Deutscher Bundestag Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000-162-10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 2 Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000-162-10 Abschluss der Arbeit: 28.10.2010 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Bedingungen der Gefangenschaft sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern 6 3. Literatur 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 4 1. Einleitung Der Stand der Auseinandersetzung über die Verbrechen an bestimmten Personengruppen während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur spiegelt sich nicht zuletzt auch in der in der Bundesrepublik gepflegten Gedenkstättenkultur wider. So zumindest argumentiert Jörg Skriebeleit , Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg1. Im Umkehrschluss würde dies jedoch ebenfalls bedeuten , dass das Fehlen eines solchen Denkmales und das damit verbundene Fehlen eines gesellschaftlichen Diskurses zeige, wie bestimmte Opfergruppen ohne gesellschaftliche Lobby von der Marginalisierung betroffen sind.2 Das Fehlen eines gesellschaftlichen Diskurses konstatiert Skriebeleit für die Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen, deren Anzahl heute in der Geschichtswissenschaft mit über 5 Millionen angenommen wird, von denen mindestens drei Millionen nicht überlebten.3 Quantitativ zählten die sowjetischen Kriegsgefangenen innerhalb des nationalsozialistischen Lagersystems zu einer der größten Opfergruppen. Überlebende sahen sich in der Sowjetunion der Stalin-Ära jedoch dem Generalverdacht der Kollaboration mit dem Feind ausgesetzt. Zurückgekehrt in ihre Heimat, wurden sie zuerst in Filtrationslager verbracht, von wo aus viele weiter in Gulag-Lager deportiert wurden. Ehemalige Kriegsgefangene der Roten Armee galten als potentielle Landesverräter, an die nicht erinnert werden durfte, geschweige denn, dass man ihrer als verehrungswürdig gedacht hätte. Erst nach dem Ende des „Kalten Krieges“, der politischen Umwälzungsprozesse in Europa nach 1989 und der damit in Zusammenhang stehenden vorsichtigen Öffnung der Archive der Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist eine geschichtliche Aufarbeitung des Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen in größerem Umfang möglich. Dabei sind in der Geschichtswissenschaft momentan zwei Tendenzen zu beobachten. Einerseits ist ein mit einem stark an der Erinnerungskultur angelehnten Impetus versehener Prozess der Aufarbeitung des Schicksals sowjetischer Kriegsgefangener in Gang gekommen. Im Focus steht hierbei das Schicksal jener sowjetischen Kriegsgefangenen, die unter dem Zuständigkeitsbereich des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht (OKW) standen, in deren Kriegsgefangenenlagern verbracht und die dort, wenn nicht schon auf dem Wege dorthin zu Opfern wurden .4 Hier ist insbesondere das Forschungsprojekt „Sowjetische und Deutsche Kriegsgefangene 1 Vgl. KZ-Gedenkstätte Flossenbürg http://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de. 2 Vgl. Störung der Tümpelfauna. Die Gedenkstätte Zeithain und der Naturschutz, in: FAZ, 20.10.2010, Nr. 244, S. 28. 3 Vgl. Jörg Skriebeleit, Vorwort, in: Johannes Ibel (Hrsg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo , SS und sowjetische Kriegsgefangene, hrsg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätten Flossenbürg, Berlin: Metropol 2008, S. 7-12, hier S. 8. 4 Vgl. Thomas de Maizière (2010), Vertrauen durch Versöhnung, in: Orte des Gewahrsams von Deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion (1941-1956). Findbuch, Dresden, Kassel, Moskau, München 2010, S. IX; vgl. Klaus-Dieter Müller, Bericht zum Stand der Arbeit für die Deutsch-Russische Historikerkommission zum Forschungsprojekt „Sowjetische und Deutsche Kriegsgefangene und Internierte. Forschungen zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit“, Stand vom Juli 2010. Das Forschungsprojekt wurde im Jahr 2000 unter Federführung der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten begonnen und wird seitdem im Auftrag der Bundesregierung durchgeführt. Zwei Ziele werden mit der Durchführung des Projektes verbunden. Zum einen geht es zwar auch um die wissenschaftliche Aufarbeitung des Schicksales der Kriegsgefangenen. Zum ande- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 5 und Internierte. Forschungen zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit“ zu erwähnen, das in enger Zusammenarbeit zwischen deutschen, österreichischen, russischen, weißrussischen und ukrainischen Institutionen erfolgt. Diese Zusammenarbeit und auch die Aufmerksamkeit, die gemeinsame Konferenzen hervorrufen, vermitteln einen Eindruck von der politischen Bedeutung , die der Aufarbeitung des Schicksales der Kriegsgefangenen inzwischen entgegengebracht wird.5 Auf der anderen Seite untersucht die Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.6 Hierbei geraten auch jene sowjetischen Kriegsgefangenen in den Blick, die – entgegen aller völkerrechtlichen Gepflogenheiten und Bestimmungen – aus der Verwahrung in den „Russenlagern“ der Wehrmacht in die Hände der Gestapo übergeben und in Konzentrationslager verbracht wurden. In der Untersuchung der Schicksale dieser Gruppe kriegsgefangener Soldaten der Roten Armee sind entsprechende Desiderata zu konstatieren ,7, wenn auch inzwischen zu einzelnen Konzentrationslagern bereits detailliertere Befunde vorliegen.8 ren hat das Projekt aber insbesondere auch eine zunehmend um humanitär-schicksalsklärende, d.h. versöhnungspolitische Zielsetzung. 5 Vgl. Tagungsbericht Gefallen – Gefangen – Begraben. Zahlen und Fakten zu sowjetischen und deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit. 06.07.2010-07.07.2010, Dresden, in: H-Soz-u-Kult, 13.08.2010, . 6 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.) (2005-2009), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager , Bd. 1-9, München: Beck. 7 Vgl. So wird sich der Ende 2010 erscheinende Band der „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ mit dem Thema „Wehrmacht und KZ-System“ auseinandersetzen, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12322; der dazu gehörende Workshop, nicht zuletzt mit einem Panel zur Übergabe von sowjetischen Kriegsgefangenen an die Konzentrationslager Beitrag von http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=13966. 8 Vgl. z.B. Dirk Riedel (2010), Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der „Volksgemeinschaft“. Der KZ- Kommandant Hans Loritz, Berlin: Metropol; Schalm, Sabine (2009), Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933-1945, Berlin: Metropol; Buggeln, Marc (2009), Arbeit &Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen: Wallstein; sowie grundlegend: Orth, Karin (1999), Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg: Hamburger Edition. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 6 2. Bedingungen der Gefangenschaft sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern a) „Zuständigkeiten: „Russenlager“ der Wehrmacht und Überstellung in die KZ Allein während der ersten sechs Monate der „Operation Barbarossa“ gerieten fast vier Millionen Soldaten der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft,9 von denen bis Februar 1942 etwa sechzig bis siebzig Prozent ums Leben kamen.10 Nach der Genfer Konvention von 1929 – die die UdSSR allerdings nicht unterzeichnet hatte – war die Verwahrung und Betreuung von Soldaten der gegnerischen Armeen ausschließlich eine Angelegenheit des Militärs, im Falle des nationalsozialistischen Deutschlands also der Deutschen Wehrmacht.11 Bis zur Entlassung – in die Freiheit oder in die Verantwortung der entsprechenden gegnerischen Seite – war einzig sie zuständig und hatte entsprechend eine besondere Fürsorgepflicht. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde die rassistisch-ideologisch motivierte Vernichtung aber auf die sowjetischen Kriegsgefangenen ausgeweitet. Vermeintliche Träger der kommunistischen Ideologie sollten beseitigt werden, wie die Kommissare der Roten Armee, politische Offiziere. Aber auch sowjetische Kriegsgefangene jüdischer Herkunft sollten der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten entsprechend beseitigt werden. Mit dem „Kommissarbefehl “ des OKW vom 6. Juni 1941 wurde festgelegt, dass solche Personen unmittelbar nach Gefangennahme zu erschießen seien. Nach einer Übereinkunft zwischen dem OKW und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) vom 16. Juli 1941 wurde die Durchführung dieser Selektionen nicht der Wehrmacht überlassen. Statt dessen übernahm dies noch vor Abtransport der Kriegsgefangenen in das Reichsgebiet die dem RSHA eingegliederte Geheime Staatspolizei (Gestapo). Festgelegt war diese „Aussonderung“, so der Terminus, mit dem „Einsatzbefehl Nr. 8“ des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, vom 17. Juli 1941. Mit dem Einsatzbefehl Nr. 9 vom 21. Juli 1941 wurde diese „Aussonderung“ auf die sowjetischen Kriegsgefangenen ausgeweitet, die sich inzwischen bereits in den „Russenlagern“, d.h. in den der Wehrmacht unterstehenden Gefangenenlagern für die sowjetischen Kriegsgefangenen, auf dem Reichsgebiet befanden. Mit Hilfe ergänzender Richtlinien zu diesen Einsatzbefehlen vom 27. August 1941 weitete Reinhard Heydrich diese auf sämtliche Kriegsgefangenlager und Arbeitskommandos aus. Ab Ende August 1941 verfügte demnach – völkerrechtswidrig – die Gestapo über Zugriff auf sämtliche sowjetischen Kriegsgefangenen überall und jederzeit. 9 Über die Gesamtzahl sowjetischer Kriegsgefangener herrscht in der Geschichtswissenschaft nach wie vor keine einheitliche Meinung, vgl. Klaus-Dieter Müller (2010), Die Gesamtzahl sowjetischer Kriegsgefangener – Eine weiterhin ungelöste Frage, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2010), Heft 3, S. 393-401. 10 Vgl. Jan Erik Schulte, Die Kriegsgefangenen-Arbeitslager der SS 1941/42: Größenwahn und Massenmord. Ein Überblick, in: Johannes Ibel (Hrsg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, hrsg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätten Flossenbürg, Berlin: Metropol 2008, S.71-90, hier S. 71. 11 Vgl. zum Folgenden: Rolf Keller/Reinhard Otto, Sowjetische Kriegsgefangene in Konzentrationslagern der SS. Ein Überblick, in: Johannes Ibel (Hrsg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, hrsg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätten Flossenbürg, Berlin: Metropol 2008, S. 15-44, hier S. 16ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 7 Dieser Vorgang der Übergabe eines sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Gewahrsam der Wehrmacht in die Hände der Gestapo wurde in den Registraturen der Kriegsgefangenenlager vermerkt. Jeder solcher Vermerk über eine „Aussonderung“ ist Rolf Keller und Reinhard Otto zufolge zugleich ein Vermerk über ein Verbrechen.12 Die je nach Bedarf operierenden Einsatzkommandos, die in den Kriegsgefangenenlagern die „Aussonderungen“ vornahmen, wurden bis Ende Juli 1942 aufgelöst. Bis zu diesem Zeitpunkt waren innerhalb des Deutschen Reiches in fast sämtlichen Konzentrationslagern wenigstens 40.000 Soldaten der Roten Armee ermordet worden, davon allein 19.000 in den Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen. b) Gruppen sowjetischer Kriegsgefangener in KZ Keller/Otto zufolge lassen sich demnach drei Gruppen sowjetischer Kriegsgefangener in den Konzentrationslagern unterscheiden, wobei in unserem Zusammenhang die ersten beiden Gruppen von Bedeutung sind.13 Gefangene, die allein zum Zwecke der Exekution in die Konzentrationslager gebracht wurden, d.h. „Ausgesonderte“ und andere vom RSHA zur „Sonderbehandlung“ Bestimmte ; Kriegsgefangene, die unter Beibehaltung ihres Status in die Kriegsgefangenen-Arbeitslager der SS überwiesen wurden; Soldaten, die nach Entlassung aus der Gefangenschaft als „reguläre“ KZ-Häftlinge geführt wurden. Für die jeweiligen Gruppen geben Keller/Otto folgende Zahlen an in die Konzentrationslager eingelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen an. den Exekutionen fielen bis Mitte 1942 allein im Deutschen Reich mindestens 40.000 sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer; Gruppe der zu „Arbeitszwecken“ eingelieferten: etwa 35.000; Zahl der aus der Gefangenschaft entlassenen und in KZ-Haft übernommenen Soldaten der Roten Armee liegt nach vorsichtigen Schätzungen bei mindestens 50.000, wobei zu dieser Gruppe u.a. Soldaten zählten, die aufgrund von Flucht oder Widerstand im weitesten Sinne von Gefangenen der Wehrmacht zu Gefangenen der SS wurden. Diese Gruppe stellte nach Kriegsende einen erheblichen Anteil der KZ-Insassen. c) Exekutionen im KZ Sachsenhausen Zwischen Ende August und Mitte November 1941 trafen wiederholt Transporte mit insgesamt 13.000 sowjetischen Kriegsgefangenen im KZ Sachsenhausen ein.14 Für die Bewachung der sow- 12 Keller/Otto (2008), S. 21, insbesondere Fußnote 14. 13 Vgl. Keller/Otto (2008), S. 41. 14 Vgl. zum folgenden Riedel (2010), S. 263f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 8 jetischen Kriegsgefangenen auf dem Weg aus den verschiedenen „Stalags“, den „Mannschaftsstamm - und Straflagern“ der Wehrmacht, bis nach Oranienburg waren Wehrmachtssoldaten zuständig . Die zu bewachenden Kriegsgefangenen befanden sich zumeist in einer völlig desolaten physischen und psychischen Verfassung, so dass etliche bereits auf dem Transport starben. Während der qualvollen Zugfahrten kam es aufgrund des Hungers wiederholt zu Kannibalismus.15 Nach Ankunft in Oranienburg wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen zu Fuß und vor den Augen der Zivilbevölkerung in das Konzentrationslager Sachsenhausen getrieben. Forciert durch die Anordnungen des dortigen Lagerkommandanten, Hans Loritz, der für seine Brutalität berüchtigt war, quälten und schlugen SS-Angehörige die Gefangenen. Jeweils an den Abenden, nach dem Zähl-Appell, begannen die SS-Mitglieder mit den Erschießungen der eingetroffenen sowjetischen Kriegsgefangenen. Bis Mitte November 1941 wurden so über 10.000 sowjetische Kriegsgefangene erschossen. Erst nachdem eine Typhus-Epidemie im Konzentrationslager ausbrach, von der auch Bewachungspersonal, d.h. mehrere Blockführer, in Mitleidenschaft gezogen wurde, wurden die Erschießungen eingestellt. Auch vor dem Hintergrund, dass die Arbeitskraft der Häftlinge zunehmend an Bedeutung erlangte, war der Beschluss getroffen worden, „dass von den in die Konzentrationslager zur Exekution überstellten russischen Kriegsgefangenen (insbesondere Kommissare), die auf Grund ihrer körperlichen Beschaffenheit zur Arbeit in einem Steinbruch eingesetzt werden können, die Exekution aufgeschoben wird.“16 D. h. mit Hinblick auf den immer größer werdenden Mangel an Arbeitskräften, die insbesondere für die Kriegs- und Rüstungsproduktion in ständig wachsendem Umfang benötig wurden, wurde ab 1942 dem Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen in den Konzentrationslagern der „Vorzug“ vor der sofortigen Exekution gegeben.17 d) sowjetische Kriegsgefangene als Arbeitskräfte in den Konzentrationslagern Zeitgleich zum Prozess der „Aussonderung“ der sowjetischen Kriegsgefangenen zum Zwecke der Exekution begann die SS mit der Einrichtung eigener Kriegsgefangenen-Arbeitslager.18 Im Rahmen der sogenannten Ostsiedlung sowie beim Aufbau einer SS-eigenen Industrie plante der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, den umfassenden Einsatz von Zwangsarbeitern. Da ihm andere Arbeitskräfte in den von ihm gewünschten Dimensionen nicht zur Verfügung standen, sicherte er sich im September 1941 von Hitler die Genehmigung zur Übernahme von zunächst 200.000 sowjetischen Kriegsgefangenen von der Wehrmacht. In der Folgezeit vollzogen sich zwei Entwicklungen parallel. Zum einen wurden an der Ostgrenze des Deutschen Reiches bzw. des Generalgouvernements neue Kriegsgefangenenlager der SS aufgebaut. So wurden nach einer Veranlassung des OKW zur Übergabe von „bis zu 100000“ Kriegsgefangenen an den „Reichsführer SS und Chef der Deut- 15 Vgl. Linne, Karsten (2010), Hunger und Kannibalismus bei sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg , in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft : ZfG. - 58 (2010), 3, S. 243 – 262. 16 So ein zeitgenössisches Zitat, Riedel (2010), S. 264. 17 Vgl. Keller/Otto (2008), S. 42. 18 Vgl. zum folgenden Keller/Otto (2008), S. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 9 schen Polizei in der Gegend von Lublin“ im September 1941 die Errichtung eigener Kriegsgefangenenlagers in Lublin-Majdanek und Auschwitz-Birkenau für jeweils 50.000 Mann angeordnet. Im Dezember 1941 erfolgte dann von Himmler die Anordnung für die Errichtung eines weiteren Lagers für 25.000 sowjetische Kriegsgefangene in Stutthof bei Danzig. Zum anderen wurden innerhalb bestehender Konzentrationslager auf dem Reichsgebiet spezielle „SS-Kriegsgefangenen-Arbeitslager“ errichtet. Ab September 1941 traf man in allen großen Konzentrationslagern auf dem Reichsgebiet bauliche und organisatorische Vorbereitungen zur Aufnahme sowjetischer Kriegsgefangener, die für den Arbeitseinsatz vorgesehen waren. Im Unterschied zu den „Ausgesonderten“ verblieben aber die für den Arbeitseinsatz vorgesehenen Kriegsgefangenen auch nach der Überstellung in die Gewalt der SS pro forma im Gewahrsam der Wehrmacht. D. h. sie wurden nicht aus dem Gewahrsam des Militärs entlassen und für sie galten auch weiterhin die Meldevorschriften der Wehrmacht. Ein Fall einer „Rückkehr“ eines sowjetischen Kriegsgefangenen aus einem Kriegsgefangenenlager der SS in ein Stalag der Wehrmacht ist aber nicht bekannt.19 e) Die Lebensbedingungen in Kriegsgefangenen-Arbeitslagern der SS Die für einen Arbeitseinsatz vorgesehenen sowjetischen Kriegsgefangenen waren jedoch oftmals in einem sehr schlechten körperlichen Zustand. Entsprechend hoch waren die Todeszahlen, denn im Winter 1941/42 starben die meisten von ihnen an den Folgen der Entkräftung. Im Frühjahr 1942 waren von den bis Oktober 1941 eingelieferten „Arbeitsrussen“ nur noch wenige am Leben. Im KZ Neuengamme waren von den eingelieferten 1.000 Kriegsgefangenen bis Ende April 950 verstorben, von den 2.000 in Buchenwald eingelieferten, starben 681, in Groß-Rosen lebten von den ursprünglich 2.500 Mann am 27. Januar 1942 noch 89. Bei Auflösung des Kriegsgefangenenarbeitslagers in Auschwitz, in welchem die Lebensbedingungen wie auch diejenigen des KZ Lublin mörderisch waren,20 lebten von den eingelieferten 10.000 Mann am 1. März 1942 noch 945. In Auschwitz und Lublin wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen von der Lager-SS noch brutaler behandelt als die übrigen Häftlinge. Im Winter 1941/42 gab es trotz kalter Witterung keine entsprechende Bekleidung, auch hatten die Kriegsgefangenen kein der Arbeit entsprechendes Werkzeug zur Verfügung. Zur Arbeit wurden sie brutal herangezogen, so dass die geschwächten Gefangenen Willkür, Mord, Hunger, Krankheiten und Epidemien zum Opfer fielen. Während im KZ Sachsenhausen die Erschießungen der „ausgesonderten“ sowjetischen Kriegsgefangenen detailliert vorbereitet worden waren, wurden keinerlei Maßnahmen gegen das Massensterben der „Arbeitsrussen“ ergriffen.21 Zur Unterbringung dieser Häftlinge hatte man zwei „Isolierblocks “ als „Kriegsgefangenenarbeitslager“ von den anderen Baracken abgetrennt, zudem wurden die Häftlinge in der Schreibstube des KZ vorschriftsmäßig registriert. Doch die KZ- Besatzung kalkuliert bereits bei Ankunft der sowjetischen Kriegsgefangenen deren Tod ein; denn in der Unterbringung, Versorgung und Behandlung machte die KZ-Besatzung keine Unterschiede 19 So Keller/Otto (2008), S. 26. 20 Vgl. Schulte (2008), S. 85ff. 21 Vgl. Riedel (2010), S. 271f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 10 zwischen den „ausgesonderten“ und den für den Arbeitseinsatz vorgesehenen sowjetischen Kriegsgefangenen. Von den ursprünglich 2.500 „Arbeitsrussen“ waren Ende März 1942 nur noch 565 am Leben. Auch in Groß-Rosen war von Anfang an auf die Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen gezielt worden. Für die Gesamtheit der übrigen Lager ist eine so eindeutige Feststellung über die Lebensbedingungen jedoch nicht möglich. Das Überleben war stark davon abhängig, ob die sowjetischen Kriegsgefangenen sofort zur Arbeit eingeteilt wurden bzw. welche Arbeiten sie ausführen mussten. So unterschieden sich die Überlebensmöglichkeiten von Lager zu Lager, d.h. die Überlebenschancen hingen von den lokalen Zuständen in den einzelnen Konzentrationslagern ab. 3. Literatur Benz, Wolfgang (2005-2009) (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1-9, München: Beck. Buggeln, Marc (2009), Arbeit &Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen: Wallstein. Keller, Rolf/Reinhard Otto, Sowjetische Kriegsgefangene in Konzentrationslagern der SS. Ein Überblick, in: Johannes Ibel (Hrsg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, hrsg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätten Flossenbürg, Berlin: Metropol 2008, S. 15-44. Korotajev, Vladimir, Deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR, in: Orte des Gewahrsams von Deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion (1941-1956). Findbuch, Dresden, Kassel, Moskau , München 2010, S. XVI-XXIV. Linne, Karsten (2010), Hunger und Kannibalismus bei sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft : ZfG. - 58 (2010), 3, S. 243 – 262. Orth, Karin (1999), Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg: Hamburger Edition [noch konspektieren]. Polian, Pavel (2010), Sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im „Dritten Reich“, in: Peter Ruggenthaler/Walter M. Iber (Hrsg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz, Innsbruck, Wien, Bozen : Studien Verlag, S. 27-42. Riedel, Dirk (2010), Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der „Volksgemeinschaft“. Der KZ-Kommandant Hans Loritz, Berlin: Metropol. Schalm, Sabine (2009), Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933-1945, Berlin: Metropol. Schulte, Jan Erik, Die Kriegsgefangenen-Arbeitslager der SS 1941/42: Größenwahn und Massenmord . Ein Überblick, in: Johannes Ibel (Hrsg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-162-10 Seite 11 Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, hrsg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätten Flossenbürg , Berlin: Metropol 2008, S.71-90. Skriebeleit, Jörg, Vorwort, in: Johannes Ibel (Hrsg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht , Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, hrsg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätten Flossenbürg, Berlin: Metropol 2008, S. 7-12.