Der Ungarische Volksaufstand im Jahr 1956 - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 1 - 099/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Der Ungarische Volksaufstand im Jahr 1956 Ausarbeitung WD 1 - 99/06 Abschluss der Arbeit: 24.05.2006 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Hinweise auf interne oder externe Unterstützung bei der Recherche bzw. Abfassung des Textes Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt 1. Einleitung 3 2. Die Entwicklung in Ungarn von 1945 bis 1956 4 3. Unmittelbare Entwicklungen vor dem Volkaufstand 1956 11 3.1. 20. Parteitag der KPdSU 11 3.2. Entstehung einer Opposition 12 3.3. Politische Entwicklung in Polen im Jahr 1956 12 3.4. Die Ablösung Mátyás Rákosis 13 3.5. Gründung eines unabhängigen Studentenverbandes 15 4. Der Hauptereignisse des Volksaufstandes 15 4.1. Opfer des Volksaufstandes 28 5. Festigung der Macht und Beginn der Restaurationsphase 28 6. Die Folgen des Ungarnaufstandes 30 6.1. Terror- und Verfolgungswellen 30 6.2. Schauprozess und Hinrichtung Imre Nagys 31 6.3. Flüchtlinge 32 7. Die Entwicklung Ungarns von 1988 bis 1991 32 8. Zusammenfassung 36 9. Literaturverzeichnis 41 - 3 - 1. Einleitung Ungarn ist heute ein selbstverständlicher Teil des vereinigten Europa. Mit der Aufnahme in die Europäische Union zum 1. Mai 2004 hat das Land einen Prozess erfolgreich abgeschlossen, der in den Jahren 1988/89 seinen Ausgang nahm. In diesem Zeitraum implodierten in Ungarn wie auch in den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten die kommunistischen Regierungen, die sich dort nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Hegemonialbereich der Sowjetunion gebildet hatten. Auch Ungarn war bis Ende der achtziger Jahre durch eine kommunistische Einparteienherrschaft geprägt. Das Land war politisch und wirtschaftlich integraler Bestandteil der unter Führung Moskau stehenden sozialistischen Staaten. Während der über vier Jahrzehnte andauernden kommunistischen Herrschaft in den ostmitteleuropäischen Staaten hatte es in mehreren Ländern Versuche gegeben, die staatssozialistischen Diktaturen abzuschütteln und sich aus dem Machtbereich der Sowjetunion zu lösen. Alle diese Versuche, ob zum Beispiel der „Arbeiteraufstand“ vom 17. Juni 1953 in der DDR oder der „Prager Frühling“ im Jahr 1968 in der Tschechoslowakei , scheiterten stets am militärischen Eingreifen der Sowjetunion.1 Das gilt auch für den Ungarischen Volksaufstand im Herbst 1956. Er gehörte von seiner Intensität zu den größeren bewaffneten Konflikten in der Zeit des so genannten Kalten Krieges.2 Viele Menschen hatten 1956 in Ungarn fest daran geglaubt, ein von der Sowjetunion unabhängiges und demokratisches Ungarn etablieren zu können.3 Dieses Jahr wird sich dieses nicht nur für die europäische Geschichte bedeutende Ereignis zum fünfzigsten Mal jähren. In der Ausarbeitung wird zu Beginn die politische Entwicklung Ungarns im Zeitraum von 1945 bis 1956 dargestellt. Anschließend wird der Blick auf Ereignisse fokussiert, die vor allem im unmittelbaren Vorfeld des Aufstandes stattfanden und mögliche Auswirkungen auf den Ausbruch der Revolution besaßen. Im Hauptteil der Ausarbeitung werden Beginn, Verlauf und das Scheitern des Aufstandes dargestellt. Welche Folgen die Niederschlagung des Volksaufstandes insbesondere für die Aufständischen hatte, wird im anschließenden Teil der Ausarbeitung analysiert. Dem schließt sich die Betrachtung Ungarns in den Jahren 1988 bis 1991 - als sich das Land auf friedlichem Wege von einer kommunistischen Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie wandelte - unter besonderer Berücksichtigung der Neubewertung der Ereignisse vom Herbst 1956 und der Person Imre Nagys an. 1 Mühle 1998: 38 2 Nyyssönen 1999: 914 3 Fülep 2004: 1 - 4 - 2. Die Entwicklung in Ungarn von 1945 bis 1956 Im Frühjahr 1945 hatte die sowjetische Armee Ungarn von den deutschen Truppen vollständig befreit. Zuvor war seit September 1944 die Rote Armee immer weiter auf ungarisches Territorium vorgerückt. Im Dezember 1944 hatte sich in den von der deutschen Wehrmacht nicht mehr besetzten Gebiete die „Ungarische nationale Unabhängigkeitsfront ” in Szeged gebildet. Dabei handelte es sich um einen Zusammenschluss verschiedener ungarischer Parteien unter Einschluss der Kommunisten. Im selben Monat konstituierte sich in Debrecen die „provisorische Nationalversammlung“. Aus ihr ging am 22. Dezember 1944 eine „provisorische Regierung“ unter dem Vorsitz von General Béla Miklós von Dálnok hervor. Sie erklärte Deutschland offiziell den Krieg und schloss am 20. Januar 1945 ein Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten.4 Die Sowjetunion blieb nach Ende der Kampfhandlungen als Besatzungsmacht in Ungarn und übte in der Folgezeit einen dominanten Einfluss auf das Land aus.5 Zunächst konnte sich seit 1945 wieder ein demokratisches Gemeinwesen entwickeln. Allerdings wurde es von der sowjetischen Besatzungsmacht, die die Alliierte Kontrollkommission für das Land dominierte, überwacht und beschränkt.6 Schon im Jahr 1945 setzte ein Prozess ein, in der die ungarischen Kommunisten mit maßgeblicher Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht in nur wenigen Jahren eine kommunistische Diktatur errichteten. Die demokratischen Kräfte wurden unter Zuhilfenahme von Repression und Gewalt (-androhung) im Wesentlichen bis zum Jahr 1948 ausgeschaltet. In Ungarn wie in allen anderen sozialistischen Staaten Osteuropas hatten die kommunistischen Parteien von Beginn an das Ziel vor Augen gehabt, mit allen Mitteln das Machtmonopol, „die führende Rolle der Partei“, nach dem Modell der Sowjetunion zu erringen. Auch wenn sich in Ungarn zunächst das parlamentarische System der Form nach zunächst noch entfalten konnte, so hatten die Kommunisten kein wirkliches Interesse an parlamentarischer Demokratie, politischem Pluralismus und Gewaltentrennung.7 Die von der sowjetischen Besatzungsmacht maßgeblich unterstützte „Ungarische Kommunistische Partei“ (MKP: Magyar Kommunista Párt) errang bei den ersten freien Parlamentswahlen – den Wahlen zur Nationalversammlung am 4. November 1945 – rund 17 Prozent der Stimmen. Mit Abstand stärkste politische Kraft wurde die bürgerliche „Unabhängige Partei der Kleinen Landwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums (FKgP: Független Kisgazda-, Földmunkás- és Polgári Párt) mit 57 Prozent der Stimmen .8 Trotz der absoluten Mehrheit der Stimmen für die FKgP bestand die sowjetische 4 Fischer 1999: 198/199; Molnár 1999: 409/410 5 Fischer 1999: 200 6 Molnár 1999: 409 7 Bartosek 1998: 433 8 Litván; Bak 1994: 23; Fischer 1999: 203 - 5 - Besatzungsmacht auf eine Regierungsbeteiligung der MKP. In einer breit angelegten Koalitionsregierung von Ministerpräsident Zoltán Tildy (FKgP) unter Beteiligung der FKgP, der MKP, der „Nationalen Bauernpartei“ (NPP: Nemzeti Parasztpárt und der „Sozialdemokratischen Partei“ (SZDP: Szociáldemokrata Párt SZDP) verfügte die MKP über vier Ministerposten.9 Allerdings handelte es sich dabei um Schlüsselministerien, wie zum Beispiel das Innenministerium. Damit hatte die MKP entscheidenden Zugriff auf den Polizei- und Sicherheitsapparat im Lande. Die Bevölkerung und der politische Gegner konnten damit unter Kontrolle gebracht bzw. gehalten werden.10 Der Generalsekretär der MKP, Mátyás Rákosi, wurde in der Koalition unter Premier Tildy stellvertretender Ministerpräsident. Am 1. Februar 1946 wurde in Ungarn die Republik ausgerufen. Der bisherige Ministerpräsident Tildy wurde zum Staatspräsidenten gewählt. Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten wurde der Parteifreund von Tildy, Ferenc Nagy (FKgP)11 Dieser sah sich zusammen mit seiner Partei einem dauerhaften Störfeuer seitens der sowjetischen Besatzungsmacht und des kommunistisch geführten Innenministeriums ausgesetzt. Letzteres tat sich besonders durch Polizeioperationen gegen die FKgP und ihre Repräsentanten hervor. Ferenc Nagy und anderen führenden Mitglieder seiner Partei wurde schließlich Anfang 1947 eine „Verschwörung gegen den Staat“ vorgeworfen. In diesem Zusammenhang wurde ein Minister der Partei verhaftet und die Immunität weiterer Abgeordneter unter sowjetischem Druck aufgehoben.12 Am 10. Februar 1947 wurde in Paris der Friedensvertrag zwischen Ungarn und den Alliierten unterzeichnet, der zum 15. September 1947 in Kraft trat. Auch nach dem Friedensvertrag verblieben sowjetische Truppen in Ungarn.13 Am 30. Mai 1947 wurde Ministerpräsident Ferenc Nagy während einer Auslandsreise durch Drohungen der MKP zum Rücktritt gezwungen. Lajos Dinnyés, ebenfalls Mitglied der FKgP und bisheriger Verteidigungsminister, wurde durch Druck der Besatzungsmacht sein Nachfolger. Lajos Dinnyés war ein innerparteilicher Gegenspieler von Nagy und auf dem linken Flügel der Partei beheimatet. Als Minister für Verteidigung im Kabinett Ferenc Nagys hatte er sich schon früh für ein enges Verhältnis Ungarns zur Sowjetunion eingesetzt.14 9 Molnár 1999: 410 10 Bartosek 1998: 434 11 Fischer 1999: 205 12 Munzinger Archiv 1961:1; Bartosek 1998: 436 13 Litván; Bak 1994: 25; Fischer 1999: 204 14 Munzinger Archiv 1961: 1 - 6 - Bei den Parlamentswahlen am 31. August 1947, die von kommunistischer Seite massiv beeinflusst und gefälscht worden sind, kam es zu einem Sieg der Parteien des „Links- Blocks“, eines Zusammenschlusses von Kommunisten, Sozialdemokaten, Mitgliedern der Nationalen Bauernpartei und der Gewerkschaften. Der „Links-Block“ kam zusammen auf 61 Prozent der Stimmen. Stärkste politische Kraft wurde die MKP mit 21 Prozent .15 Unter Führung der MKP leitete die neue Regierung eine noch stärkere Hinwendung zu staatssozialistischen Strukturen ein. Ein Freundschafts- und Beistandsvertrag mit der Sowjetunion vom 18. Februar 1948, der „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe“, vertiefte die bereits vorhandene Abhängigkeit Ungarns auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet. Das Land integrierte sich immer fester in das sozialistische Lager unter Führung der Sowjetunion. Im März 1948 wurden Banken, Bergwerke und alle Industriebetriebe mit mehr als 100 Beschäftigten verstaatlicht . Weniger Monate später, im August 1948, wurde mit der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft begonnen.16 Im Juni 1948 konnten die ungarischen Kommunisten eine weitere wichtige Etappe bei Erringung der absoluten Macht im Lande einleiten. Am 12. Juni 1948 wurde die ungarische Sozialdemokratie gleichgeschaltet, indem sich die MKP und die Sozialdemokratische Partei (SZDP: Szociáldemokrata Párt) trotz Widerstandes von Teilen der Sozialdemokraten zur „Partei der Ungarischen Werktätigen“ (MDP: Magyar Dolgozók Pártja) vereinigten. Vorsitzender dieser marxistisch-leninistischen Partei mit über einer Millionen Mitglieder wurde mit Árpád Szakasits ein Vertreter der SZDP. Die faktische Macht in Ungarn lag zu dieser Zeit bereits in den Händen des Generalsekretärs der kommunistischen Partei Mátyás Rákosi.17 In den darauf folgenden Monaten zerschlug die von den Kommunisten kontrollierte MDP die bürgerlichen Parteien endgültig. Die noch im Parlament vertretenen Abgeordneten der demokratischen Parteien verschwanden durch Emigration, durch das Verbot ihrer Tätigkeit oder durch Aberkennung ihrer Mandate.18 Am 3. August 1948 wurde Staatspräsident Tildy durch Bedrohungen zum Rücktritt gezwungen. Ihm folgte Árpád Szakasits von der MDP. Damit war Sommer 1948 die von den ungarischen Kommunisten seit 1945 propagierte Politik eines kommunistischen Ungarns nahezu erfolgreich abgeschlossen.19 Im Vorfeld der Parlamentswahlen 1949 hatten die demokratischen Parteien praktisch ihre Aktivitäten unter dem Druck der Kommunisten eingestellt. 15 Fischer 1999: 205; Litván; Bak 1994: 24 16 Litván; Bak 1994: 185; Fischer 1999: 205 17 Litván; Bak 1994: 25 18 Fischer 1999: 206 19 Litván; Bak 1994: 25; Fischer 1999: 206 - 7 - Bei den vorgezogenen Wahlen zur Nationalversammlung im Mai 1949 erreichte die Einheitsliste der neuen Staatspartei 95,6 Prozent der Stimmen. Am 29. August 1949 wurde Ungarn durch eine neue Verfassung offiziell Volksrepublik. In der Verfassung wurde sie „als ein Staat der Arbeiter und Bauern“ bezeichnet. Das Prinzip der Gewaltenteilung wurde aufgehoben. Ein 21 Personen umfassender Präsidialrat wurde ins Leben gerufen, der als höchstes Staatsorgan faktisch das Parlament ablöste. Erster Präsident des Präsidialrates wurde der bisherige Staatspräsident Árpád Szakasits. Die Sitzungen des Parlaments fanden in der Regel nur noch wenige Male im Jahre statt.20. Im Dezember 1949 wurden alle bis dahin noch verbliebenen privaten Betriebe in Ungarn verstaatlicht .21 Die jetzt als einzige Partei zugelassene MDP dehnte ihre Gleichschaltungs- und Verfolgungswelle , die sich in den Jahren zuvor vor allem auf die demokratischen Parteien und Politiker bezogen hatte, seit Ende der vierziger Jahre auch auf die eigenen Reihen aus. Es folgten Verhaftungen, Folterungen und öffentliche und geheime Prozesse, die auch vor amtierenden oder ehemaligen Ministern der eigenen Staatspartei MDP nicht halt machten. So wurde der ehemalige Innen- und Außenminister Laszlo Rajk (MDP) am 15. Oktober 1949 zusammen mit anderen Angeklagten hingerichtet. Der Präsident des Präsidialrates, Árpád Szakasits (MDP), wurde im April 1950 verhaftet und verurteilt. Sein Nachfolger wurde am 8. Mai 1950 Sándor Rónai (MDP). Im Jahr 1951 wurde Innenminister János Kádár (MDP) unter Anklage gestellt und zu langjähriger Haftstrafe verurteilt.22 Säuberungen im Spätherbst 1951 fielen mehr als die Hälfte aller hauptamtlichen Parteifunktionäre zu Opfer. Zudem verloren mehr als 350.000 Mitglieder der MDP bis August 1954 ihre Parteimitgliedschaft.23 Entscheidenden Anteil an dieser Politik hatte der langjährige Generalsekretär der MDP, Mátyás Rákosi. Er selber bezeichnete sich selbst als „Stalins bester ungarischer Schüler “, der mit großer Intensität seit 1945 das politische, gesellschaftliche und ökonomische System der stalinistischen Sowjetunion auf Ungarn zu übertragen versuchte.24 Mit Hilfe der ihm als Generalsekretär unterstellten „Staatssicherheitspolizei“ bzw. Amt für Staatssicherheit (ÁVH: Államvédelmi Hatóság)25 ging er sowohl energisch gegen die demokratische Opposition als auch einige Zeit später gegen Mitglieder und Angehörige der kommunistischen Partei- und Staatsführung vor. Seinem Terror mit Schauprozessen, Massenanklagen sowie Internierungs- und Arbeitslagern fielen mehrere Tausend Men- 20 Litván; Bak 1994: 27 21 Litván; Bak 1994: 185 22 Litván; Bak 1994: 185 23 Litván; Bak 1994: 29/39 24 Gosztony 1996: 3 25 Ab 1945 zunächst ÁVO=Államvédelmi Osztaly, Abteilung für Staatssicherheit - 8 - schen in Ungarn zum Oper. Anfang der fünfziger Jahre wurden in Ungarn 1,5 Millionen Menschen, rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, von der ungarischen Staatssicherheit überwacht.26 Von Kriegsende bis 1953 wurden ca. 220.000 Menschen in Ungarn interniert.27 Am 14. August 1952 wurde Mátyás Rákosi zusätzlich zu seinem Amt als Generalsekretär der MDP ungarischer Ministerpräsident.28 Staatsoberhaupt bzw. Präsident des Präsidialrates wurde am selben Tag István Dobi, ehemaliges Mitglied der FKgP und von 1948 bis 1952 ungarischer Ministerpräsident. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik führte die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Bevorzugung der Schwer- und Rüstungsindustrie zu einer großen strukturellen Krise der Gesamtwirtschaft, die sich unter anderem in sinkenden Realeinkommen , Problemen in der Landwirtschaft und einer Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie bemerkbar machte. Der Lebensstandard der Ungarn verschlechterte sich.29 Im Sommer 1952 kam es auf dem Land zu ersten Anzeichen starken Widerstands gegen die Partei- und Staatsführung bezüglich des Systems der Zwangsablieferungen.30 In den Jahren 1951 bis 1953 besaßen zwei Drittel der Einzelbauern kein ausreichendes Getreide für Saatgut und die eigene Ernährung. Der Reallohn je Erwerbstätigen lag im Jahr 1953 bei den Arbeitern um über 17 Prozent und bei den Angestellten um über 20 Prozent niedriger als 1949.31 Zudem führten die Terrormaßnahmen der ÁVH endgültig zur völligen Diskreditierung des gesamten politischen Systems und der MDP in der Bevölkerung . Diese ernste Krise in Ungarn versuchte die Kremlführung in Moskau dadurch zu lösen, indem sie Rákosi dazu zwang, das Amt des Ministerpräsident im Juni 1953 zur Verfügung zustellen. Er blieb aber nach wie vor Generalsekretär der Partei.32 In dieser verbliebenen Position versuchte er in der Folgezeit seinen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Imre Nagy, systematisch zu bekämpfen. In einer Sitzung des Zentralkomitees (ZK) der MDP, des höchsten Parteiorgans zwischen den Parteitagen, fielen im Juni 1953 intern bis dahin ungewöhnliche kritische Töne und offene Worte gegenüber der bisherigen Politik der ungarischen Regierungsund Parteiführung unter Mátyás Rákosi. Ergebnis der Sitzung war ein detaillierter Beschluss des ZK. In diesem wurde die bis dahin verfolgte Politik von Partei und Regierung scharf verurteilt. Allerdings wurde diese harsche Kritik an die Öffentlichkeit nicht weitergegeben: 26 Klimó; Kunst 2004: 304 27 Tinschmidt 1997: 71 28 Munzinger Archiv 1971: 1 29 Gosztony 1996: 3; Fischer 1999: 209 30 Rainer 2000: 137 31 Tinschmidt 1997: 69 32 Fischer 1999: 209/210 - 9 - „Das Plenum des ZK der Partei der Ungarischen Werktätigen stellt fest, dass von der Parteiführung mit dem Genossen Rákosi an der Spitze in den politischen Zielvorgaben und der praktischen Arbeit der vergangenen Jahre schwere Fehler begangen worden sind. Diese Fehler haben sich auf den Lebensstandard der Bevölkerung allgemein und besonders auf den der Arbeiterklasse ungünstig ausgewirkt, durch sie wurden die Beziehung zwischen Partei und Arbeiterklasse geschwächt, generell die Beziehung zwischen Partei, Staat und den werktätigen Massen negativ beeinflusst und in der Volkswirtschaft gravierende Probleme erzeugt. Es war eine sektiererische Politik, die die Industrialisierung als Selbstzweck betrachtete und die Interessen der Arbeiterklasse und der Werktätigen nicht berücksichtigt hat. (…) Die Fehler bei der Generallinie der Partei und die in der Wirtschaftspolitik begangenen Fehler haben im hohen Maß dazu beigetragen , dass gegen die Werktätigen auf breiter Linie administrative Maßnahmen angewendet werden mussten und noch immer angewendet werden, dass die Menschen durch Polizei und Gerichte massenhaft verfolgt und abgeurteilt wurden und von den Behörden rüde Behandlung und Willkür erfahren müssen. Vom Anfang des Jahres 1951 bis zum 1. Mai 1953, als innerhalb von zwei Jahren und vier Monaten, hat die Polizei in rund 850.000 Fällen wegen Gesetzesübertretung Strafen verhängt … Dasselbe Bild bietet sich auch bei den Gerichten. Zwischen 1950 und dem zweiten Quartal 1953, das heißt in drei und ein viertel Jahren kamen 650.000 Fälle vor Gericht, und es wurden in 350.000 Fällen Strafen verhängt(…).33 Imre Nagy (MDP), zuvor stellvertretender Ministerpräsident, wurde am 4. Juli 1953 mit Unterstützung aus Moskau neuer Ministerpräsident Ungarns. Die Moskauer Parteiführung stufte Nagy als exzellenten Kenner des Agrarsektors in Ungarn ein. Da sie die schwierige Situation in der ungarischen Landwirtschaft als Hauptproblem der Krise im Jahr 1952 lokalisierte, war Nagy auch aus diesem Grund von ihr ausgewählt worden.34 In der Sowjetunion war zuvor im März 1953 - nach dem Tod des dortigen Parteichefs der KPdSU Josef W. Stalin - Nikita Chruschtschow als einer von mehreren Sekretären der KPdSU an die Macht gekommen. Nagy war von seinem Selbstverständnis her überzeugter Kommunist, der ohne staatlichen Terror und gemeinsam mit der Bevölkerung die Ziele des Sozialismus zu verwirklichen anstrebte. In seiner Regierungszeit versuchte er gegen den Widerstand von Rákosi und großen Teilen des Parteiapparats der MDP die Politik eines "nationalen und menschlichen Sozialismus“ zu verfolgen. Er startete einen ersten sozialistischen Reformversuch, der vom Modell des Stalinismus Abstand nahm.35 Zu den neuen politischen und wirtschaftlichen Freiheiten seiner „Politik des neuen Kurses “ gehörte zum Beispiel die Verlangsamung der forcierten Industrialisierung, die Ab- 33 Litvan: Bak 1994: 36 34 Rainer 2000: 154 35 Varga 2001: 55 - 10 - schaffung der Zwangsmaßnahmen gegen Bauern, die Ermöglichung von Austritten aus den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die Abschaffung der Internierungslager , juristische Rehabilitierungen und die Ermöglichung einer offeneren Atmosphäre in der Öffentlichkeit durch größere Freiheiten für Journalisten und Schriftsteller .36 In seiner Regierungserklärung als neuer Ministerpräsident am 4. Juli 1953, die am selben Tag im ungarischen Radio übertragen worden war, hatte Nagy offensiv sein politisches Selbstverständnis kundgetan:37 „(…) Diese Regierung beruht, in all ihrer Tätigkeit, auf dem Recht und der Gesetzlichkeit , die in unserer Verfassung niedergelegt ist. Die Grundlage unseres volksdemokratischen Staatssystems und unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens ist sozialistische Gerechtigkeit, die strikte Beachtung der bürgerlichen Rechte und Verantwortlichkeiten, die in der Verfassung und den Gesetzen der Volksrepublik festgelegt sind.“ Die Reformbemühungen von Nagy und seinen politischen Mitstreitern wurden durch den Parteiapparat unter Rákosi von Anfang an kontinuierlich politisch torpediert. Mátyás Rákosi erreichte bereits zu Beginn des Jahres 1955 sein Ziel. Die Führung der KPdSU kritisierte am 8. Januar 1955 die „Rechtsabweichung“ Imre Nagys. Damit revidierte die Moskauer Parteiführung ihre Position vom Sommer 1953, die zur Ernennung des reformorientierten Nagy geführt hatte, wieder.38 Dieser erneute Strategiewechsel der KPdSU-Führung lag auch im Zusammenhang mit der veränderten weltpolitischen Lage. Im Jahr 1954 wurde die Bundesrepublik durch die „Pariser Verträge“ wieder bedingt souverän und für eine Mitgliedschaft in der NATO umworben.39 Mit dem jetzt wieder wehenden politischen Rückenwind aus Moskau fasste das vom 2. bis 4. März 1955 tagende ZK der MDP einen unmissverständlichen Beschluss. Die von Imre Nagy vertretenen „parteischädigenden, antimarxistischen, opportunistischen und rechtsgerichteten“ Tendenzen wurden als „Hauptgefahr“ bestimmt. Am 14. April 1955 beschloss das ZK, Imre Nagy von allen seinen Ämtern zu entheben. Er wurde als ungarischer Ministerpräsident abgesetzt und aus dem ZK sowie dem Politbüro ausgeschlossen. Danach wurden ihm seine Professur und seine Mitgliedschaft in der Ungarischen Akademie entzogen. Ende des Jahres 1955 schließlich wurde er aus der Partei ganz ausgeschlossen.40 Nachfolger Nagys als Ministerpräsident wurde am 18. April 1956 der seit 1953 amtierende stellvertretende Ministerpräsident András Hegedüs. Er war ein Vertrauter von 36 Litván; Bak 1994: 44/45; Gosztony 1996: 3; Varga 2001: 73; Molnár 1999: 425 37 Rainer 2000: 156 38 Litván; Bak 1994: 29/30 39 Molnár 1999: 426 40 Litván; Bak 1994: 44/45; Gosztony 1996: 3 - 11 - Generalsekretär Mátyás Rákosi. Letzterer startete wieder eine Kampagne der Repression und Einschüchterung. Dazu gehörten zum Beispiel erneute Kollektivierungen in der Landwirtschaft, die reihenweise Entlassung von Journalisten und die Bedrohung von kritischen Schriftstellern.41 Rákosi und Hegedüs gelang letztendlich nicht, die großen innenpolitischen Probleme des Landes, die nach wie vor bestanden, in den nun folgenden Monaten zu bewältigen. Auch innerhalb der MDP entstanden Konflikte zwischen den Anhängern Rákosis und Nagys, die schließlich zu einer innerparteilichen Opposition führen sollten.42 Am 14. Mai 1955 war der "Warschauer Pakt" gegründet worden. Er bildete eine zentrale Voraussetzung für den Verbleib sowjetischer Truppen in Ungarn.43 3. Unmittelbare Entwicklungen vor dem Volkaufstand 1956 Der ungarische Volksaufstand war eine spontane und überraschende politische Eruption . Er entsprang keinerlei Planung von Personen oder politischen Gruppierungen.44 Allerdings hatte es in den Monaten vor dem Aufstand innerhalb und außerhalb des Landes Entwicklungen gegeben, die auf die späteren Ereignisse nicht ohne Wirkung geblieben sein dürften. 3.1. 20. Parteitag der KPdSU Auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der vom 14. bis 25. Februar 1956 in Moskau stattfand, hielt Parteichef Nikita Chruschtschow am 25. Februar 1956 zum Abschluss seine so genannte Geheimrede vor den Delegierten. Er setzte sich in seiner von Offenheit geprägten Rede äußerst kritisch sowohl mit dem Personenkult als auch mit den Verbrechen und dem Machtmissbrauch Josef W. Stalins und des von ihm geprägten Stalinismus auseinander. Mit der Entstalinisierung versuchte die KPdSU nicht nur den bisherigen Personenkult um die Person Stalins zu beenden, sondern auch eine begrenzte Liberalisierung von Staat und Gesellschaft, personelle Veränderungen zugunsten von Reformkräften, die Reduzierung des Terrorapparates, die Rehabilitation von Opfern und wirtschaftliche Reformen voranzutreiben. Die brisante Rede Chruschtschows, die in Auszügen bereits im März 1956 in der jugoslawischen Presse abgedruckt wurde und deren vollständiger Inhalt mehrere Monate später auch die gesamte Weltöffentlichkeit erreichte, blieb auch nicht ohne Folgen für die osteuropäischen Volksdemokratien im Herrschaftsbereich der Sowjetunion.45 Sie wurde auch hier Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen - stalinistisch geprägten – politischen System und führte zu inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der 41 Molnár 1999: 427 42 Litván; Bak 1994: 45/46 43 Sinn 2005: 4 44 Mühle 1998: 45; Fischer 1995: 154 45 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 1 - 12 - kommunistischen Parteien über die zukünftige Entwicklung des Herrschaftssystems im eigenen Lande. Das galt insbesondere für Polen und Ungarn.46 3.2. Entstehung einer Opposition Nach der völligen Entmachtung von Ministerpräsident Imre Nagy durch die Hardliner in der ungarischen KP um Mátyás Rákosi gruppierte sich um Nagy ein loser und unorganisierter Sympathisantenkreis, der sich aus Teilen der in der Kommunistischen Partei organisierten und antistalinistisch eingestellten Intelligenz zusammensetzte. Dazu gehörten unter anderem viele Mitglieder des Schriftstellerverbandes, Journalisten, Künstler und Angehörige der technischen Intelligenz.47 Dieser reformorientierte Personenkreis setzte auf eine Entstalinisierung in Ungarn und wurde zu einer Stütze der Reformbewegung im und im Vorfeld des Herbstes 1956. In diesem Zusammenhang wurde unter dem Dach der Jugendorganisation der MDP, dem „Verband der Werktätigen Jugend “ (DICZ: Dolgozó Ifjúság Szövetsége), der so genannte Petőfi-Kreis („Petöfi Kör") ins Leben gerufen.48 Er wurde nach Sándor Petőfi (1823-1849), einem ungarischen Dichter und aktiven Teilnehmer der Revolutionskämpfe von 1848/49 benannt. Als Diskussionskreis junger Literaten angelegt, kamen im Petőfi-Kreis zunehmend kritische Mitglieder der MDP, Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler zu einem offenen Gesprächsforum außerhalb der Staatspartei zusammen. Die zahlreichen Debatten bezogen sich insbesondere auf Themen aus dem Bereich Wirtschaft, Geschichtsschreibung und marxistische Philosophie.49 Der „Petőfi-Kreis“ wurde insbesondere im Sommer 1956 zu einem Hauptforum der Opposition und zu einem der wichtigsten inhaltlichen Wegbereiter des Ungarischen Volksaufstandes. 3.3. Politische Entwicklung in Polen im Jahr 1956 Einen Einfluss auf die Revolution in Ungarn dürften auch die Ereignisse im Sommer und Herbst 1956 im Nachbarland Polen ausgeübt haben. In der Industrie- und Messestadt Posen kam es am 30. Juni 1956 zu Arbeiterunruhen, die von der Staatsführung mit äußerster Gewalt niedergeschlagen wurden. Bilanz des von polnischer Staatssicherheit und Volksarmee beendeten Aufstandes waren über 40 Tote.50 In den Monaten danach kam es innerhalb der polnischen kommunistischen Partei zum Konflikt über den zukünftigen politischen Kurs in Polen. Die Krise spitzte sich zu, als die Reformkräfte in der Partei Mitte Oktober 1956 sich, gegen den erklärten Willen der sowjetischen Führung , für die Wahl von Wladyslaw Gomulka zum ersten Sekretär des ZK der „Vereinig- 46 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 2; Gosztony 1996: 5; Litván; Bak 1994: 36 47 Litván; Bak 1994: 46/47 48 Molnár 1999: 428 49 Molnár 1999: 429 50 Gosztony 1996: 5 - 13 - ten Polnischen Arbeiterpartei“ (PZRP: Polska Zjednoczona Partia Rabotnicza) aussprachen und damit auf offene Konfrontation zum Kreml gingen.51 Gomulka war 1948 als erster Sekretär der PZAP aus der Parteiführung entfernt und seit 1951 mehrere Jahre inhaftiert worden. Er hatte sich unter anderem gegen Absichten zur Kollektivierung der polnischen Landwirtschaft gewandt.52 Im April 1956 wurde er, auch als Folge der Entstalinisierung, öffentlich rehabilitiert. Er galt als Reformkommunist , der sich für eine stärkere Berücksichtigung polnischer Interessen einsetzte. In Polen stationierte sowjetische Truppen bereiteten sich auf eine militärische Intervention vor. Als Drohkulisse führten die in Polen stationierten Truppen umfangreiche Manöver durch. Eine hochrangige sowjetische Delegation unter der Führung von Nikita Chruschtschow und in Begleitung des Chefs der Truppen des „Warschauer Vertrages“ („Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“) verhandelte am 19. Oktober 1956 mit der polnischen Parteiführung. Die sowjetische Parteiführung akzeptierte schließlich die Wahl Gomulkas zum ersten Sekretär der PZAP am 20. und 21. Oktober 1956 auf einem Parteitag der PZAP und ließ von einer militärischen Intervention ab.53 Die überwiegende Mehrheit der Polen hatte sich - auch aufgrund der Drohungen des Kremls - hinter Gomulka gestellt. Gomulka sicherte in diesem Zusammenhang Moskau weitere enge Anbindung Polens an die Sowjetunion sowie die grundsätzliche Beibehaltung des kommunistischen Systems zu. Eine Infragestellung der politischen Strukturen oder das Ausscheren aus dem sowjetischen Machtbereich wurde von den polnischen Kommunisten unter Gomulka nicht verfolgt54. Die polnische Krise im Herbst 1956 konnte mit friedlichen Mitteln beigelegt werden. Es kam nicht zur Anwendung von militärischen Mitteln durch die Führung der KPdSU. Allerdings war die sowjetische Führung in sich gespalten gewesen.55 In Ungarn wurden die Ereignisse in Polen von den reformorientierten Kräften in und außerhalb der Partei mit großer Aufmerksamkeit und Sympathien verfolgt. Die Führung der KPdSU stand im Oktober 1956 nicht nur vor der Herausforderung, die für sie schwierige politische Situation in Polen zu lösen , sondern in enger zeitlicher Reihenfolge die Probleme der kommunistischen Bruderpartei in Ungarn zu bewältigen. 3.4. Die Ablösung Mátyás Rákosis Die Weigerung des Altstalinisten Mátyás Rákosi, nach dem 20. Parteitag der KPdSU auch umfassende personelle und politische Konsequenzen für Ungarn zu ziehen, vergrößerte die schon bestehende Kluft zwischen den Machthabern und der großen Mehr- 51 Tischler 2006: 16; Litvan; Bak 1994: 194 52 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006: 2 53 Gosztony 1996: 5 54 Mühle, 1998: 48; Rainer 2000: 215 55 Rainer 2000: 216 - 14 - heit der ungarischen Bevölkerung deutlich. Die Unzufriedenheit mit der Partei- und Staatsführung verstärkte sich.56 Auch innerhalb der kommunistischen Partei kam es seit dem Frühjahr 1956 auf Mitgliederversammlungen und Parteiveranstaltungen zu Unmutsäußerungen gegenüber der Parteiführung. Dabei wurde unter anderem der Vertrauensverlust in der Bevölkerung, die schwierige wirtschaftliche Situation sowie die als notwendig erachtete Rehabilitierung der in den Jahren zuvor gesetzwidrig Verurteilten thematisiert.57 Im Herbst 1956 sah sich die ungarische Parteiführung damit konfrontiert, dass die staatlich kontrollierten Medien mehr Selbständigkeit für sich in Anspruch nahmen und zunehmend Positionen der Opposition in Partei und Gesellschaft vertraten.58 Diese aus Sicht der kommunistischen Partei- und Staatsführung gefährliche Entwicklung blieb auch der Führung der KPdSU in Moskau nicht verborgen. Einige Monate nach dem 20. Parteitag, am 17. Juni 1956, musste schließlich auf Druck des Kreml Rákosi vom Parteivorsitz zurücktreten. Als neuer Sekretär des ZK der MDP wurde János Kádár gewählt. Er war unter anderem von 1949 bis 1950 Innenminister gewesen, wurde dann unter Mátyás Rákosi im April 1951 verhaftet und schließlich im Oktober 1954 rehabilitiert.59 Nachfolger Rákosis als ungarischer Parteivorsitzender wurde dessen enger Vertrauter und bisherige Stellvertreter, Ernő Gerő. András Hegedüs, seit der Absetzung Nagys im April 1955 Ministerpräsident, verblieb in seiner Funktion. Der Wechsel zu Ernö Gerö, der eigentlich zur Entspannung der innenpolitischen Situation in Ungarn beitragen sollte , erzielte nicht die erhoffte Wirkung, da dieser in den wenigen Monaten bis zu den Ereignissen im Herbst 1956 in seiner Politik nur ansatzweise eine Abkehr vom bisherigen Kurs praktizierte. Beispielsweise wurden einige Hundert Opfer der Rákosi- Verfolgungen, unter ihnen 132 Kommunisten und 151 Sozialdemokraten, rehabilitiert. Verschiedene Bischöfe der beiden Kirchen wurden freigelassen.60 Ingesamt wurde die bisherige politische Linie der MDP von Ernö Gerö aber nicht verändert. Sowohl in der Bevölkerung als auch unter Intellektuellen und Reformern in der kommunistischen Partei wurde die Wahl Gerős nicht als Bruch mit der bisherigen stalinistischen Politik aufgefasst , sondern als Kontinuität des bisherigen Weges in Ungarn gewertet.61 56 Fischer 1999: 210; Litván; Bak 1994: 29/30 57 Vida 2001: 79 58 Rainer 2000: 215 59 Munzinger Archiv 1989: 1 60 Molnár 1999: 428 61 Litván; Bak 1994: 57 - 15 - 3.5. Gründung eines unabhängigen Studentenverbandes Neben den reformorientierten Kommunisten wurden die Studenten im Herbst 1956 Wegbereiter einer politischen Veränderung in Ungarn. In den vielen ungarischen Universitätsstädten entstanden Diskussionszirkel, die sich verstärkt auch politischen Themen widmeten. Am 16. Oktober 1956 kam es in der ungarischen Stadt Szeged, in bewusster Abgrenzung zum einzig erlaubten kommunistischen Jugendverband der Partei, dem „Verband der Werktätigen Jugend“ (DICZ), zur Neugründung des unabhängigen studentischen Verbandes, des „Einheitsverbandes Ungarischer Universitäts- und Hochschulstudenten “ (MEFESZ: Magyar Egyetemista és Főiskolai Hallgatók Szövetsége).62 Die Studentenversammlungen forderten am 19. Oktober 1956 eine Reform der Ausbildung und stellten erstmals auch erste politische Forderungen auf. Die in Ungarn stationierten Truppen der Sowjetunion wurden zu dieser Zeit in Alarmbereitschaft versetzt.63 4. Der Hauptereignisse des Volksaufstandes Der Ungarische Volksaufstand im Jahr 1956 dauerte vom 23. Oktober 1956 bis zum 4. November 1956. Zwei zentrale Ereignisse markieren Anfang und Beginn des 12 Tage währenden Aufstandes. Als Beginn wird der 23. Oktober 1956 angesehen, als sich eine Studentendemonstration in Budapest spontan zur Großdemonstration entwickelte und sich anschließend zum Volksaufstand ausweitete. Für das Ende des Volksaufstandes steht das Datum des 4. November 1956. An diesem Tag begannen die sowjetischen Truppen mit ihrer – erneuten – Invasion in Ungarn. Der 4. November 1956 war der Beginn des Zusammenbruchs.64 Am 22. Oktober 1956, als sich große Teile der Parteiführung der ungarischen Kommunisten zu einem mehrtägigen Gipfeltreffen mit den jugoslawischen Genossen in Belgrad aufhielten65, versammelten sich in der Technischen Universität Budapest mehrere Tausend Studenten zu einer Versammlung und forderten die Autonomie ihrer Organisationen . Darüber hinaus stellten die jungen Akademiker bei ihrer Zusammenkunft umfassende politische Forderungen auf, die zunächst zwölf und später 14 Punkte umfassten.66 Ein Teil der Forderungen setzte gezielt auf eine Stärkung der Reformkräfte innerhalb der kommunistischen Partei. Dazu gehörte unter anderem die Forderung nach Ernennung Nagys zum Ministerpräsidenten, die Einberufung eines Parteikongresses, die Überprüfung der bisherigen Wirtschaftspolitik sowie die Bestrafung der für Terror Ver- 62 Litván; Bak 1994: 63 und 186; Rainer 2000: 214 63 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 6 64 Ploetz 1998: 1509 65 Rainer 2000: 215 66 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 7 - 16 - antwortlichen der vergangenen Jahre. Die Studenten stellten darüber hinaus Programmpunkte auf, die die Existenz der kommunistischen Diktatur in Ungarn gefährdeten. Dazu gehörten zum Beispiel die Forderungen nach einem Mehrparteiensystem, freien Wahlen , Pressefreiheit, ökonomischer Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion, Wiedereinführung der ungarischen Nationalfeiertage und Staatssymbole der Vorkriegszeit sowie schließlich der Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn.67 Der staatliche Rundfunk in Budapest verweigerte sich dem Wunsch der Studenten, ihre politischen Forderungen über das Radio im ganzen Land bekannt zu geben. Diese Weigerung nahmen die Studenten spontan zum Anlass, für den 23. Oktober 1956 zu einer friedlichen Massenkundgebung aufzurufen. Diesem Aufruf schlossen sich auch die Studenten der Philosophischen Universität an. Mit ihrer Demonstration beabsichtigten die Studenten, sich mit den reformorientierten Kräften in Polen, die zu dieser Zeit in Konflikt mit der russischen KP standen, solidarisch zu erklären und ihren eigenen politischen Forderungen öffentlich Gehör zu verschaffen. Als Treffpunkt der beiden studentischen Demonstrationszüge wurde der Platz vor der Statue des polnischen General Józef Bem ausgewählt. Es war ein symbolischer Ort, der eine historische Brücke sowohl zur Revolution der Jahre 1848/49, in der die Ungarn am Ende erfolglos um ihre Unabhängigkeit gegen Österreich gekämpft hatten, als auch zur aktuellen polnischen Situation herstellte. Bem hatte als Pole 1848/49 an der Seite Ungarns gegen die Truppen Österreichs und Russlands gekämpft. Die Parole der Demonstration lautete "Polen ist das Vorbild, lasst uns zugleich den ungarischen Weg beschreiten“.68 Noch am 22. Oktober 1956 berief die ungarische Armeeführung die Regimentskommandeure und ihre politischen Stellvertreter für den 24. Oktober 1956 zu einem Treffen ins Verteidigungsministerium ein.69 Am 23. Oktober 1956 um 13.00 Uhr wurde die studentische Demonstration durch die Staatsmacht verboten. Das Verbot wurde allerdings um 14.30 Uhr wieder aufgehoben. Um 15.00 Uhr bewegte sich die friedliche Kundgebung der Studenten für die Reformbewegungen in Polen und eine politische Umgestaltung Ungarns zum Józef Bem-Platz in Buda. Dort verlas unter anderem der Autor Peter Veres die politischen Forderungen des ungarischen Schriftstellerverbandes und verlangte eine schonungslose Offenlegung der krisenhaften Situation. Von Buda bewegte sich der größte Teil des Demonstrationszuges zum ungarischen Parlament, wo sich kurzweg hunderttausend Menschen ver- 67 Fischer 1999: 211; Litván; Bak 1994: 64/65 68 Tischler 2006: 16; Litván; Bak 1994: 65 69 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a. 7 - 17 - sammelten.70 An verschiedenen Punkten der Stadt nahmen am 23. Oktober 1956 mehr als 250.000 Menschen an Demonstrationen teil.71 Die Menschen riefen neben ihren politischen Forderungen auch den Namen Imre Nagys, des reformorientierten und von der Parteiführung abgesetzten ehemaligen Ministerpräsidenten . Nagy ergriff dann von einem Balkon des Parlamentsgebäudes um ca. 21.00 Uhr das Wort. Die Parteiführung hatte Nagy zum Parlament zur Beruhigung der Lage kommen lassen.72 Allerdings traf er in seinem Wortbeitrag offenbar nicht das Anliegen der Demonstranten. Er redete die Menge anfangs mit Genossen an, ging nicht auf die aktuellen politischen Forderungen der Demonstranten ein, nannte sein Regierungsprogramm vom Juni 1953 als Handlungsalternative und rief zu Ruhe und Ordnung bzw. dazu auf, nach Hause zu gehen. Der Beitrag Nagys schuf Enttäuschungen bei den Versammelten .73 Die Reaktion der Menschen auf die Äußerungen Nagys zeigte, dass die Krise sich bereits so weit entwickelt hatte, dass einige kleine inhaltliche Zugeständnisse von Seiten der Staatsmacht nicht mehr zu Beruhigung der Menschen ausreichten. Zu gleichen Zeit sendete der Ungarische Rundfunk eine Rede von Ernö Gerö. Die vor dem Rundfunkgebäude in Pest versammelte Menschenmenge, ebenfalls ein Resultat des Demonstrationszuges vom Józef Bem-Platz in Buda, verlangte die Verlesung der 14 Punkte. Der Staatssicherheitsdienst ÁVH ging vor dem Rundfunkgebäude gegen 22.30 Uhr des 23. Oktober 1956 gegen Demonstranten mit Waffengewalt vor. Sie schossen auf die Demonstranten. Innerhalb kürzester Zeit gab es zahlreiche Tote und Verletzte. Daraufhin eskalierte die Situation. Die Demonstranten stürmten, mittlerweile auch durch die Erbeutung von Waffen und Munition in Polizeistationen und Kasernen bewaffnet , das Rundfunkgebäude. Damit hatte die bewaffnete Auseinandersetzung begonnen . Die eigentlich zur Niederschlagung der Demonstrationen hinzugezogenen ungarischen Armeeeinheiten missachteten die Befehle ihrer Vorgesetzten und solidarisierten sich häufig mit den Demonstrierenden.74 Die Partei- und Staatsmacht war von der plötzlich eingetretenen innenpolitischen Lage völlig überfordert. Der sowjetische Botschafter Andropow alarmierte Moskau am 23. Oktober 1956 mit folgenden Worten: „Wir haben den Eindruck, dass die ungarischen Genossen in der so entstandenen Atmosphäre kaum in der Lage sind, ohne Hilfe den Weg des entschlossenen und mutigen Handelns einzuschlagen.“75 Das Zentralkomitee der MDP kam am späten Abend des 23. Oktober 1956 zusammen und definierte den 70 Gosztony 1996: 7 71 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 8; Litván; Bak 1994: 65; Rainer; Barth 2000: 220 72 Klimó; Kunst 2004: 294 73 Litván; Bak 1994:70, Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 8 74 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 8; Litván; Bak 1994: 70 75 Rainer; Barth 2000: 239 - 18 - Aufstand in einem Aufruf als „das Werk konterrevolutionärer, faschistischer Kräfte“. Die Revolutionäre wurden als „Banditen“ bezeichnet.76 Es plädierte für die Niederschlagung des Aufstandes mittels Waffengewalt durch Armee, bewaffnete Sicherheitskräfte und sowjetische Truppen.77 In derselben Sitzung wurde gegen Morgen des 24. Oktober 1956 allerdings der im Vorjahr als Ministerpräsident entlassen und erst wieder 10 Tage zuvor in die Partei aufgenommene Imre Nagy in das Zentralkomitee der Partei und in den Politischen Ausschuss aufgenommen sowie einstimmig für Amt des Ministerpräsidenten nominiert und gewählt 78. Er rückte damit aus dem Stegreif wieder in das Zentrum der politischen Macht des Landes. Kurze Zeit davor noch ein einfaches Parteimitglied, wurde er jetzt mit der Regierungsbildung beauftragt. Die alte Nomenklatura der Partei erhoffte von Nagy, der noch viele Sympathien in der Bevölkerung genoss und als integer galt, einen mäßigenden Einfluss auf die Aufständischen.79 In den politischen Ausschuss wurden neben Nagy weitere Vertreter der Parteiopposition aufgenommen. Ingesamt dominierten nach wie vor die bisherigen Vertreter der alten Führung Parteigremien. Ernö Gerö verblieb in seiner Funktion als Erster Sekretär der Partei.80 Er war es, der die Führung der KPdSU wie auch den sowjetischen Botschafter Andropow nach der sich abzeichnenden Zuspitzung der Lage in Budapest mehre Male informierte und um militärische Hilfe zur Niederschlagung des Aufstandes bat.81 Die zuvor von Gerö nach Budapest gerufenen Einheiten der ungarische Volksarmee, die um Mitternacht des 23. Oktober 1956 am Rundfunkgebäude eintrafen, führten auf Anordnung der Befehlshaber keine Munition mit sich. Die Soldaten gingen schließlich auf die Seite der Demonstranten über.82 Moskau entschied sich daraufhin noch am selben Abend für den Einsatz seiner Truppen in Ungarn. Formell bestand die kommunistische Führung der KPdSU dann im Verlauf des Volksaufstandes auf einer schriftlichen Anforderung für den Einsatz sowjetischer Truppen seitens der ungarischen Regierung. Diese kam der Forderung durch einen einige Tage später unterzeichneten und auf den Beginn des Volksaufstandes rückdatierten Brief des vormaligen Ministerpräsidenten András Hegedüs nach.83 In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1956 trafen die in Ungarn stationierten sowjetischen Panzereinhei- 76 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 8 77 Litván; Bak 1994: 71 78 Rainer; Barth 2000: 243 79 Fischer 1999: 212 80 Litván; Bak 1994: 71; Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 8 81 Litván; Bak 1994: 70/71; Sinn 2005: 6; Gosztony 1996: 8 82 Gosztony 1996: 8 83 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006b: 1; Sinn 2005: 6 - 19 - ten in Budapest ein und besetzten strategisch wichtige Punkte in der Hauptstadt. Die Truppen unterstanden direkt dem sowjetischen Generalstab in Moskau. Sie waren über die Situation gut informiert und vorbereitet, allerdings gingen sie zu Beginn ihrer Aktionen von einer großen Unterstützung durch die ungarischen Streitkräfte aus. Die Truppen stießen auf heftigen Widerstand der Bevölkerung. In Budapest fanden schwere Straßenkämpfe statt.84 Am Morgen des 24. Oktober 1956 wurde im ungarischen Rundfunk der Ausnahmezustand für das gesamte Land verkündet. Den bewaffneten Aufständischen wurde das Standgericht angedroht. Zudem wurde mitgeteilt, dass die amtierende Regierung die sowjetische Armee um Mithilfe gebeten und personelle Veränderungen in der Staatsführung stattgefunden hatten. In Budapest kam es zum Stillstand des öffentlichen Lebens. Die Betriebe stellten ihre Produktion ein, der Verkehr kam zu Erliegen und der Unterricht in den Schulen wurde abgesetzt. In ganz Ungarn weitete sich der Aufstand weiter aus. Landesweit kam es an mehr als 100 Orten zu Demonstrationen.85 In den größeren Städten zogen sowjetischen Truppen ein. Nagy nahm seine Amtsgeschäfte am Morgen des 24. Oktober 1956 auf. Gegen Mittag appellierte Nagy im Rundfunk an die Aufständischen , die Kämpfe zu beendigen. Das Verhalten der Partei- und Staatsführung, insbesondere der Einsatz der sowjetischen Truppen gegen die eigene Bevölkerung, löste einen spontanen Massenstreik aus.86 Am Vormittag des 25. Oktober 1956 wurde - wie am 23.Oktober 1956 bereits vor dem Rundfunkgebäude - eine friedliche Demonstration vor dem Parlament von Sicherheitstruppen der Staatssicherheit ÁVH beschossen. Dabei waren an die Hundert Tote und Verletzte zu beklagen. In der Provinzstadt Nagyarova fand ein ähnlicher Zwischenfall statt. Aufgrund des Drucks der sowjetischen Führung wurde Ernö Gerö als Erster Sekretär der MDP abgesetzt. Sein Nachfolger in diesem Amt wurde János Kádár. Diese Veränderungen wurden mittags im Rundfunk bekannt gegeben.87 In ganz Ungarn kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Fast flächendeckend entstanden im ganzen Land Revolutionsräte und Nationalkomitees. Ferner konstituierten sich Arbeiterräte in fast allen Betrieben und Gemeinden.88 Diese neuen Machtorgane , in denen sich mehrere zehntausend Menschen insgesamt engagierten, lösten die bisherigen Amtsinhaber in den Betrieben und Verwaltungen ab. Die Räte übernahmen die öffentlichen Angelegenheiten in den Kommunen und übten faktisch die staatliche Ge- 84 Tischler 2006: 17; Litván; Bak 1994: 186, Gosztony 1996: 7 85 Rainer; Barth 2000: 220 86 Litván; Bak 1994: 72/73 87 Landesmuseum Burgenland 2006: 1; Litván; Bak 1994: 187 88 Litván; Bak 1994: 75 - 20 - walt aus. Die Arbeiterräte konzentrierten ihre Aktivitäten auf die Betriebe. Zu den zentralen Forderungen der Aufständischen gehörte der Abzug der sowjetischen Truppen, die Wiederherstellung der Souveränität Ungarns, die Einführung eines Mehrparteiensystems und die Durchführung freier und geheimer Wahlen.89 In einer Ansprach im ungarischen Rundfunk bezeichnete János Kádár, Mitglied des ZK- Sekretariats, die Unruhen als einen Angriff „konterrevolutionärer, reaktionärer Elemente .“90 Am Nachmittag des 25. Oktober 1956 hielt Imre Nagy eine Radioansprache. Er teilte in diesem Zusammenhang mit, dass das Parlament nach Wiederherstellung der Ordnung „ein alle Bereiche erfassendes und fundiertes Reformprogramm verabschieden werde. Zudem teilt er mit, dass „die ungarische Regierung Verhandlungen über die Beziehungen zwischen der Ungarischen Volksrepublik und der Sowjetunion anstrebt, unter anderem auch über den Abzug der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen“. Zudem stellte er den unverzüglichen Rückzug der im Kampf befindlichen sowjetischen Truppen in Aussicht, sobald die Ordnung wiederhergestellt sei.91 Ministerpräsident Imre Nagy erweiterte am 26. Oktober 1956 die Regierung um reformorientierte Mitglieder der MDP. Am folgenden Tag, dem 27. Oktober 1956, gab er im Rundfunk seine Regierungsumbildung bekannt.92 Unter den 25 Ministern waren einige neue Gesichter. Unter ihnen der frühere Staatspräsident Tildy und Béla Kovács, der vormalige Generalsekretär der Partei der Kleinlandwirte. Er war acht Jahre in der Sowjetunion gefangen gewesen und erst kurz zuvor nach Ungarn zurückgekehrt.93 Über die Besetzung der Regierungsposten sowie über die Inhalte des Regierungsprogramms war es zuvor im Politischen Ausschuss der MDP im Beisein von sowjetischen Regierungsvertretern zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den alten Parteikadern und dem Reformflügel unter Nagy gekommen.94 Am 28. Oktober 1956 wurde die neue Regierung durch den Präsidenten des Präsidialrates der Ungarischen Volksrepublik vereidigt.95 An diesem Tag kam es auch zu einer entscheidenden Wende. Über den Rundfunk verkündete Nagy am 28.Oktober 1956 um 13.20 Uhr einen Waffenstillstand. Am späten Nachmittag – um 17.25 Uhr – fand eine weitere Radioansprache des Ministerpräsidenten statt, in der er die Ereignisse der ver- 89 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006: 9 90 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006: 10 91 Rainer; Barth 2000: 245 92 Litván; Bak 1994: 187 93 Molnár 1999: 435 94 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006: 11 95 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006: 11 - 21 - gangenen Tage „ein großes, unser gesamtes Volk umfassendes und zusammenschweißendes , nationales, demokratisches Aufbegehren“ nannte. Er stellte in Aussicht, einen Teil der Grundsatzforderungen der Aufständischen zu erfüllen. Dazu gehörte auch die Auflösung der ÁVH. Von einer grundsätzlichen Änderung des politischen Systems war noch keine Rede. Allerdings wurde die bis dahin geltende völlige Ablehnung der Parteiund Staatsführung gegenüber den verschiedenen Forderungen der Demonstranten aufgegeben .96 Am späten Abend des 28. Oktober 1956 wurden der ehemalige Erste Sekretär der MDP, Ernö Gerö, der ehemalige Ministerpräsident András Hegedűs, der ehemalige Innenminister László Piros sowie der ehemalige Verteidigungsminister István Bata nach Moskau von sowjetischer Seite ausgeflogen. Sie hatten für die entstandene Situation die größte Verantwortung getragen.97 Am 29 .Oktober 1956 verließen die sowjetischen Verbände auf Bitten der ungarischen Regierung Budapest. Sie waren zahlenmäßig noch taktisch in der Lage gewesen, mit der „Guerilla-Taktik“ der aufständischen Ungarn erfolgreich umzugehen. Die Aufständischen stellten Fallen für sowjetische Panzereinheiten auf und erzielten mit selbst gebastelten Brandflaschen („Molotow-Cocktails“) schwere Ausfälle an Menschen und Material bei den sowjetischen Einheiten.98 Die Führung der der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) in Moskau entschied sich dazu, Nagy für seine Politik zunächst freie Hand zu lassen.99 Am 29. Oktober 1956 verließ Imre Nagy die Parteizentrale der Kommunisten und übte sein Amt fortan in den Regierungsbüros im Parlamentsgebäude aus.100 Mit dem von den Westmächten Frankreich und England unterstützten Angriff israelischer Truppen gegen Ägypten am 29. Oktober 1956 eskalierte die so genannte Suez- Krise zu einem bewaffneten Konflikt. Streitpunkt war die Kontrolle über den Suez- Kanal, der einige Monate zuvor von Ägypten verstaatlicht worden war. Die Krise dauerte bis zum 5. November 1956 und spielte für die sowjetische Führung bei ihrem Vorgehen im Ungarn-Aufstand eine nicht unerhebliche Rolle, zumal die USA eine Nichteinmischung signalisiert hatten.101 Chruschtschow führte im Verlauf der Suez-Krise am 31. Oktober 1956 aus: „Wenn wir aus Ungarn unsere Truppen zurückziehen, würde das den 96 Litván; Bak 1994: 187; Fischer 1999: 212; Rainer; Barth 2000: 247 97 Rainer; Barth 2000: 249 98 Gosztony 1996: 9 99 Fischer 1999: 212; Litván; Bak 1994: 89; Sinn 2005: 6 100 Molnár 1999: 438 101 Pfeil 2006: 36; Sinn 2005: 6 - 22 - amerikanischen, englischen und französischen Imperialisten Mut machen. Sie werden denken, wir sind schwach, und sie werden angreifen.“102 Am 30. Oktober 1956 gab die UdSSR zwar eine Regierungserklärung ab, in der sie sich formal zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und zur Selbständigkeit der so genannten sozialistischen Bruderländer bekannte. In ihrem Dokument „Deklaration der Regierung der UdSSR über Grundprinzipien der Entwicklung und weiteren Stärkung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten“ war unter anderem die Zusicherung der sowjetischen Regierung enthalten, über den Aufenthalt ihrer Truppen in den Mitgliedsstaaten des „Warschauer Paktes“ Gespräche mit den Regierungen der einzelnen Ländern aufzunehmen .103 Zudem ließ sie ihre Bereitschaft verlautbaren, grundsätzlich zum generellen Abzug ihrer Streitkräfte aus Ungarn bereit zu sein. Im Hintergrund bereitete sie allerdings ein zweites militärisches Eingreifen in Ungarn vor. Hierzu wurden von Seiten der KPdSU-Führung auch die Führungen der sozialistischen Bruderparteien vorab informiert .104 Ebenfalls am 30. Oktober 1956 stürmten bewaffnete Aufständische die Zentrale der ungarischen Staatssicherheit AVH. Neben zahlreichen Toten auf Seiten der Angreifer kamen auf Seiten der Staatssicherheitsleute Menschen um Leben, davon einige durch Lynchjustiz. Am selben Tag gab Ministerpräsident Nagy seine zweite Regierungsumbildung bekannt. Das bisher vorwiegend aus Kommunisten bestehende Kabinett wurde pluralistischer. Vertreter jener Parteien, die bereits im Jahr 1945 gemeinsam mit den ungarischen Kommunisten Regierungsverantwortung übernommen hatten (Kleinlandwirtepartei , Bauernpartei, Sozialdemokratische Partei), zogen als Minister in das Kabinett ein.105 Dazu beschloss das Präsidium der MDP auch die Wiederherstellung des Mehrparteiensystems. Die an der Koalition beteiligten Parteien wurden damit offiziell zugelassen.106 Damit kamen die Regierenden einer zentralen Forderung der Aufständischen nach.107 Im ganzen Land reorganisierten sich die bis Ende der vierziger Jahre gleichschalteten oder verbotenen Parteien. Zudem bildeten sich neue Parteien. Erstmals erschienen auch wieder eigene Zeitungen der Parteien.108 Die neue Regierung wurde von den im ganzen Land etablierten Revolutions- und Arbeiterräten mehrheitlich akzeptiert. Die politische 102 Hegedüs 2000: 261 103 Rainer; Barth 2000: 253 104 Fischer 1999: 213 105 Molnár 1999: 436 106 Zentrum für Zeithistorische Forschung: 12 107 Nyyssönen 1999: 916 108 Litván; Bak 1994: 187 - 23 - Macht stand den Aufständischen und ihren Forderungen nicht mehr feindlich gegenüber . Sie akzeptierte deren Programmatik. Damit stand das Regierungshandeln in Übereinstimmung mit den Forderungen und Zielen der am 23. Oktober 1956 entstandenen Volksbewegung.109 Das Parteipräsidium der MDP hatte am 30. Oktober 1956 auch die Auflösung der kommunistischen Staatspartei MDP beschlossen. Unter dem Namen „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“ (MSZMP: Magyar Szocialista Munkáspárt) gründeten die Mitglieder der MDP eine neue antistalinistische Partei. Ins Exekutivkomitee und damit an die Parteispitze wurden unter anderem Imre Nagy und János Kádár gewählt.110 Nach dem 30. Oktober 1956 wurden die politischen Häftlinge der Rákosi-Zeit aus fast allen Gefängnissen befreit. Die sowjetischen Truppen begannen damit, sich aus Ungarn zurückzuziehen. Von Seiten der sowjetischen Regierung gab es Signale für die Bereitschaft, über einen generellen Abzug ihrer in Ungarn stationierten Truppen in Verhandlungen einzutreten.111 Am 31. Oktober 1956 verkündete Imre Nagy die Einleitung von Verhandlungen über den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt.112 Am selben Tag hatte die sich Führung der KPdSU unter Chruschtschow bereits endgültig für einen zweiten militärischen Einsatz in Ungarn entschieden. Diesen Entschluss hatte sie zwei Tage sowohl mit Vertretern der chinesischen kommunistischen Parteiführung als auch mit den Führungen der osteuropäischen kommunistischen Parteien intensiv erörtert.113 Sowjetische Einheiten aus Rumänien und der Ukraine marschierten in Richtung Ungarn vor. Jene Einheiten , die Budapest einige Tage zuvor verlassen hatten, waren in der Nacht des 31. Oktobers wieder in Richtung der ungarischen Hauptstadt umgekehrt.114 Die Information über den erneuten Aufmarsch sowjetischer Streitkräfte, nur wenige Tage nach dem offiziellen Rückzug, verbreitete sich noch am 31. Oktober 1956 in Budapest. Dieses Vorgehen der sowjetischen Truppen bedeutete eine klare Verletzung der Bestimmungen des „Warschauer Paktes“.115 Am 1. November 1956 ließ Imre Nagy den sowjetischen Botschafter einbestellen, um ihm mitzuteilen, dass Ungarn aus Protest gegen die Entscheidung eines erneuten militärischen Vorgehens aus dem Warschauer Pakt austrete. Auch öffentlich erklärte die Re- 109 Rainer; Barth 2000: 247 110 Litván; Bak 1994: 91 111 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 11 112 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 11; Litván; Bak 1994: 188 113 Litván; Bak 1994: 98, Sinn 2005: 6 114 Molnár 1999: 441 115 Molnár 1999: 441/442 - 24 - gierung an diesem Tage den Austritt aus dem Militärbündnis der kommunistischen Staaten und die Neutralität Ungarns. Damit kam die Regierung einer weiteren zentralen Forderung der Aufständischen nach.116 Mit dem formellen Austritt Ungarns aus dem „Warschauer Pakt“ und einer Neutralität Ungarns nach dem Vorbild Österreichs117 beabsichtigte Imre Nagy der bevorstehenden Intervention der sowjetischen Truppen die rechtliche Grundlage zu entziehen.118 Ungarn entfernte sich ab dieser zweiten Phase des Aufstandes immer stärker von seinem bisher an der Sowjetunion orientierten kommunistischen Staatssystem. Aus der ursprünglichen Forderung einer Reform des Systems auf Grundlage des Sozialismus, so wie sie ursprünglich Imre Nagy verfolgt hatte, entwickelte sich durch den Druck der Ereignisse die Perspektive eines freien, demokratischen und unabhängigen Ungarn.119 Am 1. November 1956 wurde der Generalstreik für beendet erklärt. Die Wiederaufnahme der Arbeit im gesamten Land sollte zum 5. November 1956 erfolgen. Am Abend übergab Imre Nagy an die Botschafter in der Hauptstadt die „ungarische Note“ und bat die UNO um Anerkennung der ungarischen Neutralität. Um 22.00 Uhr wurde die bereits zuvor aufgezeichnete Rede von János Kádár im ungarischen Rundfunk über Gründung der neuen MSZMP bekannt gegeben. In seiner Rede bezeichnete er die Ereignisse als einen „ruhmreichen Aufstand zur Erlangung der Freiheit des Volkes und der Unabhängigkeit des Landes“.120 Zu diesem Zeitpunkt befand sich Kádár zusammen mit Ferenc Münnich, dem Innenminister der MSZMP im zweiten Kabinett von Imre Nagy, auf dem Weg in die sowjetische Botschaft. Sie wurden anschließend nach Moskau ausgeflogen. Dort verhandelten sie mit der sowjetischen Führung über die Bildung einer Gegenregierung und die Liquidierung des Volksaufstandes in Ungarn. Vom Vorgehen Kádárs und Münnichs erhielt Imre Nagy zu dieser Zeit keine Informationen. János Kádár galt aus Sicht der KPdSU-Führung als integer, da er weder mit der neuen Politik Nagys noch mit der stalinistischen Herrschaft von Rákosi in zu großer Verbindung stand.121 In mehreren Noten protestierte die ungarische Regierung unter Imre Nagy am 2. November 1956 beim Generalsekretär der Vereinten Nationen (UNO: United Nations Organisation ) gegen die sowjetische Aggression. Der Generalsekretär der UNO, Dag 116 Fischer 1999: 213; Tischler 2006: 17; Litván; Bak 1994: 188 117 Der „Staatsvertrag“ Österreichs mit seinen Alliierten Besatzungsmächten vom 14. Mai 1956 brachte dem Land die völkerrechtliche Unabhängigkeit und damit auch den Abzug aller sowjetischen Truppen . In Folge des Vertrages erklärte Österreich seine Neutralität. 118 Sinn 2005: 6 119 Fischer 1999: 214 120 Hegedüs 2000: 262 121 Litván; Bak 1994: 106; Fischer 1999: 216 - 25 - Hammarskjöld, sollte die Großmächte zur Anerkennung der Neutralität Ungarns auffordern . Der Sicherheitsrat beschloss daraufhin, am 4. November 1956 die Ungarnfrage in der Generalversammlung zu thematisieren.122 Am 3. November 1956 bildete Imre Nagy sein Kabinett – zum dritten Mal seit Beginn der Ereignisse - nochmals um. Dem Kabinett gehörten alle Koalitionsparteien aus dem Jahr 1945 bzw. deren Nachfolgerorganisationen an. Neben der MSZMP war dies beispielsweise die „Sozialdemokratische Partei“ (SZDP: Szociáldemokrata Párt), die „Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums“ (FKGP: Független Kisgazda-, Földmunkás- és Polgári Párt) sowie die „Petöfi Partei“, Nachfolgerin der ehemaligen „Nationalen Bauernpartei“ (NPP: Nemzeti Parasztpárt).123 Am Vormittag des 3. November 1956 fanden im Parlamentsgebäude die ersten Verhandlungen mit sowjetischen Generälen über den grundsätzlichen Abzug der Sowjettruppen aus Ungarn statt. Eine Fortsetzung der Gespräche wurde für 22.00 Uhr im Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte in Tököl vereinbart.124 Allerdings stellten sich die Verhandlungen schon bald als Täuschungsmanöver der sowjetischen Seite heraus . Gegen Mitternacht wurde die ungarische Regierungsdelegation, zu der unter anderem Verteidigungsminister Pál Maléter, Justizminister Ferenc Erdei sowie Stabschef István Kovács gehörten, in einer illegalen Aktion in Tököl vom KGB verhaftet.125 Die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Imre Nagy geriet am 3. November 1956 in eine politische und diplomatische Falle. Der sowjetische Botschafter Andropow leugnete die wahren Absichten der sowjetischen Truppenbewegungen und sein Wissen über János Kádár. Die UNO und die Westmächte unternahmen nichts zum Schutz der soeben erklärten ungarischen Neutralität.126 Um 4.00 Uhr des 4. November 1956 begann die zweite militärische Offensive der sowjetischen Truppen gegen das demokratische Ungarn. Sie war in Budapest im Wesentlichen bis zum 11. November abgeschlossen. In anderen Regionen Ungarns dauerten die Auseinandersetzungen zum Teil noch bis zum 15. November 1956.127 Die sowjetischen Truppen bestanden aus rund 15 Divisionen, die sich bei der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes zunächst auf die Zentren des Landes und insbesondere auf Budapest – mit fünf Divisionen – konzentrierten.128 Kurz darauf wurde im Rundfunk die 122 Litván; Bak 1994: 188; Tinschmidt 1997: 74 123 Litván; Bak 1994: 105 124 Litván; Bak 1994: 104 sowie 188 125 Litván; Bak 1994: 188; Sinn 2005: 7; Hegedüs 2000: 264 126 Hegedüs 2000: 264 127 Litván; Bak 1994: 188; Mühle, 1998: 48 128 Sinn 2005: 7 - 26 - Gründung einer Gegenregierung unter Leitung von János Kádár in Szolnok verkündet. Diese „Revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung“ verkündete, dass sie mit Unterstützung der sowjetischen Streitkräfte den „Kampf gegen die Konterrevolution“ aufgenommen und sich unter anderem dazu entschlossen hätte, „die drohende Gefahr von Reaktion und Faschismus und deren Mörderbanden mit aller Kraft zu bekämpfen“.129 Ministerpräsident Imre Nagy verkündete im Rundfunk um 5.20 Uhr in einer kurzen Rede den Beginn der sowjetischen Invasion und appellierte dabei an die Invasionstruppen , nicht zu schießen. Nagy gab keinen Aufruf zum Widerstand ab. Offenbar sah er vor dem Hintergrund des schlechten Zustandes der ungarischen Volksarmee und der großen Übermacht der russischen Streitkräfte keine Chance auf eine erfolgreiche Gegenwehr . Der ungarische Rundfunk sendete den Aufruf von Nagy um ca. 8.00 Uhr aus dem Studio des Parlaments in ungarischer, englischer, deutscher und russischer Sprache . Anschließend verlas der Schriftsteller Julius Hay einen Appell an die Intellektuellen der Welt. Zudem erklang die Nationalhymne.130 Die bewaffneten Aufständischen – insbesondere in der Hauptstadt – nahmen ihren Kampf wieder auf. Nagy selber begab sich auf Zusage Titos mit zahlreichen Mitstreitern und deren Familien – darunter das gesamte Exekutivkomitee der MSZJP - in die jugoslawische Botschaft, um politisches Asyl zu beantragen. Bereits am 4. November 1956 gelang es den sowjetischen Truppen, das Verteidigungsund das Innenministerium in Besitz zu nehmen und das Parlamentsgebäude in Budapest zu umstellen.131 Um Blutvergießen zu verhindern, wurde mit den Angreifern eine freiwillige Räumung des Gebäudes vereinbart. Den im Gebäude befindlichen Personen sollte freier Abgang gewährt werden. Der als einziger Vertreter der rechtmäßigen Nagy- Regierung verbliebene Staatsminister István Bibó formulierte eine offizielle Erklärung zur gewaltsamen Absetzung der ungarischen Regierung. Die Erklärung, in der Bibó auch zu passiven Widerstand aufrief, besaß unter anderem folgenden Wortlaut: „Ungarn beabsichtigt nicht, eine antisowjetische Politik zu verfolgen. Es wünscht wirklich , ganz und gar in der Gemeinschaft der osteuropäischen Völker zu leben, freier Nationen , die ihr Leben in einer Gemeinschaft zu organisieren wünschen, in der Freiheit, Gerechtigkeit und keine Ausbeutung herrschen. Ich weise vor der ganzen Welt die verleumderischen Behauptungen zurück, dass die glorreiche ungarische Revolution durch faschistische oder antisemitische Exzesse besudelt wurde … Das ungarische Volk wandte sich nur gegen die fremde Armee der Eroberer und gegen die eigenen Henke- 129 Litván; Bak 1994: 124/125 130 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 13; Hegedüs 2000: 267 131 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 13 - 27 - reinheiten. Der Volksjustiz, die wir für einige Tage auf den Straßen erlebten, konnte ebenso Einhalt geboten werden wie dem unbewaffneten Erscheinen der alten konservativen Kräfte, die von der neuen Regierung in sehr kurzer Zeit zum Stillstand gebracht worden wären. Die Behauptung, dass für diesen Zweck eine große fremde Armee ins Land gerufen oder vielmehr wieder herbeigerufen werden musste, ist zynisch und verantwortungslos . Im Gegenteil, die Gegenwart der fremden Armeen auf unserem Boden ist eine der Hauptursachen für Unruhe und Aufruhr. Ich fordere das ungarische Volk auf, weder die Besatzungsstreitkräfte noch die Marionettenregierung, die von ihnen eingesetzt werden mag, als gesetzliche Autorität anzusehen, sondern jedes Mittel des passiven Widerstandes gegen sie anzuwenden, mit der Ausnahme der Unterbrechung der öffentlichen Dienstleistungen und der Wasserversorgung von Budapest. Ich bin nicht in der Lage Befehl zu bewaffnetem Widerstand zu erteilen, denn … ich kenne die militärische Situation nicht, und es wäre unverantwortlich von mir über das teure Blut der Jugend Ungarns zu entscheiden. Das ungarische Volk hat genug Blut geopfert, um der Welt seinen Willen zur Freiheit und Gerechtigkeit zu beweisen. Jetzt sind die Mächte der Welt daran, die Kraft der in der Gründungsurkunde der Vereinten Nationen ausgesprochenen Prinzipien und die Macht der friedliebenden Völker zu beweisen. Ich ersuche die Großmächte und die Vereinten Nationen, klug und mutig für die Freiheit meines unterjochten Volkes einzustehen. (…).“132 Staatsminister Bibó ließ den Vertretern der westlichen Auslandsvertretungen den Inhalt der Erklärung anschließend zukommen. Dies war sozusagen die letzte Amtshandlung der rechtmäßigen ungarischen Regierung von Imre Nagy. Die sowjetische Invasionsarmee fiel mit ungefähr 2000 Panzern in Ungarn sein.133 Es gelang ihr relativ schnell, die noch intakten Bestandteile der ungarischen Armee zu entwaffnen. Hierzu drangen die Einheiten von Kaserne zu Kaserne systematisch vor. In den eroberten Regionen wurden die führenden Vertreter der Revolutionskomitees und der Arbeiterräte gefangen genommen. In Budapest und in einigen anderen Regionen des Landes war es nach dem Einmarsch noch einige Tage zu erbitterten Kampfhandlungen zwischen der sowjetischen Armee und den Aufständischen gekommen. Nach Schätzungen beteiligten sich alleine in Budapest mehrere Tausend Personen an den Kämpfen, die von Seiten der Aufständischen wieder wie bei der ersten Invasion durch einen „Guerillakampf “ gegen die sowjetischen Panzer geführt wurde.134 Am 6. November 1956 wurde Budapest unter sowjetische Militärverwaltung gestellt. Am selben Tag wurde eine Ausgangssperre über die Stadt verhängt. Die Stärke des un- 132 Litván; Bak 1994: 125/126 133 Molnár 1999: 440 134 Litván; Bak 1994: 112 - 28 - garischen Widerstandes nahm ab.135 Am 7. November 1956 traf die Gegenregierung unter Leitung von János Kádár unter strenger Geheimhaltung in sowjetischen Militärfahrzeugen aus Szolnok in Budapest ein. Die neue Regierung begann sogleich mit der Restauration der „Vorwendezeit“. István Dobi, seit 1952 Vorsitzender des Präsidialrates , vereidigte das neue Kabinett von János Kádár, obwohl die bisherige Regierung von Nagy nicht zurückgetreten war. Den im ganzen Land bestehenden Revolutionsräten wurde die Gewalt entzogen und der Status der vor dem Volksaufstand bestehenden staatliche Organe wieder hergestellt. Die Kádár-Regierung wurde am 8. November 1956 vom Regierungsrat zum höchsten Organ der Staatsverwaltung erklärt.136 In seiner ersten öffentlichen Rede am 11. November 1956 verkündete János Kádár den Aufstand für besiegt. Den Teilnehmern des Aufstandes wurde zu diesem Zeitpunkt Straffreiheit zugesagt . Zu Formen des passiven Widerstandes kam es bis ins Jahr 1957.137 Am 19. November 1956 wurde in der Mehrzahl der Betriebe der Arbeit wieder aufgenommen. 4.1. Opfer des Volksaufstandes Die Zahl derjenigen Ungarn, die im Volksaufstand im Rahmen der bewaffneten Auseinanerdersetzungen ihr Leben verloren, lässt sich auch 50 Jahre nach dem Ereignis nur schwer exakt ermitteln. Das Statistische Landesamt Ungarns stellte in einem Geheimbericht für die kommunistische Staatsmacht im Jahr 1957 die Zahl von 2700 Personen auf, die zwischen dem 23. Oktober 1956 und 11. November 1956 im Volksaufstand starben. Neueste Forschungen gehen bei der Zahl der Opfer, die im Verlauf der Kämpfe ums Leben kamen, von etwa 3000 Personen aus. Ungefähr 15.000 Menschen wurden verletzt .138 Auf Seite der an der Niederwerfung beteiligten sowjetischen Verbände lag die Zahl der Verluste bei rund 720 Soldaten. Hinzu kamen 1540 Verletzte und 51 Vermisste.139 5. Festigung der Macht und Beginn der Restaurationsphase Anfang Dezember 1956 verabschiedete das Zentralkomitee MSZMP die offizielle Position über die Ereignisse des Herbstes 1956. Danach handelte sich bei dem Volksaufstand um eine „Konterrevolution“, deren Ausbruch in der ungesetzlichen Tätigkeit der Stalinisten um Rákosi und Gerö seine Ursache hatte. Imre Nagy und sein politisches Umfeld wurden als Revisionisten und Verräter bezeichnet. Die „imperialistischen“ westlichen Mächte hätten zudem eine Aufwiegelung betrieben. Als weitere Gruppe 135 Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006a: 14; Litván; Bak 1994: 122 136 Zentrum Zeithistorische Forschung 2006a: 15 137 Nyyssönen 1999: 917 138 Bartosek 1998: 483 139 Sinn 2005: 7 - 29 - wurden wieder aufgetauchte reaktionäre Kräfte als Schuldige gebrandmarkt. Diese offizielle Position war in Ungarn bis 1989 offizielle Staatsdoktrin.140 Die neue Führung wurde bei der Wiederherstellung der alten Strukturen in den ersten Wochen und Monaten nicht nur von Präsidiumsmitgliedern der KPdSU, sondern auch von Seiten der sowjetischen Militär- und Staatssicherheitskräfte umfassend unterstützt .141 In den ersten Phase der Restaurationsphase versuchte das neue Kádár -Regime zunächst, die noch bestehenden selbständigen Arbeiterräte, die eine eigenständige Interessenvertretung in den Betrieben verfolgten, ohne staatliche Repression für sich zu gewinnen.142 Schon bald aber ging die mittlerweile gefestigte neue Regierung mit großer Brutalität gegen die organisierten Arbeiter vor. Am 8. Dezember 1956 wurde in Salgótarján auf Bergleute geschossen, die gegen die Verhaftung von Arbeiterratsmitgliedern demonstriert hatten. Die Bilanz waren mehr als hundert Todesopfer. Dem Ansinnen der Arbeiterräte, einen von der Regierung unabhängigen zentralen Landes- Arbeiterrat zu initiieren, unterband János Kádár durch Verbot und Verhaftungen. Allerdings wurde ein Aufruf zum Generalstreik am 11. und 12. Dezember 1956 im ganzen Land befolgt. Nach der Niederschlagung dieses Streiks kam es zur Beschleunigung der staatlichen Repressionspolitik insbesondere mit Hilfe der Staatsicherheit. Mit großer Brutalität – wozu beispielsweise die Einführung des Standrechts, die (Wieder-) Einrichtung von Internierungslagern sowie die Durchführung von Massenverhaftungen und Massengerichtsverfahren gehörten – wurde der Widerstandswille der Menschen gebrochen . Der Widerstand war bis Ende Dezember 1956 mehrheitlich beendet. Der im Dezember ausgerufene Kriegszustand wurde bis zum März 1957 aufrechterhalten.143 Am 5. Januar 1957 wurde ein Regierungserlass verkündet. Für Arbeitsniederlegungen und für die „Anstiftung zum Streik“ wurde die Todesstrafe verhängt. Damit versetzte man den lokalen und unabhängigen Arbeiterräten im sprichwörtlichen Sinne den Todesstoß .144 Am 12. Januar 1957 wurde das Schnellgerichtsverfahren eingeführt, für das keine Anklageschrift mehr notwendig war.145 Nachdem János Kádár im März 1957 bei einem Besuch der sowjetischen Führung in der Frage einer Beschleunigung von Vergeltungsmaßnahmen grünes Licht bekommen hatte, erfolgte insbesondere von April 1957 bis ins Frühjahr 1959 ein massenhaft Vorgehen der neuen Regierung gegen ehemalige Beteiligte des Herbstes 1956. Nunmehr gerieten verstärkt auch solche Menschen in den Blick der Regierung und Sicherheitsorganen, die 140 Fischer 1999: 215 141 Litván; Bak 1994: 149/150 142 Litván; Bak 1994: 131; Fischer 1999: 216 143 Nyyssönen 1999: 917; Litván; Bak 1994: 13 144 Litván; Bak 1994: 136 145 Hegedüs 2000: 273 - 30 - während des Aufstandes eine Funktion übernommen oder sich innerhalb der kommunistischen Partei im Reformflügel engagiert hatten. Ende Mai 1957 erneuerte die Kádár- Regierung den „Warschauer-Pakt-Vertrag“. Er legitimierte die weitere Anwesenheit von sowjetischen Truppen in Ungarn146 Bei den Feiern zum Verfassungstag am 20. November 1959 äußerte sich János Kádár nochmals deutlich zum Volksaufstand im Jahr 1956:147 „Die Macht ist heute die wichtigste Waffe des werktätigen Volkes, mit der es die Welt der Unterdrückung und der Entbehrung: die kapitalistische Vergangenheit endgültig vernichtet und für immer begräbt und das sozialistische Land der Freiheit und des Wohlstandes zum vollkommenen, endgültigen Sieg führt. Die früheren Kapitalisten, die früheren Großgrundbesitzer, die Faschisten und die Revisionisten – unterstützt von ihren ausländischen Freunden und der ganzen internationalen Reaktion – schlugen 1956 gegen die Volksherrschaft los.“ 6. Die Folgen des Ungarnaufstandes 6.1. Terror- und Verfolgungswellen Die neue ungarische Staatsführung unter Leitung von Ministerpräsident János Kádár ging mit drakonischen Maßnahmen gegen die ehemaligen Aufständischen vor. Die Angaben über die Gesamtzahl der Menschen, die von Verhören, Haftstrafen, Internierungslager , Deportationen in die UdSSR und Hinrichtungen insbesondere im Zeitraum 1956 bis 1959 betroffen waren, schwanken in der historischen Forschung. Als ungefähre Kennzahlen lassen sich folgenden Daten verifizieren: Insgesamt waren mehr als 100.000 Personen von den Unterdrückungsmaßnahmen betroffen, die aus der Zerschlagung des Ungarischen Volksaufstandes resultierten.148 Die Zahl der vollstreckten Hinrichtungen auf der Grundlage eines Urteils betrug 229. Darunter befanden sich überproportional viele junge Menschen unter 30 Jahren, die an den Straßenkämpfen gegen die sowjetische Armee teilgenommen hatten. Ungefähr 35.000 Menschen wurden gerichtlich verfolgt. Von diesen wurden schätzungsweise bis zu 12.000 Menschen, manche Quellen (Bartosek 1998: 484) sprechen sogar von bis zu 25000 Personen, zu Haftstrafen verurteilt. Mehrere Zehntausend kamen in Internierungslager, wobei die Zahl der internierten Personen bis heute unbekannt ist. Der Internierung folgte häufig die eigentliche Verhaftung bzw. Untersuchungshaft mit anschließender Verurteilung149 146 Nyyssönen 1999: 917 147 Klimó; Kunst 2004: 300 148 Bartosek 1998: 484 149 Fischer 1999: 216; Litván; Bak 1994: 159; Nyyssönen 1999: 917; Bartosek 1999: 484; Hegedüs 2000: 273 - 31 - Die größte Gruppe der Verurteilten bildeten die Mitglieder von Arbeiter– und Revolutionsräten sowie Revolutionskomitees. Gerade jene Mitglieder dieser Institutionen aus den größeren Städten und von wichtigen Betrieben wurden flächendeckend vor Gericht gestellt.150 Anfang der sechziger Jahre beendete die kommunistische Staatsführung in Ungarn ihre Repressionspolitik gegenüber den Beteiligten des Herbstes 1956 in einigen Punkten. Im April 1960 wurde der Ausnahmezustand aufgehoben und unter anderem die Internierungslager aufgelöst. Im Jahr danach wurden die Volksgerichte abgeschafft.151 Im August 1962 beschloss das ZK der MSZMP die Beendigung der politischen Prozesse. Rákosi, Gerö und einige andere „Altstalinisten“ wurden aus der Partei ausgeschlossen. Eine erste Amnestie fand im Jahr 1960 statt. Im Jahr 1963 folgte eine allgemeine Amnestie . Sie galt aber nicht für Aufständische, die wegen „Mordes“ verurteilt worden waren . Dabei wurde die Mehrzahl der in den Gerichtsverfahren der späten fünfziger Jahre politisch Verurteilten begnadigt.152 6.2. Schauprozess und Hinrichtung Imre Nagys Imre Nagy hatte sich zusammen mit dem Exekutivkomitee der MSZJP am 4. November 1956 in die jugoslawische Botschaft begeben, um politisches Asyl zu beantragen. Mehrere Appelle der neuen Machthaber an Nagy, an seinem neuen Aufenthaltsort die Kádár-Regierung als rechtsmäßig anzuerkennen und als Ministerpräsident offiziell zurückzutreten , wiesen Nagy und seine Begleiter stets zurück. Sie bestanden stattdessen weiterhin auf ihren Forderungen nach Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen, dem Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, dem Neutralitätsstatus ihres Landes und der Rückkehr zum Mehrparteiensystem. Am 22. November 1956 verließen die Asylsuchenden mit ihren Familien die jugoslawische Botschaft. Statt des zuvor mit der neuen Staatsmacht vereinbarten freien Abzugs bzw. der Rückkehr in ihre Privatwohnungen wurden die Politiker auf ein KGB-Gelände verschleppt und am 23. November 1956 nach Rumänien in die Nähe von Bukarest ausgeflogen . Sie wurden dort von der rumänischen Sicherheitspolizei gefangen gehalten. Von den ungarischen Sicherheitsbehörden später wieder nach Ungarn gebracht, wurden die Verschleppten zu mehrjährigen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. In einem Schauprozess im Juni 1958, der hinter verschlossenen Türen stattfand, wurden neben Imre Nagy auch Verteidigungsminister Pál Maléter und der Journalist Miklós Gimes, der nach dem Volksaufstand eine Untergrundzeitung herausgegeben hatte, zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet. Fünf weitere Mitangeklagte wurden zu Haft- 150 Litván; Bak 1994: 157-160 151 Litván; Bak 1994: 151; Bartosek 1998: 485 152 Litván; Bak 1994: 128; Bartosek 1998: 485; Klimó; Kunst 2004: 300 - 32 - strafen verurteilt. Das Gericht warf Imre Nagy neben "Hochverrat" auch die "Installation eines Mehrparteiensystems" in Ungarn vor. Der Prozess sowie das Strafmaß waren zuvor in eng mit Moskau und mit den Führungen der anderen sozialistischen Länder abgestimmt worden.153 6.3. Flüchtlinge Infolge des Einmarsches der sowjetischen Truppen und der Restauration des kommunistischen Regimes unter János Kádár flohen viele Flüchtlinge ins benachbarte Ausland. Die Flucht, insbesondere in Richtung Österreich und Jugoslawien, über die ursprünglich gut gesicherten Grenzanlagen wurde möglich, weil viele Minenfelder entlang der Westgrenze im Herbst 1956 bereits geräumt waren und die Grenztruppen sich infolge der Herbstereignisse in offener Auflösung befunden hatten. Bis Ende 1956 flohen schätzungsweise 200.000 Menschen ins Ausland. Innerhalb eines halben Jahres verlor Ungarn fast zwei Prozent seiner Bevölkerung. Die Mehrzahl der Flüchtlinge war unter 40 Jahre alt. Die Gruppe der Arbeiter und Intellektuellen war am stärksten vertreten. Unter den Emigranten befanden sich alleine 10.000 Ingenieure. Hauptaufnahmeländer der Flüchtlinge waren die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland.154 Den ehemaligen führenden Politikern des Volksaufstandes unter den Emigranten wurde bis 1989 die Einreise nach Ungarn verwehrt. 7. Die Entwicklung Ungarns von 1988 bis 1991 Bis Ende der achtziger Jahre waren im kommunistischen Ungarn der Aufstand vom Herbst 1956 und die mit ihm verbundenen Fragen ein öffentliches Tabuthema. Namen wie die des hingerichteten Imre Nagy oder anderer Persönlichkeiten des Volksaufstandes durften öffentlich nicht erwähnt werden. Der Aufstand galt als „Konterrevolution“ und die Aufständischen als „Konterrevolutionäre“. Allerdings gab es indirekt vereinzelt Zeichen eines Erinnerns an die Ereignisse des Herbstes 1956. So stellten Menschen zur Erinnerung an den Aufstand vereinzelt Kerzen in ihre Fenster. Im Herbst 1986, 30 Jahre nach den Ereignissen, wurde in der Wohnung eines Oppositionellen eine erste illegale Konferenz über den Volksaufstand durchgeführt. Unter den ca. 80 Teilnehmern befanden sich zahlreiche Personen, die im postkommunistischen Ungarn Spitzenpolitiker wurden.155 Eine offizielle Neubewertung der Ereignisse und ihrer handelnden Personen wurde erst durch den Veränderungsprozess in Ungarn möglich, der auch von innen, durch die Reformkräfte in der kommunistischen Staatspartei verstärkt seit dem Jahr 1988 aktiv betrieben wurde. Im Mai 1988 setzte sich der Reformflügel der Partei an 153 Schmitz-Bender 2006: 6; Litván; Bak 1994: 128; 154; Bartosek 1998: 484 154 Litván; Bak 1994: 123; Bartosek 1998: 484; Hegedüs 2000: 283 155 Nyysssönen 1999: 921 - 33 - entscheidender Stelle durch, auch wenn zu diesem Zeitpunkt die innerparteilichen Meinungen über den Herbst 1956 noch weit auseinander gingen und noch Konfliktstoffe in sich bargen. Eine Parteikonferenz am 23. Mai 1988 leitete eine tief greifende Erneuerung der gesamten Führungsspitze ein, in deren Folge das neu gewählte ZK János Kádár zum Rücktritt als Parteivorsitzender zwang.156 Auf Vorschlag seines Nachfolgers im Amt des Parteichefs, Károly Grósz, wurde er zum Ehrenpräsidenten gewählt.157 Ebenfalls im Mai 1988 gründeten insbesondere Angehörige von Opfern des Volksaufstandes und Mitglieder der Opposition noch illegal das „Komitee für historische Gerechtigkeit“. Das Komitee forderte die moralische, politische und rechtliche Rehabilitierung der Vergeltungsoper des Herbstes 1956. Im September 1988 kam es im Ministerrat zu Verhandlungen über eine „Amnestie der im Zuge der Ereignisse des Jahres 1956 Verurteilten“. Bereits im Frühjahr 1988 erhielt Imre Pozsgay, Staatsminister und Mitglied des Politkomitees der MSZMP, den Auftrag für ein neues Parteiprogramm mit einem überarbeiteten Geschichtsteil. Dieser verkündete dann im Januar 1989 vorzeitig in einer Radiosendung das Ergebnis des zentralen Forschungsberichtes einer von der Partei eingesetzten Kommission zum Herbst 1956. Dabei bezeichnete er die Ereignisse als „Volksaufstand “ und erklärte gleichzeitig, dass diese Neubewertung zur Herausbildung eines Konsenses, einer nationalen Versöhnung erforderlich sei.158 Im Februar 1989 beschloss das Politkomitee der MSZMP den Abbau der Sicherheitsanlagen an der Staatsgrenze. Der offizielle Beginn des Abrisses der Grenzbefestigungsanlagen begann am 2. Mai 1989.159 Der Abbau des „Eisernen Vorhangs“ an der österreichisch -ungarischen Grenze führte anschließend zur Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern von Ungarn nach Österreich und anschließend in die Bundesrepublik. Am 8. Mai 1989 verlor der einst mächtigste Mann Ungarn, János Kádár, auch seine letzten beiden Ämter in der kommunistischen Partei, seinen Sitz im ZK und das Ehrenamt als Parteipräsident.160 Knapp drei Wochen später, nach einer Sitzung des ZK der ungarischen Kommunisten vom 28. bis 30. Mai 1989 in Budapest, erklärte die Führung der Partei die Hinrichtung Nagys für illegal und rechtswidrig. Es habe sich um einen „konstruierten politischen Prozess“ gehandelt.161 Am 14. Juni 1989 wurde der 1958 zu Unrecht hingerichtete Imre Nagy politisch von der ungarischen Regierung rehabilitiert. Sie gab folgende Erklärung zu Imre Nagy ab: 156 Daniel 2004: 1 157 Schmitz-Bender 2006: 6 158 Gottas 1995:145; Nyyssönen 1999: 924 159 Molnár 1999: 461 160 Schmitz-Bender 2006: 6 161 Schmitz-Bender 2006: 2 - 34 - "Der Ministerrat der Volksrepublik Ungarn ehrt das Gedenken an Imre Nagy, seine Gefährten und alle Opfer des Volksaufstands von 1956 und der nationalen Tragödie und teilt den schmerzlichen Verlust der Anverwandten. Geleitet vom Vorsatz, nationale und historische Gerechtigkeit walten zu lassen, hat die Regierung damit begonnen, die notwendigen Schlüsse aus den Ereignissen von 1956 zu ziehen. In diesem Geiste wird sie dem Parlament eine Vorlage unterbreiten, wonach die wegen staatsfeindlicher Aktionen verurteilten Parteien für unschuldig erklärt werden. Die Regierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass in Ungarn niemals wieder jemand ohne entsprechende Gesetzesgrundlagen aufgrund seiner politischen Überzeugung verurteilt werden kann. Deswegen hat sie dem Parlament vorgeschlagen, die Todesstrafe für politische Verbrechen aufzuheben. (...) Es liegt im allgemeinen Interesse aller Ungarn und eines jeden Bürgers dieses Landes, dass die Beisetzungszeremonie und die Imre Nagy erwiesene letzte Ehre auf eine Art und Weise stattfinden, die einer europäischen Nation würdig sind, im Geiste der Gerechtigkeit und der Einigkeit. (…) Die Regierung distanziert sich von den falschen und oft sündhaften politischen Beschlüssen der Vergangenheit , von den nach 1956 ergriffenen Vergeltungsmaßnahmen, und sie bringt ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, dieser schwierigen Epoche ein Ende zu machen. Sie ruft die Nation auf, einander die Hand zu reichen. Konzentrieren wir unsere Kräfte und unsere kreative Energie auf den Aufbau eines neuen, demokratischen Ungarn."162 Die sterblichen Überreste von Imre Nagy und vier seiner engsten, ebenfalls mit ihm hingerichteten oder im Gefängnis gestorbenen Mitarbeiter von 1956 - Géza Losonczy (Staatsminister im Kabinett Nagys), Pál Maléter (Verteidigungsminister im Kabinett 1956), József Szilágyi (Leiter von Nagys Regierungsbüro) und der Journalist Gimes Miklós - wurden an Nagys 31. Todestag in einem feierlichen Staatsakt am 16. Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz unter großer Anteilnahme der ungarischen Bevölkerung aufgebahrt. Anschließend wurden die Gebeine auf jenen Friedhof, wo die Leichen Nagys und seiner Mitarbeiter in Massengräbern, der "Parzelle 301", anonym gelegen hatten, umgebettet.163 Am 6. Juli 1989 wurde Imre Nagy auch juristisch rehabilitiert, als der Oberste Gerichtshof das Urteil gegen Imre Nagy als Fehlurteil aufhob. Am 23. Oktober 1989, dem 33. Jahrestag des Beginn des Volksaufstandes von 1956, erklärte Staatspräsident Mátyás Szürös die bisherige „Volksrepublik Ungarn“ feierlich zu einer Republik.164 Das nach mehr als 40 Jahren erstmals frei gewählte ungarische Parlament - die Wahlen fanden am 25. März und 8. April 1990 statt - verabschiedete am 2. Mai 1990 zu Beginn 162 Schmitz-Bender 2006: 2/3 163 Litván; Bak 1994: 190; Schmitz-Bender 2006: 3 164 Nyyssönen 1999: 929; Schmitz-Bender 2006: 1 - 35 - seiner Tätigkeit das „Gesetz über die Verewigung des Andenkens an die Revolution und den Freiheitskampf 1956“. Dabei entschied sich das demokratische Parlament bei den Feiertagen dazu, den 23. Oktober 1956 sowohl als Jahrestag des Freiheitskampfes von 1956 als auch als Tag der Ausrufung der Republik Ungarn im Jahre 1989 als Feiertag einzustufen.165 Der Text hatte folgenden Wortlaut:166 „Das frei gewählte Parlament betrachtet es als seine vordringliche Aufgabe, die geschichtliche Bedeutung der 1956er Oktoberrevolution und des Freiheitskampfes gesetzlich zu verankern. Dieses ruhmreiche Ereignis der neueren ungarischen Geschichte lässt sich allein an der 1848-49er Revolution und jenem Freiheitskampf messen. Die Herbstrevolution des Jahres 1956 hat die Hoffnung begründet, dass die Errichtung der demokratischen Gesellschaftsordnung möglich ist und dass für die Unabhängigkeit des Vaterlandes kein Opfer zu groß sei. Die auf der Revolution folgende Vergeltung stellte zwar die alte Machtordnung wieder her, doch hat sie den Geist von 1956 aus der Seele des Volkes nicht zu tilgen vermocht. Das neue Parlament betrachtet als seine Aufgabe, das Gedenken an die Revolution und an den Freiheitskampf wach zu halten und zu pflegen. Das Parlament bekräftigt seinen Willen, alles zur Förderung einer Mehrparteiendemokratie , der Menschenrechte und der nationalen Unabhängigkeit zu tun, weshalb es in seiner ersten Sitzung vor allem anderen folgendes Gesetz erlässt: § 1. Das Gedenken an die 1956er Revolution und an den Freiheitskampf ist hiermit im Gesetz verankert. § 2. Der 23. Oktober, der Tag des Ausbruchs der 1956er Revolution und der Beginn des Freiheitskampfes sowie der Tag der Ausrufung der Ungarischen Republik 1989 sind nationale Feiertage. Im Februar 1991 beschlossen die sechs noch im „Warschauer Pakt“ organisierten Staaten , zu denen auch Ungarn zählte, die offizielle Auflösung des Militärbündnisses zum 1. Juli 1991. Damit wurde jenes Militärbündnis auf friedlichem Weg aufgelöst, das über Jahrzehnte an der Hegemonie der Sowjetunion gegenüber ihren sozialistischen Bündnispartnern in Osteuropa einen entscheidenden Anteil hatte.167 In diesem Zusammenhang verließen im Juli 1991 die letzten russischen Truppen Ungarn. Damit wurde 35 Jahre nach dem Volksaufstand etwas Wirklichkeit, was als politische Forderung im Herbst 1956 auf der politischen Agenda gestanden hatte. 165 Nyyssönen 1999: 929 166 Litván; Bak 1994: 13 167 Nyyssönen 1999: 930 - 36 - Ohne das Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte wäre der Herbst 1956 von seinem Endergebnis her mit hoher Wahrscheinlichkeit anders verlaufen. Dieser historischen Verantwortung Russlands gegenüber Ungarn stellte sich die russische Regierung Anfang der neunziger Jahre. Der russische Präsident Boris Jelzin verurteilte bei einem Besuch des ungarischen Premierminister Josef Antall im Dezember 1991 in Moskau die sowjetische Invasion in Ungarn im Jahr 1956. Damit kam er auch einem Beschluss des ungarischen Parlaments vom Juli 1990 nach, das eine Verurteilung der Invasion 1956 von der russischen Regierung verlangt hatte.168 Anfang der neunziger Jahre beschloss das ungarische Parlament verschiedene Gesetze zur Aufhebung der Verjährungsfristen. Allerdings wurden die Gesetze vom Verfassungsgericht als „teilweise verfassungswidrig eingestuft“. Juristische Hürden waren die Verjährung (Verbrechen verjähren im ungarischen Rechtssystem 15 Jahre nach der Tat) und das so genannte Rückwirkungsverbot. Daraufhin verabschiedete das Parlament im Oktober 1993 ein Gesetz, das eine Strafbarkeit der Taten von 1956 unter ausdrücklichen Bezug auf das Völkerrecht vorsah. Somit konnten Verantwortliche von 1956 strafrechtlich noch belangt werden. Allerdings war die Zahl von Verurteilungen im Zusammenhang mit dem Volksaufstand von 1956 bisher sehr gering. Insgesamt wurden ca. 40 Strafverfahren gegen „Täter“ eingeleitet. Die meisten Verfahren mussten aus Mangel an Beweisen eingestellt werden, da sich der genaue Tathergang nicht mehr exakt rekonstruieren ließ. Nur wenige Verantwortliche wurden rechtskräftig zu Freiheitsstrafen und einem mehrjährigen Verbot öffentlicher Betätigung verurteilt.169 8. Zusammenfassung Der Volksaufstand in Ungarn im Jahr 1956 wurde durch einen politischen Gärungsprozess im Lande selber ausgelöst. Die damalige kommunistische Staats- und Parteiführung hatte es unter der Führung von Mátyás Rákosi und Ernö Gerö versäumt, die zahlreichen innenpolitischen Probleme des Landes zu lösen. Zu diesen ungelösten Problemen gehörte zum einen die schwierige ökonomische Situation des Landes. Zum anderen griff die Parteiführung das insbesondere nach dem 20. Parteitag der KPdSU entfachte Verlangen der Bevölkerung, der Reformkräfte innerhalb der kommunistischen Staatspartei und der Intellektuellen nach mehr Reformen und Freiheiten innerhalb des sozialistischen Systems nicht auf. Die Absetzung des Altstalinisten Mátyás Rákosi am 17. Juni 1956 kam zu spät. Sein Nachfolger, Ernő Gerő, galt ebenso wie Rákosi als ein reformunfähiger Altstalinist. Seine Politik unterschied sich dann auch nur in Nuancen von der seines Vorgängers. Die kommunistische Partei in Ungarn hatte die Möglichkeit für eine wirkliche Reformpolitik, wie sie unter Imre Nagy als Ministerpräsident im Zeit- 168 Nyyssönen 1999: 931 169 Trappe 2001: 3/4 - 37 - raum ab Sommer 1953 möglich gewesen wäre, nicht wahrgenommen. Wäre diese Chance auf Veränderung wahrgenommen worden, wäre es möglicherweise nicht anderthalb Jahre nach der Absetzung Nagys zum Volksaufstand gekommen. Die spontane Massendemonstration in Budapest am 23.Oktober 1956, ursprünglich von den Budapester Studenten als Solidaritätsaktion zugunsten der Reformpolitik in Polen geplant, ging in einen das ganze Land betreffenden bewaffneten Konflikt über. Für diese Eskalation war das harte Vorgehen der Staatssicherheit vor dem Rundfunkgebäude in Budapest, als die Demonstranten beschossen worden, verantwortlich. Das Eingreifen der sowjetischen Truppen auf Seiten der kommunistischen Staatspartei schließlich diskreditierte nicht nur die Regierenden und ihr politisches System in den Augen der Ungarn vollständig, sondern ließ den bewaffneten Konflikt auch zu einem nationalen Freiheitskampf der Ungarn gegen eine „fremde Besatzungsmacht“, die Sowjetunion, werden .170 Der mit Beginn des Volksaufstandes durch die kommunistische Partei wieder reaktivierte Imre Nagy sollte eigentlich für die Partei den Aufstand schnell befrieden. Auch wenn Nagy mit den Dogmatikern seiner Partei in vielen Fragen nicht übereinstimmte, so handelte er in den ersten Tagen des Volksaufstandes immer noch aus seinem Selbstverständnis als Kommunist heraus. Aus Sicht der Mehrheit der Funktionäre der MDP handelte es sich bei den Demonstranten um „Konterrevolutionäre“. Zusammen mit dem Reformflügel der Partei musste Nagy sich zu Beginn des Aufstandes nicht nur gegen die eigene Partei und deren harte Linie durchsetzen, sondern sich auch das Vertrauen in der Bevölkerung schrittweise erarbeiten. Zu Beginn musste er sogar das Missverständnis aus dem Weg räumen, dass er als neuer Ministerpräsident für den Einsatz der sowjetischen Truppen verantwortlich sei. Dies schaffte er erst im Verlauf der Geschehnisse, indem er – durch die Ereignisse förmlich gedrängt – Stück für Stück politische Forderungen der Demonstranten umsetzte oder deren Umsetzung in Aussicht stellte. Imre Nagy strebte dabei zunächst an, innerhalb der sozialistischen Gesellschaftsordnung Reformen - unter anderem auf Grundlage seines Programms aus dem Jahr 1953 - durchführen zu können. Er erkannte den Aufstand dann aber als solchen an, setzte sich für ein Mehrparteiensystem ein, öffnete sein Kabinett auch für Nicht-Kommunisten, sprach sich für die Auflösung der ÁVH aus, ermöglichte bürgerliche Freiheiten und kündigte Verhandlungen über den generellen Abzug der Sowjettruppen an.171 Mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen, insbesondere aus Budapest, schienen die Aufständischen und mit ihnen ihre Ziele gesiegt zu haben. 170 Mühle 1998: 45; Fischer 1995: 154; Mack 1995: 17/18 171 Litván; Bak 1994: 187; Fischer 1999: 212 - 38 - Das zunächst mögliche erneute Eingreifen der sowjetischen Truppen führte nochmals zur Beschleunigung der Politik Imre Nagys. Das Kabinett wurde zu einem Kabinett der demokratischen Parteien des Jahres 1945 umgebildet, der sofortige Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität des Landes beschlossen. Nur wenige Stunden nachdem sich die sowjetischen Truppen in Marsch gesetzt haben, brach die von Nagy geführte Regierung zusammen. Zu aussichtslos wurden offenbar die Chance auf eine erfolgreiche Gegenwehr – vor dem Hintergrund der schwachen eigenen Kräfte und der Übermacht der sowjetischen Truppen – eingestuft. Die Aufständischen hatten schon zu Beginn des Aufstandes erkannt, dass der Schlüssel für ein neutrales, unabhängiges und demokratischen Ungarn in Moskau lag. Nur die militärische Präsenz der sowjetischen Truppen sicherte dem kommunistischen Regime in Ungarn seine Existenz. Ohne die Unterstützung des Kreml hatte es keine Chance auf seine Alleinherrschaft gehabt.172 Bis zu welchen inhaltlichen Punkten die sowjetische Führung beim Volksaufstand mitgegangen wäre, ohne nochmals ihre Truppen - zum zweiten Mal nach dem 23. Oktober 1956 - in Bewegung zu setzen, muss spekulativ bleiben. Offenbar war die sowjetische Seite, innerhalb derer einer Intervention „Hardliner“ und Reformkräfte einen ständigen Konflikt lieferten, bereit der vom Reformkommunisten Nagy angeführten Regierung gewisse Zugeständnisse zu machen. Für die unterschiedlichen Flügel der KPdSU- Führung waren aber, bei allen Differenzen über den Umgang mit der ungarischen Krise, zwei grundlegende Prioritäten sowjetischer Politik beizubehalten: Der Erhalt des sowjetischen Imperiums als auch des kommunistischen Herrschaftssystems selbst. Auf diese Fakten verwies auch der für Außenpolitik zuständige ZK-Sekretär der KPdSU Dimitri T. Schepilow hin: „Die Grundlagen (des kommunistischen Systems) bleiben unberührt .“173 Eine „polnische Lösung“ für Ungarn wäre in diesem Zusammenhang vielleicht möglich gewesen. Voraussetzung hierfür wäre aber gewesen, dass die Nagy- Regierung insgesamt ein sozialistisches Modell inklusive der Zugehörigkeit zum Warschauer Bündnis mittragen und der Bevölkerung hätte vermitteln können.174 Doch für eine derartige Politik war der Zug der Ereignisse schon zu Beginn des Volksaufstandes programmatisch in die andere Richtung unterwegs gewesen. Zudem war der Volksaufstand vor allem die Antwort der Ungarn auf die Einführung des sowjetischen Systems im Land überhaupt.175 Die ungarischen Kommunisten hatten für ihr in den ersten Nachkriegsjahren mit Gewalt und Terror durchgesetztes politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System nie die Mehrheit der Bevölkerung für sich gewinnen können. 172 Tischler 2006: 22; Litván; Bak 1994: 109 173 Rainer; Barth 2000: 251 174 Mühle 1998: 47 175 Rainer; Barth 2000: 219 - 39 - Die sowjetische Seite wollte zudem das von ihr seit 1945 geschaffene System von kommunistischen Vasallenstaaten in Osteuropa sowohl aus politischen wie aus sicherheitspolitischen Gründen nicht preisgeben. Ein Herausbrechen eines Landes wie Polen oder Ungarn aus ihrem Machtblock hätte ihrer Ansicht nach das ganze System zum Zerfall führen können.176 Die Sowjetunion war 1956 und insgesamt bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht bereit, die europäische Nachkriegsordnung in dieser Region ihres Machtbereiches in Frage stellen zu lassen.177 Die westlichen Großmächte, allen voran die USA, erhoben gegen die militärische Intervention der sowjetischen Truppen zwar ihre Stimme. Letztendlich aber stellten sie das auf den Konferenzen in Jalta und Potsdam sanktionierte „Recht“ der Sowjetunion auf die Region, ihren aus dem Ergebnis des Zweiten Weltkrieges resultierenden Einflussund Machtbereich, nicht in Frage.178 Der so genannte Kalte Krieg sollte aus Sicht der USA nicht zum „heißen Krieg“ werden.179 Nach der Niederschlagung des Aufstandes übernahm die kommunistische Regierung unter Führung von János Kádár die Regierungsgewalt. Diese Machtkonstellation hatte bis Ende der achtziger Jahre Bestand, bis im Rahmen des Zusammenbruchs des von der Sowjetunion angeführten kommunistischen Staatensystems Ungarn sich mit Hilfe eigener politischer Reformen in eine Demokratie transformierte. Dabei war die kommunistische Partei im Vergleich zu ihren sozialistischen Schwesterparteien Schrittmacherin der Entwicklung. Nach dem November 1956, insbesondere seit Frühjahr 1957, setzte eine staatliche Verfolgungs - und Terrorwelle durch das Kádár-Regime ein. Imre Nagy wurde in einem Schauprozess im Jahr 1958 zusammen mit anderen Persönlichkeiten zum Tode verurteilt . Ungefähr 200.000 Ungarn flohen aufgrund der Niederschlagung des Aufstandes ins Ausland. Der Volksaufstand insgesamt war in Ungarn zur Zeit der kommunistischen Diktatur ein öffentliches Tabuthema. Verstärkt seit dem Jahr 1988, als Teil der vom Reformflügel der Partei angestoßenen Transformationsphase vom Kommunismus zur Demokratie, wandelte sich in Ungarn die Einstellung der regierenden kommunistischen Partei gegenüber der Person Imre Nagy und dem gesamten Thema Volksaufstand. Im Mai 1989 erklärte die Partei die Hinrichtung Nagys für illegal und rechtswidrig. Im Juni 1989 wurde Nagy politisch von der ungarischen Regierung rehabilitiert. Es folgte im Juli 1989 vom Obersten Gerichtshof auch die juristische Rehabilitierung des ermordeten ehemaligen Ministerpräsiden- 176 Fischer 1999: 213; Litván; Bak 1994: 98 177 Litván; Bak 1994: 74 178 Molnár 1999: 442/443 179 Tinschmidt 1997: 72/73 - 40 - ten. Seit Anfang der neunziger Jahre gilt der 23. Oktober zudem auch als Jahrestag des „Freiheitskampfes“ von 1956. Neben der Neubewertung der Ereignisse vom Herbst 1956 und der Rehabilitierungen Imre Nagys und anderer Personen des Volksaufstandes, die in Ungarn selber vorgenommen worden sind, war schließlich auch Russland als Nachfolgerin der untergegangenen Sowjetunion bereit, sich seiner historischen Verantwortung für die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn zu stellen. Im Jahr 1991 verurteilte der russische Präsident Boris Jelzin für die russische Regierung die sowjetische Invasion in Ungarn im Herbst 1956. Der „Warschauer Pakt“, der ein wichtiges Instrument bei der Durchsetzung der sowjetischen Machtinteressen gegen Ungarn und andere kommunistische „Bruderländer“ gewesen war, löste sich zum 1. Juli 1991 auf. Im selben Monat verließen die letzten russischen Truppen Ungarn. Damit war schließlich das Ziel der Aufständischen von 1956, ein freies, unabhängiges und demokratisches Ungarn, endgültig erreicht . - 41 - 9. Literaturverzeichnis - Bartosek, Karel (1998). Mittel- und Südosteuropa, in: Courtois, Stéphane u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München. - Daniel, Tobias (2004). Ungarische Geschichte seit 1945, http://www.europadigital .de/laender/ung/staat/geschichte.shtml [Stand: 22.05.2006]. - Fischer, Holger (1995). Ungarn 1956 in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland, in: Mack, Karlheinz (Hrsg.). Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789-1989, Wien, S.151-158. - Fischer, Holger (1999). 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