Deutscher Bundestag DDR-Häftlingsarbeit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000 - 159/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 2 DDR-Häftlingsarbeit Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000 - 159/12 Abschluss der Arbeit: 13. Februar 2012 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Ein kurzer Rückblick vorab: Die Debatte über den Strafvollzug in der Geschichte 4 3. Praxis und Prinzipien der DDR-Häftlingsarbeit (1949-1989) 6 3.1. Verstoß gegen internationale Standards beim Häftlingsschutz 8 3.2. Systematische Ausbeutung der Arbeitskraft 11 3.3. Totalitäre Erziehungsmethoden und Schikane von Andersdenkenden 17 3.4. Permanente Bereitschaft zu Willkürentscheidungen und Missachtung eigener Gesetze 23 4. Öffentliche Wahrnehmung und politische Initiativen 27 5. Literaturverzeichnis 31 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 4 1. Einleitung Im November 2012 räumte der schwedische Möbelkonzern IKEA öffentlich ein, in den 1980er Jahren von der Häftlingsarbeit in der DDR profitiert zu haben. Damals seien aus Gründen der Kostenersparnis auf Order der Geschäftsleitung Fertigwaren für das eigene Sortiment in Ostdeutschland hergestellt worden, für deren Anfertigung offensichtlich großenteils Strafgefangene abgestellt wurden. Mit diesem von der Presse aufgegriffenen Bekenntnis rückte gegen Ende des vorigen Jahres eine Facette der ehemaligen DDR ins allgemeine Bewusstsein, die zuvor kaum diskutiert worden ist: Das Zwangsarbeitssystem der SED-Diktatur und seine mutmaßliche Vernetzung mit Firmen im Westen. Eine Expertenanhörung der FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages ergab, dass IKEA wohl kein Einzelfall gewesen ist, was die Nutznießerschaft von Konzernen mit Blick auf Zwangsarbeit in der DDR angeht. Freilich müsse die „Landschaft der Häftlingsarbeit“ (Roland Jahn) erst noch genau ausgemessen werden, ehe eine verlässliche historische Einordnung vorgenommen werden könne. Vieles sei noch unbekannt, und der Versuch einer Bewertung gleiche gegenwärtig dem bloßen „Herumtasten im Nebel“.1 Dieser Befund wird auch von Anna Kaminsky geteilt. Die Geschäftsführerin der Bundestiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sieht die Faktenlage als unzureichend an und verknüpft damit die Aufforderung an den Bund, nun alles zu tun, um herauszufinden, welches Ausmaß Haftzwangsarbeit in der DDR tatsächlich hatte.2 Ausgehend von dieser über die Medien verbreiteten Einschätzung eines dringenden Forschungsdesiderats auf dem Gebiet DDR-Geschichte versucht vorliegende Ausarbeitung folgende Fragen zu beantworten: Was ist in der bisherigen Forschungsliteratur über die Sträflingsarbeit in Ostdeutschland bekannt? Wie war bzw. ist die öffentliche Wahrnehmung des Themas? Welche politischen Initiativen gab oder gibt es dazu? 2. Ein kurzer Rückblick vorab: Die Debatte über den Strafvollzug in der Geschichte Bestrafung devianten Verhaltens gibt es seit den frühen Hochkulturen der Menschheit. Sie ist damit so alt wie die Staatswerdung selbst. Die Diskussion über Wesen, Ziel und Ausgestaltung des justiziellen Apparats zur Sanktionierung devianten Verhaltens ist jedoch relativ jungen Datums. Sie wird im Grunde erst seit der Epoche der Aufklärung geführt und ist 1 Vgl. hierzu Kellerhoff, kompletter Artikel vom 30.11.2012 (genaue Angaben im Literaturverzeichnis). 2 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 5 dem aufkommenden Glauben an die gute Natur des Menschen (Rousseau) bzw. seine prinzipielle Form- und Erziehbarkeit durch staatliches Eingreifen (Pestalozzi) geschuldet. Francis Hutcheson, Cesare Beccaria, Jeremy Bentham und andere Denker des 18. Jahrhunderts hatten sich mit Reformvorschlägen auf dem Justizsektor an die damaligen Machthaber , Kaiser, Könige, Fürsten, gewandt und versucht, humanitäre und erzieherische Aspekte in das bis dahin rein vom Revanche- und Abschreckungsgedanken geprägte Korpus der Strafgesetze einzubringen. Unter dem Einfluss dieser Philosophen und Rechtspraktiker galt das Strafrecht nach 1750 zunehmend als „test of the character of every state“3, und je fortschrittlicher ein Staat zu sein oder zu erscheinen wünschte, desto mehr Sorgfalt musste er fortan auf eine menschlichere Ausgestaltung seines Justizwesens verwenden. So verlangte es Bentham, der als „Isaac Newton der Rechtswissenschaft“ gefeiert wurde, und bedeutende Strafrechtsreformen aus dem Geiste der Vernunft einleitete. Im Zentrum dieser Reformüberlungen standen die Gefängnisse. Die Verwahranstalten von Rechtsbrechern, größtenteils noch auf dem Stand mittelalterlicher Verliese ohne hygienische Mindeststandards, wurden in der Aufklärungsepoche erstmals einer systematischen Untersuchung unterzogen. Benthams Freund John Howard unternahm dazu in den 1770er Jahren eine Forschungsreise durch ganz Europa und publizierte seine detailreichen Beobachtungen 1780 in einer viel beachteten Schrift über das Gefängniswesen auf dem Kontinent . Sie ist als der Beginn jenes bis heute anhaltenden Stromes von Publikationen anzusehen , die sich mit Aspekten humanitären Strafvollzugs befassen und pädagogische Ergänzungen seiner im Kern weiterhin poenitenzialen Motivation enthalten. Howards Ergebnis war, und das mag vor dem Hintergrund des kürzlich zu Ende gegangenen Fridericus-Jahres nicht uninteressant sein, dass das erste und zunächst einzige Land, das den „test of character“ dieses neuen Justizverständnisses bestand, Preußen gewesen ist. Der Staat Friedrichs des Großen (1712-1786) hatte nach Howard das modernste und humanitäre Belange am stärksten berücksichtigende Gefängniswesen der Zeit. Er erschien als Ort, an dem sogar für Häftlinge das „größte Glück der größten Zahl“ verwirklicht sei, wie Benthams utilitaristisches Kriterium für die Beurteilung der Qualität einer Staatsordnung bzw. ihrer einzelnen Einrichtungen lautete.4 Diesem Urteil schlossen sich die meisten Zeitgenossen an. Sie hielten Preußen wegen seines Justizwesens und des hier verwirklichten Grundsatzes einer Gleichheit aller vor dem Gesetz für ein Vorbild an Fortschrittlichkeit und Liberalität. Dies taten in den 1780er Jahren sogar Großbritannien und die USA, also jene Länder, die später selbst zur Richtschnur für Modernität im westlichen Sinne wurden. Damals galt ihre Bewunderung Preußen und reichte soweit, dass führende Staatsmänner auf beiden Seiten des Atlantiks eindringlich die Übernahme preußischer Standards im eigenen Land verlangten. Der britische Politiker und liberale Vordenker Edmund Burke etwa forderte 1780 in einer historischen Unterhaus-Debatte dezidiert, „to imitate the King of Prussia.“ Und auch ein speziell eingerichtetes „Select Committee“ des Parlaments in London, das Vorschläge zur Strafrechtsreform erarbeiten 3 Zit. nach: Schütterle, S.265. 4 Vgl. dazu grundsätzlich ebd., S.257-270 und 336-342. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 6 sollte, erklärte 1782 auf der Basis der Erkenntnisse Howards den Staat Friedrichs des Großen zum nachahmenswerten Vorbild.5 Insofern lässt sich konstatieren, dass die damals europaweit zunehmende Verpflichtung auf humanitäre Organisationsprinzipien bei Einrichtung und Betrieb von Haftanstalten in letzter Konsequenz „preußische“ Wurzeln hatte. Dies bestätigt in einem wichtigen Teilaspekt das Urteil eines aktuellen Geschichtswerkes aus britischer Feder über den „deutschen Genius“ von Bach bis Benedikt XVI. Dieser „Genius “ mit seiner wissenschaftlich-philanthropischen Ausrichtung sei, so der Autor Peter Watson, im 18. Jahrhundert zuerst und vor allem im Staat Friedrichs des Großen manifest gewesen6 und Intellektuelle dieser Zeit hätten damals sogar „die Revolutionen in Amerika und Frankreich schlicht und ergreifend als die Versuche von Nachzüglern betrachtet[], zu Preußen aufzuschließen.“7 3. Praxis und Prinzipien der DDR-Häftlingsarbeit (1949-1989) Dies leitet über zur Situation in der DDR, dessen Gefängnissystem selbst immer wieder als „preußisch“ bezeichnet, also in die Tradition der Hohenzollernmacht gestellt wird. Dass dies jedoch durchaus unzutreffend ist und in Ostdeutschland, anders als beim Staat des „Alten Fritz“, zu keinem Zeitpunkt von Vorbildhaftigkeit gesprochen werden konnte, ergibt sich aus den vorliegenden Studien zum DDR-Häftlingssystem. Die aktuellsten Abhandlungen sind in den letzten beiden Jahren publiziert worden und bezeugen eine lebendige Beschäftigung mit dem Thema schon vor der IKEA-Enthüllung. Gemeinsam ist diesen neueren Studien die internationale Ausrichtung und der historisierende Ansatz. Die Verhältnisse in der DDR werden nicht mehr wie noch unmittelbar nach dem Mauerfall für sich betrachtet, sondern mit den Standards anderer Zeiten und anderer Länder verglichen. So verweist etwa Marcus Sonntag, der mehrere Studien zum Thema vorgelegt und 2011 über die Haftarbeitslager der DDR seine Doktorarbeit geschrieben hat, auf gängige Mängel vieler Gefängnissysteme, auch des bundesdeutschen, um eine vorschnelle und einseitige Verurteilung der Zustände im untergangenen Staat Ostdeutschlands zu verhindern .8 5 Vgl. ebd., S.271. 6 Vgl. Watson, S.59-81. 7 Ebd., S.81. Watson bezieht dieses Urteil a.a.O. zwar nur auf die deutschen Intellektuellen im späten 18. Jahrhundert, charakterisiert damit aber auch treffend ihre angelsächsischen Pendants, wie aus dem Subtext seiner Studie hervorgeht und in der Doktorarbeit des Verfassers ausführlich gezeigt wird. Vgl. Schütterle, S.107-139 sowie insbesondere Kapitel 3 Borussia Triumphans. Der Gipfelpunkt der britischen Wertschätzung für das „Modell“ Preußen, S.239-344. 8 „In dieser Studie wird folglich versucht, Strafvollzug in der DDR nicht nur von 1945 bis 1990 zu begreifen und zu denken, sondern ihn stets an die deutsche und internationale (Strafvollzugs-)Geschichte rückzubinden, um vorschnelle Urteile und/oder Verurteilungen zu vermeiden. Dabei geht es mitnichten um eine Ehrenrettung des ´sozialistischen´ Strafvollzuges. Aber die beschriebene Arbeitsweise bewahrt doch davor, das Gefängniswesen der DDR für Regelungen zu richten, die es gar nicht selbst hervorbrachte , sondern die begründet waren in der deutschen Strafvollzugsgeschichte oder die international üblich waren.“ Sonntag, Arbeitslager, S.10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 7 Trotz dieser von Wissenschaftsseite eingeforderten und für einen Erkenntnisfortschritt auch notwendigen Relativierung der Facetten des „real existierenden Sozialismus“ bleibt jedoch in der Gesamtbilanz festzuhalten: Auch nach neuesten Erkenntnissen war die DDR anders als die Länder des Westens keine Demokratie mit kritischer Öffentlichkeit, deren Existenz etwaige Mängel im Staatsapparat hätte thematisieren und dazu beitragen können, sie abzustellen . In der DDR hielten sich Mängel hartnäckig, da kritische Reflexion ausblieb, ja gezielt verhindert wurde. Mehr noch als dieses Demokratiedefizit ist die nicht vorhandene Rechtsstaatlichkeit in Ostdeutschland ein nicht zu relativierender, eklatanter Unterschied zu den liberalen Standards im Westen (und zu Preußen) und setzt der Historisierung der DDR-Diktatur enge Grenzen. Die von der Bundesstiftung Aufarbeitung aktuell beklagte Tendenz zur Verharmlosung des Unrechts im SED-Staat, die seit geraumer Zeit in Teilen der Medien festzustellen sei9, ist daher nach dem Stand der Forschung nicht zu rechtfertigen. Auch nach dem Urteil neuester Beiträge war die Justiz im Osten während der gesamten Existenz der DDR Instrument zur Herrschaftssicherung und damit Ausweis des diktatorischen Machtanspruchs der kommunistischen Parteiführung.10 Recht war, was der Partei nützte. Schon deswegen hält der sozialistische Staat in Ostdeutschland auch im differenzierenden Rückblick dem „test of character“ im Bentham´schen Sinne nicht stand und bleibt als menschenverachtende Diktatur mit totalitärem Anspruch einzustufen. Insbesondere das DDR-Gefängniswesen zeichnete sich durch alltägliche „Ungeheuerlichkeiten “11 aus, die im Westen keine Entsprechung fanden (und finden). Diese gravierenden Mängel im Strafvollzug werden von der Forschung akribisch festgestellt und lassen sich unter folgenden vier Aspekten zusammenfassen: - Verstoß gegen internationale Standards beim Häftlingsschutz - Systematische Ausbeutung der Arbeitskraft - Totalitäre Erziehungsmethoden und Schikane von Andersdenkenden - Permanente Willkür und Missachtung eigener Gesetze 9 So die Aussage der Veranstalter der Podiumsdiskussion „Wir wollen freie Menschen sein“ vom 29. Januar 2013 im Bundesministerium der Finanzen. Um solchen Tendenzen entgegenzutreten, forderten die als Diskutanten anwesenden Wolf Biermann, Rainer Eppelmann und Richard Schröder eine stärkere Rückbesinnung auf die Verbrechen der DDR-Zeit und sprachen sich für die Wiedereinführung eines nationalen Gedenktages am 17. Juni aus. Vgl. dazu den Live-Stream zur Veranstaltung (Deutschlandradio) bzw. den Veranstaltungsbericht auf der Homepage des Mitveranstalters „Bundestiftung-Aufarbeitung“, http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/veranstaltungen-2013-3987.html?id=2005 (letzter Aufruf am 12.02.2013). 10 Vgl. dazu ausführlich die Arbeit von Timmermann, Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument , passim. 11 Sonntag, Arbeitslager, S.360. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 8 3.1. Verstoß gegen internationale Standards beim Häftlingsschutz Die Heranziehung von Sträflingen zu körperlicher Arbeit ist international üblich.12 Nach einer Entscheidung der International Labour Organisation (ILO), einer Behörde der Vereinten Nationen, darf sie nicht per se als Zwangsarbeit bezeichnet werden. Dennoch kann, ja muss der Arbeitseinsatz von Gefangenen in der DDR gleichwohl mit dieser Vokabel belegt werden .13 Dies hat unter anderem mit dem zentralen Einsatzgebiet der Arbeits-Häftlinge in Ostdeutschland zu tun, dem Bergbau. Laut ILO ist die Beschäftigung Strafgefangener unter Tage strikt verboten. Die Risiken für die Gesundheit der als ungelernte Hilfskräfte ohne hinreichende Sicherheitsausbildung einzustufenden Strafgefangenen werden im Bergbau als zu groß und nicht verantwortbar eingeschätzt. Diese humanitär begründete Bestimmung ignorierte die DDR jedoch von Anfang an.14 Aus schierem ökonomischem Zwang „legte man schon Ende der 1940er-Jahre in der Nähe von wichtigen Großbetrieben Haftlager als Außenstellen von Strafvollzugsanstalten an, die unter wechselnder Bezeichnung teilweise bis zum Ende der DDR Bestand haben sollten.“15 Die Insassen der zunächst Haftarbeitslager (HAL), später Strafvollzugskommandos genannten eigenständigen Justizeinrichtungen16 waren vor allem in Wirtschaftszweigen mit riskanten Arbeitsbedingungen eingesetzt, für die es nicht genug reguläre Arbeitskräfte gab17, zum größten Teil im besonders unfallgefährdeten Bergbau.18 So waren etwa bereits zu Beginn der 1950er Jahre, als in Ostdeutschland eine eigene Behörde zur Organisation der Haftarbeit eingerichtet und dem Ministerium des Innern (MdI) unterstellt wurde19, 5.000 Gefangene in den Stollen Sachsens im Einsatz, zur Uranförderung in Aue, in den Steinkohleschächten bei Zwickau und Oelsnitz, im Kupferbergbau im Mansfelder Revier, zur Errichtung des Kernreaktors Rossendorf bei Dresden etc.20 Dies entsprach etwa einem Drittel der damals insgesamt zum Arbeitseinsatz gebrachten Gefängnisinsassen.21 Ende 1964 kam die Verwaltung Strafvollzug (SV) des MdI im Zuge einer größeren Umstrukturierung der „Vollzugslandschaft“ zwar selbst zu dem Schluss, dass der Untertageeinsatz 12 Sonntag, Arbeitslager, S.7. 13 Vgl. etwa Vesting, S.104 oder Heitmann/Sonntag, S.452. 14 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.357. 15 Heitmann/Sonntag, S.453/454. 16 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.131 und Finn/Fricke, S.76-78. 17 Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.293. 18 Vgl. Heitmann/Sonntag, S.454 und Sonntag, Arbeitslager, S.135. 19 Die Behörde hieß zunächst Hauptabteilung Strafvollzug, später Verwaltung Strafvollzug. Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.269 und Sonntag, Orte, S.210/211. 20 Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.263/264. 21 Vgl. Heitmann/Sonntag, S.456. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 9 der Gefangenen kaum kontrollierbar und sicherheitsmäßig unbefriedigend sei. Doch obwohl allen Verantwortlichen klar war, dass „die Tauglichkeitsanforderungen des Bergbaus von Strafgefangenen nur selten zu erfüllen“22 waren, änderte sich in der Praxis auch in den folgenden Jahrzehnten nichts. Noch in der letzten von DDR-Behörden angefertigten Übersicht der Verwendung von Strafgefangenen im Arbeitseinsatz wurde deutlich, dass bis zum Ende der SED-Diktatur die Bereiche Bergbau und sonstige Branchen mit ähnlich hohen Gesundheitsrisiken (chemische Industrie, Anlagenbau etc.) als Einsatzgebiete für die Häftlinge dominierten. Der Verstoß gegen UNO-Standards war also trotz Aufnahme der DDR in die Völkergemeinschaft 1973 und damit verbundener Selbstverpflichtung auf deren Menschenrechtsbestimmungen permanent geworden. Die folgende Statistik listet Branchen und Zahlen der eingesetzten Strafgefangen auf und bezieht sich auf den Stichtag 30.06.1987:23 Elektrotechnik und Elektronik 4.314 Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau 2.715 Kohle und Energie 1.814 Erzbergbau, Metallurgie und Kali 1.988 Schwermaschinen- und Anlagenbau 1.380 Chemische Industrie 1.538 Leichtindustrie 1.407 Übrige Bereiche 2.249 Angesichts der vorwiegend riskanten Einsatzgebiete verwundert es nicht, dass die Zahl der Arbeitsunfälle bei Häftlingsarbeitern exorbitant hoch war. Sonntag schreibt mit Blick auf den DDR-Bergbau: „Gesicherte Zahlen in differenzierter Form liegen erst für das Jahr 1963 vor. Damals gab es 640 Unfälle von durchschnittlich 757 ´Zivilarbeitern´ und 229 von durchschnittlich 171 Haftarbeitern – unter Tage, wohlgemerkt. Auf 100 Beschäftigte bedeutete dies 1963 eine Gesamtunfallzahl von 84,5 bei den ´Zivilarbeitern´ und sogar von 133,9 bei den Haftarbeitern. Daraus folgt aber, dass noch 1963 jeder Haftarbeiter mehrmals im Jahr bei der Arbeit unter Tage wenigstens leichte Verletzungen erlitt. Und bei den schwereren , meldepflichtigen Unfällen sahen die Verhältnisse nicht besser aus. Hier kamen auf 100 22 Heitmann/Sonntag, S.454. 23 Zahlen nach: Schmidt, Zwangsarbeit, S.290, ähnliche Werte auch bei Timmermann, S.138. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 10 ´Zivilisten´ 5,3 Unfälle, wohingegen die Haftarbeiter eine Unfallquote von 22,8 auf 100 vorwiesen.“24 Dies bedeutet, dass jeder fünfte im Bergbau eingesetzte Sträfling schwere bis schwerste Verletzungen erlitt, die häufig zu dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zu völliger Arbeitsunfähigkeit führten. Eine weitere Besonderheit des DDR-Häftlingseinsatzes, der es aus Forschersicht unausweichlich macht, von Zwangsarbeit zu sprechen, ist die soldatische Organisation der Gefangenenlager . Auch sie war weit entfernt vom international Üblichen und brachte einen unnötig Kommiss-haften Zug in das Gefängniswesen, der humanitären Aspekten entgegenstand . Bei Sonntag heißt es dazu: „Die Militarisierung des Strafvollzuges der DDR lässt sich besonders in der Regulierung der Umgangsformen innerhalb des Lagers nachvollziehen. Die Angehörigen des Vollzugsdienstes waren mit ´Herr´ und ´Dienstgrad´ anzusprechen sowie durch das Einnehmen einer straffen Haltung mit Blickwendung zu grüßen. Wenn der Gefangene in diesem Moment eine Kopfbedeckung trug, dann hatte er diese abzunehmen und die ´Mützenöffnung nach aussen, seitlich der rechten Oberschenkel, zu halten´. […], derart kleinliche Bestimmungen hatten den Nebeneffekt, dass disziplinarische Maßnahmen bereits aufgrund geringster Fehlhandlungen wie dem falschen Grüßen eines SV-Angehörigen möglich wurden. Dies wiederum schuf Raum für Willkür und Schikane.“25 Heitmann, der darauf verweist, dass neben Strafgefangenen auch Schüler und Studenten sowie Angehörige von Volkspolizei und Volksarmee (sog. „Bausoldaten“) einer Arbeitspflicht schikanösen Ausmaßes unterlagen, zieht folgende Bilanz zum Thema DDR-Zwangsarbeit : „Wenngleich der Terminus ´Zwangsarbeit´ eher mit Kriegsgefangenen oder gar verschleppten Arbeitssklaven konnotiert ist, so beschreibt er die rechtliche, soziale und materielle Lage der [zum Arbeitseinsatz beorderten] jungen Männer [in der DDR] doch zutreffend. Denn diese leisteten die Arbeit nicht aufgrund freier Berufsentscheidung, sondern wegen einer gesetzlichen Verpflichtung (´Wehrpflicht´) und unterlagen dementsprechend einem Regelwerk, welches sehr viel rigider war als jede Arbeits- oder Disziplinarordnung eines beliebigen Betriebes oder sogar eines Gefängnisses. […] Und zumindest theoretisch drohte in ´besonders schweren Fällen´ der §§ 254, 257 und 25926 [also von Arbeitsverweigerung] sogar die Todesstrafe.“27 24 Sonntag, Arbeitslager, S.272. 25 Ebd., S.178. 26 Diese Paragraphen beziehen sich auf das Strafgesetzbuch der DDR. 27 Heitmann/Sonntag, S.455. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 11 3.2. Systematische Ausbeutung der Arbeitskraft Dass beim Einsatz von Häftlingen humanitäre Aspekte keine Rolle spielten, sondern maximales Gewinndenken Leitprinzip der SED-Führung war28, betont aktuell Karin Schmidt. Die Autorin legte 2011 eine umfassende Studie zur DDR-Zwangsarbeit vor und verweist auf systematische Gleichgültigkeit der ostdeutschen Staatsführung gegen das (Wohl-)Befinden der Gefangenen. Sie schreibt: „Insbesondere der permanente Arbeitskräftemangel setzte den Strafvollzug dem ´Diktat der Ökonomie´ aus, so dass man teilweise so weit gehen muss, von einer Erzeugung von Gefangenen als ´Planziel´ zu sprechen, wobei auch das Devisengeschäft durch den Häftlingsfreikauf einbezogen werden muss. Das Arbeitskräftepotential der Strafgefangenen war eine von der Staatlichen Plankommission fest eingerechnete Größe und wurde dementsprechend zentral bilanziert. Es verwundert daher nicht, dass z.B. Krankschreibungen im Strafvollzug Seltenheitswert besaßen, wären sie doch der Produktion und dem Gewinn von Devisen abträglich gewesen.“29 Auch andere Forscher bestätigen Schmidts Befund einer strikten Unterwerfung der eingesetzten Arbeitskräfte unter ökonomische Sachzwänge. Sonntag etwa schreibt, dass es für den Strafvollzug wie für den Betrieb, der die Häftlinge in quasi eigener Regie beschäftigte, eigentlich nur eine Zielstellung gegeben habe: „Steigerung der Arbeitsproduktivität und Erhöhung des Umsatzes zwecks Kostendeckung und Gewinnmaximierung.“30 Den Gefangenen wurden daher regelmäßig „schwere, monotone Tätigkeiten bei weit überhöhten Arbeitsnormen “31 zugemutet, wobei die Produktionsbedingungen so gestaltet gewesen seien, dass „schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen wie chronischer Husten, Verätzungen (durch giftige Emissionen) und Hautentzündungen häufig“32 waren. In einem zeitgenössischen Bericht hieß es: „Auch Kranke werden zur Arbeit gezwungen. Arbeitsunfälle durch weitgehende Nichtbeachtung der gesetzlichen Arbeitsschutzbedingungen sind keine Seltenheit .“33 Solche laut SED-Propaganda eigentlich dem „Raubtierkapitalismus“ zugeschriebenen Verhaltensweisen einer systematischen Ausbeutung der Arbeitskraft waren somit integraler Bestandteil der eigenen Staatswirtschaft über die gesamten 40 Jahre der DDR-Existenz hinweg . Sie werden als einer der deutlichsten Belege für das angesehen, was Zeitzeugen und Betroffene als Inhumanität und „Verlogenheit“ (Wolf Biermann) des SED-Regimes beschreiben .34 Was dem Westen vorgeworfen wurde, praktizierte der Osten offensichtlich 28 Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.268. 29 Ebd. 30 Sonntag, Arbeitslager, S.265. 31 Lieser/Bonikowski, S.7. 32 Ebd. 33 Ebd., S.7/8. 34 So Wolf Biermann jüngst in einer Veranstaltung der Bundestiftung Aufarbeitung im Bundesministerium der Finanzen (29.01.2013). Nähere Informationen dazu finden sich auf der Homepage des Deutschlandfunks, der Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 12 selbst und sogar in weit höherem Ausmaß. „Die Arbeitskraft der Gefangenen wurde letztlich wie eine Ware gehandelt“35, schreibt Sonntag mit Blick auf die DDR und Heitmann ergänzt : „Die Belange der Inhaftierten interessierten zu keiner Zeit.“36 Eine weitere Konsequenz der ökonomischen Notwendigkeit, Strafgefangene in Betrieben einzusetzen, war der bisweilen bewusste Verzicht auf die Möglichkeit vorzeitiger Entlassungen bei guter Führung. Schmidt schreibt: „Gefangene, die in wichtigen Industriezweigen beschäftigt waren, kamen im Vergleich zu den innerhalb der Strafvollzugseinrichtungen eingesetzten Häftlingen seltener in den Genuss von Entlassungen.“37 Insgesamt bildete der Arbeitseinsatz im Strafvollzug, der schnellstmöglich nach der Verurteilung zu erfolgen hatte38, eine nicht zu vernachlässigende Größe im Rahmen der Planerfüllung. Dazu Schmidt: „War diese nicht gewährleistet, hatten die Strafgefangenen oftmals Überstunden und Sonderschichten zu erbringen. ´[…] der Plan war Gesetz, und wenn der nicht erfüllt war, dann war im Knast alles möglich, auch Zwang, Essensentzug .´“39 Diese seit den fünfziger Jahren gängige Situation verschärfte sich im Laufe der Zeit, und in den 80ern bildeten Haftarbeiter einen Hauptbestandteil wirtschaftlicher Planungen der DDR.40 „Strafgefangenen in der DDR, ob zu Recht oder zu Unrecht verurteilt, wurden kaum bezahlte Arbeitsleistungen unter z.T. schwierigsten bis unmenschlichen Bedingungen abverlangt “ 41, schreibt Schmidt und verweist darauf, dass zur unzureichenden Entlohnung noch die Schikane trat, dass „den Häftlingen zu allen Zeiten ein Großteil des durch die Arbeitseinsatzbetriebe gezahlten Lohnes für Haftkosten abgezogen wurde“ 42, sie also für den eigenen Unterhalt aufzukommen hatten: „Das Ministerium des Innern musste darauf bedacht sein, durch den Einsatz der Strafgefangenen zur Arbeit die Kosten des Strafvollzuges die Veranstaltung als Radio-Sendung übertrug, unter der Bezeichnung „Ausstellungseröffnung: ´Wir wollen freie Menschen sein! Der DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953“. 35 Sonntag, Arbeitslager, S.264. 36 Heitmann/Sonntag, S.456. 37 Schmidt, Zwangsarbeit, S.264. 38 Vgl. ebd., S.285. 39 Ebd., S.285. 40 Vgl. ebd., S.294/295. 41 Ebd. 42 Ebd., S.291. Hier finden sich auch Kostenaufstellungen und Leistungsbilanzen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 13 niedrig zu halten und war schon aus diesem Grunde bestrebt, sich die Arbeitskraft der Häftlinge im größtmöglichen Umfang zu Nutze zu machen.“ 43 Zu den Orten und zum Volumen des Arbeitseinsatzes von Häftlingen gibt es präzise Angaben : Jürgen Schmidt-Pohl listet alle Volkseigenen Betriebe der DDR auf, die Arbeitsabteilungen im DDR-Strafvollzug unterhielten44, und Karin Schmidt nennt Zahlen der hier eingesetzten Gefangenen. Demnach waren von 1950 bis 1989 stets zwischen 15.000 und 30.000 Sträflinge im Arbeitseinsatz.45 Dies entsprach einer durchschnittlichen Einsatzquote von über 80 % aller Häftlinge46, die nach dem Willen der Staatsführung mit allen Mitteln auf 100 %, also zu einem Totaleinsatz gebracht werden sollte.47 Dadurch sah sich die DDR im Stande, einen gewissen wirtschaftlichen Standard zu erreichen, der ohne die Häftlingsarbeit nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere Prestigebauten der DDR konnten nur durch die Mobilisierung der Gefangenen errichtet werden, stellen also (zum Teil noch heute existente) bauliche Zeugen für das Zwangsarbeitssystem im Osten dar. Zu den Bauwerken, die mit Hilfe von Strafgefangenen (und Bausoldaten) errichtet wurden, gehörten etwa der Palast der Republik oder die Erweiterung der Charité.48 Der Einsatz von Haftarbeitern wirkte sich immer stärker auf die Warenproduktion der DDR und damit auf die Versorgung der Bevölkerung aus, was laut Heitmann den Trend zum Ge- 43 Schmidt, Zwangsarbeit, S.291. Vgl. auch Sonntag, Arbeitslager, S.128/129, der bestätigend schreibt: „Sowohl die Betriebe als auch die Strafvollzugsverwaltung hatten erkannt, dass die Gefangenen billige Arbeitskräfte waren, deren Unterbringung in von den Betrieben finanzierten Lagern den Haushalt des Gefängniswesens stark schonte.“ 44 Vgl. Schmidt-Pohl, S.197/198. 45 Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.288. 46 Vgl. ebd., S.265. Hier wird bereits für 1959 eine Quote von 86,4 % im Arbeitseinsatz befindlicher Häftlinge feststellt. Diesen Befund bestätigt Heitmann, der schreibt: „Auch in der Braunkohleindustrie – dem wichtigsten Energielieferanten der DDR – wurden seit Anfang der 1960er-Jahre neben Soldaten und Polizisten in großer Zahl Strafgefangene eingesetzt. Seit 1961 gab es in Regis ein Arbeitserziehungskommando (AEK) für ´Asoziale´ und ´Arbeitsscheue´, welches seit 1975 als ´Strafvollzugseinrichtung´ (StVE) firmierte und wo bis 1989/90 rund 1000 Häftlinge eingesperrt waren (in Spitzenzeiten war die Anstalt sogar mit bis zu 2000 Inhaftierten belegt). Die meisten dieser Häftlinge schufteten in den Braunkohlebetrieben. Ende der 80er-Jahre waren 85 Prozent der Strafgefangenen in den Braunkohlekombinaten Bitterfeld, Regis und Borna zur Instandhaltung der Gleisanlagen sowie zu Entwässerungsarbeiten und zum Bau von Anlagen und Gebäuden eingesetzt.“ Heitmann/Sonntag, S.454. 47 Vgl. Heitmann/Sonntag, S.457, wo es heißt: „Anfang 1986 zählte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) rund 28500 Strafgefangene in der DDR. Von den arbeitsfähigen Erwachsenen dieser Gruppe waren 18834 in der Volkswirtschaft eingesetzt. Sinkende Häftlingszahlen hatten bereits zu Problemen in einigen Wirtschaftsbereichen geführt, weshalb SPK und MdI überein gekommen waren, vor allem in den Arbeitseinsatzbetrieben (AEB) MZ Zschopau, Robur Zittau, KfZ-Zubehör Meißen, Renak Reichenbach, FAJAS Suhl und WEFA Altenburg sowie in allen Werften den Arbeitseinsatz Strafgefangener möglichst zu 100 Prozent sicherzustellen. Weibliche Strafgefangene fehlten den AEB Rewatex Berlin, Wäscheunion Elsterberg und Schuhfabrik Weißenfels.“ 48 Ebd., S.452. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 14 fangeneneinsatz weiter verstärkte: „Speziell vor Versorgungsengpässen bekamen die ´Leitungskader´ des SED-Staates mit der Zeit immer größere Angst. Die Ruhigstellung der Bevölkerung durch konsum- und sozialpolitische Maßnahmen genoss in der Ära Honecker Priorität. Dazu musste auch der Strafvollzug seinen Beitrag leisten, weshalb der Arbeitseinsatz Strafgefangener letzten Endes die Parteidiktatur politisch und wirtschaftlich stabilisierte .“49 Gegen Ende ihrer Existenz versuchte die DDR nicht zufällig mit wachsender Rücksichtslosigkeit , Engpässen beim Arbeitskräfteeinsatz abzuhelfen. Schmidt schreibt, den Häftlingen seien mehr denn je „schwere, monotone Tätigkeiten abverlangt [worden], die oft mit Gesundheitsgefahren verbunden waren. Oberstes Gebot war die Erfüllung der Arbeitsnormen .“50 Der „Ausbeutung der Arbeitskraft“ wurde dadurch gezielt Vorschub geleistet.51 „Verhaftete, für die keine Arbeitspflicht bestand, sollten in den Arbeitsprozess einbezogen, die zentrale Einweisung Strafgefangener aus den Untersuchungshaftanstalten in die Strafvollzugseinrichtungen beschleunigt sowie Strafgefangene bereits während des Aufnahmeverfahrens in der Haftanstalt in den Betrieben zum Einsatz gebracht werden. Entsprechendes galt hinsichtlich des Arbeitseinsatzes gemindert tauglicher Gefangener, d.h. Personen, die aufgrund körperlicher oder geistiger Defizite nicht unbeschränkt einsatzfähig waren. Für sie wollte man verstärkt Einsatzmöglichkeiten schaffen, um das gesellschaftliche Arbeitsvermögen auch auf diese Weise voll auszuschöpfen.“ 52 Besonders rigide war die Praxis der Häftlingsrekrutierung im Bergbau, also jenem von der UNO an sich strikt verbotenen Einsatzgebiet für Strafgefangene. Karin Schmidt geht ausführlich auf diese Branche ein und zeigt, dass hier Arbeitskräfte in besonderer Weise Mittel zum Zweck der Produktionssteigerung waren und humanitäre Belange noch weniger eine Rolle spielten als anderswo: „War ein Strafgefangener körperlich in der Lage, im Bergbau zu arbeiten, stufte man ihn in die Tauglichkeitsstufe I ein, was ihn zum Bergmann befähigte . Solche Gefangene sollten dann immer im Bergbau eingesetzt werden. Dabei waren die Kriterien für diese Einstufung offenbar alles andere als unumstritten. Viele Ärzte, insbesondere die Vertragsärzte, vertraten ganz unterschiedliche Auffassungen von Bergbautauglichkeit . Daher konnte es passieren, dass auch bergbauuntaugliche Gefangene in den Berg einfahren mussten, ebenso wie dafür taugliche Gefangene nicht davor gefeit waren, schwere Unfälle zu erleiden.“53 Sonntag kommt zu ähnlichen Befunden und verweist darauf, dass trotz dieser rücksichtslosen Auswahlpraxis der Arbeitskräftemangel in Ostdeutschlands Planwirtschaft zu keinem Zeitpunkt behoben werden konnte und mancher Lagerleiter schließlich gezwungen gewesen sei, persönlich in der DDR herumzureisen, „um bergbau- 49 Ebd., S.458. 50 Schmidt, Zwangsarbeit, S.265. 51 Vgl. ebd. 52 Ebd., S.289. 53 Sonntag, Arbeitslager, S.261. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 15 taugliche Gefangene für sein Lager zu ´beschaffen´“54, was an das „Shanghaien“ von Seeleuten in vordemokratischer Zeit erinnert. Dass der volkswirtschaftliche Nutzen des Gefangeneneinsatzes trotz dieser Rücksichtslosigkeit in allen Branchen eher gering ausfiel und bei etwa 0,5 % des offiziellen gesellschaftlichen Gesamtprodukts lag55, hing mit der generellen Ineffizienz der Planwirtschaft zusammen und mindert aus Sicht der Forschung keineswegs den ausbeuterischen Charakter der Zwangsarbeit als solcher.56 Schmidt stellt im Gegenteil fest, die Bedeutung der Gefangenenarbeit in der DDR habe für die Staatsführung gerade in der „zweck- und zeitbestimmten Ausnutzung der Arbeitskraft für terminierte oder gefährliche Arbeiten“57 bestanden , „die Zivilarbeitern nicht zugemutet werden konnten“ 58, also in Überlegungen offen inhumanen Charakters auf der Basis vermeintlicher Wertunterschiede von Menschen innerhalb und außerhalb des Gefängnisbetriebes. „So überließ man bspw. beim VEB Sprelacart Spremberg die Bearbeitung von Kunststoffteilen, bei der die Luft von giftigem Staub angefüllt wurde, den etwa 450-500 Cottbusser Häftlingen.“59 Eine gängige Rechtfertigung für dieses offen zynische Selektionsverhalten lautete: „Das sind ja nur Strafgefangene.“60 Unmenschlich war auch die aus allen Forschungsarbeiten hervorgehende Vernachlässigung der Gefängnisinsassen im Hinblick auf ihre Bedürfnisse des Alltags. Unzureichende sanitäre Einrichtungen, häufig defekte Toiletten, schlechte medizinische Versorgung und schlechte Verpflegung waren verbreitete Missstände in DDR-Strafanstalten.61 Dies bestätigt nachträglich entsprechende Aussagen von Ost-Flüchtlingen aus den 80er Jahren, auf die sich eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages von 1987 stützte und folgende Schilderung bot: „Die hygienischen Verhältnisse in den Haftanstalten sind unzureichend, die Ernährung [ist] minderwertig und teilweise ungenießbar (Maden in Essen , verschimmelte Wurst). In der Folge davon werden […] Mangelerscheinungen festgestellt wie Haarausfall und Zahnverluste sowie ein hoher Krankenstand. Bei vielen Strafgefangenen liegt nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Haftunfähigkeit vor. Die medizinische Betreuung der Strafgefangenen ist als unzureichend einzustufen. Kranke werden 54 Ebd., S.251. 55 Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.267 und S.293. Hier werden Werte zwischen 0,2 % und 1 % für die Gesamtdauer der staatlichen Existenz der DDR angegeben und als Durchschnittswert die genannten 0,5 % festgestellt. 56 Vgl. Vesting, S.104. 57 Schmidt, Zwangsarbeit, S.293. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Vgl. dazu Vesting, S.90-104, der diese Aussage im Titel seines Aufsatzes von 2004 zitiert und anhand zahlreicher Beispiele belegt, dass Sträflinge in der DDR als Menschen zweiter Klasse betrachtet wurden. 61 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.195 und S.370. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 16 durchweg als Simulanten62 oder falsch behandelt. Beispiel: Einem unter Bluthochdruck leidenden Häftling wurde ein lebensgefährliches Hypertonikum verabreicht.“63 Ein weiteres Beispiel für den inhumanen Charakter der Häftlingsarbeit im Osten ist die bis zum Ende der DDR gängige Praxis, bei unfallbedingten Störungen im Produktionsablauf die Strafgefangenen dafür bezahlen zu lassen. Statt die offensichtlich auf mangelnde Vorbereitung der Arbeitskräfte zurückgehenden Probleme als systemimmanent zu erkennen und den Mängeln der Planwirtschaft anzulasten64, wurden die Häftlinge als Schuldige ausgemacht .65 Man bezichtigte sie pauschal der Sabotage66 und stellte ihnen den Produktionsausfall in Rechnung. Dazu Sonntag: „Für beim Arbeitseinsatz entstandene Schäden war der Strafgefangene selbst verantwortlich. […] Schäden an Schrappern, ´Auffahrunfälle´ der Loren und dadurch bedingter Produktionsausfall, Kabelbeschädigungen und Ähnliches sind nur die gängigsten Beispiele für ´Verfehlungen´ Strafgefangener am Arbeitsplatz, für die das Werk die Haftarbeiter in Regress zu nehmen gedachte. Manchmal wurde zu den Ermittlungen im Zusammenhang mit Vorkommnissen am Arbeitsplatz auch der ´Kollege H. vom MfS´ hinzugezogen. Dieser hatte weiter gehende Möglichkeiten, Störungen am Arbeitsplatz nachzuspüren.“67 Auf der Basis der genannten und weiterer Beispiele konstatiert die Forschung, dass das Gefängniswesen der DDR „praktisch permanent gegen internationale Abmachungen verstoßen “ habe. Heitmann schreibt: „Militarisierter Arbeitsvollzug, marode Haftanstalten, schlechte Verpflegung, mangelhafte medizinische Versorgung waren bis zum Ende der DDR Kennzeichen des ostdeutschen Vollzugswesens.“68 Zwar habe es auch beim „Großen Bruder “ Sowjetunion ähnliche Erscheinungen gegeben. Dennoch „war der immense Einsatz von Strafgefangenen und Soldaten an besonders gefährlichen und unliebsamen Arbeitsplät- 62 Erkrankte Gefangene pauschal als Simulanten zu betrachten war offensichtlich die Regel in DDR-Haftlagern . Dies bestätigt 2004 Vesting, S.104. 63 Lieser/Bonikowski, S.9. 64 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.274ff. 65 Vgl. Vesting, S.103, der auf einen Todesfall im Chemiekombinat Bitterfeld verweist und mit Blick auf den umgekommenen Zwangsarbeiter schreibt: „Anstatt nach einem solchen Ereignis die Arbeitsbedingungen gründlichst zu überdenken, machte man den verstorbenen Strafgefangenen selbst und dessen sorglosen Umgang mit Quecksilber für seinen Tod verantwortlich und hielt deshalb Veränderungen nicht für notwendig.“ 66 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.121. In Erfahrungsberichten der DDR-Behörden kam „immer wieder zum Ausdruck, dass ein großer Teil der Gefangenen ein undiszipliniertes Verhalten an den Tag legte. Sie waren angeblich frech und zeigten in ihrem ganzen Verhalten eine gewisse Kontrastellung, verweigerten die Arbeit oder provozierten die Bergleute. Renitente oder eigensinnige Handlungen grenzten oft an Sabotage, weshalb der Betrieb in diesen Fällen schwere Strafen beim Lagerleiter einforderte: Einkaufssperre, Entzug der Prämien und Vergünstigungen oder gar Ermittlungen wegen des Verdachts auf Sabotage.“ Ebd. 67 Ebd., S.279. 68 Sonntag, Arbeitslager, S.370. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 17 zen der Volkswirtschaft bis zum Ende der achtziger Jahre international wahrscheinlich die Ausnahme“69, also ein unrühmliches Alleinstellungsmerkmal des SED-Staates. Als besonders beklagenswert wird in diesem Zusammenhang erachtet, dass sich die Verbindung von Zwangsarbeit mit Lagerinhaftierung in der DDR nicht nur über einen so langen Zeitraum gehalten, sondern schon zu Beginn der fünfziger Jahre durchgesetzt hat. Die damals noch frische Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hätte, so die Forschung, eigentlich zu einer grundsätzlich humaneren Vorgehensweise Anlass geben müssen – gerade in einem Staat, der sich als ideologischen Gegenentwurf zum Faschismus verstand. Sonntag dazu: Es „muss verwundern, wie schnell nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und den Greueltaten im nationalsozialistischen Lagersystem gerade im sozialistischen Teil Deutschlands das Lager als Hafteinrichtung wieder Verwendung fand. Arbeitslager waren nahezu von Anfang an ein wichtiger Teil des Strafvollzugssystems in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR, obwohl allein schon der Begriff nach 1945 abschreckende Assoziationen hervorrufen musste. Auch deswegen ist eine detaillierte Untersuchung der Arbeitslager in der DDR lohnend.“70 3.3. Totalitäre Erziehungsmethoden und Schikane von Andersdenkenden Ein weiterer Aspekt der „Ungeheuerlichkeiten“ des DDR-Strafvollzugs ist subtilerer Art und bezieht sich auf den Anspruch der SED, in ihren Haftanstalten „neue Menschen“ zu erziehen.71 Unterstützt von der sog. „Rotlichtbestrahlung“, dem Einsatz von ideologischem Schulungspersonal bei der „Freizeitgestaltung“ im Gefängnis72, sollte die im Vordergrund stehende Zwangsarbeit einen erzieherischen Effekt auf „Arbeitsscheue“ und „Asoziale“ haben , als die die meisten Straftäter eingestuft wurden.73 Erziehung bedeutete dabei Umerziehung, nicht Weiterbildung mit dem Ziel, die Resozialisierungschancen nach der Haftentlassung zu vergrößern. Sinn und Zweck der sozialistischen Pädagogik war Gedankenkontrolle, Charakterformung, hatte also mehr mit Orwell als mit Pestalozzi zu tun, und muss nach den Ergebnissen der aktuellen Forschung als bereits 69 Ebd., S.357. 70 Ebd., S.8. 71 Vgl. Sonntag, Orte, S.208/209. 72 Vgl. ebd., S.214. Diese „Rotlichtbestrahlung“ sollte u.a. „durch ´staatsbürgerliche Erziehung´ der Strafgefangenen in ihrer arbeitsfreien Zeit gewährleistet werden, zu der unter anderem ´wöchentliche Zeitungsschauen zu ausgewählten aktuell-politischen Ereignissen´, ´festgelegte Pflichtsendungen im Fernsehen´, ´Buchlesungen und Diskussionen´ sowie ´Bereitstellung von Presseerzeugnissen und geeigneter Literatur´ und ´individuelle Gespräche mit aktuell-politischem Inhalt´ gehörten.“ Beleites, S.17/18. 73 Vgl. Heitmann/Sonntag, S.454. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 18 im Ansatz totalitär bezeichnet werden.74 Im DDR-Jargon wurde laut Sonntag das Pädagogikziel folgendermaßen beschrieben: „´Erziehung des Strafgefangenen zu einem Menschen mit Kollektivgeist, der in der Lage ist, seine Interessen mit den Interessen der Gesellschaft in Einklang zu bringen und auf die Entwicklung nicht gesellschaftsgemäßer Interessen zu verzichten .´ Unter kommunistischer Erziehung war die ´zielgerichtete, planmäßig organisierte Formung allseitig entwickelter Menschen zu verstehen, die psychischen Reichtum, moralische Reinheit und physische Vollkommenheit in sich vereinen. Höchstes Ziel der kommunistischen Erziehung ist die Erziehung von Menschen, die fähig sind, kommunistisch zu leben und zu arbeiten.´ Diese utopische Zielstellung sollte in den Arbeitslagern der DDR notfalls auch unter Zwang verwirklicht werden.“75 Bei diesem tief in die Persönlichkeit eingreifenden Anspruch, der Individualität als Bedrohung betrachtet und von Opfern der DDR-Justiz als noch bedrückender empfunden wurde als die im obigen Abschnitt beschriebenen physischen Belastungen76, kam der DDR ihr ökonomischer Bedarf an Häftlingsarbeit entgegen, denn: „Harte Arbeit, so die Annahme, diente immer auch der Erziehung. Die Arbeit sollte einen Menschen bessern können. […] Folglich durfte kein Strafgefangener den Arbeitseinsatz verweigern, sein Wille zur Normerfüllung war vielmehr der wichtigste Gradmesser für ernsthafte Besserungs- und Wiedereingliederungsbemühungen .“77 In diesen Kontext des totalitären Erziehungsanspruchs der SED zur Unterfütterung der ökonomischen „Notwendigkeiten“ gehört auch die Übernahme der Verwaltung eines Teiles der Haftanstalten durch das Ministerium für Staatssicherheit. Damit wurde die von dieser Behörde verkörperte Herrschaftsmethode systematischer Überwachung auch auf den Gefängnisbereich übertragen und ein Teil der Sträflinge letztlich einer Spitzel-Ausbildung unterzogen .78 Dabei bediente sich die Stasi als perfide bewerteter Lockmittel, um die Gefangenen für die Tätigkeit des „Abschöpfens“ von Informationen ihrer Mitinsassen gefügig zu machen. So boten die sog. Strafgefangenenarbeitskommandos (SGAK) des MfS, die per Ministererlass am 3. Oktober 1986 erstmals eine rechtliche Grundlage bekamen, erleichterte Haftbedingungen und Verschonung vor dem Arbeitseinsatz in gesundheitsgefährdenden Branchen.79 Johannes Beleites, der bereits 1995 in einem Teilband des MfS-Handbuches ausführlich auf diesen Aspekt einging, schreibt dazu: „In der Regel wurden die Strafgefangenen zu Arbeiten in der Küche, zur Reinigung der Haftanstalt, zu Renovierungs- und Reparaturarbeiten, 74 Vgl. Schmidt, Zwangsarbeit, S.215. 75 Sonntag, Orte, S.209. 76 Vgl. Schmidt-Pohl, passim. 77 Sonntag, Orte, S.210/11. 78 Vgl. Beleites, S.16/17. 79 Vgl. ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 19 mitunter auch zu Arbeiten in kleinen Gärtnereien, in der Bibliothek sowie als Kalfaktoren eingesetzt.“80 Die relative Leichtigkeit dieser Tätigkeiten wirkte sich positiv auf die Rekrutierwilligkeit von Spitzeln aus. Beleites dazu: „Aus Perspektive der Häftlinge bedeutete die Strafverbüßung in den Strafgefangenenarbeitskommandos des MfS meist eine Besserstellung im Vergleich zum normalen Strafvollzug des MdI. Gelegentlich sind Bitten von Häftlingen dokumentiert , möglichst dem MfS-Strafvollzug zugeteilt zu werden. Umgekehrt galt es seitens des MfS als Sanktion, Strafgefangene bei groben Disziplinverstößen wieder in den Strafvollzug des MdI zu verlegen.“81 Nicht zuletzt durch diese Drohung einer „Strafrückversetzung “ in die Zwangsarbeitslager unter der Regie des Ministeriums des Innern fanden sich in der Bilanz, ganz wie es die Stasi erhofft hatte, unter den Strafgefangenen stets genügend kooperationswillige Häftlinge, die, um ihr eigenes Los zu verbessern, „die ausgeprägten konspirativen Bedürfnisse“ 82 des MfS befriedigten.83 Hauptopfer dieser mit Zuckerbrot und Peitsche gefügig gemachten Gefängnisspitzel waren die politischen Gefangenen, also jene Gruppe von Häftlingen, die nicht aufgrund eines kriminellen Delikts im demokratisch-rechtsstaatlichen Sinne einsaßen, sondern aufgrund abweichender Meinungen von der herrschenden Lehre des Marxismus-Leninismus.84 Über diese politischen Gefangenen hieß es in der bereits zitierten Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes von 1987: „Die Bespitzelung durch andere Gefangene ist die Regel.“85 Und auch Karin Schmidt kommt in der historischen Rückschau 2011 zu dem Ergebnis: „Kriminelle Häftlinge wurden […] als Spitzel innerhalb der Anstalt [gegen politische Häftlinge ] eingesetzt.“86 Politische Häftlinge stellen insgesamt eine weitere Besonderheit der DDR dar, die sie von westlich-liberalen Staatsordnungen abgrenzt und dafür jedweder Diktatur linker oder rechter Provenienz als artverwandt an die Seite stellt.87 80 Beleites, S.16/17. 81 Ebd., S.17/18. 82 Ebd. 83 Zum Spitzelsystem in den Gefängnissen vgl. auch den entsprechenden Abschnitt in Finn/Fricke, S.73-75. 84 Eine ausführliche Erörterung des Themas politische Häftlinge bieten Finn/Fricke, S.79-111. Ihre 1981 veröffentlichte Studie ist allerdings nicht aktuell. Sie repräsentiert den damaligen Kenntnisstand, der als quellenmäßig unzureichend zu betrachten ist und nur einen ungefähren Eindruck von den mittlerweile nachgewiesenen Schikanen der Staatsmacht gegenüber den politischen Häftlingen vermittelt. Immerhin sind die Schikanen als solche auch damals schon belegt. 85 Lieser/Bonikowski, S.8. 86 Schmidt, Zwangsarbeit, S.213. 87 Vgl. dazu die zahlreichen Untersuchungen zum Thema „Politische Häftlinge“, die im Literaturverzeichnis aufgelistet sind, z.B. GESIS, S.183-200, Finn/Fricke, Politischer Strafvollzug, passim, Schmidt-Pohl, DDR-Haftzwangsarbeit politischer Gefangener, passim, und Timmermann, passim. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 20 Dazu schreibt Sonntag 2011: „In Diktaturen wie der DDR wurde Devianz sehr viel weiter gefasst, indem zum Beispiel alle politisch Andersdenkenden als kriminelle Abweichler behandelt wurden. In kollektivistischen, staatssozialistischen Systemen schließt sich ein ´Krimineller´ ohne Not vorsätzlich aus der Gesellschaft aus. Er muss folglich dazu gezwungen werden, seine ´Fehler´ zu erkennen und den Weg zurück in die ´sozialistische Menschengemeinschaft ´ zu finden. Dafür durfte er auch entsprechend hart angefasst werden in den zahlreichen staatlichen Erziehungseinrichtungen.“88 „Hart angefasst“ wurden die politischen Gefangenen nach dem Befund der Wissenschaft in der Tat. Alle Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass die in den obigen Abschnitten beschriebenen „Ungeheuerlichkeiten“ gegenüber politischen Strafgefangenen nicht nur ebenfalls , sondern sogar in besonderem Maße begangen wurden und Andersdenkende eine grundsätzlich schlechtere Behandlung erfuhren als die „normalen“ Kriminellen.89 Bereits in der Ausarbeitung des Bundestages von 1987 hieß es dazu: „Über die Praxis des Strafvollzugs in der DDR liegt eine Fülle von Aussagen ehemaliger politischer Häftlinge aus der DDR vor. Sie sind zumeist Teil von Anhörungen, die u.a. vor dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen (1982) stattgefunden haben bzw. von der internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (1984) und der Organisation ´Hilferufe von drüben´ (1986) organisiert wurden. […] Die Anhörungen ergeben, daß der Strafvollzug politischer Häftlinge, obgleich er zusammen mit anderen Strafgefangenen im allgemeinen Vollzug erfolgt, wesentlich härter und unter Verletzung der gesetzlichen Grundlagen durchgeführt wird.“90 So wurden etwa bevorzugt politischen Häftlingen „schwere und gefährliche Arbeiten zugewiesen . Beispiel: Reparatur von ungesicherten Eisenbahnwaggons in liegender Haltung bei Minustemperaturen und gleichzeitigem Funkenflug durch Schweißgeräte.“91 Bereits hart an die Grenze zur Folter reichten die den politischen Häftlingen angetanen Misshandlungen, die von der Forschung nach solchen psychischer und solchen physischer Art unterschieden werden. In der Ausarbeitung von 1987 heißt es zu ersterer Kategorie: „Als das zentrale Charakteristikum der Haftbedingungen ist […] das bei politischen Häftlingen bis ins letzte perfektionierte System psychischer Mißhandlungen und Schikanen anzusehen, das auf psychischgeistige Demoralisierung des Gefangenen in jeder Hinsicht gerichtet ist. Hierzu zählen die gemeinsame Unterbringung von politischen Gefangenen mit kriminellen Schwerstverbrechern bei gleichzeitiger Bevorzugung dieser ebenso wie die Unterbindung persönlicher Kontakte des Häftlings mit seinen Angehörigen. […] Ferner wird durch sogenannte Lichtkontrollen mit kurzen Abständen der Schlaf unterbunden. Bei Nichterfüllung der weit überhöhten Arbeitsnormen werden dem Gefangenen Lohn und Vergünstigungen entzogen, so daß die Versorgung mit dem Nötigsten für den täglichen Bedarf unmöglich wird. Die 88 Sonntag, Arbeitslager, S.9. 89 Vgl. Vesting, S.95. 90 Lieser/Bonikowski, S.7. 91 Ebd., S.7/8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 21 eingreifendsten Verletzungen lassen sich bei den Disziplinarmaßnahmen feststellen, die bei jeder noch so geringen vermeintlichen oder tatsächlichen Widersetzlichkeit des Häftlings unweigerlich durchgeführt werden. Am schwerwiegendsten sind hierbei die Bedingungen im Arrest. Er erfolgt häufig in speziellen Arrestzellen (´Tigerkäfige´), in denen der Häftling unter menschenunwürdigen Bedingungen (auch bei Minustemperaturen gar nicht oder unzureichend bekleidet, bei unerträglichem Gestank durch nicht zu entfernende Toilettenkübel , teilweise angekettet und in Dunkelhaft) bis zu 21 Tagen – auch wiederholt – seinen Wärtern hilflos ausgeliefert ist. Diese Haftform wird des öfteren durch Trinkentzug und Dunkelhaft verschärft.“92 Über physische Misshandlungen heißt es in der Ausarbeitung von 1987: „Diese reichen von Mißhandlungen durch kriminelle Inhaftierte, die bewußt vom Vollzugspersonal toleriert und sogar unterstützt werden, bis zur Knebelung mit Ketten und Handschellen, Schlägen mit Schlagstock, Fußtritten, Faustschlägen ins Gesicht und dem Einsatz spezieller ´Rollkommandos´. Hierfür zwei dokumentierte Beispiele: - Ein Gefangener wurde mit Faustschlägen und Fußtritten bis zur Gesichtslähmung mißhandelt und anschließend auf ein Metallgitter gekettet. - Gefangene Frauen wurden in der Arrestzelle am Gitter gestreckt angekettet und bis zur Entstellung – auch von männlichem Personal – geschlagen.“93 Diese unter dem unmittelbaren Eindruck von Aussagen ehemaliger politischer Häftlinge stehenden Schilderungen werden in den neuesten Forschungsarbeiten bestätigt.94 So kommt etwa Karin Schmidt 2011 zu dem gleichen Befund verschärfter Haftbedingungen für politische Gefangene und schreibt, dass die aufgrund ihrer oppositionellen Haltung zum Regime verurteilten Häftlinge grundsätzlich schlechter behandelt wurden als Kriminelle. „Insbesondere sollten sie zu gesundheitsschädlichen, körperlich schweren und schwersten, teilweise entwürdigenden und zermürbenden oder gefährlichen Arbeiten, z.B. im Bergbau eingesetzt werden.“95 Schmidt konkretisiert ihre Aussagen anhand der Zustände im Haftarbeitslager Unterwellenborn /Thüringen, das zu 80 % aus „Politischen Häftlingen“ bestand und aufgrund seiner besonders schikanösen Praktiken als geradezu berüchtigter Haftort einzuschätzen ist96, der auch von anderen Forschern als furchteinflößendes Negativbeispiel einer Strafvollzugseinrichtung ausgemacht wurde.97 Schmidts Beobachtungen rund um die erschwerten Zwangsarbeitsbedingungen für „Systemabweichler“ enden dann folgendermaßen: „Schließlich waren politische Gefangene wesentlich häufiger von Disziplinarmaßnahmen, v.a. auch Arreststrafen betroffen als Kriminelle. Sowohl Maßnahmen des unmittelbaren 92 Lieser/Bonikowski, S.9-11. 93 Ebd., S.11. 94 Vgl. Vesting, S.95ff. 95 Schmidt, Zwangsarbeit, S.214. 96 Vgl. ebd. und Schmidt-Pohl, S.239ff. 97 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.251-56, ders., Orte, S.209. und Schmidt-Pohl, S.239ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 22 Zwanges als auch sonstige Formen der Schikane und Gewalt, wie Schläge mit dem Schlagstock , der Knebelkette oder Schlüsselbunden, Fußtritte u.ä. waren bis in die 80er Jahre hinein immer wieder Gegenstand des Vollzugsalltages in verschiedenen Haftanstalten. […] Daneben wurden im Laufe der Jahre auch zunehmend Formen psychischer Gewalt gegen Andersdenkende eingesetzt. […] Schikane erlebten politische Häftlinge allerdings nicht nur von Seiten des Vollzugspersonals. Vielmehr wurden bewusst dahingehende Verhaltensweisen krimineller Strafgefangener zugelassen und durch eine gemischte Unterbringung politischer und teilweise schwer krimineller Häftlinge provoziert. ´Die gewaltsamen Attacken von Kriminellen gegen Politische wurden geduldet.´ Politische Gefangene sollten kriminellen Straftätern gleichgestellt und deren Hierarchie ausgesetzt werden.“98 Sonntag, der sich in seinen Arbeiten nur am Rande mit politischen Häftlingen befasst99, kommt dennoch überall dort, wo er es tut, zum gleichen Ergebnis wie Schmidt. Er betont den menschenverachten Zwangscharakter der Haft für „Politische“100 und erklärt ihn damit, dass die DDR Oppositionelle als „nicht besserungsfähig“ betrachtet und als Problemgruppe eingeschätzt habe, gegen die nur schikanöse Gewalt helfe.101 Er hebt in diesem Zusammenhang die Unerbittlichkeit der DDR gegenüber Andersdenkenden hervor und schreibt: „Während in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren die Tendenz Richtung Toleranz gegenüber Systemabweichlern mit individuellen Lebensentwürfen ging (Hippies, Punker) und dazu führte, dass deviantes Verhalten entkriminalisiert oder zumindest durch die Mäßigung der Strafen (Geldbußen statt Freiheitsentzug) sanfter behandelt wurde, blieb die DDR ihrem sozialistischen Anspruch auf grundlegende ´Besserung´ des Menschen verhaftet . […] Menschen sollten zu ´sozialistischen Persönlichkeiten´ heranreifen oder sie mussten dazu gemacht werden, zum Beispiel im Strafvollzug der DDR.“102 In seinem Schlusswort weist Sonntag nochmals bilanzierend darauf hin, dass zwar auch in den Haftanstalten Westdeutschlands keineswegs perfekte Zustände geherrscht hätten und sich eine simple Schwarz-Weiß-Malerei beim Systemvergleich zwischen West und Ost verbiete . Dennoch dürften bei aller Differenzierungsbemühung die wesentlichen Unterschiede nicht übersehen werden. Erstens habe die kritische Öffentlichkeit im Westen Missstände stets ans Tageslicht gebracht und zu ihrer Behebung beigetragen, was in der DDR zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen sei.103 Und zweitens „wurden in der DDR nach 1969 weitaus 98 Schmidt, Zwangsarbeit, S.216. Die Autorin weist darauf hin, dass – als weiterer Unterschied zu den Kriminellen – politische Häftlinge auch nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis mit fortgesetzter Überwachung und Benachteiligungen zu rechnen hatten, die Schikane für sie also nicht am Gefängnistor endete . Ebd. 99 Vgl. Sonntag, Orte, S.209. 100 „Nicht ohne Grund sprach Hubertus Knabe in diesem Zusammenhang von den ´Zentren der Repression.´ Die Inhaftierung in einer Vollzugsanstalt war meist der letzte Punkt auf einer langen Liste von Repressionsmaßnahmen, die – sieht man von der Todesstrafe ab – härteste Antwort der Diktatur auf unangepasstes Verhalten jedweder Art.“ Sonntag, Arbeitslager, S.8. 101 Vgl. Sonntag, Orte, S.209. 102 Sonntag, Arbeitslager, S.9. 103 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.361. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 23 mehr und weitaus längere Haftstrafen von Gerichten ausgesprochen, als das im Westen Deutschlands der Fall war. Gab es dort im Zuge allgemeiner Tendenzen der Liberalisierung von Kultur und Gesellschaft sowohl eine grundlegende Verbesserung der Vollzugsbedingungen als auch weitgehende Forderungen nach Entkriminalisierung vieler Formen abweichenden Verhaltens, bestand für derlei Überlegungen im festgefügten Denksystem des Marxismus -Leninismus keinerlei Spielraum. Der Glaube an die Erziehbarkeit des Individuums zu einem neuen Menschen sozialistischen Typs ließ solche ´liberalistischen Tendenzen´ gar nicht zu. Auch deswegen kamen reformorientierte Konzepte für den DDR-Strafvollzug kaum in Frage. Sie wären dazu geeignet gewesen, die starre Doktrin des ´real existierenden Sozialismus´ an entscheidender Stelle aufzuweichen. Die SED wollte alles autoritär regeln, alles steuern, weil in ihren Augen Menschen zu ihrem Glück, zu einem Leben im Sozialismus notfalls auch gezwungen werden mussten: Freiheit hieß vulgärmarxistisch immer vor allem Einsicht in die Notwendigkeit. Eine Freiheit der Andersdenkenden und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben waren dabei nicht vorgesehen.“104 3.4. Permanente Bereitschaft zu Willkürentscheidungen und Missachtung eigener Gesetze Ein letzter Aspekt der eklatanten Missstände im System der DDR-Häftlingsarbeit ist der nahezu unausgesetzte Verstoß der SED-Führung gegen das eigene Recht. Nach dem Befund der Forschung wurden offensichtlich nicht nur internationale Standards, auf deren Setzung die DDR keinen Einfluss hatte und denen sie daher grundsätzlich misstrauisch gegenüberstand , als disponibles Gut betrachtet.105 Dies galt von Anfang an auch für die eigenen Gesetze und Verordnungen. Auch sie mussten von Behörden und eigenen Vollzugsorganen nur eingehalten werden, solange andere Erwägungen (Systemstabilisierung, wirtschaftlicher Vorteil etc.) dem nicht entgegenstanden. Damit aber wurde das Rechtssystem der DDR insgesamt zur „Farce“, wie Sonntag betont, und beweist den Willkürcharakter der gesamten Staatsordnung.106 Die Forschung nennt zahlreiche Beispiele für die Kluft zwischen Theorie und Praxis in der DDR. Sonntag etwa verweist darauf, dass das DDR-Strafrecht an sich Vergünstigungen für Häftlinge vorsah, die in der Realität aber kaum gewährt wurden. So schrieb die „Verordnung über die Beschäftigung Strafgefangener“ von 1952 u.a. die Möglichkeit einer Verkürzung der Haftzeit bei guter Arbeit vor, was vielen Strafgefangenen anfangs durchaus als Ansporn erschien und ihren Arbeitseifer steigerte.107 Diese Vergünstigung wurde jedoch stillschweigend fallen gelassen, als die Verkürzung der Haftzeit das volkswirtschaftliche Potential an Sträflingsarbeit im Übermaß zu verringern drohte. 1962 strich die Staatsführung den 104 Ebd., S.372. 105 Vgl. Sonntag, Orte, S.210/11. 106 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.123. 107 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.135. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 24 Passus offiziell aus dem Strafgesetzbuch und ersetzte ihn durch andere Vergünstigungen, die ähnlich wirkungslos blieben.108 Dazu zählte etwa die Verheißung von Amnestien für Straftäter.109 Davon wurde insgesamt elf Mal während der Gesamtdauer der DDR in größerem Umfang Gebrauch gemacht, um das Image des Staates im Ausland aufzupolieren. Doch auch hier zeigte sich, dass das ökonomische Interesse über Imagefragen siegte.110 Schmidt schreibt: „Vor dem Hintergrund, das politische Ansehen der DDR zu stärken, hat der DDR-Strafvollzug mehrere Amnestien erlebt , die die Volkswirtschaft zum Teil vor erhebliche Probleme stellten und wirtschaftliche Einbußen mit sich brachten. ´Größere Amnestien waren meist eine ökonomische Katastrophe .´“111 Die Folge war ein Yo-Yo-Effekt: „Ebenso wie sich die Haftanstalten leerten, sollten sie nach Möglichkeit kurzfristig wieder mit billigen Arbeitskräften belegt werden.“112 Nach dem Befund der Forschung gelang dies auch. Schmidt etwa verweist darauf, dass binnen sechs Monaten nach den jeweiligen Amnestiestichtagen die Gefängnisse wieder so voll waren wie vorher, weil die Begnadigten unter Vorwänden zurückgeholt oder neue Gefangene „rekrutiert“ wurden, deren Arbeitskraft schlicht gebraucht wurde und im Wirtschaftsplan fest einkalkuliert war.113 Rein kosmetischen Charakter hatten auch die per Gesetz verkündeten Grundrechte der Häftlinge im Alltag. Auf dem Papier erschienen sie westlichen Standards durchaus vergleichbar 114 und verhießen „ordnungsgemäße Unterbringung, Bekleidung und Ernährung“, medizinische Betreuung, Familienkontakte etc.115 Die Realität sah jedoch nach dem einver- 108 Vgl. ebd., S.137. 109 Nähere Angaben zu einigen dieser Amnestien finden sich bei Finn/Fricke, S.112ff. 110 Vgl. Vesting, S.98. 111 Schmidt, Zwangsarbeit, S.295, vgl. auch Vesting, S.103. 112 Schmidt, Zwangsarbeit, S.295. 113 Vgl. ebd., S.295 und Vesting, S.98. 114 Vgl. Sonntag, Arbeitslager, S.119, der schreibt: „Ausdruck dieses Bemühens waren das 2. Strafrechtsänderungsgesetz sowie das Strafvollzugsgesetz von 1977, das den Gefangenen auf den ersten Blick weiter gehende Erleichterungen bescherte und den ´humanen Charakter´ des DDR-Vollzuges vor den Augen der Weltöffentlichkeit unterstreichen sollte.“ Doch dies war nur „die Schminke für das in der internationalen Aufmerksamkeit befindliche Gesicht der DDR.“ Ebd., S.120. Hinter der Tünche sah es offensichtlich düster aus. Vgl. ebd. Zum Strafrechtsänderungsgesetz vgl. auch Finn/Fricke, S.133ff. 115 Lieser/Bonikowski, S.3/4. „Hierbei schreibt das Gesetz nicht nur vor, daß eine Einzelunterbringung nur aus gesundheitlichen und erzieherischen Gründen zulässig ist, sondern beschreibt auch die Ausstattung (u.a. Bett, Sitzgelegenheit, ausreichende Sanitäranlagen). Die Bekleidung hat hygienischen und witterungsbedingten Anforderungen zu entsprechen. Die Ernährung muß medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen folgen. Der Strafgefangene hat außerdem das Recht auf einen zusammenhängenden Schlaf von mindestens 8 Stunden und auf einen Aufenthalt im Freien von mindestens 1 Stunde. Die medizinische Betreuung erfolgt grundsätzlich in der Strafvollzugsanstalt. Der Strafgefangene soll unverzüglich nach seiner Aufnahme ärztlich untersucht werden und während des Arbeitseinsatzes weiterhin medizinische Betreuung erhalten. Der Erwerb von Waren des persönlichen Bedarfs, der Bezug von Tageszeitungen, Büchern und anderen Publikationen sowie die finanzielle und materielle Unterstützung von Angehörigen ist ebenso vorgesehen wie persönliche Verbindungen zu Außenpersonen.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 25 nehmlichen Urteil der Wissenschaft anders aus. Ihm zufolge erwies sich, „daß die tatsächliche Lage der politischen Häftlinge in der DDR von der rechtlichen Lage stark abweicht, da die Vollzugsorgane weitreichende Kompetenzen innehaben, die in der Praxis keiner Kontrolle unterliegen. Insbesondere entfalten Beschwerden der Inhaftierten durch Nichtaufnahme oder unterlassene Weiterleitung keine Wirkung.“116 Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit beim Häftlingseinsatz wurde noch verstärkt durch Täuschung und Betrug, die im Umgang mit den Strafgefangenen üblich waren 117 und es der Staatsführung ermöglichten, bisweilen auch ohne direkten Zwang zum Ziel zu kommen.118 So belog etwa das Vollzugspersonal der Haftarbeitslager die Gefangenen regelmäßig über die Risiken des Arbeitseinsatzes, z.B. in Betrieben im Chemie-Kombinat Bitterfeld, und erreichte dadurch, dass sich wegen der relativen Einfachheit der dortigen Tätigkeiten immer wieder Freiwillige zur Abstellung in diesen Bereich meldeten.119 Befragungen unter den Betroffenen, die im Zuge ihres Einsatzes dann teils lebensgefährliche Vergiftungen erlitten, bestätigen, dass sie sich bei Kenntnis der Gefährlichkeit ihres Tuns nie zur dortigen Verwendung gemeldet hätten.120 Ihre vom Regime behauptete „Freiwilligkeit“121, die als Relativierung des Zwangscharakters der DDR ins Feld geführt wird, ist also nach dem Urteil der Forschung nicht wörtlich zu nehmen und das Resultat arglistiger Täuschung.122 Als solche ist auch die bis 1989 verbreitete Propagandalüge anzusehen, die Haftarbeitslager seien rechtsstaatlich ausgerichtete Anstalten und die menschlich bessere Alternative zum Strafvollzug in der Bundesrepublik. In einem Papier der SED über die Haftarbeitslager hieß es ausdrücklich, diese hätten „nichts gemein mit irgendwelchen Zwangsarbeitslagern oder Konzentrationslagern wie sie in der faschistischen Zeit oder in Westdeutschland vorhanden sind. In diese Haftlager werden nur Gefangene überführt, die den Wunsch danach zum Ausdruck bringen.“123 116 Lieser/Bonikowski, S.11/12. 117 Vgl. Vesting, S.100, der darauf verweist, dass „Beschwichtigung, Verschleierung und Bestechung“ DDRtypische Strafvollzugsmaximen waren und auch gegenüber anderen Gruppen angewandt wurden, etwa den oben erwähnten Bausoldaten. Sogar innerhalb der SED habe dieses Prinzip geherrscht, hier seien „die Tatsachen verschleiert“, häufig sei auch „ganz offensichtlich gelogen“ worden. Ebd., S.102. 118 Vgl. Sonntag, Orte, S.208/09. 119 Vgl. Vesting, S.96/97 sowie 100-104. 120 Vgl. ebd. 121 In einem Papier der DDR-Staatsführung von 1951 hieß es ausdrücklich: „Der Einsatz [in Haftarbeitslagern ] beruht demzufolge auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Da die Bedingungen der Haftlager außerordentlich gelockert sind, ist selbstverständlich die Nachfrage seitens der Gefangenen größer als die vorhandenen Möglichkeiten.“ Zit. nach: Sonntag, Arbeitslager, S.128. 122 Vgl. Vesting, S.96ff. 123 Zit. nach: Sonntag, Arbeitslager, S.128. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 26 Dieser von der Forschung als zynisch geschönt eingeschätzten Darstellung entspricht die systematische Leugnung einer Verfolgung von Andersdenkenden in der DDR. Hierzu schreibt Schmidt 2011: „Ausweislich der Rundverfügung Nr. 297/51 des Ministeriums der Justiz, Justizminister Fechner, vom 05.09.1951 gab es in der DDR keine ´politischen Häftlinge ´. Diese Bezeichnung sei auf Opfer des Faschismus anzuwenden, die allein wegen einer anderen politischen Überzeugung in die Zuchthäuser und KZ der Nationalsozialisten geworfen worden seien. In der DDR werde jedoch niemand wegen seiner Gesinnung inhaftiert .“124 Während der gesamten Dauer der DDR wurde die Existenz politischer Häftlinge abgestritten und nur parteiintern zugegeben.125 Selbst während der Wende 1989 hielt man an dieser Fiktion fest und machte diese Facette des eigenen Unrechtssystems der Öffentlichkeit nur indirekt „bekannt“ durch den als Eingeständnis anzusehenden Versuch, die Gefangenenakten systematisch zu vernichten, also Belastungsmaterial verschwinden zu lassen.126 Aufgrund solcher und weiterer Beispiele steht der Willkürcharakter der DDR aus Sicht der Forschung eindeutig fest.127 Das ostdeutsche Unrechtsregime habe zwar gewissen Schranken unterlegen. Doch bedeuteten selbst diese keine Abschwächung der geschilderten „Ungeheuerlichkeiten “. Dazu seien sie zu sehr die Folge rein externer Faktoren gewesen. Sonntag verweist etwa darauf, dass nach der Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen 1973 und nach der Einbeziehung in den KSZE-Prozess die internationalen Rahmenbedingungen andere geworden seien128 und der im Ausland nunmehr „aufmerksam beobachtete Strafvollzug der DDR sich keine Verstöße gegen die UN-Minimalregeln mehr leisten konnte. Und sollten doch welche geschehen, durften sie unter keinen Umständen publik werden.“129 Auch Heitmann betont das Instrumentelle an der geübten Zurückhaltung und schreibt: „Ausschlaggebend war der Wunsch nach internationaler Anerkennung, der zu einer stärkeren Berücksichtigung internationaler Standards auch im Bereich Strafvollzug zwang.“130 Freilich: „Nach Lage der Dinge änderte sich trotz der Beschwerden der Verwaltung Strafvollzug in den darauffolgenden Jahren nicht viel. […] Es wird deutlich, dass oft wirtschaftliche Notwendigkeiten Einwände der Vollzugsbehörde dominierten. Wie beim Einsatz von Soldaten besaßen auch hier ökonomische Erwägungen andauernd Priorität vor sicherheitspolitischen .“131 124 Schmidt, Zwangsarbeit, S.211/212. 125 Vgl. ebd., S.212. 126 Vgl. Sonntag, Orte, S.210. 127 Vgl. Schmidt-Pohl, S.251-254. 128 Vgl. Sonntag, Orte, S.211. 129 Sonntag, Arbeitslager, S.119. 130 Heitmann/Sonntag, S.457. 131 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 27 Als einzig dauerhaft wirksame Schranke gegen allzu große Inhumanität des SED-Vollzugspersonals erwies sich die 1961 in Salzgitter eingerichtete Zentrale Erfassungsstelle für DDR- Unrecht. Obwohl in der innenpolitischen Auseinandersetzung der Bundesrepublik in den achtziger Jahren durchaus umstritten und von einigen als Relikt des Kalten Krieges betrachtet , das echter Entspannung hinderlich sei132, dürfte sie mehr als alles andere dazu beigetragen haben, die Staatsführung der DDR vom Einsatz brutaler Gewalt gegen Gefangene abzuhalten . Schmidt berichtet 2011 von den „zahlreichen, bestürzenden Aussagen in den Unterlagen der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter“133 und vom hohen Wert solcher Aussagen für seinerzeitige bundesdeutsche Forderungen gegenüber der DDR, ihre Schikanen gegen Andersdenkende zu unterlassen oder wenigstens abzumildern. Und auch Sonntag bestätigt 2011: „Der Strafvollzug der DDR stand gerade wegen des besonderen deutsch-deutschen Verhältnisses unter ´besonderer´ Beobachtung. Die Verantwortlichen [der SED, V.S.] konnten sich ein brutales Durchgreifen kaum mehr leisten.“134 Diese Schutzfunktion des Westens für Verfolgte im Osten hatte bereits 1987 die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Fachdienste des Deutschen Bundestages vermutet und damals festgestellt, dass „nach übereinstimmenden Berichten ehemaliger politischer Häftlinge die bestehende Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter eine indirekte, aber wirkungsvolle Hafterleichterung der Strafgefangenen darstellt, da zumindest den ganz krassen Menschenrechtsverletzungen mit dem ´Zauberwort Salzgitter´ Einhalt geboten wird.“135 4. Öffentliche Wahrnehmung und politische Initiativen Dies leitet über zur Frage, wie die DDR-Häftlingsarbeit generell in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Hier beklagen die aktuellsten Studien eine gewisse Randständigkeit des Themas in der bisherigen Forschungsdiskussion.136 Tatsächlich ist die Zahl der Studien zum Arbeitseinsatz von Strafgefangenen in Ostdeutschland überschaubar und weit entfernt von dem breiten Publikationsstrom zu anderen Aspekten der DDR-Geschichte.137 132 Vgl. Krämer, S.1/2, online abrufbar unter: http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2011/index.html, letzter Aufruf am 12.02.2013. 133 Schmidt, Zwangsarbeit, S.216. 134 Sonntag, Orte, S.214. 135 Lieser/Bonikowski, S.11/12. 136 Vgl. etwa Sonntag, Arbeitslager, S.8. 137 Finn/Fricke führten diese bereits 1981 auffallende Tatsache u.a. auf die schlechte Quellenlage zurück: „Nach dem Bau der Mauer 1961 in Berlin ist aus der relativ kleinen Truppe des Dienstzweiges Strafvollzug der Deutschen Volkspolizei niemand in den Westen gekommen, der die ´andere Seite´ des Strafvollzuges hätte schildern können.“ Finn/Fricke, S.7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 28 Auch in der bundesdeutschen Politik spielte das Thema über viele Jahre nur indirekt eine Rolle.138 Wie die schon mehrfach zitierte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste von 1987 beweist, interessierten sich in den letzten Jahren der DDR-Existenz zwar einzelne Abgeordnete des Deutschen Bundestages durchaus intensiv für das Schicksal der „Politischen Häftlinge“ im Osten.139 Doch war das Interesse mehr auf die allgemeinen Haftbedingungen gerichtet und in den übergeordneten Zusammenhang des grundsätzlichen Unrechtscharakters der DDR eingebettet, als dass die Details zur Zwangsarbeit im Zentrum gestanden hätten .140 Erst nach der Wende 1989 änderte sich die Lage. Trotz der versuchten Aktenvernichtung seitens der DDR-Vollzugsorgane in der Transformationsphase bis 1990141 vermochte die Öffnung der Archive in Ostberlins Justizbehörden, der DDR-Staatssicherheit etc. genug Informationen über die Missstände im SED-Staat ans Licht zu bringen, um eine anhaltende politische Diskussion über deren Ausmaße auszulösen.142 Außerdem konnten nun auch ehemalige Häftlinge offen sprechen und Zeugnis ablegen über die Zustände in den DDR-Gefängnissen .143 Viele Betroffene bemühten sich nach 1990 aktiv um juristische sowie publizistische Aufarbeitung mit dem Ziel der Rehabilitation. Eine politische Einigung in der Entschädigungsfrage wurde indes bisher nicht erzielt.144 138 So z.B. in einer Öffentlichen Anhörung vor dem Ausschuss für innerdeutsche Beziehungen des Deutschen Bundestages am 08.09.1982. Hierin ging es schwerpunktmäßig um die generelle Vorenthaltung der Menschenrechte in Untersuchungshaft und Strafvollzug der DDR. Nur nebenbei kam dabei auch das Thema Arbeitszwang zur Sprache. Vgl. Lieser/Bonikowski, S.7, Fußnote 8. 139 Als weiteres Beispiel zur Behandlung der Thematik der DDR-Gefängnisse in der bundesdeutschen Politik vor 1989 vgl. folgende Drucksache: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/08/031/0803188.pdf (Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Marx, Dr. Abelein, Jäger [Wangen], Baron von Wrangel, Böhm [Melsungen], Dr. Gradl, Graf Huyn, Straßmeir, Schmöle, Dr. Hennig und der Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 8/2503, Drs 8/3188 vom 20. September 1979). 140 Hierauf gingen nur gelegentlich westdeutsche Zeitungen ein, so etwa die FAZ vom 25.03.1983 in dem Artikel „Todeskommando Bitterfeld“. Hierin wurden die hochgradig gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen im führenden Chemiekombinat der DDR beschrieben und kritisiert. Vgl. Vesting, S.94. 141 Vgl. Sonntag, Orte, S.210. 142 Vgl. hierzu als Fundstelle folgende Bundestagsdrucksachen aus der Zeit nach 1990, die sich u.a. mit der Entschädigung für DDR-Zwangsarbeit beschäftigten. Sie können im Online-Archiv des Bundestages mit dem Stichwort Zwangsarbeit durchsucht werden: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/049/1204994.pdf (2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz Drs 12/4994 vom 19. Mai 1993), http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/068/1206854.pdf (Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern Drs. 12/6854 vom 8. Februar 1994), http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/15/012/1501235.pdf (Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz Drs 15/1235 vom 25. Juni 2003). 143 Vgl. dazu Schmidt-Pohl, S.239-250 und den Abschnitt „Befragung von Zeitzeugen“ im Buch von Schmidt, Zwangsarbeit, S.325-444. 144 Vgl. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/049/1204994.pdf (2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz Drs 12/4994 vom 19. Mai 1993), http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/068/1206854.pdf (Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern Drs. 12/6854 vom 8. Februar 1994), http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/15/012/1501235.pdf (Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz Drs 15/1235 vom 25. Juni 2003). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 29 Mit Blick auf die Frage, warum das so ist, bemerkt Heitmann, es sei für die ehemaligen Zwangsarbeiter problematisch gewesen, den Nachweis zu führen, nach internationalen Standards Anspruch auf Entschädigung zu haben. Denn bundesdeutsche Gerichte waren (und sind) keineswegs sicher, dass die beschriebenen Arten der Gefangenenarbeit Zwangsarbeit darstellten.145 Ausschlaggebend dafür war die eingangs erwähnte restriktive Feststellung der ILO, Arbeitseinsätze von gerichtlich verurteilten Strafgefangenen seien in unterschiedlichen Ausprägungen weltweit üblich (siehe auch Art. 12 GG) und daher nicht von vornherein mit Zwangsarbeit gleichzusetzen.146 Da jedoch die Forschung inzwischen gezeigt hat, dass bestimmte Formen der Gefangenenarbeit auch nach ILO-Standards durchaus unzulässig sind, wie etwa der Einsatz unter Tage, worauf schon hingewiesen wurde, berufen sich ehemalige politische Gefangene inzwischen auf diesen Umstand, um ihren Einsatz als Zwangsarbeit nachzuweisen.147 Außerdem leiten sie ihren Anspruch auf Entschädigung auch davon ab, nicht rechtmäßig verurteilt worden zu sein. Damit müsse selbst die „normale“ Gefangenenarbeit in ihrem Falle als illegitim und entschädigungswürdig angesehen werden.148 Obgleich die aktuellsten Forschungen diese Position zu unterstützen scheinen, ist die Debatte zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs abgeschlossen, und die auf diesem Gebiet tätigen Wissenschaftler räumen ein, dass erst noch weitere Untersuchungen stattfinden müssten, um zu einem endgültigen Befund zu kommen. Wissenschaft und Politik begrüßen daher gleichermaßen jede Anstrengung, die geeignet scheint, solche Untersuchungen voranzutreiben. Dazu wird aktuell die Ankündigung des IKEA-Konzerns und anderer Firmen gerechnet, Nachforschungen über das genaue Ausmaß ihrer Verstrickung in das DDR-Häftlingssystem zu veranlassen.149 Dass die DDR-Wirtschaft nachweislich exportorientiert war und zur Devisenbeschaffung viele ihrer hochwertigsten Produkte für den Außenhandel bereit stellte150, lässt vermuten, dass eine ganze Reihe von 145 Vgl. Schmidt-Pohl, passim. 146 Vgl. hierzu den Schlussbericht der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Drs 13/11000 vom 10. Juni 1998 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/110/1311000.pdf. Er kommt auf Seite 237 zu dem Schluss, dass keine genaueren Kenntnisse über die DDR-Gefängnisse, geschweige denn über die dortigen Haftbedingungen zum damaligen Zeitpunkt vorlägen. 147 Vgl. Heitmann/Sonntag, S.456 Fußnote 22. 148 Vgl. ebd. sowie Schmidt-Pohl, S.251ff. 149 Vgl. Kellerhoff, kompletter Artikel vom 30.11.2012 (genaue Quellenangaben im Literaturverzeichnis). 150 Diesen Zusammenhang deutet Heitmann an, wenn er auf vorübergehende Produktionsausfälle im Exportbereich verweist, zu denen es nach einer der Begnadigungsaktionen der SED-Führung gekommen war: „1987 mussten nach einer umfassenden Amnestie Ausfälle von Gefangenen als Arbeitskräfte kompensiert werden, weil diese Entlassungsaktion die Gefängnisse der DDR nahezu vollständig leerte. […] Infolge der Amnestie kalkulierte man Versorgungsausfälle für die Bevölkerung und für die Industrie im Umfang von 715000 Arbeitsplatzleuchten, 100000 Kombinationsleuchten sowie 80000 Kombinationsleuchten ´R´, ganz zu schweigen von den befürchteten Ausfällen bei den Exporteinnahmen. Erzeugnisse wie solche Leuchten gelangten im Rahmen des innerdeutschen Handels oft auch nach Westen, was dem SED-Staat Deviseneinnahmen bescherte.“ Heitmann/Sonntag, S.457. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 30 Unternehmen im Westen mindestens indirekt von der Zwangsarbeit politischer und anderer Häftlinge im Osten profitiert hat, ohne sich dessen bewusst zu sein.151 Für die Frage etwaiger Entschädigungszahlungen dürfte dies ebenso relevant sein wie eine noch näher zu untersuchende Rolle des Staates in diesem Zusammenhang.152 So sind etwa die unlängst wieder thematisierten Vorstöße bundesdeutscher Politiker in Richtung auf Abschaffung der Erfassungsstelle Salzgitter in den 1980er Jahren153 historisch neu zu bewerten 154, ebenso wie das sogenannte SED-SPD-Strategiepapier von 1987.155 Nach Auffassung von Zeitzeugen und Forschern scheint mit Blick auf beide Initiativen ein kritisches Gesamturteil angebracht.156 Ob jedoch von einer wenigstens teilweisen moralischen Mitverantwortung des Westens am Leid der zu Unrecht Inhaftierten in der DDR gesprochen werden kann157, sodass die aktuelle Forderung von Opferverbänden nach Beweislastumkehr zugunsten der Betroffenen im Vorfeld von Entschädigungsverfahren erheblich an Gewicht 151 Sonntag schreibt explizit, dass die exportorientierten DDR-Industrien sehr stark von der Sträflingsarbeit abhängig gewesen seien, etwa im Bereich der Kali-Produktion, gerade hier also der Zusammenhang mit Sträflings-Zwangsarbeit als gegeben angenommen werden müsse. „Zivile Arbeiter waren rar, die Kaliproduktion musste aber laufen, Exporteinnahmen waren von zentraler ökonomischer Bedeutung.“ Sonntag, Arbeitslager, S.244. Ähnlich urteilt Schmidt, Zwangsarbeit, S.55: „Das Geschäft [der VEBs, V.S.] mit der Gefangenenarbeit im Osten lohnte sich besonders, wenn Produkte wie die Spiegelreflexkamera ´Practica´ in den Westen verkauft wurden.“ 152 Vgl. Kellerhoff, ganzer Artikel vom 30.11.2012 (genaue Quellenangabe im Literaturverzeichnis). 153 Vgl. Krämer, S.1/2, online abrufbar unter: http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2011/index.html, letzter Aufruf am 12.02.2013. 154 Ebd. 155 Vgl. Kirsch, S.13. 156 Vgl. dazu etwa die Aussagen des ehemaligen DDR-Fluchthelfers Burkhart Veigel in einem Radio-Interview mit dem NDR am 01.07.2012. Quellenhinweise und zustimmende Blogger-Kommentare zu diesen Aussagen finden sich u.a. bei http://www.thilo-baum.de/lounge/verschiedenes/wandel-durch-anbiederung/, (letzter Aufruf am 13.02.2013). Ähnlich auch Stephan Hilsberg in einer Podiumsdiskussion vom 7. August 2012, vgl. http://www.stiftung-aufarbeitung.de/veranstaltungsnachlese-2012-3180.html?id=1915, mit Audio-File der kompletten Veranstaltung (letzter Aufruf 13.02.2013). 157 Diese Ansicht hatte vor einem Jahrzehnt bereits die CDU/CSU vertreten, während die SPD eine ablehnende Position einnahm. Darüber berichtet Schmidt-Pohl. In seiner Studie von 2003 über die DDR-Haftzwangsarbeit heißt es, die im Mai 1999 zu dieser Frage in Schwerin durchgeführte Podiumsdiskussion „brachte den anwesenden politischen DDR-Haftzwangsarbeitern die Erkenntnis, daß von Seite[n] der SPD, hier vertreten durch den MdB H.-J. Hacker, der durch die SED-Opfer angemeldete Anspruch auf Entschädigung für ihre geleistete Haftzwangsarbeit insgesamt abgelehnt wird und jeder Vergleich mit NS-Zwangsarbeit durch diese Fraktion als unstatthaft gilt. Dagegen erklärte damals Dr. M. Luther, MdB der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, daß er eine Entschädigung für DDR-Haftzwangsarbeit ehemaliger politischer Häftlinge im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz des GG für gerechtfertigt halte und daß hierfür die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit durch die Bundesrepublik Deutschland, als Präjudiz, Vorbild sein müsse.“ Schmidt-Pohl, S.7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 31 gewänne158, müssen erst weitere Nachforschungen erweisen, da auf Basis der bisherigen Forschungen eine abschließende Gesamtbewertung noch nicht möglich ist.159 5. Literaturverzeichnis Bastian, Uwe/Neubert, Hildigund (2003), Schamlos ausgebeutet. Das System der Haftzwangsarbeit politischer Gefangener des SED-Staates, Berlin: Bürgerbüro e.V. Beer, Kornelia (2011), Weiterleben nach politischer Haft in der DDR – gesundheitliche und soziale Folgen. Göttingen: V & R unipress. Beleites, Johannes (1995), Abteilung XIV: Haftvollzug, in: Anatomie der Staatssicherheit – MfS- Handbuch, Teil III/9 (herausgegeben von Siegfried Suckut u.a.), Berlin. Finn, Gerhard (1981) (unter Mitarbeit von Karl Wilhelm Fricke), Politischer Strafvollzug in der DDR, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. Fricke, Karl Wilhelm (2010), Im „Hotel zur ewigen Lampe“, in: Mut – Forum für Kultur, Politik und Geschichte, 45, 511, S.30-50. Fricke, Karl Wilhelm (1986), Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. GESIS (Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen e.V.) (Hrsg.) (1998), Materialien zur Erforschung der DDR-Gesellschaft. Quellen. Daten. Instrumente, Opladen: Leske+Budrich. Heitmann, Clemens/Sonntag, Marcus (2009), Einsatz in der Produktion. Soldaten und Strafgefangene als Stützen der DDR-Staatswirtschaft, in: Deutschland-Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 42, 3, S.451-458. Kellerhoff, Sven Felix (2012), Nach IKEA-Skandal. Stasi-Behörde stochert bei Zwangsarbeit im Nebel, Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 30.11.2012 (auch online abrufbar unter: http://www.welt.de/kultur/article111731312/Stasi-Behoerde-stochert-bei-Zwangsarbeit-im-Nebel .html, letzter Aufruf am 14.01.2013). Kirsch, Botho (1997), Wandel durch Anbiederung, Rezension des Sachbuchs „Zu meiner Zeit“ von Egon Bahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 1997, Nr. 66, S.13. Krämer, Jörg D. (2011), Vor 50 Jahren: Die Gründung der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter, Aktueller Begriff des Deutschen Bundestages Nr. 35/11 vom 24. November 2011 (online abrufbar 158 Vgl. Kellerhoff, ganzer Artikel vom 30.11.2012 (genaue Quellenangabe im Literaturverzeichnis). 159 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 159/12 Seite 32 unter: http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2011/index.html, letzter Aufruf am 12.02.2013). Lieser/Bonikowski (1987), Rechtliche Grundlagen und Praxis des Strafvollzugs in der DDR, Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Fachdienstes des Deutschen Bundestages, Fachbereich II, Reg. Nummer WF II – 198/87, Bonn. Möhler, Rainer (2004), Der DDR-Strafvollzug zwischen Sowjetisierung und deutscher Tradition – die Ministerratsverordnung vom 16. November 1950, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52, 4, S.336-357. Müller, Jörg (2012), Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR – Sachsen in der Ära Ulbricht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Müller, Klaus-Dieter (Hrsg.) (1998), Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin: Verlag Spitz. Schmidt, Karin (2011), Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die „Pflicht zur Arbeit “ im Arbeiter- und Bauernstaat, Band 7 der Reihe Sklaverei, Knechtschaft, Zwangsarbeit, Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte (hrsg. von Elisabeth Herrmann-Otto), Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag. Schmidt-Pohl, Jürgen (Hrsg.) (2003), DDR-Haftzwangsarbeit politischer Gefangener. Dokumentation mit den Materialien der Tagung für die Entschädigung politischer DDR-Haftzwangsarbeit 10./11.5.2002 in Schwerin, Schwerin: Schwarzbuch-Archiv. Schröder, Wilhelm Heinz/Wilke, Jürgen (1998), Politische Strafgefangene in der DDR. Versuch einer statistischen Beschreibung, in: Historical Social Research, Vol. 23, No. 4, S.3-78. Schütterle, Volker M. (2002), Großbritannien und Preußen in spätfriderizianischer Zeit (1763- 1786), Heidelberg: C. Winter. Sonntag, Marcus (2011), DDR-Arbeitslager – Orte der Schaffung eines „neuen Menschen“, in: Deutschland-Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 44, 2, S.208-215. Sonntag, Marcus (2011), Die Arbeitslager in der DDR, Essen: Klartext Verlag. Timmermann, Heiner (Hrsg.) (2000), Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument, Band 89 der Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen (hrsg. von Heiner Timmermann), Berlin: Duncker & Humblot. Vesting, Justus (2004), „Das sind ja nur Strafgefangene“. Zwangsarbeit im Chemiedreieck der DDR, in: ZdF 16/2004, S.90-104. Watson, Peter (2010), Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI., München: Bertelsmann.