Das Diätenrecht des Reichstages (1871 – 1918) und der Weimarer Nationalversammlung - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 254/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser: Das Diätenrecht des Reichstages (1871–1918) und der Weimarer Nationalversammlung Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 254/08 Abschluss der Arbeit: 27.11.2008 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. Inhalt 1. Das Diätenrecht des Reichstages (1871 – 1918) 3 2. Das Diätenrecht der Weimarer Nationalversammlung (1919) 4 3. Entschädigungszahlung und Einkommensstruktur 5 4. Erläuterungen zur Entwicklung des Diätenrechts 8 5. Literatur 10 - 3 - 1. Das Diätenrecht des Reichstages (1871 – 1918) Die Verfassung des Kaiserreiches vom 16. April 1871 verbot ausdrücklich die Zahlung von Diäten an Reichstagsabgeordnete. Erst mit dem „Gesetz, betreffend die Änderung des Art. 32 der Reichsverfassung“ und dem entsprechenden Ausführungsgesetz, dem „Gesetz, betreffend die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder des Reichstages “ vom 25. Mai 1906, wurde eine Aufwandsentschädigung eingeführt1. Seither erhielten die Mitglieder des Reichstages eine steuerfreie jährliche Diät von 3000 Mark. Sie war in Raten am 1. Dezember mit 200, am 1. Januar mit 300, am 1. Februar mit 400, am 1. März mit 500, am 1. April mit 600 und am Tag der Vertagung oder Schließung des Reichstages mit 1000 Mark zahlbar. Für jeden Tag, an dem ein Reichstagsabgeordneter einer Plenarsitzung fernblieb, wurden 20 Mark von der nächstfälligen Entschädigungsrate abgezogen. Die Anwesenheit musste durch einen Eintrag in eine Liste während der Dauer der Plenarsitzung nachgewiesen werden. Der Bezug einer doppelten Aufwandsentschädigung, die bei gleichzeitiger Zugehörigkeit des Reichstagsabgeordneten zu einer anderen parlamentarischen Körperschaft - beispielsweise einem Landtag - entstehen konnte, war ausgeschlossen. Neben der Einführung der Diäten brachte das „Gesetz, betreffend die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder des Reichstages“ für die Abgeordneten auch die Anerkennung ihres seit 1873 bestehenden Eisenbahn-Freifahrtrechtes, das bislang vom Willen der Reichsleitung abhängig gewesen und von ihr in den Jahren 1884 – 1906 auf die Wohnortverbindung beschränkt worden war. Nunmehr wurde auch gesetzlich geregelt, dass Reichstagsabgeordnete für die Dauer der Sitzungsperiode sowie acht Tage vor deren Beginn und acht Tage nach deren Abschluss in allen Klassen freie Fahrt auf allen deutschen - das heißt: sowohl den privaten als auch staatlichen - Eisenbahnen besaßen. Ein einseitiger Entzug dieses Privilegs durch die Reichsleitung war fortan nicht mehr möglich. Die Kosten des Eisenbahn-Freifahrtrechtes lassen sich nicht genau ermitteln - für die Freifahrten der Reichstagsabgeordneten erhielten die staatlichen Eisenbahngesellschaften keine Ausgleichszahlung aus dem Reichshaushalt. Zum Ausgleich für die privaten Gesellschaften stellte der Reichstag einen Nachtragsetat von 42.000 Mark in den Haushalt von 1873 ein. In den folgenden Jahren wuchs dieser Betrag rasch - bis 1880/1881 auf 75.000 Mark - an und war dann in Folge der zunehmenden Verstaatlichung privater 1 Die erste und bislang einzige gründliche historische Untersuchung der Entwicklung des Diätenrechtes im Kaiserreich hat 1999 Hermann Butzer mit seiner Dissertation vorgelegt. Vgl. zum Folgenden: Butzer, Hermann, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag: Der Weg zum Entschädigungsgesetz von 1906 und die Nachwirkung dieser Regelung bis in die Zeit des Grundgesetzes, Düsseldorf 1999 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 116). - 4 - Eisenbahngesellschaften stark rückläufig. Berücksichtigt man, dass seit 1874 dem Reichstag 397 Abgeordnete angehörten, entstanden damit dem Reich für die Fahrten seiner Parlamentarier mit privaten Eisenbahngesellschaften im Jahr 1873 Kosten von rund 105, in den Jahren 1880/1881 von rund 190 Mark pro Abgeordneten. Trotz intensiver Bemühungen um eine Revision des Gesetzes von 1906, die schon bald nach seiner Verabschiedung einsetzten, gelang es dem Reichstag erst 1918 eine Änderung des Diätenrechtes durchzusetzen. Mit dem Änderungsgesetz vom 22. Juni 1918 wurde zum einen die Freifahrtberechtigung auf die gesamte Dauer der Legislaturperiode ausgedehnt und zum anderen der kriegsbedingten Inflation Rechnung getragen: Rückwirkend zum 1. Dezember 1917 wurden die Diäten von 3000 auf 5000 Mark jährlich erhöht. Die Aufwandsentschädigung war fortan am 1. Dezember mit 400, am 1. Januar mit 600, am 1. Februar mit 800, am 1. März mit 1000 und am 1. April mit 1200 Mark zahlbar. Als Abschlusszahlung wurden 1000 Mark gewährt. Im Gegenzug wurde der Betrag, der im Falle eines Fernbleibens von einer Plenarsitzung zu zahlen war, von 20 auf 30 Mark erhöht. 2. Das Diätenrecht der Weimarer Nationalversammlung (1919) Die Weimarer Nationalversammlung knüpfte mit ihrer Regelung des Diätenrechts nahtlos an die Gesetze von 1906 und 1918 an. § 5 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 setzte unter anderem fest, dass auch Artikel 32 der bisherigen Reichsverfassung auf die Nationalversammlung Anwendung finden sollte. Am 21. Februar 1919 verabschiedete die Nationalversammlung auf dieser Grundlage ein Ausführungsgesetz über die Entschädigung der Abgeordneten, das sowohl die seit 1906 bestehende Regelung zum Freifahrtrecht als auch die seit 1918 bestehende Regelung zum Tagegeldabzug unverändert übernahm: Die Mitglieder der Nationalversammlung erhielten für die gesamte Dauer der Versammlung sowie acht Tage nach ihrem Schluss freie Fahrt auf den deutschen Eisenbahnen. Im Falle eines Fernbleibens von einer Plenarsitzung verringerte sich ihre Diät um 30 Mark pro Abwesenheitstag. Deutlich verändert wurden hingegen die Bestimmungen zur finanziellen Entschädigung. Da sich nach dem Fortfall des kaiserlichen Schließungsrechtes die Legislaturperiode nicht mehr in Sessionen einteilte - eine Sitzungsperiode hatte bis zum Kriegsausbruch im Durchschnitt rund sechs Monate betragen -, trat an die Stelle der Raten- und Schlusszahlung eine gleichmäßige monatliche Aufwandsentschädigung. Sie betrug vom 1. Februar 1919 an monatlich 1000 Mark. Abgeordneten, die an Tagen, an denen das Plenum nicht zusammentrat, zu Ausschusssitzungen zusammenkamen, wurde zudem ein Tagegeld von 20 Mark gewährt. - 5 - 3. Entschädigungszahlung und Einkommensstruktur Folgt man den Ausführungen Hermann Butzers zum Diätenrecht des Reichstages, dann scheint die Höhe der Aufwandsentschädigung bei ihrer Einführung im Jahr 1906 kein Gegenstand der parlamentarischen Diskussion gewesen zu. Dementsprechend wenig Licht fällt auf die Überlegungen, die bei ihrer Festsetzung maßgeblich wurden, und dementsprechend schwer fällt auch die Einordnung ihres Wertes. Er kann im Rahmen dieser Ausarbeitung nur näherungsweise bestimmt werden. Schon im Entwurf des „Gesetz[es], betreffend die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder des Reichstages“, den der Bundesrat am 20. April 1906 vorlegte und der die Grundlage der parlamentarischen Beratungen bildete, die zum Gesetz vom 25. Mai 1906 führten, wurde die Aufwandsentschädigung auf einen jährlichen Betrag von 3000 Mark festgesetzt. In den Erläuterungen zum Gesetzentwurf verzichtete der Bundesrat auf eine Begründung der Höhe des Pauschquantums und bezeichnete diese schlicht als „angemessen“2. Berücksichtigt man, dass seit 1894 eine Sitzungsperiode im Durchschnitt sechs Monate dauerte und pro Session rund 100 Plenarsitzungen zu verzeichnen waren, entsprach die Aufwandsentschädigung einem Tagegeld von 30 Mark. Ein Antrag des Reichstages, mit dem im Jahr 1901 die Einführung eines solchen Tagegeldes gefordert worden war, hatte sich aber noch an den Regelungen des Preußischen Abgeordnetenhauses orientiert und mit Rücksicht auf die Inflation statt des dort seit 1876 gewährten Satzes von 15 Mark einen Betrag von 20 Mark festgesetzt. Versucht man die Aufwandsentschädigung der Reichstagsabgeordneten in die Einkommensstruktur des Deutschen Reiches einzuordnen, so kann anhand der durchschnittlichen jährlichen Nominalarbeitseinkommen von unselbständigen Erwerbstätigen in den unten genannten sechs Branchen (1890-1913) zunächst errechnet werden, dass die Aufwandsentschädigung bei ihrer Einführung im Jahr 1906 rund dem 2,5-fachen Jahreseinkommen eines Arbeiters im Kaiserreich entsprach3. 2 Zit. Butzer, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag, S. 454. 3 Die nachfolgende Übersicht findet sich in: Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 778. Zu berücksichtigten ist in diesem Zusammenhang, dass die Pauschalstatistik der jährlichen Nominalarbeitseinkommen die deutlichen Einkommensunterschiede verdeckt, die zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitskräften bestanden. - 6 - Durchschnittliches jährliches Nominalarbeitseinkommen in sechs Branchen 1890-1913 1890 1900 1913 Metallerzeugung 915 1078 1513 Steinkohlenbergbau 966 1173 1496 Druckgewerbe 1402 1317 1493 Baugewerbe 900 1072 1446 Metallverarbeitung 880 1010 1417 Textilindustrie 509 594 786 Kontrastiert man diesen Befund mit den jährlichen Nominaleinkommen höherer und höchster Beamten in Preußen, wird zugleich deutlich, dass die Diäten der Reichstagsabgeordneten sich noch keinesfalls an der heutigen Bezugsgröße der Diäten der Bundestagsabgeordneten orientierten, deren Höhe sich nach geltendem Recht von den Gehältern von gewählten hauptamtlichen Bürgermeistern und Oberbürgermeistern mittlerer Kommunen sowie von Richtern an Bundesgerichten ableitet. So erhielt im Kaiserreich bereits ein erstinstanzlicher Richter einschließlich eines Wohnkostenzuschusses ein monatliches Gehalt von rund 5400 Mark. Übersicht der jährlichen Nominaleinkommen höherer und höchster Beamte in Preußen4 1900 1912/1913 Oberpräsidenten 21.000 21.000 Unterstaatssekretäre 19.500 22.100 Regierungspräsidenten 14.100 16.150 Regierungsräte 6.270 6.710 4 Zit. Fattmann, Rainer, Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der „Reichsbund der höheren Beamten“ in der Weimarer Republik, Göttingen 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 145). - 7 - Richter, Erste Instanz 5.430 6.065 Staatsanwälte, Erste Instanz 5.430 6.065 Einen Eindruck von der Einkommensstruktur im Deutschen Reich und damit von dem zeitgenössischen Wert der Diäten der Reichstagsabgeordneten vermittelt darüber hinaus die unten stehende Übersicht über die Einteilung der preußischen Steuerklassen in den Jahren 1902 und 1912. Die Übersicht erlaubt zugleich eine Aussage darüber, in welchem Umfang es in den Jahren nach Einführung der Aufwandsentschädigung durch steigende Lebenshaltungskosten und ausbleibende Diätenerhöhungen zu einer schleichenden Entwertung der Aufwandsentschädigung kam, da die preußische Steuergesetzgebung die Steuerklassen entsprechend dem erfolgten Kaufkraftverlust neu festsetzte. Nach Auskunft des Bielefelder Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler begann im Kaiserreich jenseits der sechsten Steuerklasse eine „mittelständische Existenz“, jenseits der zwölften Steuerklasse die „Region der ‚Wohlhabenden’“. Legt man diese Klassifikation zugrunde, so führte die Reichstagszugehörigkeit bei Einführung der Diäten im Jahr 1906 zu einem Einkommen, das den Abgeordneten im oberen Segment der Mittelschicht platzierte, zumal wenn man berücksichtigt, dass die Aufwandsentschädigung nicht zu versteuern war5. Aufgrund des schleichenden Kaufkraftverlustes sanken die Bezieher eines jährlichen Einkommens von 3000 Mark bis 1912 ins Zentrum der Mittelschicht ab. Durch die kriegsbedingte Inflation verringerte sich der Wert der Aufwandsentschädigung eines Reichstagsabgeordneten bis 1918 dann noch einmal deutlich. 1. Einkommensobergrenze in Mark, 2. Zensiten in 1000, 3. Prozentsatz der Zensiten6 1902 1912 Steuerklasse 1. 2. 3. 1. 2. 3. 1. 972 9477 68,7 1125 10557 65,9 2. 1134 1177 8,8 1312 1412 8,8 5 Demgegenüber gibt der Wikipedia-Artikel „Goldmark“ die Kaufkraft der Goldmark in den Jahren 1900 – 1912 mit einem Wert von 9,35 Euro bezogen auf das Jahr 2005 an. Demnach hätte die Diät eines Reichstagsabgeordneten im Jahr 2005 eine Kaufkraft von 28050 Euro gehabt. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Goldmark [Stand 26.11. 2008]. 6 Zit. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 710 - 8 - 1902 1912 3. 1296 623 5,6 1500 1092 6,8 4. 1458 359 4,0 1688 730 4,6 5. 1620 220 3,0 1875 489 3,1 6. 1782 183 1,5 2063 274 1,7 7. 1944 106 1,2 2250 198 1,2 8. 2268 177 1,7 2625 274 1,7 9. 2592 135 1,0 3000 161 1,0 10. 2916 92 0,8 3375 205 1,3 11. 3240 77 0,6 3750 97 0,6 12. 4536 169 1,2 5250 224 1,4 13. 6480 87 0,7 7500 120 0,7 14. 9720 65 0,5 11250 67 0,4 15 Mehr 78 0,5 mehr 111 0,7 4. Erläuterungen zur Entwicklung des Diätenrechts Das Diätenverbot in Art. 32 der Reichsverfassung i.d.F. von 1871 ist vom preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler Otto von Bismarck gegen erbitterten Widerstand durchgesetzt worden. Auf sein Betreiben hin hatte schon die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 ein Verbot der Entschädigung der Reichstagsabgeordneten beinhaltet . Maßgeblich für das Handeln Bismarcks waren in dieser Frage machtpolitische Motive: Mit dem Diätenverbot sollte Einfluss auf die Kandidatenaufstellung und die soziale Zusammensetzung des Reichstages genommen und derart ein Gegengewicht gegen das allgemeine und gleiche Wahlrecht geschaffen werden. In der parlamentarischen Praxis hatte das Verbot nicht die von Bismarck erhoffte Wirkung. Zum einen gingen die Parteien dazu über, ihre Reichstagsabgeordneten finanziell zu unterstützen - dass gegen - 9 - Art. 32 der Reichsverfassung i.d.F. von 1871 permanent verstoßen wurde, war im Kaiserreich ein offenes Geheimnis und in den Jahren 1883 – 1886 Gegenstand mehrerer gerichtlicher Prozesse. Zum anderen führte das Diätenverbot dazu, dass Abgeordnete mit politiknahen Berufen wie Journalisten, Verbandsvertreter, Partei- und Gewerkschaftssekretäre überproportional im Reichstag vertreten waren. Darüber hinaus gehörten dem Reichstag bis zur Einführung der Entschädigungszahlung im Jahr 1906 eine große Zahl von Abgeordneten an, die gleichzeitig ein bezahltes Landtagsmandat innehatten 7. Obwohl die Revision des Entschädigungsrechtes nach 1871 ein zentrales Anliegen der Reichstagsabgeordneten war, ist es zu den beiden großen Konzessionen der Reichsleitung - dem Eisenbahn-Freifahrtrecht und der Einführung der Diäten - nur in politischen Ausnahmesituationen gekommen. Die Gründe der späten Einführung einer Entschädigungszahlung sind insbesondere darin zu suchen, dass Bismarck mit der verfassungsrechtlichen Verankerung des Diätenverbotes ein kaum zu überwindendes Hindernis aufgetürmt hatte. Gemäß Art. 78 der Reichsverfassung setzte eine Verfassungsänderung eine Mehrheit von mindestens 45 der 58 Stimmen der im Bundesrat vertretenen Einzelstaaten voraus. Da Preußen im Bundesrat über 17 Stimmen verfügte, war gegen das preußische Veto eine Verfassungsänderung nicht durchzusetzen. Eine parlamentarisch erzwungene Revision des Diätenrechtes wäre nur dann möglich gewesen, wenn der Reichstag das Budgetrecht oder ein wichtiges Gesetzesvorhaben der Reichsleitung mit der Entschädigungsfrage verknüpft und entschlossen als Druckmittel eingesetzt hätte . Die im Reichstag vertretenen Parteien fanden sich jedoch in dieser Frage zu keiner handlungsfähigen Koalition zusammen. Darüber hinaus ist fraglich, ob der Reichstag eine solche Verknüpfung sachfremder Themen der Öffentlichkeit hätte plausibel machen können, da sich das Leitbild des Politikers in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung erst allmählich zu wandeln begann und in der Öffentlichkeit noch immer dem des Honoratiorenpolitikers entsprach, der mit dem Reichstagsmandat ein Ehrenamt wahrnahm, keinesfalls aber durch oder gar von der Politik lebte. Angesichts dieser Rahmenbedingungen war eine Revision des Entschädigungsrechtes nur in außerordentlich günstigen politischen Konstellationen möglich. Zu einer solchen Konstellation kam es 1873, als Bismarck für die Fortführung und Ausdehnung des Kulturkampfes die Unterstützung der liberalen Parteien benötigte, und 1906 als Reichskanzler Bernhard von Bülow nach einer parlamentarischen Mehrheit für die Reichsfinanzreform suchte. War 1873 die Gewährung des Eisenbahn-Freifahrtrechtes ein „Akt 7 So gehörten beispielsweise im Jahr 1898 110 Mitglieder des Reichstages zugleich dem preußischen Abgeordnetenhaus an. Vgl. Ritter, Gerhard A., Der Reichstag in der politischen Kultur des Kaiserreiches , in: Helmholtz, Richard H. (Hg.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn 2000, S. 912. - 10 - der politischen Klimapflege“8 der Reichsleitung, so ist die Einführung einer Aufwandsentschädigung 1906 letztlich als „singuläres Geschehen“ zu werten. „Ohne den Entschluß Bülows, das politische Faustpfand ‚Diätenrecht’ für die Zustimmung des Zentrums zur Finanzreform aus den Händen zu geben […] wäre den Reichstagsabgeordneten eine Entschädigung wohl weiterhin versagt geblieben“9. 5. Literatur Butzer, Hermann, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag: Der Weg zum Entschädigungsgesetz von 1906 und die Nachwirkung dieser Regelung bis in die Zeit des Grundgesetzes, Düsseldorf 1999. (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 116). Fattmann, Rainer, Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der „Reichsbund der höheren Beamten“ in der Weimarer Republik, Göttingen 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 145). Ritter, Gerhard A., Der Reichstag in der politischen Kultur des Kaiserreiches, in: Helmholtz , Richard H. (Hg.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn 2000, 901-921. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995. 8 Zit. Butzer, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag, S. 449. 9 Zit. Butzer, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag, S. 450.