Integration und Islam in Frankreich - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 1 - 114/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Integration und Islam in Frankreich Ausarbeitung WD 1 - 114/06 Abschluss der Arbeit: 04.07.2006 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Hinweise auf interne oder externe Unterstützung bei der Recherche bzw. Abfassung des Textes Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt Zur aktuellen Situation 3 Zur öffentlichen Debatte 4 Die Rolle des Islam in der öffentlichen Debatte 5 Zur Reform des Einwanderungsgesetzes 6 - 3 - 1. Zur aktuellen Situation In ihrem Bericht vom November 2004 an den Staatspräsidenten über „Die Aufnahme von Einwanderern und die Integration von Bevölkerungsgruppen, die aus der Einwanderung hervorgegangen sind“1, stellt die -1807 von Napoléon Ier gegründete, in ihren Aufgaben weithin mit dem Bundesrechnungshof vergleichbare- Cour des Comptes ein „dreifaches Scheitern der bisherigen Einwanderungspolitik“2 fest, das sich in drei großen Problemen zeige: 1. Der Konzentration einer großen Zahl von Einwanderern in Gebieten, deren Probleme explosionsartig wüchsen. 2. Der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Lage einer großen Zahl von Einwanderern und ihrer Kinder, von denen außerdem viele unter Diskrinierung litten. 3. Die Anzahl von sog. „illegalen“ Einwanderern und ihre Lebensbedingungen. Und der Bericht weist ergänzend darauf hin, dass gerade das zuletzt genannte Problem nicht zuletzt Ursache dafür sei, dass sich zumindest in einem Teil der öffentlichen Meinung eine ständige Verdächtigung, wenn nicht Dämonisierung der Eingewanderten eingenistet habe, die wiederum die erforderlichen Anstrengungen zur Integration erheblich behinderten. Der ausführliche und sachliche Bericht der Cour des Comptes, dem es keinesfalls um moralische Bewertungen, sondern, dem Auftrag der Institution gemäß, um eine sachgemäße Verwendung öffentlicher Mittel geht, kommt schließlich zu der bemerkenswerten Feststellung: „Diese Krisensituation ist nicht durch die Einwanderung erzeugt worden . Sie ist das Ergebnis des Umgangs mit der Einwanderung.“3 Der zitierte Bericht ist im Übrigen ein weiteres Dokument einer schon Jahre währenden Diskussion in Frankreich um Immigration, Integration und – ein Punkt, der in diesem Zusammenhang nicht vergessen oder gering geschätzt werden darf- Bewertung der kolonialen Vergangenheit. Die Ereignisse in den Pariser Banlieues –und dann auch in Vorstädten anderer französischer Städte ab Ende Oktober 2005, die –wenn nicht der Größe, so doch dem Ablauf nach in einer Reihe mit 341 ähnlichen Vorfällen zwischen 1 Cour des Comptes: L’Accueil des Immigrants et l’Intégration des Populations issues de l’Immigration. Rapport au Président de la République suivi des Réponses des Administrations et des Organismes Intéressés. Novembre 2004 2 ebd., S.387 3 ebd., S.388 - 4 - 1991 und 2000 stehen; und 2003 brannten sogar 21.000 Autos, also durchschnittlich 60 pro Nacht- brachten insofern nur besonders heftig die vielfältigen sozialen Spannungen zum Ausdruck, die sich in Frankreich über mehrere Jahrzehnte hin aufgebaut hatten. Dass man in der Summe wirklich von einer „Apartheid à la Francaise“ sprechen könnte 4, erscheint jedoch nicht berechtigt, würde dies doch ein planvolles Vorgehen mit dem Ziel des Ausschlusses einer Bevölkerungsgruppe voraussetzen. Fest steht lediglich, dass nach einigen Unruhen die Ankündigung Sarkozys, die Städte „mit dem Kärcher“ vom Gesindel (wörtl.: racaille) befreien zu wollen, sowie der Tod zweier Jugendlicher am 27. Oktober 2005 (sie wollten sich angeblich auf der Flucht vor Polizisten verstecken) einem Tranformatorenhäuschen in Clichy-sous-Bois und der Wurf einer Polizeihandgrante vor die Bilal – Moschee Unruhen eines lange Zeit nicht gekannten Ausmaßes auslösten; es erscheint signifikant, dass auch in der deutschen Berichterstattung immer wieder der Mai 1968 als Vergleichsfall herangezogen wurde. Vor allem in den Banlieues von Paris, aber auch in denen anderer französischer Städte (z.B. Toulouse, Nantes, Pau) brannten Tausende von Autos, wurden Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Sportstätten zerstört und –nach Verhängung des Ausnahmezustandes- 4.700 Personen vorübergehend festgenommen,von denen schließlich über 400 zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden (Stand dieser Zahlenangaben: 25. November 2005). In Kommentaren der französischen Presse, von Wissenschaftlern und Bürgerrechtsorganisationen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Verhängung des Ausnahmezustandes auf der Grundlage eines Gesetzes vom 3. April 1955 erfolgte , das im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg erlassen worden war. 2. Zur öffentlichen Debatte Was die öffentliche Debatte während der und im Anschluss an die Unruhen in den Banlieues betrifft5, so lassen sich in den verschiedenen Argumentationen zwei Grundmuster erkennen, die durchaus miteinander zusammenhängen: Zum einen werden die sozialen Probleme, um deren Lösung es eigentlich geht, oftmals als Sicherheitsprobleme interpretiert oder treten hinter Fragen der öffentlichen Sicherheit zurück. Und zum anderen besteht vielfach eine Tendenz, die seit den 1990er Jahren verstärkt zu beobachten ist 4 So Dominique Vidal im Dezember 2005 in Le Monde Diplomatique in seinem Artikel „Casser l’apartheid à la francaise“, in dem er allerdings zugleich und sehr eindringlich davor warnt, den französischen Innenminister Sarkozy als „Alleinverantwortlichen“ für die Ereignisse darzustellen 5 Beigefügt sind als Anlagen 1 und 2 eine Zusammenstellung neuerer repräsentativer französischer und deutscher Presseartikel - 5 - und die bereits Ende 2005 in einem Aufsatz als „Die Ethnisierung sozialer Beziehungen in den französischen Vorstädten“ beschrieben wurde6 Dabei wird durchaus nicht geleugnet , dass es in ganz Frankreich insgesamt 752 sogenannte „Zones urbaines sensibles “ (ZUS) gibt, in denen ca. 5 Millionen Menschen leben7. Dass es sich bei ihnen aber jedenfalls zu einem großen Teil um Immigranten oder aus der Immigration hervorgegangene Franzosen handelt, wird nicht auf mögliche Mängel der Integrationspolitik zurückgeführt, sondern auf die diesen Gruppen zugeschriebenen ethnischen Eigenheiten , die einer erfolgreichen Integration entgegen stünden; was zugleich besagt, dass eine solche Integrationspolitik auch nicht erforderlich, da von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Demgegenüber fragt Costa-Lascoux, ob das Problem wohl darin bestehe, dass eine Familie mit 6 oder 7 Kindern in einer Wohnung mit drei Zimmern lebe, oder darin, dass diese Familie marokkanischer oder tamilischer Herkunft sei8 und ob es nicht zu denken geben müsse, dass von ethnischen Eigenheiten immer nur bei sozial benachteiligten Menschen gesprochen werde. Die Ethnisierung oder auch der „Communautarisme“ wird insbesondere von der Bürgerrechtsbewegung attackiert, da sie letztlich auch das überkommene französische Selbstverständnis in Frage stellt, nach dem alle Bürger gleich sind und es keine Differenzierung nach ethnischer Herkunft oder Religionszugehörigkeit geben darf (hier wäre auf den Streit um das Tragen von Schleiern im öffentlichen Schulwesen hinzuweisen, das eben dieses Thema der bürgerlichen Gleichheit unter dem Aspekt der absoluten Laizität aufgreift). Dabei wird nicht in Frage gestellt, dass es kulturelle Unterschiede gibt, wohl aber, dass innerhalb der steten Dialektik zwischen persönlicher Identität und staatsbürgerlicher Gleichheit eine der beiden Komponenten jeder Person vernachlässigt werden dürfe. 3. Die Rolle des Islam in der öffentlichen Debatte Einen untergeordneten, wenn auch nicht zu vernachlässigenden Aspekt der öffentlichen Debatte bilden die Positionen, die in den sozialen Unruhen den Ausdruck einer islamistischen Verschwörung sahen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass generell davon gesprochen werden könnte, dass sich die sozialen Spannungen in einer allgemeinen Diskriminierung des moslemischen Glaubens entlüden. Vielmehr tritt in der Diskussion um den 6 Jacqueline Costa-Lascoux: „L’ethnicisation du lien social dans les banlieues francaises“, In: Revue Européenne des Migrations Internationales (2005), Vol.17, Nr.2, S.123 - 138 7 Diese Entwicklung wurde bereits 2003 in dem Werk Violences urbaines, violences sociales der beiden Sozialwissenschaftler Stéphane Beaud und Michel Pialoux als „mögliche Zeitbombe“ bezeichnet . 8 A.a.O., S.138 - 6 - Islam und auch in der massiven Diskriminierung von Einwohnern der genanntenstädtischen Problemzonen eher das historische Erbe der Kolonialzeit zutage, das ebenfalls in der jüngsten Vergangenheit Anlass zu heftigen öffentlichen Debatten gab9. Der Zusammenhang wird etwa von dem Soziologen Didier Lapeyronnie dahingehend interpretiert , dass die Banlieues zum Kolonialschauplatz der Gegenwart geworden seien.10Und Anna Bozzo stellt in ihrer Analyse „Islam et République: une longue histoire de méfiance “ die These auf, dass dringend die Kolonialgeschichte Frankreichs in Algerien neu geschrieben werden müsse, um zu den wahren Wurzeln der Probleme des Islam in Frankreich zu gelangen.11 Die französischen Muslime selbst betonen in ihren Veröffentlichungen in Presse und Internet mehrheitlich, dass sie sich als französische Staatsbürger muslimischen Glaubens empfinden und Anspruch auf entsprechende Behandlung erheben. Wie weit dieses staatsbürgerliche Bewusstsein etwa reicht, wurde in Anhörungen der Parlamentskommission zur Frage des Schleiers in öffentlichen Schulen (Vorsitz: Parlamentspräsident Debré) deutlich, wenn die Vertreter muslimischer Organisationen das Prinzip der Laizität unterstützen und dem Verbot des Tragens des Schleiers zustimmen. In eben diesen Anhörungen wurden andererseits erheblche Spannungen unter den zahlreichen moslemischen Organisationen deutlich, die nicht alle im Französischen Moslemrat 12vertretn sind. Dieser versteht sich als eine Dachorganisation. Er wurde nicht zuletzt auf Initiative von Innenminister Sarkozy 2003 gegründet. 4. Zur Reform des Einwanderungsgesetzes Mit Beschluss vom 17. Mai 2006 hat die Assemblée nationale ein Gesetz verabschiedet, das den Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (CESEDA) dahingehend verschärft, dass eine stärkere Steuerung der Immigration in quantitativer und qualitativer Hinsicht ermöglicht wird. Gegen diese Gesetzesvorhaben hat sich eine breite Bürgerrechtsbewegung „Uni(e)s contre une immigration jetable“ (Vereint gegen eine Wegwerfimmigration) gebildet, in der mehrere Hundert Einzelorganisationen zusammenarbeiten und die –inzwischen bereits in dritter Auflage- eine ausführliche Kritik des Gesetzesprojekts vorgelegt hat13, das sie als Angriff auf die bürgerlichen Grund- 9 Vgl. hierzu den Band von Pascal Blanchard/Nicolas Bancel/Sandrine Lemaire (Hg.): La fracture coloniale. La société francaise au prisme de l’héritage colonial, Paris 2005 10 ebda, S.23 11 ebd., S.81. Bozzo weist darauf hin, dass 75% der französischen Muslime algerischer Herkunft seien 12 s. Anlage 3, Kurzbeschreibung des Moslemrats 13 s.Anlage 4 - 7 - rechte und damit letztlich auf die Verfassung brandmarkt. Der Immigrant, so die Kernkritik , werde zur reinen Arbeitskraft degradiert, den man bei Bedarf rufen und wieder wegschicken könne. Eine Petition der Organisation gegen das Gesetzesprojekt wurde inzwischen bereits von 67.000 Personen unterzeichnet. In der als Anlage beigefügten Gesetzeskritik klingt, wenn auch nur indirekt, die eingangs erwähnte Kritik der Cour des Comptes an, dass nicht die Immigration, sondern eine verfehlte Integrationspolitik zu korrigieren sei.