https://www.esa-survey.de/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 8 [1995], S. 537 f.).“15 Mithin fällt die Beurteilung des Gesundheitsschutzes gegenüber der Meinungsfreiheit weniger stark ins Gewicht als bei den Überlegungen zu einem Tabakwerbeverbot. Bei alkoholhaltigen Getränken handelt es sich darüber hinaus um - zwar mit Altersbeschränkung aber ansonsten - frei erwerbliche Produkte, die man in jedem Supermarkt erwerben kann. Dieser Umstand spricht dafür, dass keine derart konkrete Gefahr von ihnen ausgehen kann, als dass eine Beschränkung der Erwerblichkeit erforderlich wäre. Denn hier spielt wie in vielen anderen Dingen das Maß die entscheidende Rolle. Es entscheidet über positive bis hin zu äußerst negativen Wirkungen. Auch dieser Umstand spricht für die Unangemessenheit eines umfassenden Werbeverbotes , das auch volljährige Menschen betreffen würde. Etwas anderes gilt sicherlich mit Hinblick auf den Jugendschutz. Der bereits sehr umfassende Regelkatalog betreffend Werbung für alkoholhaltige Getränke im Rahmen des Jugendschutzes, könnte gegebenenfalls noch weiter ausgeführt werden. Im Ergebnis ist ein umfassendes Werbeverbot für Werturteile enthaltende Werbung nicht gerechtfertigt .16 Werbung, die keine Werturteile enthält, ist vom Schutz der Meinungsfreiheit nicht erfasst . 3.2. Berufsfreiheit Werbung für alkoholhaltige Getränke könnte allerdings durch die Berufsfreiheit der Produzenten derartiger Getränke geschützt sein. Art. 12 Abs. 1 GG konstituiert das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit. Es enthält die Stufen der Berufsausbildung, der Berufs- und Arbeitsplatzwahl und der Berufsausübung.17 Zu der Berufsausübung gehört auch die Art und Weise, für seine Produkte zu werben. Würde ein Gesetz die Werbung für sämtliche alkoholhaltige Getränke verbieten, läge mithin ein Eingriff auf der Stufe der Berufsausübungsfreiheit vor. Auch wenn Werberegelungen oder Werbeverbote grundsätzlich zur Stufe der Berufsausübungsfreiheit zu zählen sind und bereits zugunsten vernünftiger Erwägungen des Gemeinwohls eingeschränkt werden können, würde ein umfassendes Werbeverbot für eine gesamte Produktgattung sehr einschneidend wirken. Viele Produzenten alkoholhaltiger Getränke könnten bei einem wirksamen umfassenden Werbeverbot betroffen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass es aufgrund eines umfassenden Werbeverbots zu Nachfrageausfällen und Betriebsschließungen kommt. Das würde möglicherweise die Berufswahl beeinträchtigen. Damit würde ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke ausnahmsweise nicht nur die erste Stufe der Berufsausübungsfreiheit , sondern bereits die Stufe der Berufswahl betreffen. 15 BVerfG, Beschluss vom 22.01.1997 - 2 BvR 1915/91 – „Warnhinweise für Tabakerzeugnisse“ Rn. 55, juris. 16 Mit Hinblick auf die Angemessenheit des Tabakwerbeverbots, kann man hier sehr wohl auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Siehe z. B. die Argumentation bezüglich der Angemessenheit des Tabakwerbeverbots bei Siekmann, Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Verbots der Werbung für Tabakprodukte, DÖV 2003, S. 657, 662. 17 Scholz in Maunz/Dürig, GG Kommentar, 92. EL August 2020, GG Art. 12, Rn. 25. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 9 Für den legitimen Zweck, die Geeignetheit und die Erforderlichkeit eines umfassenden Werbeverbotes für alkoholhaltige Getränke gilt das oben bereits zur Meinungsfreiheit ausgeführte. Für die Angemessenheit gelten im Rahmen der Berufsfreiheit aber Besonderheiten. Die Freiheit der Berufswahl kann nach der sogenannten Stufentheorie, die vom Bundesverfassungsgericht im Apotheken-Urteil18 entwickelt wurde, „nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger <"überragender"> Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert.“19 Der Gesundheitsschutz und der Jugendschutz sind solche überragenden Gemeinschaftsgüter. Es ist aber nicht abschließend geklärt, ob die aktuelle Lage, eine solch einschneidende Maßnahme wie das in Rede stehende umfassende Werbeverbot auch „zwingend“ erfordert. Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke wäre danach unangemessen. 4. EU-Warenverkehrsfreiheit Neben den verfassungsrechtlichen Bestimmungen gibt es auf der EU-Ebene Regeln, die die Diskriminierung zwischen EU-Staaten verhindern sollen. Durch ein nationales umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke könnten die Produzenten derartiger Getränke aus anderen EU- Mitgliedsstaaten gegenüber deutschen, bereits bekannten Unternehmen benachteiligt werden. 4.1. Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder Maßnahmen gleicher Wirkung Art. 34 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union20 (AEUV) verbietet sämtliche „mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung […] zwischen den Mitgliedstaaten“ der Europäischen Union (EU). Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke stellt keine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung dar. Allerdings könnte sie eine Maßnahme gleicher Wirkung sein. Nach der sogenannten Dassonville-Formel21 des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) liegt eine Maßnahme gleicher Wirkung vor, wenn sie geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern . Bei einem umfassenden Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke würde es den Getränkeherstellern erschwert, ihre Produkte bekannt zu machen und damit würde es ihnen auch potentiell erschwert, sie zu vertreiben. Das gilt insbesondere für solche Getränkehersteller, die ein 18 BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 – 1 BvR 596/56 – „Apotheken-Urteil“ juris. 19 BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 – 1 BvR 596/56 – „Apotheken-Urteil“ Rn. 74, juris. 20 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Fassung aufgrund des am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 090.5.2008, S. 47, zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. EU L 112/21 vom 24.04.2012) m.W.v. 01.07.2013. 21 EuGH, Urteil vom 11.07.1974 - C-8/74 – „Dassonville“, Rn. 5, juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 10 ausländisches Produkt in einem EU-Mitgliedsstaat bewerben möchten, das dort bislang noch unbekannt ist. Somit würde ein umfassendes Werbeverbot eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 34 AEUV darstellen. 4.2. Keck-Formel Der EuGH hat in der Keck-Entscheidung22 den durch die Dassonville-Formel sehr weiten Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit wieder eingeschränkt, indem es Verkaufsmodalitäten vom Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit ausgenommen hat, „sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“23 Nationale Regelungen über Werbemöglichkeiten zu bestimmten Produkten betreffen nicht die Waren selbst (sog. produktbezogene Regelungen24), sondern hängen viel mehr mit der Art und Weise des Vertriebs zusammen. Bei Werbeverboten handelt es sich damit um Verkaufsmodalitäten .25 Diese sind nach der Keck-Formel vom Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit auszunehmen , sofern sie für inländische und ausländische Produkte gleichermaßen gelten und auch in gleicher Weise berühren. Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke in Deutschland würde sowohl inländische als auch ausländische Produkte betreffen. Es könnte allerdings die ausländischen Produkte im Ergebnis härter treffen als die inländischen. Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland hergestellte alkoholhaltige Getränke auch in Deutschland einen höheren Bekanntheitsgrad haben als solche aus dem Ausland und daher grundsätzlich weniger beworben werden müssen. Eine entsprechende Entscheidung hat der EuGH bereits 1994 in einem Fall getroffen, bei dem es um die Zulässigkeit eines nationalen Werbeverbotes in Deutschland für ausländische, nicht in Deutschland zugelassene Medizinprodukte ging.26 Dort bejahte er die tatsächliche Diskriminierung ausländischer Produkte (hier: Medizin) dadurch, dass die Regelung potentiellen Konsumenten (hier: Apothekern und Apothekerinnen sowie Ärzten und Ärztinnen) „eine Quelle der Information über die Existenz und die Verfügbarkeit solcher Arzneimittel“ entzöge.27 Mithin dürfte ein inländisches umfassendes Werbeverbot ausländische Produzenten alkoholhaltiger Getränke stärker betreffen als inländische Produzenten. Damit wäre auch nach der Einschränkung durch die Keck-Formel eine Maßnahme gleicher Wirkung (Art. 34 AEUV) gegeben. 22 EuGH, Urteil vom 24.11.1993 – C-267/91 – „Keck“, juris. 23 EuGH, Urteil vom 24.11.1993 – C-267/91 – „Keck“, Rn. 16, juris. 24 Leible/T. Streinz in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, AEUV Art. 34, Rn. 79. 25 Vgl. auch Leible in MüKo UWG, 2. Auflage 2014, UWG § 7 Rn. 100. 26 EuGH, Urteil vom 10.11.1994 – C-320/93 – „Ortscheid“, juris. 27 EuGH, Urteil vom 10.11.1994 – C-320/93 – „Ortscheid“, Rn. 10, juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 11 4.3. Rechtfertigung Es könnte aber ein Rechtfertigungsgrund für die Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung vorliegen. 4.3.1. Rechtfertigungsgründe Es könnte ein Rechtfertigungsgrund im Sinne des Art. 36 S. 1 AEUV vorliegen. Danach sind Einfuhrbeschränkungen zulässig, sofern sie dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen dienen. Wie bereits ausgeführt, ist übermäßiger Konsum alkoholhaltiger Getränke gesundheitsschädlich . Insbesondere in Deutschland, wo im internationalen Vergleich der Pro-Kopf-Verbrauch von Reinalkohol hoch ist, könnte ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke den Konsum derartiger Getränke gegebenenfalls eindämmen und damit zum Gesundheitsschutz der betroffenen Bevölkerungsgruppen beitragen. Nach Art. 36 S. 2 AEUV gelten die Ausnahmen des Art. 36 S. 1 AEUV nur dann, wenn durch die Maßnahme weder eine willkürliche Diskriminierung stattfindet noch eine verschleierte Handelsbeschränkung bewirkt wird. Da die Einführung eines umfassenden Werbeverbotes für alkoholhaltige Getränke für alle Marktteilnehmer ob in- oder ausländisch, gleichermaßen gelten würde, können willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Handelsbeschränkung ausgeschlossen werden. 4.3.2. Verhältnismäßigkeit Darüber hinaus müsste ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke verhältnismäßig sein. Wie gesehen, soll ein derartiges Werbeverbot insbesondere dem Gesundheitsschutz dienen . Bei einem umfassenden Werbeverbot würde der Zugang alkoholhaltigen Getränken zwar nicht eingeschränkt, aber ein Konsumrückgang wäre wohl zu erwarten, der dem Gesundheitsschutz dienen könnte. Im Rahmen des Gesundheitsschutzes wird eine Maßnahme aber nur dann als nicht gerechtfertigt angesehen, wenn sie offensichtlich ungeeignet ist.28 Bei einem umfassenden Werbeverbot besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass es zu weniger übermäßigen und gesundheitsschädlichen Konsum von alkoholhaltigen Getränken bestimmter Bevölkerungsgruppen kommt, daher kann ihm keine generelle Ungeeignetheit unterstellt werden. Erforderlich wäre ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke nur dann, wenn keine milderen Mittel mit gleicher Geeignetheit zur Verfügung stünden. In Betracht kommen hier vor allem Aufklärungskampagnen und Warnungen vor möglichen Gesundheitsschäden innerhalb der Werbung selbst sowie Beschränkungen der Ausstrahlung der Werbung in zeitlicher und geografischer Hinsicht. So könnte Werbung für alkoholhaltige Getränke auf Orte wie Kiosks oder Medien beschränkt werden, zu denen Minderjährige keinen Zugang haben oder im Fall von Kinofilmen, die für Jugendliche nicht freigegeben sind. Zeitgleich könnten insbesondere Werbung auf Werbeflächen bei sportlichen Großveranstaltungen verboten werden. Derartige teilweise schon existierende Werbebeschränkungen richten sich hauptsächlich auf die Zielgruppe Jugendliche. Erwachsene wären von solchen zusätzlichen Schutzmaßnahmen weniger betroffen. Sollen auch diese vor übermäßigem Alkoholkonsum und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken geschützt werden, wäre ein umfassendes Werbeverbot für alkoholische Getränke erforderlich, sofern sie zu 28 Leible/T. Streinz in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, AEUV Art. 34, Rn. 124. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 10 - 3000 - 002/21 Seite 12 der Bevölkerungsgruppe zählen, die übermäßig alkoholhaltige Getränke konsumieren und nicht über die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken im Bilde sind. Darüber hinaus gelten für die Erforderlichkeit eines umfassenden Werbeverbots für alkoholhaltige Getränke bzw. der Verfügbarkeit von milderen Mitteln die Ausführungen zur Meinungsfreiheit auf Seite 6 f. dieser Ausarbeitung . Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke wäre dann verhältnismäßig und würde nicht gegen die Warenverkehrsfreiheit verstoßen. 5. Ergebnis Ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke würde gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit verstoßen. Darüber hinaus darf auch solche Werbung, die Werturteile enthält und daher von der Meinungsfreiheit geschützt ist, nicht im Wege eines Werbeverbots eingeschränkt werden. Sofern individueller übermäßiger Konsum alkoholhaltiger Getränke verringert und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken auch tatsächlich gesenkt werden, erscheint im Rahmen der EU-rechtlich geregelten Warenverkehrsfreiheit ein umfassendes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke vor dem Hintergrund des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt und damit verfassungsrechtlich zulässig zu sein. Bei diesem Ergebnis ist hervorzuheben, dass es sich wesentlich auf Annahmen menschlichen Verhaltens stützt, was das Konsumverhalten des Verbrauchers betrifft, das von zahlreichen exogenen und endogenen Faktoren, von sich ändernden Rahmenbedingungen beeinflusst wird und nicht sicher vorausgesagt werden kann. ****