Zur Bedeutung der Kommunikation für die Integration Europas - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 1 - 94/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zur Bedeutung der Kommunikation für die Integration Europas Ausarbeitung WD 1 - 94/06 Abschluss der Arbeit: 20.07.2006 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Hinweise auf interne oder externe Unterstützung bei der Recherche bzw. Abfassung des Textes Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt 1. Einleitung 3 2. Zum Begriff „Europa“ 4 3. Kommunikation 6 3.1. Zur besonderen Rolle der Sprache 7 4. Literaturverzeichnis 10 - 3 - 1. Einleitung Am 10.Juli 2006 wurde, nach Jahren einer intensiven Arbeit, das deutsch-französische Geschichtsbuch der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieses Geschichtsbuch, das 2003 anlässlich der Feierlichkeiten zum 40.Jahrestag der Elysée – Verträge vom deutschfranzösischen Jugendparlament – also letztlich von den Vertretern derer, für die es auch bestimmt ist und denen es zu einem besseren gegenseitigen Verständnis verhelfen soll – angeregt worden war, macht modellhaft die verschiedenen Dimensionen einer Kommunikation deutlich, die zur Integration beitragen kann: 1. Die sprachliche Verständigung im üblichen Wortsinn ist zwar unabdingbar, aber keineswegs hinreichend, wenn tatsächlich Verständnis erreicht werden soll. Denn auch wenn die Worte bekannt sind – Nation, Kultur, Staat seien lediglich als Beispiele genannt -, so haben sie doch in unterschiedlichen Ländern, abhängig von der jeweiligen Geschichte, eine unterschiedliche Bedeutung oder zumindest einen unterschiedlichen Beiklang,eine unterschiedliche Konnotation, so dass sich nur allzu leicht Missverständnisse einschleichen können. Nicht umsonst lässt Goethe den Mephisto warnen: „Denn immer, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“ – oder anders gewendet: auch wo ein Wort gefunden ist und beiden Seiten als bekannt erscheint, muss die Bedeutung noch lange nicht übereinstimmen, die ihm von den Gesprächspartnern beigemessen werden. Kommunikation, deren Ziel gegenseitiges Verständnis ist, kann also ohne eine ausreichende sprachliche Verständigung nicht funktionieren; sie muss aber über die rein sprachliche Ebene hinausgehen und auch die geschichtlichen Aspekte dessen einbeziehen, was in unterschiedlichen Sprachen mit oft identischen Wörtern gemeint wird. 2. Die gilt zumal dann, wenn es um Länder geht, deren Geschichte nicht von der des jeweils anderen Landes getrennt werden kann – wie eben Deutschland und Frankreich . So stellt das neue Geschichtsbuch eben keine bloße parallele Darstellung von Geschichte aus deutscher und französischer Sicht dar, sondern ermöglicht eine Betrachtung des Verlaufs der Geschichte aus der Sicht des jeweils anderen Landes. „Miteinander verflochtene Geschichtsverläufe“, so betont denn auch das Vorwort zum deutsch-französischen Geschichtsbuch, „eine geteilte oder umstrittene Erinnerungskultur , die Wahrnehmung ein und derselben Realität aus unterschiedlichen Perspektiven, die Analyse der Gemeinsamkeiten, der Unterschiede und Wechselwirkungen zugunsten einer erweiterten Lesart der Geschichte jedes einzelnen Landes , der Geschichte beider Länder in ihren wechselseitigen Beziehungen, aber auch einer Geschichte dieser Länder in ihrem gemeinsamen europäischen und internationalen Umfeld: Das sind die Leitlinien, die die Entstehung diese Lehrbuchs geprägt haben. Das sind zugleich die Fundamente eines pädagogischen und wissenschaftlichen Mehrwerts, der sowohl durch die Methoden als auch durch seinen Inhalt Schule machen, das heißt eines Tages Grundstein eines europäischen Geschichtsbuches sein kann.“1 1 Peter Geiss / Guillaume Le Quintrec (Hrsg.): Histoire / Geschichte. Vorwort (inoffizieller Vorabdruck ), Nathan /Klett 2006 - 4 - 3. Die Kommunikation, aus der heraus das Projekt erst entstanden ist, fand im deutsch-französischen Jugendparlament statt, umschloss also die Betroffenen selbst. Zugleich waren im weiteren Verlauf des Projekts die wissenschaftlichen Experten der beiden Länder involviert, die Vertreter der Ministerien beider Länder und die Verleger und Herausgeber. Es handelt sich mithin um eine Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen, die in eine Kooperation mündet. 2. Zum Begriff „Europa“ Wenn von der „Integration Europas“ die Rede ist, wäre selbstverständlich auch der Begriff der Integration einer ausführlichen Diskussion darauf hin zu unterziehen, was üblicherweise damit gemeint ist, wenn man es nicht bei der bloßen Grundvoraussetzung belassen will, dass europäische Staaten in engere Beziehung zueinander treten. Vor allem aber stellt sich die Frage – gerade im Hinblick darauf, dass nur allzu oft das Wort „Europa“ für gänzlich unterschiedliche, wenn nicht einander ausschließende Bedeutungen gebraucht wird -, was denn mit „Europa“ gemeint sei. Eine Frage übrigens, die jedem Deutschen bekannt vorkommt, der die jüngere deutsche Geschichte kennt. Nicht zufällig fragten Goethe und Schiller in ihren Xenien: „Deutschland, aber wo liegt es?“ Und der Geschichtswissenschaftler Gerald Stourzh nimmt in seinem Aufsatz mit dem Titel „Europa, aber wo liegt es?“2 den Gedanken auf und stellt, ausgehend von dieser Frage, zunächst fest, dass die Praxis der sich als „europäisch“ bezeichnenden Institutionen doch sehr unterschiedlich ausfällt. So erstreckt sich die OSZE auf den Raum von Vancouver und San Francisco bis Wladiwostok, während der Europarat –und der Europäische Gerichtshof- unter anderem für die Ukraine, die Türkei, Russland und die transkaukasischen Republiken zuständig ist. Demgegenüber ist die EU, selbst nach der erfolgten Erweiterung, auf einen deutlich kleineren geographischen Raum beschränkt, wird aber zumindest von den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten mit „Europa“ synonym verwandt – ein, wie Stourzh feststellt, monopolisierender Sprachgebrauch.3 Wenn hier von Europa die Rede ist, dann soll das deshalb unter Berücksichtigung der Tatsache geschehen, dass auch nach der Erweiterungsrunde die Europäische Union nicht alle Staaten umfasst, die sich als zu Europa gehörig empfunden und die üblicherweise auch zu Europa gerechnet werden. Oder, um noch einmal den Österreicher Stourzh zu zitieren : „Europa semper maior. Eine sich mit Europa befassende Geschichtsschreibung sollte daher stets weitere Dimensionen im Auge haben als den jeweiligen Umfang einer auch noch so bedeutenden Institution innerhalb Europas.“4 Es dürfte im Übrigen dieser Blick auf ein nicht allein an Institutionen gebundenes Europa sein, der sich auch in der Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten niederschlägt. So heißt es im Länderbericht Ukraine der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom Mai 2004: „Die EU ist 2 Gerald Stourzh: „Statt eines Vorwortes: Europa, aber wo liegt es?“, in: ders. (Hrsg.): Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung. Wien 2002, S.IX – XX, S.IX 3 ebda., S.X 4 ebda., S.XI - 5 - fest entschlossen, die Partnerschaften mit ihren Nachbarn zum gegenseitigen Nutzen weiterzuentwickeln – zur Förderung von Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Die Außengrenzen der EU werden keine neuen Trennlinien, sondern der Mittelpunkt einer intensivierten Zusammenarbeit sein.“5 Oder, um es noch einmal auf das Thema der Ausarbeitung hin zuzuspitzen: Unter „Europa“ soll im Folgenden ein europäischer Kulturraum verstanden werden, der keine klare Gegenständlichkeit im Sinne der Naturwissenschaften besitzt und der auch nicht durch den Verweis auf Institutionen hinreichend zu beschreiben ist. Wie konkret ein solcher Kulturraum sich darstellen kann, und wie verwurzelt in der europäischen Geschichte er ist, zeigt sich etwa im ukrainischen Tscherniwizi, den Deutschen und Österreichern eher unter dem früheren Namen Tschernowitz als Ort der 1875 eröffneten östlichsten deutschsprachigen Universität und der Heimat von Schriftstellern wie Rose Ausländer, Paul Celan und Gregor von Rezzori bekannt. In den Cafés dieser Stadt, der Hauptstadt der Bukowina, sollen einstmals bis zu 265 Zeitungen und Zeitschriften aus aller Welt ausgelegen haben, und das friedliche Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen in diesem geistigen und kulturellen Zentrum hat den Mythos Tschernowitz begründet, der auch nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie fortdauert und geradezu einen Modellfall für die Integration durch Kommunikation begründet, von der hier die Rede sein soll. Es ist erfreulich, dass nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1992 an der Nationalen Universität Tscherniwizi das Bukowina -Zentrum gegründet wurde, dessen Wissenschaftler aus allen Fachgebieten – Historiker und Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler, Ethnologen und andere- in engem Kontakt zu Institutionen und Forschern aus Österreich, Deutschland und Rumänien die Geschichte der Region erforschen und ihre Forschungsergebnisse in Publikationen , Konferenzen, Symposien, Lesungen und Ausstellungen zur Diskussion stellen. Dank der Arbeit des Bukowina-Zentrums und seiner Wissenschaftler entwickelt sich Tscherniwizi auch im Bewusstsein der Zeitgenossen und keinesfalls nur einer gebildeten Elite zu dem, was man, um einen Begriff des französischen Historikers Pierre Nora abzuwandeln, einen „europäischen Erinnerungsort“ nennen könnte. Oder, wie es der Direktor des Zentrums, Herr Pantschuk, formulierte: „Wir arbeiten daran, die Bukowina wieder zu dem zu machen, was sie war und ist – eine europäische Region.“6 Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass das Bukowina-Zentrum inzwischen auch von der Robert-Bosch-Stiftung und vom Auswärtigen Amt unterstützt wird, um neben der 5 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen. Europäische Nachbarschaftspolitik. Länderbericht Ukraine. COM (2004)373 final, deutsch. Brüssel 12.Mai 2004, S.3. Der Bericht ist im Dokumentenanhang beigefügt. 6 Kathrin Hartmann: „Mythos sucht europäische Gegenwart – das Bukowina –Zentrum im ukrainischen Tscherniwizi“, in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 9.April 2004. Fundstelle im Internet: www.adz.ro (4.Juli 2006) - 6 - wissenschaftlichen Arbeit auch die Kultur- und Bildungsarbeit in der Stadt und der Region ausbauen zu können. 3. Kommunikation Tscherniwizi und sein Bukowina – Zentrum zeigen damit aber auch geradezu modellhaft , wie Kommunikation sich darstellen und was sie bewirken kann. Kommunikation wird selbstverständlich durch eine gemeinsame Sprache aller am Dialog Beteiligten erleichtert und gefördert, setzt diese jedoch nicht zwingend voraus. Auch Menschen unterschiedlicher Muttersprache können kommunizieren, wobei der Gebrauch anscheinend identischer Begriffe in den beteiligten Sprachen allerdings erhöhter Aufmerksamkeit bedarf, wie sich oben bereits am Beispiel der deutsch-französischen Kommunikation gezeigt hat. Kommunikation kann jedoch auch –alternativ oder ergänzend- durch Bilder stattfinden; so etwa dann, wenn in Tscherniwizi Ausstellungen mit Fotografien veranstaltet oder Filme gezeigt werden. Diese Form der Kommunikation dürfte sogar noch nachhaltiger sein, ist doch bekannt, dass sowohl die Redundanz wie die gleichzeitige Nutzung unterschiedlicher Kommunikationskanäle zur Vermittlung einer Botschaft den Wirkungsgrad der Kommunikation erhöhen. Kommunikation kann sodann auf verschiedenen Ebenen stattfinden, also zum Beispiel als Austausch zwischen Wissenschaftlern –sei es in Beiträgen zu Zeitschriften, sei es durch selbständige Publikationen, sei es durch Internet – Foren oder durch Symposien und Konferenzen, die wiederum in Publikationen dokumentiert werden. Kommunikation mit sogenannter „Breitenwirkung“ findet aber auch über die sog. Massenmedien statt, also Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Fernsehen, Filme und selbstverständlich das Internet, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Schließlich wird Kommunikation durch den Aufbau und die Pflege eines Netzwerks persönlicher Kontakte gefördert. Hier sei, um die Intensität dieses Netzwerks deutlich zu machen, auf die Zusammenstellung verwiesen, die die deutsche Botschaft in Kiew in ihrem Internet – Angebot bereit hält7und die das ganze Spektrum von beteiligten Organisationen und Institutionen sowie die Bandbreite der Möglichkeiten deutlich macht. Besonders hervorgehoben sei, dass auch der Deutsche Bundestag wieder fünf jungen Ukrainern die Möglichkeit bietet, in einem fünfmonatigen Praktikum Arbeit und Aufgaben des Deutschen Bundestages aus eigener Mitarbeit heraus kennenzulernen. Ob Austausch durch Sprache und Schrift, Bild, gemeinsames Handeln und Erleben und Kennenlernen des jeweils anderen Landes und seiner Denk- und Handlungsweisen – 7 http://www.kiew.diplo.de/de/06/Stipendien_in Deutschland/Stip. Ausdruck ist im Anhang beigefügt. - 7 - immer ist die Kommunikation, die durch diesen Austausch ermöglicht und verstärkt wird, unerlässlich für eine Integration Europas in dem Sinne, dass die Länder Europas – ob sie nun zur EU gehören oder nicht- und ihre Bürger mehr Verständnis füreinander entwickeln und auf der Grundlage dieses Verständnisses in die Lage versetzt werden, neben ihrer nationalen zumindest Ansätze einer europäischen Identität entwickeln zu können. Um zu dem eingangs genannten Beispiel des deutsch-französischen Geschichtsbuches zurückzukommen: Ausgangspunkt und Ziel einer Kommunikation sollte, außer der Beschäftigung mit den jeweils aktuellen Entwicklungen und Vorhaben, die Auseinandersetzung mit der jeweils gemeinsamen Geschichte sein. Nicht umsonst hat Anatolij Ponomarenko in einem Vortrag, den er 1999 in Bonn hielt, darauf hingewiesen, dass in Regensburg eine Kirche steht, die vom Geld finanziert wurde, das Kiewer Fürsten zur Verfügung gestellt hatten und dass es nicht zufällig im Süden der Ukraine Ortschaften mit den Namen Straßburg, Karlsruhe und Waterloo gibt.8 Aus solchen Erinnerungsorten kann wiederum eine sehr intensive Kommunikation erwachsen, die umso wirksamer ist oder zumindest sein kann, als auch hier gilt, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Kommunikation bedarf also nicht nur der persönlichen und institutionellen Kontakte als stützendes Netzwerk, sie benötigt auch Themen, die eine nachhaltige Wirkung der Kommunikation sicherstellen. 3.1. Zur besonderen Rolle der Sprache Dass eine Sprachförderung zur Stärkung der Kommunikation oder zumindest der Befähigung dazu unerlässlich ist, bedürfte eigentlich nicht der gesonderten Erwähnung, wenn nicht allzu oft die zentrale Rolle der Sprache als selbstverständlich vorausgesetzt, aber gerade deshalb nicht weiter beachtet würde. Von Ludwig Wittgenstein, dem berühmten Philosophen und Urheber des sogenannten „linguistic turn“ in der Geschichtswissenschaft, stammt der bekannte Satz „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Er schrieb ihn in seinem Tractatus logico-philosophicus9, dessen zentrales Thema keineswegs die Sprachwissenschaft, sondern die Erkenntnistheorie ist, aber die Aussage gilt dennoch auch in einem unmittelbar praktischen Sinn. Denn die Fähigkeit, Realitäten –und schon gar solche in fremden Ländern- wahrnehmen und beurteilen zu können, ist untrennbar mit der Fähigkeit verknüpft, sie sprachlich zu formulieren und in einer Form kommunizieren zu können, 8 Anatolij Ponomarenko: „Die europäische Orientierung der Ukraine“. Diskussionspapier des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn 1999, S.3 (s.Anhang) 9 Zitiert nach: Wittgenstein. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas H. Macho, München 2001, S.148 - 8 - die auch demjenigen zugänglich ist, der eine andere Sprache spricht und damit letztlich, um den Gedanken Wittgensteins aufzugreifen, auch einer „anderen Welt“ entstammt. Wenn der französische Strukturalist einmal schrieb „Ein Text ist ein Gewebe von Zitaten , welche aus den zahllosen Zentren der Kultur gezogen werden“, dann hat er damit zugleich eine Hürde verdeutlicht, die Übersetzer und Dolmetscher welcher Texte auch immer überwinden müssen: Denn entgegen landläufiger Auffassung beschränkt sich der sprachliche Ausdruck nicht nur auf die rein denotative Ebene der neutralen Formulierung eines Sachverhalts, sondern er umfasst immer auch zugleich das Konnotat der Bewertung dieses Sachverhalts durch den Sprecher und der von Geschichte und Gesellschaft geprägten Einordnung dieses Sachverhalts in die Kultur desjenigen, der spricht. Es genügt deshalb nicht, anhand eines Wörterbuchs jedes einzelne Wort nachzuschlagen und zu übersetzen, um den gesamten Text wirklich zu verstehen. Nicht von ungefähr lehnen viele Übersetzer es ab, von „übersetzen“ zu sprechen, und ziehen den Begriff „übertragen“ vor, da in ihm eher zum Ausdruck kommt, dass es letztlich darum geht, nicht die Worte zu übersetzen, sondern den Sinn des Textes aus der Ausgangs- in die Zielsprache zu übertragen. Gewiss, dieser konnotative Aspekt ist in unterschiedlichen Texten unterschiedlich ausgeprägt . Ein Gespräch zwischen zwei Technikern aus unterschiedlichen Ländern wird sicherlich stets leichter und unproblematischer zu übersetzen sein als etwa ein Gespräch zwischen zwei Politikern, da in die Texte letzterer sicherlich weit mehr Wertungen, aber auch der jeweiligen Kultur entstammende Anspielungen und Zielvorstellungen einfließen werden. Nur zwei ganz simple Beispiele: Wenn der deutsche Begriff „Sozialstaat“ mit dem französischen Begriff „Etat –providence“ wiedergegeben wird, dann ist das zunächst nicht zu beanstanden und lexikalisch durchaus korrekt; wenn aber wirklich eine Verständigung über das Gemeinte erfolgen soll, dann müssen sich beide Seiten über die Konnotationen unterhalten, die in den beiden Ländern und den beiden Sprachen mit den Begriffen verbunden werden und die in wesentlichen Punkten durchaus differieren. Und noch einfacher: wenn ein Franzose davon spricht, dass „jenseits des Rheins“ vieles anders sei, dann sollte sein deutsches Gegenüber wissen, dass „jenseits des Rheins“ nach französischem Verständnis „in Deutschland“ bedeutet, was nur vor dem Hintergrund der beiderseitigen Geschichte erklärbar wird. Wie getränkt die jeweilige Sprache von der Kultur ist, der sie entstammt und deren Ausdruck sie ist, hat im Übrigen der von den Nationalsozialisten verfolgte Philologe Victor Klemperer in seinem 1947 veröffentlichten Buch LTI – Notizbuch eines Philologen 10 eindrucksvoll deutlich gemacht, in dem er die Lingua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reiches, anhand konkreter Ausdrücke des Alltags analysiert. Klemperer, 10 Victor Klemperer: LTI – Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1990 - 9 - der seinem Werk bezeichnender Weise das Zitat des Philosophen Franz Rosenzweig „Sprache ist mehr als Blut“ voranstellt –das nicht von ungefähr dem Sinn des Satzes von Wittgenstein nahekommt-, weist darin detailliert nach, dass die Werte und Einstellungen einer Gesellschaft die Sprache prägen, die von den Mitgliedern dieser Gesellschaft gesprochen wird. Er verifiziert gleichsam an einem geschichtlichen Beispiel, dass die Grenzen der Sprache zugleich auch die Grenzen der jeweiligen „Welt“ markieren – und, das sei hinzugefügt, einen wesentlichen Ansatzpunkt für das Verständnis der jeweiligen Kultur und Gesellschaft bieten. Angesichts dieser entscheidenden Rolle der Sprache für die Verständigung, für die Kommunikation, ließe sich in einer Europäischen Union mit 25 Mitgliedern und 22 Sprachen – und in einem Europa, in dem noch mehr Sprachen gesprochen werden – die These aufstellen, dass es der Integration Europas förderlich wäre, reduzierte man diese Vielfalt auf eine „lingua franca“ nach dem Vorbild des Lateinischen im Römischen Imperium . Zweifelsohne ließe sich für diesen Vorschlag anführen, dass die Vereinheitlichung der Sprache eine Menge von Missverständnissen reduzieren könnte, die durch fehlende oder mangelnde Beherrschung einer der Sprachen Europas bei der Kommunikation zwischen Europäern immer wieder auftreten. Und die Kosten für Übersetzungen und Übersetzer und für das Sprachenlernen, die mit der sprachlichen Vielfalt verbunden sind, ließen sich ebenfalls beträchtlich reduzieren. Demgegenüber wäre aber darauf hinzuweisen, dass, wie oben dargestellt, die jeweilige Sprache keineswegs nur ein Werkzeug darstellt, das durch ein beliebiges anderes ersetzt werden kann. Die Sprache ist vielmehr Ausdruck der gesamten Kultur und Gesellschaft und kann nicht von dieser getrennt werden. Oder, um es mit den Worten der Präambel der am 20.Oktober 2005 in Paris verabschiedeten Konvention der UNESCO zum Schutz und zur Förderung der Diversität kultureller Ausdrucksformen zu sagen: „Die sprachliche Vielfalt ist ein grundlegendes Element der kulturellen Vielfalt“11 Diese kulturelle Vielfalt aber ist gerade einer der Reichtümer Europas, und der europäische Diskurs zur kulturellen und sprachlichen Vielfalt zählt deshalb nicht von ungefähr zu den Grundmotiven der europäischen Integration. Es geht dabei nicht etwa um ein verkrampftes Festhalten an Vergangenem, sondern um den Erhalt einer Ressource –eben der sprachlichen und kulturellen Vielfalt-, die für die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas von hoher Bedeutung ist. Jede Sprache nämlich dient – neben der Kommunikation – auch der Sicherung von Identität der jeweiligen Kultur und dem Gewinn von Erkenntnis durch sprachlich – kulturelle Unterscheidung und den daraus erwachsenden vielfältigen Austausch. 11 „…linguistic diversity is a fundamental element of cultural diversity…” (Präambel, Abschn 14, der Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions, verabschiedet von der 33. Sitzung der Vollversammlung der UNESCO am 20.Oktober 2005) - 10 - Von daher kann eine wirkliche Integration nicht auf der Basis von Sprachvereinheitlichung erzielt werden. Die Blüte von Tschernowitz, von Wien, Paris, New York oder London beruhte gerade nicht darauf, dass nur eine, sondern darauf, dass viele Sprachen gesprochen wurden, so dass sich ein Austausch zwischen verschiedenen Kulturen ergab.Es sollte deshalb ein wichtiges Ziel sein, dass möglichst viele Bürger Europas zusätzlich zu ihrer Muttersprache weitere Sprachen erlernen. Erst auf diese Weise, und nicht durch Vereinheitlichung, kann durch Kommunikation eine Integration stattfinden, die zugleich dem Reichtum des europäischen Kulturraums Rechnung trägt und die Wettbewerbsfähigkeit Europas in einer globalisierten Welt steigert. 4. Literaturverzeichnis Stourzh, Gerald: „Statt eines Vorwortes: Europa, aber wo liegt es?“ In: ders. (Hrsg): Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung. Wien 2002, S.IX – XX Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen . Europäische Nachbarschaftspolitik. Länderbericht Ukraine. COM (2004)373 final, dtsch. Brüssel, 12.Mai 2004 (s.Anhang) Hartmann, Kathrin: „Mythos sucht europäische Gegnwart – das Bukowina – Zentrum im ukrainischen Tscherniwizi“. In: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 9.April 2004 www.adz.ro (4.Juli 2006) Anatolij Ponomarenko: „Die europäische Orientierung der Ukraine“. Vortrag vor dem Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn, ZEI, Bonn 1999 (s.Anhang) Gollwitzer, Heinz: Europabild und Europagedanke. München 1950 - 11 - Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999 Davies, Norman: Europe. A History. Oxford 1996 Curtius, Robert: Europäische Litratur und Lateinisches Mittelalter. Bern und München 1967 Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Europäische Geschichtskultur im 21. Jahrhundert. Bonn 1999 Franzius, Claudio und Ulrich K. Preuß (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit. Baden- Baden 2004 Auf die Dokumente im Anhang wird hingewiesen