Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste Zum Begriff Europas in geographischer und kultureller Hinsicht - Ausarbeitung - 0 2008 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 089/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in : Ausarbeitung WD I - 3000 - 089/08 Abschluss der Arbeit: 28. Oktober 2008 Fachbereich WD I : Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsver,valtung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfa.sser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. Inhaltsverzeichnis 10 10 11 12 13 14 14 14 15 16 2.1. 2.2. 3.1. 3.2. 3.3. 5.4. 4.1. 4.2. 4.3. Geografische Grenzen Europas Problematik von Kontinentalgrenzcn Definition der geographischen Grenze nach Strahlenberg Definition in kultureller Hinsicht Okzident/Abendland/Westen (Iristentum und Europa Antike und Europa Grenzen der Union Rechtliche Grenzbestimmung der Union Russland Literatur -5- - Zusammenfassung - Angesichts einer Unschärfe und Widersprüchlichkeit der in den verschiedenen Zusammenhängen gebrauchten Begriffe von Europa, versucht die vorliegende Ausarbeitung, die Entwicklung der geographischen und kulturellen Kriterien darzulegen, anhand derer der Begriff „Europa" üblicher Weise gebraucht wird. Dabei wird deutlich, dass weder Geographie noch Kulturgeschichte eine klare Abgrenzung „europäischer" von „nichteuropäischen " Gebieten und Bevölkerungsgruppen erlauben und dass keineswegs zufällig „Einheit in Vielfalt" das Motto ist, unter dem das Projekt der Europäischen Union steht, das sich nicht auf geographische Grenzen und ein einheitliches Staatsvolk gründet , sondern auf die Verpflichtung aller Mitgliedsländer auf gemeinsame Werte: auf die Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie und des Rechtsstaats sowie der Menschenrechte. „Europa, aber wo liegt es" könnte man, in Anlehnung an Goethes Wort zum Deutschland seiner Zeit, fragen angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen, ja konträren Definitionen des Begriffs Europa im Lauf der Geschichte -angefangen mit Herodot- und in der gegenwärtigen politischen Diskussion. Wobei hinzuzufiigen wäre, dass es in den meisten Zusammenhängen, in denen heute von „Europa" in seinen unterschiedlichen Bedeutungen die Rede ist, keineswegs un die Bemühung geht, dic Frage „Was ist Europa " zu klären, sondern darum, das, was der jeweilige Autor unter Europa versteht, im Hinblick auf sehr praktische Fragestellungen —etwa auf Wirtschafts-, Sicherheits- und Umwelt- Oder Finanzpolitik- zu betrachten, so dass aus den Diskursen sich nur indirekt erschließt, was eigentlich Europa sei. Die sprachliche Unschärfe und Widersprüchlichkeit, die sich im Europa — Diskurs bemerkbar macht, scheint dabei nur der Tatsache zu entsprechen, dass „Europa" die Kategorien des nationalstaatlichen Denkens überfordert — so ist ein Staatsgebiet ebenso schwer zu bestimmen wie das Staatsvolk- und dass es immer wieder Schriftsteller waren , die unter dem Eindruck verheerender Kriege auf die kulturelle Einheit „Europa" hinwiesen, auf der sie ein staatliches Gebilde aufbauen wollten, das neue kriegerische Konflikte ausschlösse. So beschwor etwa Victor Hugo 1878 „Friede" als das Wort der w -6- Zukunft und home auf das „Aufkommen der Vereinigten Staaten von Europa im 20.Jahrhundert". Europa, so Hugo, brauche „alle Abrüstung mit Ausnahme der Abrüstung des Geistes". Die praktische Umsetzung der europäischen Idee jedoch macht begriffliche Aporien deutlich und zeigt, dass weder der Rückgriff auf Geographie noch der auf Kulturgeschichte eine eindeutige Bestimmung des Begriffs ermöglicht. Es gibt keine natürlichen geographischen Grenzen Europas und fraglich ist auch, ob sich klare kulturelle Grenzen ziehen lassen. Als Bestandteil des Großkontinents Eurasien ist die Grenzziehung zwischen Asien und Europa historisch-kulturell bedingt. Auch ist eine Grenze nie durchs Völkerrecht institutionalisiert Die Probleme bei der Bestimmung europäischer Kultur stehen im Zusammenhang mit dem Fehlen einer klaren räumlichen Bestimmung Europas und umgekehrt. „Deshalb sind die geographischen Grenzen Europas so variabel wie die Geschichten, mit denen sie begründet werden. "l Unter der Voraussetzung, dass eine klare Grenzziehung nicht möglich ist, lässt sich jedoch eine Bestimmung dessen ausmachen, was unter „Europa" verstanden werden kann, wenn man Sich die jeweiligen Bedeutungen anschaut, die dem Begriff im Laufe der Geschichte beigemessen wurden und dabei feststellt, dass sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Bedeutung des Begriffs „Europa" zunehmend verfestigt. Eder2007, S.201 2. 2.1. Geografische Grenzen Europas Problematik von Kontinentalgrenzen Anders als die Kinf anderen Kontinente, sind Europa und Asien durch keine plattentektonische Grenze getrennt, weshalb die eurasische Landmasse seit dem Beginn der Kontinentalverschiebung nicht getrennt wurde. Unter streng geographischen bzw. geologischen Aspekten stellt Europa deshalb eine Halbinsel Eurasiens dar. Jeglicher Versuch, eine natürliche Abgrenzung Europas von Asien zu definieren, läuft damit zwangsläufig auf eine künstliche Definition hinaus, die keiner näheren Betrachtung standhält. Es gibt nur wenige Staaten, die nach dem gängigen Gebrauch der Begriffe „Europa" und „Asien" auf beiden Kontinenten zugleich liegen: Kasachstan, Russland und die Türkei haben jeweils einen europäischen und einen asiatischen Teil. Die griechischen Inseln der Ägäis, die nur wenige Kilometer vor der Westküste Kleinasiens liegen, gelten noch als europäisch, vor allem aufgrund ihrer historischen Zugehörigkeit zu Griechenland , Außerdem gibt es eine Reihe von Staaten, deren Besitzungen und Kolonien jen- Seits ihres eigenen Kontinents liegen. Eine völkerrechtliche Grenzziehung zwischen Europa und Asien existiert nicht und ist auch nicht möglich, da Kontinente keine Völkerrechtssubjekte sind und den von einer Kontinentalgrenze betroffenen Staaten keine völkerrechtlichen Konsequenzen erwachsen würden. Geographische Zugehörigkeit zu einem Kontinent ist zwar in den meisten Fällen ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zu internationalen Organisationen und Staatenverbünden, aber kein Ausschlusskriterium. So liegt die Türkei nach gängiger Definition zu 97 Prozent ihrer Fläche und zu 82 Prozent ihrer Einwohner in Asien, dennoch wurden Beitrittsverhandlungen zur EU aufgenommen. Der EU-Mitgliedstaat Zypern wird komplett zu Asien gerechnet, und auch Grönland als autonomer Teil des Königreichs Dänemark, gänzlich in Nordamerika gelegen, gehörte bis zu seinem Austritt 1985 zur Europäischen Gemeinschaft. Eine rein geographische Entscheidung über die Zugehörigkeit eines Gebietes zu Europa ist daher unmöglich2. 2.2. Definition der geographischen Grenze nach Strahlenberg Die heute gebräuchlichste Definition der Ostgrenze Europas und Westgrenze Asiens stammt von Philip Johan von Strahlenberg (1676-1747), einem deutsch-schwedischen Geografen. Er befasste sich mit der russischen Geografie und nutzte seine Kriegsgefan- Schultz: „Kann der Geograph dem Politüer definitiv die Frage beantworten, ob die Türkei zu Europa gehört oder nicht? Offenkundig nein!", in: Leggewie 2004, S.52 -8- genschafi in Russland, um in Sibirien geografische und anthropologische Studien anzustellen . Er wurde vom Zaren Peter II. beauftragt, eine Grenzlinie innerhalb Russlands zu finden und zu kartographieren. 1730 erschien-in Stockholm sein Werk „Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia, in so weit solches das gantze Russische Reich mit Sibirien und der grossen Tatarey in sich begriffet", und im selben Jahr nahm Zarin Anna Iwanowna seinen Vorschlag an, den Ural zum Grenzfluss zu bestimmen. Zwischen der Karasee (im Nordpolarmeer) und dem Kaspischen Meer formen nach Strahlenbergs Definition das Uralgebirge, das sich nur bis in 1 895 Meter Höhe erhebt und somit keine wirkliche Barriere darstellt, sowie ab Magnitogorsk im südlichen Uralgebirge der Fluss Ural die Grenze. Letzterer fließt 2 428 Kilometer lang ins Kaspische Meer. Im Uralgebirge wird die Kontinentalgrenze üblicherweise entlang der Wasserscheide gezogen. Zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer ist der Verlauf der Kontinentalgrenze schwerer zu ziehen. Strahlenberg gibt die Niederung des Flusses Manytsch an, eines Unterlaufs des Don. Ab Manytschskaja bildet der Don selbst die Grenze, Der Don galt bereits im Mittelalter als östliche Grenze Europas, und die Manytschniederung war nach der letzten Eiszeit tür eine Weile die natürliche Verbindung zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Nach Strahlenberg befindet sich also auch ein Nordwest-Zipfel Kasachstans in Europa, nicht aber Georgiens. Alternativ wird auch das Kaukasusgebirge selbst als Grenze angegeben; unter dieser Voraussetzung wäre dann nicht der Mont Blanc sondern der Berg Elbrus der höchste Berg Europas wäre. 2.3. Definition der Außengrenze durch Europarat und den Ständigen Ausschuss tür geographische Namen (StAGN) Der Europarat berief in den 1960er Jahren geographische Konferenzen ein, um eine allgemein anerkannte Definition Europas zu finden. Die Geographen kamen zum Schluss, dass Europa nicht nach "natürlichen", d. h. physisch-geographischen Gegebenheilen , sondern ausschließlich nach humangeographischen Kriterien wie Besiedlung, Geschichte, Wirtschaft, Kultur und Politik als Kontinent abgegrenzt werden könne. 4 Mit der Bestimmung geographischer Namen beschäftigt sieh in Deutschland der Ständige Ausschuss fir geographische Namen (StAGN). Der StAGN ist ein selbständiges Vgl. http://upload.wikimedia.org6wikipedWdeWffEuropa_geografisch_karte_de_l.png Ilummel 2003 -9- wissenschaftliches Gremium ohne hoheitliche Funktion. Da keine natürlichen Grenzen Europas existieren, ist die Au@e des Gremiums Kriterien Zu definieren, die eine Bestimmung ermöglichen. Für den StAGN hat Peter Jordan einen Vorschlag die „Großgliederung Europas nach kulturräumlichen Kriterien"' gemacht und dabei auch teilweise die Außengrenzxn bestimmt. Er gibt zwei vaschiedene Großgliederungen, eine nach nur „kulturräumlichen" Kriterien und die andere nach kulturellen Kriterien und politischen Gren7ßn. Kulturräumliche Kriterien müssen solche mit nachhaltiger Wirkung und von historischer Dimension sein. Diese Kriterien zur Bestimmung räumlicher Identität können sich zwar auf empirische Fakten stützen, sind aber „im Wesentli- Chen ein soziales und kulturelles Konstrukt". Nach der kulturräumlichen und der politischen Aufteilung liegt die Türkei nicht in Europa , wohl aber Zypern. Wie weit Russland in Europa liegt wird nicht bestimmt, aber zumindest ein Teil als osteuropäisch definiert. Jordan 2005 w 3. 3.1. -10- Definition in kultureller Hinsieht Kultur ist nicht als bloße Sammlung von Traditionen und Ritualen zu verstehen, die einen vor-politischen Kern fir die Bestimmung einer Gemeinschaft liefert, sondern als Diskurs- Oder Kommunikationsgemeinschaft mit einem kollektiven Gedächtnis, die eine besondere Identität der Teilnehmenden so spricht etwa Schönhoven in seiner Abschiedsvorlesung ausdrücklich von „Europa als Erinnerungsgemeinschafi"$ Die Versuche, eine solche vorpolitisehe Substanz ZB. in der Suche nach einer europäischen Ursprache auszumachem sind gescheitert. Eine Kommunikationsgemeinschaft in Europa hat es historisch in der Form des Judentums und des lateinischen Christentums gegeben , die sich aber nicht als europäisch sondem als jüdisch oder christlich verstand. somit waren dig Grenzen Europas identisch mit den Grenzen der christlichen Ausdehnung, Skandinavien wurde von Kartographen bis ins 16.Jahrhundert hinein nicht zu Europa gezählt;. Die einigende Kraft durch einen Bezug aufs Judentum und vor allem auf das Christentum ist aber nicht zuletzt durch dic Bildung der Nationalstaaten beendet worden , die auch andere Formen des Kulturaustauschs erschwert haben. Auch wenn das Projekt der Europäischen Union nun wieder eine Kommunikationsgemeinschaft errnög• licht (und erfordert), ist das Selbstverständnis der Bevölkerung der Mitgliedstaaten noch sehr weitgehend national bestimmt. Welche Rolle die historische jüdisch-christliche Kommunikationsgemeinschaft fiir das Projekt der Europäischen Union hat, ist Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Von einer europäischen Kultur wird seit der Autklärung gesprochen, die auf eine Tradition verweisen konnte, die Europa seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als feste Größe verstanden wissen wollte, was mit den damals einsetzenden Entdeckungsreisen über Europa hinaus zusammenhing. Heute hat die Rede von der kulturellen Gemeinsamkeit Europas sich durchgesetzt, „Allenthalben wird in mündlichen Staternents oder schriftlichen Ausführungen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Natur eine Art Kulturlitanei gebetet. Europa sei eine Mischung aus antiker griechisch-römischer, aus jüdischer und christlicher Kultur, Epochen wie die der Karolinger, die Renaissance und die Aufklärung hätten die kulturelle Einheit Europas in der neueren Geschichte bewirkt, Europa bilde eine Wertegemeinschaft , worunter vor allem die Grundlegung des iX)litischen Europa durch Grund- Klaus Schönhoven.• , „Europa als frinnerungsgemeinschaff•, Abschiedsvorlsung an der Sozialwissenschaftlichen Fakulüt der Universität Mannheim am 13_Scptember 2007, Bonn 2007 (Hist. Forschungszentrum der Friedrich-Ebcrt-Stiftung, GesprächskHcs Geschichte, Heft 75 Schmale 2001, S. 51 -11- und Menschenrechte verstanden wird. Die Frage. Ob das richtig oder falsch ist, kann zunächst unberücksichtigt bleiben: Je öfter solche Ansichten quer durch Europa Wied erholt werden, desto mehr scheinen sie wahr zu sein. Sie wirken zweifellos bewußtseinsbildend ."8 Rechtsphilosophisch problematisch ist der Rekurs auf „westliche" oder „europäische' Werte, wie Demokratie und Menschenrechte, da diese universalistische darstellen, deren Verortung im „Westen" oder in „Europa" eine Haltung andeuten könnten, die seit der Entkolonialisierung diskreditiert ist. Grundsätzlich waren auch die universalistischen Vorstellungen über eine gute Ordnung immer noch wesentlich national bestimme. Eine gemeinsame Semantik für Europa zu finden, ist eine politische Aufgabe und noch nicht abgeschlossen. w 3.2. Okzident/Abendland'Wcsten „Das Gefühl „wir Europäer' entstand im Grunde erst im Zuge der europäischen Expan- Sion, als der Vergleich mit anderen Menschen in anderen, dazu noch bis dahin unbekannten Kontinenten nicht zuletzt über Flugblattholzschnitte dem „gemeinen Mann" nahegebracht wurde."10 Erst aus der bitteren Erfahrung zweier Weltkriege heraus verliert das nationalstaatliche Leitbild an Attraktivität und Kraft und die Tradition „Europas" wird wiederbelebt. Allerdings geriet das neu entstehende Europa sogleich in das Spannungsfeld des Ost- West-Konflikts und des Kalten Krieges. Europa bezeichnete jetzl Westeuropa im Gegensatz zum kommunistischen Osten. Dieses Schema konnte anknüpfen an die Tradition des Begriffs „Abendland", mit dem seit der Renaissance die Außengrenze zu bestimmen versucht wurde. Der Begriff „Okzident" (lat. occidere untergehen) oder „Abendland" bezeichnete in der Antike den westlichsten bekannten Kontinent, den der Abendsonne scheinbar am nächsten gelegenen Erdteil. Als 395 das Römische Reich in einen Ost- und einen Westteil geteilt wurde, war flir den byzantinischen Landesteil die Bezeichnung „Oriens" (lat. oriri aufgehen) gebräuchlich. Erst ab 1529 taucht das deutsche Wort „Abendländer"' auf. Der Begriff „Westen" bekommt eine neue Bedeutung im 19:Jahrhundert Vor dem Hintergrund des Imperialismus und bezieht sich nur auf den westeuropäischen Teil, während im Mittelalter der Begriff „Europa occidentalis" den Bereich vom Baltikum bis Schmale 2001, S. 266 Münch 2008, S.161 Schmale 2001 , S.40 -12- zur Adria mit einschloss. Mit dern Kalten Krieg, auch Ost-West-Konflikt, wurde die Spaltung der Welt ebenso wie Europas mm bestimmenden Faktor fir die nationale wie europäische Selbstverortung. Die Ost-West-Differenz hat bis heute einen entscheidenden Einfluss auf die die Diskus- Sion um und in Europa. Zahlreich sind ZB. die Versuche ehemaliger Ostblockstaaten, wie Tschechiens und Ungarns, aber auch der Staaten des Baltikums, sich als mitteleuropäisch bzw. ostmitteleuropäisch zu definieren und sich so ihrer Zurechnung zum russischen Einflussraum zu entziehen. Aus diesen Versuchen der Begriffsbildung erwächst eine Dichotomie, die Russland —ebenso wie die Türkei- als außerhalb Europas und mit diesem unvereinbar verortet. w 3.3. Christentum und Europa Im Zuge der Arbeiten an der Europäischen Verfassung von 2004, die nicht in Kraft getreten ist, gab es Bestrebungen von Seiten der Konservativen, unterstützt von Ländern wie Deutschland, in welchen die Trennung von Staat und Kirche nicht vollständig umgesetzt ist, einen Gottesbezug oder zumindest einen Verweis auf das jüdisch-christliche Erbe Europas in die Präambel des Verfassungsvertrages zu schreiben. Die lateinische Kirche hat eine Gesellschaft hervorgebracht, die über ein eigenes institu• tionelles Gefüge und eine eigene kollektive Identität verfügte, die aber den Begriff „Europa " nicht verwendet hat. Wenn der Begriff auftauchte, dann zur Anrufung einer christlichen Einheit gegen die Türken. Der Begriff taucht vermehrt erst mit dem Bedeutungsveriust der katholischen Kirche seit dem 15. Jahrhundert in der Renaissance auf, tritt aber auch dann noch hinter dem des Abendlands -zurück, der die Abgrenzung nach Außen jenseits der konfessionellen Spaltungen, die auch die politischen weitgehend bestimmten, bezeichnete. Nach diesem institutionellen Bedeutungsverlust der katholischen Kirche, der jedoch nicht unbedingt und in allen Ländem auch einen Verlust an kultureller Prägekraft bedeutete , bildete Sich keine einheitliche gesamteuropäische Institution mehr aus. ES bildeten sich aber säkularisierte soziale Strukturen mit europäischen Charakter. eine europäische Aristokratie, ein kosmopolitisches Stadtbürgertum und ein Netzwerk von Wandergesellen . Nicht zu unterschätzen sind auch die Kommunikationsstrukturen zwischen den jüdischen Bürgern der einzelnen Nationen, die sich zwar als Bürger des jeweiligen Nationalstaates verstanden —wobei dieser Status des Bürgers ihnen häufig verwehrt I so schon bei der Ausarbeitung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Vgl. Huber 2002:72. -13- wurde-, aber eben auch als Angehörige des jüdischen Volkes, das sich gerade nicht nationalstaaflich definiert und deshalb quer zu allen nationalstaatlichen Kategorien liegt. Diese Strukturen wurden aber mit der Durchsetzung des Nationalstaats als Ordnungsmodell , das religiöse und Klassenspaltungen zu überwinden trachtete, entweder untergraben oder dikriminiert. Eine Verbindung von Europa und Christentum tauchte noch als romantischer Gegenentwurf wie bei Novalis zu Beginn der nationalstaatlichen Epoche auf. Das Christentum Novalis' ist darüber hinaus nicht das des 16. Jahrhunderts, sondern ein kulturelles, säkularisiertes, dessen Europaidee deutsch geprägt ist im Unterschied zur zeitgleichen napoleonischen Durchsetzung des französisch geprägten Europabegriffs . Aus dieser Konstellation erklärt sich auch die romantische Unterteilung Europas in Romanität und Gennanität durch die Gebrüder Schlegel, Nr die Amerika das „neue" Europa bedeutete. 3.4. Antike und Europa Eine Altemative zum Bezug aufs Christentum als konstitutiv tür Europa stellt der Versuch Valéry Giscard d'Estaings dar, des Präsidenten des Europäischen Konvents, die Präambel der EU-Verfassung mit einem Zitat des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert beginnen zu lassen. Dieser Vorschlag scheiterte in der Regierungskonferenz, die bei ihrer Einigung über den Verfassungsvertrag am 18. Juni 2004 auf das Zitat verzichtete. 'Illukydides hatte dem Staatsmann Perikles in seiner „Gefallenenrede•• Rir die Toten des Peloponnesischen Krieges die folgenden Worte in den Mund gelegt: „Die Verfassung, die wir haben heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.".12 Mit diesem Vorschlag wurde an eine Tradition angeschlossen, die die Antike Welt als europäische interpretiert. Aus der griechischen Antike stammt auch der Name „Europa" und bezeichnete Mittel-, Nordgriechenland, Thrakien und Makedonien. Der Begriff weitete sich (6. Jahrhundert v. Chr.) aus und bezeichnete den Raum zwischen Gibraltar und Schwarzen Meer. Da die Antike aber wesentlich eine Mittelmeer-welt war, drangen die antiken Kulturen erst mit dem bürgerlich-humanistischen Bildungskanon nach Nordeuropa. Die Griechenlandbegcisterung zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs 1831- 32 band erstmals wieder die vormals türkischen Teile Europas wieder ein. 12 nukydides II, 37. Zit- nach: Amt tür amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Union 2003:3. 4. 4.1. - 14- Grenzen der Union Rechtliche Grenzbestimmung der Union Nach Artikel 49 EUV kann „jeder europäische Staat" die Mitgliedschaft beantragen, Definiert wird weder, was unter Europa zu verstehen ist, noch ob der entsprechende Staat gänzlich in Europa liegen muss. Eine rein geographische Bestimmung ist somit nicht angebracht. Zwar wurde mit dem geographischen Argument der Antrag Marokkos auf Mitgliedschaft 1986 abgelehnt, andererseits zeigt sich in der Aufiahme Zyperns 2004, dass diese Argumentation nicht durchgehalten wird, sondern auf kulturelle Gemeinsamkeiten verwiesen wird. Wie stark diese sein müssen, lässt sich schwerlich rechtlich quantifizieren. „Wenn ein Staat als europäisch angesehen wird, obwohl dies der geographischen Tradition nicht entspricht, dann dürfte es sich noch um eine authentische Vertragsauslegung im Sinne der Bejahung der kulturellen Gemeinsamkeiten han- Umstritten ist seit langem die Frage des Status von zwei Staaten, die traditionell als Mittler zwischen Europa und Asien gesehen wurden: Türkei 14 und Russland. Eine Grenze kann hier nur politisch gezogen werden. 4.2. Türkei Adolf Muschg schreibt angesichts des diskutierten Beitritts der Türkei zur EU: „Die Frage seiner (Europas) Grenze hört plötzlich auf, eine akademische zu sein. Sie stellt sich auf allen möglichen Ebenen: vor allem als Frage des politischen Willens, dann der Frage • der eigenen Struktur, der geopolitischen Folgen, der ökonomischen Konsequen- Zen."' 5 Er plädiert dafiir, die Frage des Beitritts der Türkei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend zu klären, sondern die Beitrittsverhandlungen abzuwarten.t6 Mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen am 3.10.2005 ist aber die Annahme eines europäischen Charakters der Türkei mmindest schon als Programm gesetzt, das „die kulturelie und politische Identität der Union I entscheidend prägt" 17 Die Türkei wurde durch die Pariser Friedensverhandlungen nach dem Krimkrieg 1856 als europäische Macht eingebunden, was zuvor schon Metternich geplant hatte. Ein 15 16 Meng Art 49, Rn. 55, in: von da Græben 2003 vgl. Leggewie 20(M Muschg 2005:70. Muschg 2005:75. Meng zu Art. 49, Rn. 54, in: von der Gro&n 2003 -15- Ausschluss durch Verweis auf den Islam als kulturell fremd, erscheint angesichts der historischen Verflechtung, wie der mehrhundertjährigen Präsenz in Europa, sowie der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staaten Albanien und Bosnien und dem Anteil von fünf bis7,5 Prozent Muslimen an europäischen Gesamtbevölkerung (aber nur 3 an der EU-Bevölkerung/ S zumindest nicht eindeutig. 4.3. Die Frage, wer beim „Europäischen Konzert"", der Pentarchie, wie laut mitspielen darf, hing seit der Frühen Neuzxit immer mit der Rolle Russlands als europäische Großmacht zusammen. Mit der Verlegung der russischen Hauptstadt nach Sankt Petersburg unter Peter dem Großen 1712 und spätestens seit den drei Polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 und dem Sieg über Frankreich 1812 ist der Status als europäische Großmacht unbestreitbar. Peter der Große war es auch, der den Ural als Grenze zwischen dem europäischen und asiatischen Teil Russlands vorschlug. Die russische Bevölkerung lebt heute zu 73 Prozent westlich des Ural, allerdings nur auf 23 Prozent der Staatsfläche. Zu sowjetischen Zeiten war die Verteilung in der UdSSR ähnlich: 77 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten auf 24 Prozent der Fläche, die in Europa lag. Spätestens seit dem Kalten Krieg versteht sich Russland aber selbst nicht als bloße europäische Großmacht, sondern als Weltmacht. w 18 http://de.wtkipedia.org/wiki/lslam_in_Europa Görtemakcr 1996:298. 5. -16- Literatur Amt Rir arntliehe Veröffentlichungen der Europäischen Union (2003). Entwurf Vertrag über eine Verfassung für Europa. Vom Europäischen Konvent im Konsensverfahren angenornrnen am 13. Juni und 10. Juli 2003. Dem Präsidenten des Europäischen Rates überreicht. 18. Luxemburg. http://european- 2003. convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf (Stand: 28.10.2008J. Klaus Eder (2007). Die Grenzen Europas. Zur narrativen Konstruktion europäischer Identität. In: Petra Deger, Robert Hettlage (Hg.) (2007). Der europäische Raum. Die Konstruktion europäischer Grenzen. Wiesbaden. Görtemaker, Manfred (19965). Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien, Bonn: Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 274. Groeben, Hans von der (200» Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Baden-Baden. Hummel, Hartwig (2003). Die Grenzen Europas. In: Jahrbuch der Heinrich-Heine- Universität (2003), (Stand: 28.10.081 Jordan, Peter (2005). Großgliederung Europas nach kulturråumlichen Kriterien. In: Europa Regional 13 (2005) 4, S.162-173. Leggewie, Claus (Hg.) (2004). Die Türkei und Europa. Die Positionen. Frankfurt/Main. Münch, Richard (2008). Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Zur Dialektik von transnationaler Integration und nationaler Desintegration. Frankfurt, New York. Muschg, Adolf Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. Bonn: Schriftenreihe der Bundeszentrale fir politische Bildung, Bd. 522. Novalis (1996). Die Christenheit oder Europa. Eine Rede (1799). In: Neue Rundschau 107 (1996) 3, s.9-25. Wolfgang Schmale (2001). Geschichte Europas. Wien, Köln, Weimar. Schönhoven, Klaus: „Europa als Erinnerungsgemeinschaff'. Abschiedsvorlesung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim am 13.September 2007, Bonn 2007 (Hist. Forschungszentrum der Friedrich-Ebert•Stiftung, Gesprächskreis Geschichte, Heft 75 -17- Strahlenberg, Philipp Johann von (1730). Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia, in so weit solches das gantze Russische Reich mit Sibirien und der grossen Tatarey in sich begriffet. Stockholm.