Deutscher Bundestag Vereinskultur und demographischer Wandel - Das Beispiel der Blasmusikvereine - Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000-259/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 2 Vereinskultur und demographischer Wandel - Das Beispiel der Blasmusikvereine - Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000-259/10 Abschluss der Arbeit: 4. Januar 2011 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Drei Deutsche: Ein Verein? Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft 5 3. Zur Situation der vereinsmäßig betriebenen Blasmusik in Deutschland 8 4. Literatur 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 4 1. Einleitung Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung sind einerseits die Entwicklungen bürgerschaftlichen Engagements in der heutigen Gesellschaft, andererseits die Situation in Blasmusikvereinen in Bezug auf den demographischen Wandel in der Gesellschaft. Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass Aussagen darüber, welche Herausforderungen die Vereinswelt, insbesondere die Blasmusikvereine, vor dem Hintergrund des demographischen Wandels nicht getroffen werden können. Die Wissenschaft hat sich diesem Problem noch nicht zugewandt. In den Medien wie auch in der Öffentlichkeit ist die Frage, wie sich die demographische Entwicklung der Gesellschaft gestalten wird, ebenso präsent wie die Auseinandersetzung um bürgerschaftliches Engagement und dessen Einfluss auf die Ausgestaltung der Zivilgesellschaft. Welche Bandbreite die darüber geführten Diskussionen einnehmen, zeigte nicht zuletzt die soeben erfolgte Wahl des Wortes des Jahres 2010 durch die Gesellschaft für Deutsche Sprache. Die Jury entschied sich für „Wutbürger“, da dieser von vielen Print- und anderen Medien geschaffene Ausdruck für die in der Bevölkerung aufgekommene Empörung darüber stünde, an politischen Entscheidungen nicht mehr hinreichend beteiligt zu werden.1 Generell ist das Wissen um die Bereiche der Gesellschaft, in denen bürgerschaftliches Engagement entwickelt und vertreten wird, ist noch sehr gering. Daran haben bislang weder die Enquete -Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“2 noch die vom BMFSFJ in den Jahren 1999 und 2004 durchgeführten Freiwilligensurveys etwas geändert. So zumindest sieht dies ein zuletzt vorgelegter Bericht des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland.3 Generell kann jedoch festgestellt werden, dass die Bereitschaft der Bürger zur Selbstorganisation wächst, sowohl in Hinblick auf ihren finanziellen wie auch nichtmateriellen Beitrag, zeitliches Engagement etc. Im folgenden werden die jüngsten Erkenntnisse der Wissenschaft zum bürgerschaftlichen Engagement und zur Zivilgesellschaft dargelegt. Dem folgen Ausführungen zur gegenwärtigen Situation der Blasmusikvereine. 1 Vgl. http://www.gfds.de, Stand vom 01.01.2011. 2 Vgl. Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements. Bürgerschaftliches Engagement . Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft, 03.06.2002, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/089/1408900.pdf, Stand vom 02.01.2011. 3 Vgl. BMFSFJ/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Projektgruppe Zivilengagement (Juni 2009): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/buergerschaftlichesengagement -bericht-wzb-pdf,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf, Stand vom 02.01.2011. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 5 2. Drei Deutsche: Ein Verein? Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft Einem Gemeinplatz zufolge gilt das Bekenntnis zum Verein als ein „typisch deutsches“ Charakteristikum .4 Allerdings ist die Datenlage, wie viele Menschen in Deutschland Mitglieder in Vereinen sind, allgemein jedoch äußerst unzureichend (Bericht WZB 2009, S. 51), da eine umfassende Organisations- und Mitgliederstatistik, wie sie in anderen Ländern geführt wird, nicht existiert. Schätzungen des Berliner Maecenata Instituts (2005) gehen von rund 1 Million Organisationen unterschiedlicher Größe, Zusammensetzung und Rechtsform aus (Bericht WZB 2009, S. 52). Für einige wenige Verbände sind genauere Informationen verfügbar, so für den Sportbereich oder auch soziale Bereiche, da hier Angaben über Verbände vorliegen, die als Dachorganisationen fungieren und diese entsprechende Zahlen ihrer Mitgliedsorganisationen erfassen (Bericht WZB 2009, S. 69). Die im Deutschen Sportbund organisierten Vereine zählen 23 Millionen Mitglieder, der Deutsche Sängerbund zählt in seinen Vereinen insgesamt fast zwei Millionen Mitglieder. Mehrere Millionen Mitglieder zählen die regionalen Wandervereine. Rund sechzig Prozent aller Erwachsenen in Deutschland sind Bausinger (Bausinger 2000, S. 67) zufolge zahlende Mitglieder in mindestens einem Verein. Dem Bericht des WZB zufolge werden unter Berücksichtigung traditioneller Vereine wie dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) oder dem Deutschen Sängerbund langfristige Wachstumsraten angenommen. So stieg die Anzahl der Vereine im DOSB von rund 31.000 im Jahr 1960 auf rund 91.000 im Jahr 2007. Die Anzahl der Gesangsvereine ist von 16.000 auf 21.000 gestiegen (Bericht WZB 2009, S. 70). Allerdings ist zwischen „aktiven“ und „passiven“, also jeweils nur zahlenden, Mitgliedern zu unterscheiden. Der Mitgliedschaft im Verein kommt oftmals dann eine besondere Bedeutung zu, wenn sie Personen in gehobener Stellung innehaben, da soziale Anerkennung häufig mit einer herausragenden Stellung in den Vereinen einhergeht. In ländlichen Regionen gilt oftmals die Gleichung, nach der Dorfkultur Vereinskultur ist, d.h. das kulturelle Leben auf dem Lande ist „hausgemacht“: es wird von den Einheimischen bestritten und in erster Linie sind es die Vereine , die gestalterisch tätig werden. Ähnliches lässt sich auch für die kleineren und kleinen Städte sagen. Vereine übernehmen wichtige Funktionen in den Gemeinden. Sie beziehen einen Teil ihres Prestiges aus der Tatsache, dass sie oftmals schon lange existieren und aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken sind (Bausinger 2000, S. 67). Dem Bericht des WZB zufolge hat kaum ein Thema Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft in den letzten Jahren so bewegt wie die verschiedenen Konzepte von bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft (Bericht WZB 2009, S. 5). Zurückgeführt wird diese Konjunktur auf die gesellschaftliche Entwicklungen, wie die zunehmende Individualisierung, soziale Desintegration und den Verlust sozialer Bindungen. Auch das geringer werdende Interesse an Politik und das Schwinden der Leistungsfähigkeit traditioneller Sozialsysteme spielen hier eine Rolle. Zu konstatieren sei jedoch eine zunehmende Bereitschaft der Bürger zur Selbstorganisation und zum 4 Vgl. zum folgenden: Hermann Bausinger (2000): Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?, München: Beck, S. 66ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 6 Engagement für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Belange.5 Die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme wird auch als Ausdruck einer vitalen Zivilgesellschaft und als Grundlage für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft gewertet. Zur Beschreibung bürgerschaftlichen Engagements existieren mehrere Begrifflichkeiten und Konzepte . Eine Definition bürgerschaftlichen Engagements bietet u. a. der Bericht der Enquete- Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“. Bürgerschaftliches Engagement ist demnach6: - freiwillig, - nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, - gemeinwohlorientiert, - öffentlich bzw. findet im öffentlichen Raum statt, - wird in der Regel gemeinschaftlich bzw. kooperativ ausgeübt. Motive für bürgerschaftliches Engagement werden durch die Enquete-Kommission folgende aufgeführt : - altruistisch (Pflichterfüllung und Gemeinwohlorientierung), - gemeinschaftsbezogen (Kommunikation und soziale Integration), - gestaltungsorientiert (Bewältigung eigener Probleme und Veränderung gesellschaftlicher Missstände), - entwicklungsbezogen (personelles Wachstum, Selbstverwirklichung) (Deutscher Bundestag 2002, S. 51f.). Die Aussagen zur zukünftigen Entwicklung bürgerschaftlichen Engagements sind jedoch unterschiedlich . Etliche empirische Untersuchungen diagnostizieren ein weiteres Wachstum des Engagements , andere hingegen berichten eher von Stagnation und zurückgehendem Engagement (Bericht WZB, 2009, S. 5ff). Die Wissenschaftler des WZB ziehen jedoch eine positive Bilanz. So begründe sich die hohe Aufmerksamkeit, die diesem Thema entgegengebracht wird, u.a. mit dem Anwachsen des Engagements der Bürgerinnen und Bürger. Zudem ließe sich feststellen, dass bürgerschaftliches Engagement und der Ausbau der Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren die Konturen der deutschen Gesellschaft in hohem Maße mitgestaltet haben. (Bericht WZB 2009, S. 12ff). Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ in der 14. Legislaturperiode hat der Deutsche Bundestag ein wichtiges Signal gesetzt. Auf der Ebene der Länder wurden in der Zwischenzeit von allen Landesregierungen Koordinationsstellen eingerichtet und von einigen Landesnetzwerke etabliert, um den Einsatz für bürgerschaftliches Engagement zu erleichtern . Kommunen haben ebenfalls die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements erkannt und fördern dieses durch Einrichtung entsprechender Infrastrukturen bzw. Nut- 5 Hierfür ist der Protest gegen Stuttgart 21 aus diesem Herbst ein prägnantes Beispiel. Vgl. z.B. die Initiative „Leben in Stuttgart. Kein Stuttgart 21“, http://www.leben-in-stuttgart.de, Stand vom 02.01.2011. 6 Vgl. Mai, Ralf/Frank Swiaczny (2008): Demographische Entwicklung. Potenziale für Bürgerschaftliches Engagement . Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (= Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, 2008, Heft 126), Wiesbaden, hier S. 8f; vgl. Deutscher Bundestag 2002, S. 24ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 7 zung bereits bestehender. Diese positiven Entwicklungen dürfen jedoch nicht darüber hinweg sehen lassen, dass viele Organisationen über Nachwuchsprobleme klagen. Zudem fehlt vielen der tatsächlich Aktiven in Folge von veränderten Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt immer mehr die Möglichkeit, die notwendige Zeit für die ehrenamtliche Arbeit zu investieren. Auch klagen Vereine, Selbsthilfegruppen und Engagementbörsen über mangelnde finanzielle Ressourcen (Bericht WZB 2009, S. 15). Zudem beklagt der Bericht des WZB, es sei bislang nicht gelungen, das Konzept des bürgerschaftlichen Engagements und der Zivilgesellschaft in Deutschland zu einer Leitidee der Politik und des Regierungshandelns zu machen (vgl. Dettling 2009). Es stellt sich die Frage nach den Faktoren, die bürgerschaftliches Engagement begünstigen oder aber auch verhindern. Einen wesentlichen Einfluss scheint die Gemeindegrößenklasse bzw. der Urbanisierungsgrad auszuüben. So ist in ländlichen und kleinstädtischen Regionen bürgerschaftliches Engagement häufiger anzutreffen als in Mittel- oder Großstädten. Die Ursachen hierfür liegen zum einen im engeren Zusammenhalt und in der größeren sozialen Kontrolle in ländlichen Gebieten. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass bestehende Freizeitangebote sich auf die Engagementbereitschaft auswirken. Auf dem Lande sind die Einwohner stärker auf sich selbst angewiesen, während das Freizeitangebot in Städten umfangreicher ist. Weiterhin spielt das Geschlecht eine Rolle bei Aufnahme eines Engagements. Den Zahlen von 2008 zufolge liegt die Engagementquote bei Frauen bei 31,6 % und bei Männern bei 37,9 %. Frauen sind insbesondere in jenen Bereichen engagiert, die eine Nähe zum Sozialen bzw. zur Familie aufweisen. Was das Engagement von Jugendlichen anbelangt, wird wiederholt festgesellt, dass das Interesse an etablierter Politik, an anderen gesellschaftlichen Themen und am bürgerschaftlichen Engagement stark zurückgegangen ist. Jugendliche orientieren sich in ihrem Engagementverhalten stark auf den Kreis Gleichaltriger, wobei der größte Engagementbereich auf den Gebieten Sport und Bewegung liegt, gefolgt von der auf die Schule focusierten an zweiter Stelle. Der Bildungsstatus spielt für das Engagement Jugendlicher eine wesentliche Rolle. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich sozial benachteiligte Jugendliche deutlich weniger engagieren. Ältere Personen engagieren sich besonders in den Bereichen Sport und Bewegung, Freizeit und Geselligkeit sowie Kultur und Musik, sich ältere Personen in ihrem Engagementverhalten an anderen älteren Personen ausrichten. Für Senioren gilt zudem, dass die Wahrscheinlichkeit eines bürgerschaftlichen Engagements steigt, je höher der erworbene Bildungsabschluss ist (Bericht WZB 2009, S. 37ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 8 3. Zur Situation der vereinsmäßig betriebenen Blasmusik in Deutschland Einen Überblick über die Situation der Blasmusik in Deutschland, ihren Erscheinungsformen und Strukturen gibt Björn Sermersheim.7 Gegenstand der Publikation sind Blasorchester im Sinne der Definition Wolfgang Suppans8, d.h. Orchester, die sich aus der klassischen Harmoniemusik und der sogenannten Türkischen Musik durch die chorische Besetzung der Stimmen zu einem neuen Orchester, dem Blasorchester, gewandelt haben, wobei eine Mindestanzahl an besetzten Stimmen nicht vorgeschrieben ist. Nicht Gegenstand von Sermersheims Untersuchung sind Big-Bands, während volkstümliche Besetzungen, wie zum Beispiel Egerländer- oder Oberkrainerbesetzungen sehr wohl Aufmerksamkeit finden (Sermersheim 2008, S. 13). Ende des 20. Jahrhunderts existierten in Deutschland über 5.000 Blasorchester mit ca. 150.000 Musikern (Sermersheim 2008, S. 58). Konstatiert wird ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Während in Baden-Württemberg das Verhältnis von Blasorchestern zu Spielmannszügen etwa 5:1 und in Bayern 4:1 beträgt, gibt es in Niedersachsen wie auch in Schleswig-Holstein eine weitaus größere Anzahl an Spielmannszügen als in den südlichen Ländern. In Niedersachsen kommen etwa sechs Spielmannszüge auf ein Blasorchester. Ca. 30 % der im Süden beheimateten Verein, d.h. in Baden, in Schwaben und im Allgäu, sind über hundert Jahre alt. In Norddeutschland, in Niedersachsen wie auch in Schleswig-Holstein, setzte der Gründungsboom von Blasorchestervereinen in den 1880er Jahren ein. Generell war nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein kräftiger Zuwachs an Vereinen zu verzeichnen (Sermersheim 2008, S. 64). Die Entwicklung in Norddeutschland, speziell in Westfalen, ist Gegenstand der Publikation von Ellen-Christina Marschalt, die bedauernd bemerkt, dass sich nur wenige Musikwissenschaftler mit dem Blasorchester-Vereinswesen befassen.9 Ihrer Studie zufolge sind Blasorchester in der Regel dörfliche Vereine, die innerhalb eines begrenzten Wirkungsradius die Ortskultur motivieren , diese mitbestimmen und die von der musikalischen Erstausbildung des Nachwuchses bis zum lokalen Konzertereignis entscheidenden musikgeschmacklichen Einfluss ausüben (Marschalt 2007, S. 311). Die Erwartungshaltung, die an einen Blasmusikverein herangetragen wird, reicht von der Traditionsverpflichtung bis hin zur symphonischen Musik. Vor allem aber bleibt ein Blasorchester ein Verein und damit ein soziales Phänomen. Seine Mitglieder verbringen zusammen einen Großteil der Freizeit. Nach Marschalt ist in den vergangenen zwanzig Jahren die Anzahl der Vereine um rund 30 Prozent gestiegen. Damit vergrößerten sich auch die interpretatorischen Möglichkeiten der Blasmusikorchester. Nach wie vor aber ist es Aufgabe der Blasmusik, in der engeren dörflichen wie kleinstädtischen Umgebung der entsprechenden Region den tradierten Verpflichtungen nachzugehen (Marschalt 2007, S. 311). 7 Vgl. Sermersheim, Björn (2008): Blasmusik in Deutschland. Erscheinungsformen und Strukturen, Hannover: Institut für musikpädagogische Forschung (= ifmpf-Praxisbericht Nr. 9). 8 Vgl. Suppan, Wolfgang: Blasorchester, in: MGG2 Bd. 1, Kassel et al, 1994, Sp. 1566-1576, zitiert nach Sermersheim 2008, S. 13. 9 Vgl. Ellen-Christina Marschalt (2007): Blasmusik in Westfalen. Studien zur Entwicklung, Struktur und Pflege der zivilen Blasorchester (Harmoniemusik) in Westfalen, Hamburg: Verlag für Musikbücher Karl Dieter Wagner, hier S. 21. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 9 Marschalt konstatiert für den Raum Westfalen, dass durch die Blasorchester heute mehr Menschen dem aktiven Musizieren zugeführt werden als durch jeder anderen Institution des privaten oder öffentlichen Lebens. Der Ausbildungsweg, den ein Musikschüler zurücklegen muss, kann lang und arbeitsreich sein und selbst als aktives Mitglied wird er sich ständig fortbilden müssen, um das erreichte Niveau halten zu können oder um es noch zu steigern. Die Forderung, dass in einem Musikverein nur Musiker spielen sollen, die auch die Fertigkeiten dazu haben, weist auf die Bedeutung permanenter Ausbildungsanstrengungen hin: Es gehe, so Marschalt, nicht nur darum, junge Musikschüler auszubilden, sondern auch darum, bereits ausgebildete Aktivisten musikalisch weiterzubilden. Wo die vereinsinterne Ausbildung in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht modernisiert und nicht für sie geworben wurde, zeichnen sich heute Nachwuchsprobleme ab. Es ist heute schwerer, Jugendorchester als Vororchester zum Leben zu erwecken als in den 1980er Jahren. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Verein bereits sehr geschrumpft ist und es in der Umgebung attraktivere Alternativen gibt. In solchen Fällen bietet eine Zusammenarbeit mit der örtlichen Musikschule die einzige Überlebenschance. Aus Sicht der privaten Musikschulen wurde dies in der Vergangenheit häufig praktiziert. Heutzutage ist eine solche Zusammenarbeit allerdings nicht mehr selbstverständlich, da vielfach der Wunsch nach einer Kooperation zwischen Musikschule und Blasorchester nicht besteht, u. a. dann, wenn unterschiedliche pädagogische Konzepte verfolgt werden (Marschalt 2007, S. 475). Bis in die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Teilnahme an einem Verein gewöhnlich durch die Familientradition vorgegeben. Das schloss ein, dass die nachwachsenden Generationen unter Zwang teilnahm. Allerdings waren die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung sehr beschränkt bzw. ganz auf den Musikverein ausgerichtet. Zudem orientierte sich die männliche Jugend in ihrem Freizeitverhalten an der Großväter- und Vätergeneration. Frauen und Mädchen allerdings waren überhaupt nicht in Musikvereinen zugelassen. Für den Raum Westfalen stellt Marschalt fest, dass bis Anfang der 1970er Jahre Frauen und Mädchen in der Blasorchester-Szene eine Außenseiterrolle spielten. Durch die Demokratisierung und Popularisierung des Kulturlebens wurde der Stellenwert der Volksmusik bewusster. Die Einsicht, dass Volkskultur eine wesentliche Voraussetzung für hohe Kunst ist und diese nicht ohne Volkskultur entsteht, führte auch für die Vereinsmusik zu positiven Effekten. Denn wenn auch das Image der Blasorchestermusik nicht das beste ist, so drängen zunehmend viele junge Menschen in diese Nische, um Musik zu lernen und auch anwenden zu können. Veranstaltungen mit zivilen Blasorchestern als musikalische Begleitung oder gar als Höhepunkt mehren sich. Blasmusik gehört einfach zum Bild des Volksfestes und des Gemeindelebens (Marschalt 2007, S. 505). Sermersheim wie Marschalt zeigen, dass Musikvereine ein wichtiges Element des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens vor allem in ländlichen Regionen sind. Zudem führen sie Jugendliche an die Musik heran und bieten auch eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung und auch die Möglichkeit , durch Mitarbeit im Vereinsvorstand oder als Notenwart Verantwortung zu übernehmen (Sermersheim 2008, S. 65). Anhand verschiedener Beispiele zeigt Sermersheim, dass Musikvereine die Förderung des Nachwuchses für sehr wichtig erachten. Auf die qualifizierte Ausbildung des Nachwuchses wird großen Wert gelegt (Sermersheim 2008, S. 64 im Detail) sowie beträchtliche finanzielle Mittel verwandt (Sermersheim 2008, S. 73f). Die dafür notwendigen Mittel werden sowohl von den Blasorchestervereine selbst als auch natürlich von den Eltern aufgebracht. Es gibt eine wachsen- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-259/10 Seite 10 de Tendenz, professionelle Musiklehrer zu beschäftigen und mit Musikschulen zu kooperieren. Schließlich handelt es sich bei der musikalischen Früherziehung um einen wesentlichen Bestandteil der Nachwuchsgewinnung. Sermersheim konstatiert, dass Musikvereine keine reinen Männergesellschaften mehr sind. Vor allem im Jugendbereich ist der Anteil weiblicher Musiker inzwischen genauso hoch wie der ihrer männlichen Kollegen. Wichtig für die Kapellen ist jedoch die Unterstützung durch passive Mitglieder, seien sie in einem Förderverein oder innerhalb des Vereins organisiert. Probleme bestehen für die Kapellen meist im finanziellen Bereich, da öffentliche Unterstützung fehlt, sowie in der hohen Fluktuation der ausgebildeten Jugendlichen. Sermersheim konstatiert abschließend, dass sich Blasmusik in den ländlichen Regionen sich eines großen Zuspruches erfreut. Zwar gäbe es wiederholt Vorwürfe des konservativen Beharrens, einer reaktionären Gesinnung oder einer ideologischen Last. Durch die Tradition, die in Musikvereinen gelebt wird, durch das Tragen einer Tracht, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben der Gemeinde, durch die Begleitung einer Prozession, oder auch anlässlich des letzten Geleits am Friedhof wird eine Verbindung zwischen den Generationen geschaffen und eine Art der Begegnung mit der Herkunftsregion hergestellt, wie sie sonst in der Gesellschaft nicht mehr häufig stattfindet. Zudem bieten die festen Strukturen eines Vereins gerade für Jugendliche unter Umständen die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis selbst Verantwortung zu übernehmen. Insbesondere für Jugendliche ist die Erfahrung des gegenseitigen Nehmens und Gebens, wie sie im Gefüge eines Vereins gelebt wird, eine wichtige Erfahrung. Ein weiterer interessanter Aspekt besteht in der Familiengebundenheit einer Vereinsmitgliedschaft. Oftmals sind in den Dörfern mehrere Generationen gleichzeitig als Musiker im Musikverein engagiert (Sermersheim 2008, S. 113ff). 4. 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