Die Deutschen und die Judenvernichtung - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 1 - 079/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Die Deutschen und die Judenvernichtung Ausarbeitung WD 1 - 079/06 Abschluss der Arbeit: Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. verlehmannpe Textfeld 28.07.2006 - 3 - - Zusammenfassung - Die Verdrängung und Vernichtung der europäischen Juden aus dem Einflussbereich des Deutschen Reiches war ein erklärtes Hauptziel des Nationalsozialismus, das von Beginn an offen propagiert wurde. Die Judenpolitik des Regimes war durch strategische Überlegungen geprägt und wurde entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse der Führung gezielt eingesetzt und gesteuert. Zur Durchsetzung der ideologischen Überzeugungen wurde ein mit großen Kompetenzen ausgestatteter Verfolgungsapparat aufgebaut und Entscheidungsstrukturen geschaffen, die eine möglichst effiziente Verfolgung Oppositioneller und später auch anderer marginalisierter Gruppen ermöglichte, ohne dass die Betroffenen eine Chance hatten, sich effektiv zur Wehr setzen zu können. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, insbesondere nach dem Überfall auf die Sowjetunion, boten sich die territorialen und organisatorischen Voraussetzungen, um den Mord an den Juden effektiv und möglichst konspirativ durchführen zu können. Der Entschluss zur „Endlösung“ wurde, so die vorherrschende Meinung in der Geschichtswissenschaft , in direktem Bezug auf den Kriegseintritt der USA und die vorausgegangene Formierung einer amerikanisch-britischen Kriegsallianz durch Hitler persönlich getroffen. Zur Gewährleistung der Geheimhaltung wurde der Repressionsdruck der Verfolgungsbehörden erhöht. Öffentliche Diskussionen um Details der Vernichtung der Juden sollten um jeden Preis verhindert werden, während die Bevölkerung jedoch zu keinem Zeitpunkt über die eigentliche Intention der Judenpolitik im Unklaren gelassen wurde. Hitler, als treibende Kraft der antisemitischen Bestrebungen, konnte sich dabei auf sein Volk verlassen, das alle judenfeindlichen Maßnahmen billigte und zum Teil einforderte, so lange nicht die öffentliche Ordnung oder die physische Existenz der Juden generell in Gefahr geriet. Die Forschung geht dabei übereinstimmend davon aus, dass die „Endlösung “ als solche von großen Teilen der Bevölkerung, die größtenteils zumindest über bruchstückhafte Informationen über die Vorgänge im Osten verfügte, nicht gebilligt worden wäre. - 4 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 5 2. Die Deutschen und das NS-Regime in den ersten Jahren der Diktatur 5 2.1. Die Deutschen und der SS-Staat 6 2.2. Das NS-Lagersystem in der öffentlichen Wahrnehmung 9 3. Die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und die öffentliche Wahrnehmung 10 3.1. Ausgrenzung der Juden 10 3.2. Die Deutschen und die Judenvernichtung 12 4. Die Judenvernichtung und der Kriegseintritt der USA 15 5. Literaturverzeichnis 17 - 5 - 1. Einleitung Die Vernichtung der Juden Europas war immer eine der zentralen Fragestellungen der zeithistorischen Forschung. In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich die nationale und internationale Forschung nochmals verstärkt mit den Entwicklungen vom verbalradikalen Antisemitismus zur systematischen „Endlösung der Judenfrage“ befasst. Die Anzahl der Gesamtdarstellungen, aber auch der Forschungsliteratur, insbesondere zu Abläufen und Tätern in den Vernichtungslagern als auch zur Alltagsgeschichte der Bevölkerung , haben deutlich zugenommen und ermöglichen daher detaillierte Darstellungen . Um die weitläufige und facettenreiche Thematik in einem angemessenen Rahmen darstellen zu können, wird für die auf Deutschland bezogenen Fragen aus der Fülle des Materials ausschließlich auf die wichtigsten und neuesten Studien zum Thema Bezug genommen. Eine systematische Erforschung des Kenntnisstandes über die Vernichtung der europäischen Juden und die Reaktionen auf die Judenpolitik des Nationalsozialismus im internationalen Kontext steht hingegen noch aus. Die folgende Darstellung muss sich daher auf wenige Schlaglichter beschränken, die jedoch keine konsistenten und wissenschaftlich abgesicherten Schlussfolgerungen zulassen. 2. Die Deutschen und das NS-Regime in den ersten Jahren der Diktatur Hitler hat seine politischen Positionen und Ziele in der Öffentlichkeit stets klar formuliert . Dass Gewalt für ihn ein Mittel zur Durchsetzung seiner Vorstellungen war, konnten die Deutschen bereits vor und verstärkt unmittelbar nach der Machtübertragung erkennen . Im Vorfeld der letzten formaljuristisch freien Wahlen vom März 1933 wurden Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch andere Oppositionelle, bereits öffentlich verfolgt, misshandelt und ins Exil getrieben. Das Ermächtigungsgesetz vom 23. März sowie die „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 gaben der neuen konservativ-nationalsozialistischen Regierung dann alle erhofften Möglichkeiten in die Hand, Demokratie und Rechtsstaat aufzulösen, das Reich und die Länder der totalen Kontrolle der Nationalsozialisten zu unterwerfen und ein Terrorregime zu etablieren. Hitler hat sich hierbei jedoch nie allein auf seine formalen Rechte als Reichskanzler stützen wollen. Die Erlangung der Unterstützung der Bevölkerung war für ihn eine der vordringlichsten Maßnahmen. Hierzu musste er zunächst die zwei als besonders bedrohlich empfundenen Probleme, die Beseitigung der Gefahr eines „kommunistischen Umsturzes “ sowie die Massenarbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Die Bevölkerung billigte daher weitestgehend alle Maßnahmen, die dazu dienten, die Gesellschaft nach - 6 - innen zu befrieden, auch wenn sich diese in Form von Terror gegen Oppositionelle zeigte . Selbst die Kritiker des legalistischen Kurses Hitlers hegten zumindest zu Beginn noch die Hoffnung, die neue Regierung würde nach einer kurze Phase, in der die nötigen „Aufräumarbeiten“ zu erledigen waren, wieder zum rechtsstaatlichen Prinzip zurückkehren 1. Bereits vor dem Tod von Reichspräsident Hindenburg im Jahr 1934 hatte sich das NS- Regime konsolidiert und die Weichen zum Übergang in den Führerstaat gestellt. Selbst den größten Optimisten wurde nun klar, dass der Weg in eine totalitäre Diktatur unausweichlich war. Der Zustimmung in der Bevölkerung tat dies aber keinen Abbruch, zumal sich die Wirtschaft durch eine Reihe von (z. T. repressiven) wirtschafts- und ordnungspolitischen Maßnahmen erholte und sich im Jahr 1936 ein Arbeitskräftemangel abzeichnete. Durch diese Erfolge gelang es nunmehr auch, die eher linksorientierte Arbeiterschaft zu gewinnen: „Es ist gewiß, dass die Nationalsozialisten besonders durch die Rückkehr zur Vollbeschäftigung weite Teile der Arbeiterschaft für sich gewannen, so dass Mitte der dreißiger Jahre auch die Arbeiter zur Bildung eines ‚pronazistischen Konsenses’ beitrugen.“2 Durch eine geschickte Politik war es Hitler zudem gelungen, auch fest gefügte - und daher potentiell für ihn problematische - Milieus, wie etwa das katholische durch das Konkordat, in die angestrebte „Volksgemeinschaft“ einzubinden. Die Protestanten standen der NS-Bewegung ohnehin weniger skeptisch gegenüber und unterstützten bei den Gemeindewahlen im Jahr 1933 bereits zu zwei Dritteln die nationalsozialistische „Kirchen “bewegung der Deutschen Christen3. 2.1. Die Deutschen und der SS-Staat „Als die Deutschen zunehmend für Hitler stimmten und insbesondere, als sie ihrer Unterstützung der Diktatur Ausdruck gaben, akzeptierten sie zugleich, dass es in ihrem Land eine Geheimpolizei geben würde.“4 Mit der Schaffung der Gestapo - und damit einer politischen Polizei - wurde der Übergang zu einem Willkür- und Terrorregime unmittelbar nach der Machtübertragung eingeleitet. Die Bevölkerung konnte den Übergang von der staatlichen zur Gesinnungspolizei direkt verfolgen, in dessen Verlauf z.B. Angehörige der bekannten SA-Schlägertrupps zu Hilfspolizisten gemacht wurden und staatliche Gewalt ausübten. 1 Vgl. Gellately (2002):26f. 2 Gellately (2002):29 3 Vgl. Gellately (2002):28f. 4 Gellately (2002):36 - 7 - Von Beginn an entschied die Führung jedoch, das Wirken des Terrorapparates mit einem Schleier zu umgeben. Dies zeigt sich in der Frühphase des Nationalsozialismus zum Beispiel in den verwandten Begrifflichkeiten, wie dem der „Schutzhaft“ für politische Gefangene, der die eigentliche Intention der Unterbringung in den neu eingerichteten Konzentrationslagern verdecken sollte. Nach abgeschlossener Konsolidierung ihrer Macht glaubte sich die NS-Führung so fest im Sattel, dass sogar Stimmen zu vernehmen waren, man könne die Gestapo und sogar die Konzentrationslager auflösen. Natürlich konnte sich diese Auffassung nicht durchsetzen . Mit der Übertragung der Leitung der Gestapo von Göring an Himmler, die bewusst an Hitlers Geburtstag im Jahr 1934 vollzogen wurde, wurden die Befugnisse des „Untersuchungsorgans“ erweitert und die Kompetenzen zentralisiert5. Da Himmler gleichzeitig für den Aufbau und den „Betrieb“ der Konzentrationslager verantwortlich war, konzentrierte sich hier erstmals die geballte Macht des Verfolgungsapparates in einer Hand. Der Prozess der Zentralisierung der polizeilichen Befugnisse in der Person des Reichsführers SS wurde 1936 zum Abschluss gebracht, indem man ihm die Leitung aller polizeilichen Abteilungen im Land übertrug und die Befugnisse der Länder radikal beschnitt. Neben dieser staatsorganisatorischen Machterweiterung wurden auch die polizeilichen Möglichkeiten von Kripo und Gestapo stark erweitert, so dass sie schon bald, insbesondere durch das Instrument der (vorbeugenden) Schutzhaft, über weitergehende Kompetenzen als die Justiz verfügte. Die Sonderrolle der politischen Polizei wurde – bewusst auch in der Öffentlichkeit - dadurch dokumentiert, dass die Beamten für Delikte , die sie in Ausübung ihres Amtes begangen hatten, nicht belangt werden durften. Mit der „standrechtlichen“ Ermordung von SA-Chef Ernst Röhm und ca. 100 weiteren Personen dokumentierte die NS-Führung auch nach außen ihren Willen, vom rechtsstaatlichen Prinzip und dem Primat der Justiz abzurücken und stattdessen den staatlichen Verfolgungsbehörden zum Vollzug des „Führerwillens“ freie Hand zu geben. Die Bevölkerung akzeptierte diesen Wandel offenbar klaglos als Preis, den man zur Wiederherstellung „geordneter“ Verhältnisse zu zahlen habe6. Neben der Erweiterung der Eingriffs- und Sanktionierungsmöglichkeiten der politischen Polizei wurde auch die Justiz mit neuen Kompetenzen und an die Diktatur angepassten Strukturen ausgestattet. Mit dem Aufbau von Sondergerichten ab März 1933 (im Jahr 1941 existierten 63) wurden die Vorkehrungen geschaffen, politische Delikte schnell und konsequent „aburteilen“ zu können. Die gesetzlichen Möglichkeiten wurden im Dezember 1934 nochmals verschärft. Jegliche Kritik an Staat oder auch Partei konnte drakonisch bestraft werden, ohne dem Beschuldigten eine Möglichkeit zu geben, sich 5 Vgl. Gellately (2002):52ff. 6 Vgl. Gellately:61 - 8 - effektiv zu verteidigen. Im Laufe des Krieges nahm die Bedeutung der politischen Sondergerichte zu, weil sie zunehmend auch normale Strafsachen zu behandeln hatten, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu politischen Delikten umdefiniert wurden. Insbesondere nach der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges ging die politische Polizei rigoros gegen jeden vor, der den Siegeswillen zu „zersetzen“ drohte: „Heydrich (Chef des Reichssicherheitshauptamtes, M.B.) wies die Gestapo an, gegenüber der örtlichen Polizei darauf zu dringen, dass schwere Fälle künftig direkt der Gestapo überstellt würden , um zeitraubende justizielle Verfahren zu vermeiden. Es liege bei der Gestapo, darüber zu entscheiden, ob ein Fall durch ‚Sonderbehandlung’, das heißt durch Hinrichtung , zu regeln oder den Gerichten zu übergeben sei.“7 Ferner wurde festgelegt, dass in Kriegszeiten Entlassungen aus der „Schutzhaft“ in der Regel nicht stattfinden würden. Die Gestapo war personell und auch organisatorisch ihren weit reichenden Aufgaben nur unzureichend gewachsen. Gezielt wurde daher der Mythos ihrer Allgegenwart aufgebaut . Für die effiziente Verfolgung von „Vergehen“ war die Gestapo auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen: „Tatsächlich belegen Akten der Justiz, der Gestapo und der NSDAP eine Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung von einem unvorstellbaren Ausmaß.“8 Die Motivation zur Denunziation von Bekannten oder Angehörigen war naturgemäß höchst unterschiedlich, insgesamt waren jedoch private Beweggründe häufiger anzutreffen als ideologische9. Mit dem Kriegsausbruch wurden die letzten Reste einer geordneten Verfolgung von Straftaten und solchen, die man dazu erklärte, beseitigt. Immer häufiger griff die Gestapo aus eigenem Antrieb in gerichtliche Verfahren ein und führte eigenmächtig Angeklagte ihrer „gerechten Strafe“ zu. Nur notdürftig wurde diese Art des Terrors verschleiert , in dem man darauf verwies, man wolle eine „Schädigung der Glaubwürdigkeit und des öffentlichen Erscheinungsbildes der Gerichte“10 verhindern, weil die öffentliche Meinung in Kriegszeiten berechtigterweise eine verschärfte Behandlung „Krimineller“ fordere, der die Justiz nicht immer entsprechen könne. In Wirklichkeit hatten natürlich auch die Gerichte bereits die neuen politischen Vorgaben in ihrer Spruchpraxis berücksichtigt und verhängten mit zunehmender Dauer des Krieges für kleinste Delikte Todesstrafen , so dass bspw. allein die Zahl der Todesurteile, die der Volksgerichtshof verhängte , von 36 im Jahr des Kriegsbeginns auf 2.097 im Jahr 1944 anstieg11. 7 Gellately:108 8 Diewald-Kerkmann:289 9 Vgl. Diewald-Kerkmann:301ff. 10 Gellately:114 11 Vgl. Gellately:124 - 9 - Immer, wenn dies politisch opportun war, berichteten auch die Zeitungen über die Exekutionen von „Landesverrätern“, selbst dann, wenn deren Vergehen keinerlei politischen Hintergrund hatte und lediglich aus dem Diebstahl von Lebensmitteln bestand. Die Bevölkerung scheint, so Gellately, mit dem Vorgehen des Staates weitgehend einverstanden gewesen zu sein. Selbst nach der Niederlage in Stalingrad, die deutlich machte, wie wenig realistisch die Berichterstattung in den Medien war, vermeldeten die Zeitungen im gewohnten Stil die Hinrichtung von „Straftätern“. Nach Gellately ein klarer Hinweis darauf, dass die kühl kalkulierende NS-Propagandamaschinerie die öffentliche Meinung diesbezüglich noch auf ihrer Seite wähnte12. 2.2. Das NS-Lagersystem in der öffentlichen Wahrnehmung Das NS-Regime hat bekanntermaßen die Funktion der Medien als Möglichkeit zur Beeinflussung der Menschen rasch erkannt und entsprechende Konsequenzen gezogen. Auch die politische Polizei nutzte die Medien gezielt, um Stimmungen zu schüren, die Notwendigkeit ihres Vorgehens gegen die „Schädlinge der Volksgemeinschaft“ zu erläutern und um das wahre Geschehen, bspw. in den Konzentrationslagern, zu verschleiern . Die Bürger wurden zunächst offen über die Einrichtung von Konzentrationslagern und deren Aufgabe informiert. Zur Eröffnung des ersten neu aufgebauten Konzentrationslagers in Dachau bekannte Heinrich Himmler (damals Polizeipräsident von München ) freimütig, dass man eine Möglichkeit für die Unterbringung von bis zu 5.000 politischen Häftlingen geschaffen habe: „Es gab ein Flut von Berichten über die Lager praktisch in jedem größeren Ort in Deutschland; sie waren alles andere als geheim. Oft wird in den Artikeln erwähnt, dass Presseleute die Einrichtung besichtig hätten.“13 Die Offenheit gegenüber der Presse ging zunächst sogar soweit, dass die Zeitungen darüber berichteten, wenn Gefangene „aus Notwehr“ erschossen worden waren. Im Zuge der Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg hat die NS-Führung die Notwendigkeit zur Schaffung eines ausdifferenzierten und vom übrigen Gefängniswesen unabhängigen Lagersystems unter der Regie der SS erkannt. Die Lager sollten auch den Erfordernissen des kommenden Weltanschauungskriegs gewachsen sein. Nachdem zunächst fast ausschließlich von Kommunisten und anderen linken Oppositionellen in den Lagern gesprochen wurde, rückten zunehmend weitere Gruppen, z.B. Juden oder „Zigeuner “, in den Fokus der Verfolgungsbehörden. Hiermit ging auch eine restriktivere Öffentlichkeitsarbeit einher, die bspw. die Herausgabe von Informationen über die in Schutzhaft befindlichen Personen unterband. Berichte über das Lagerleben enthielten 12 Vgl. Gellately:116f. 13 Gellately:78 - 10 - nun immer häufiger auch Hinweise auf Gefangene, die nicht aufgrund ihrer politischen Einstellung, sondern als „Rassenschänder“, „asoziale Elemente“ oder „Entartete“, interniert worden waren. Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Bürger wie bereits in den Jahren zuvor nur dann über Vorgänge in den Lagern informiert, wenn dieses einen Nutzen für das Regime hatte. Ausführlich wurde bspw. über Exekutionen von Zeugen Jehovas berichtet, weil man fürchtete, deren pazifistische Haltung könne zu vermehrter Kriegsdienstverweigerung Anlass geben14. 3. Die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und die öffentliche Wahrnehmung 3.1. Ausgrenzung der Juden Zum Verständnis der Judenpolitik der Nationalsozialisten ist es unerlässlich, Adolf Hitler in den Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse zu stellen. Seine Vorstellungen waren es, die sein politisches Umfeld maßgeblich prägten, die politische Zielrichtung des Regimes festlegte und das konkrete staatliche Handeln auslösten: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Hitlers Handeln während seiner gesamten politischen Laufbahn … von einem radikalen Antisemitismus geprägt war.“15 Bereits sein erstes überliefertes Schreiben aus dem Jahr 1919 enthält ein klares Bekenntnis gegen das Judentum. Finales Ziel seiner Politik sollte, so Hitler bereits in seinen frühen Schriften und Reden, die Entfernung des Judentums aus dem Lebensbereich des deutschen Volkes sein16. Der Ablauf der Herausdrängung und später der Vernichtung der Juden innerhalb des deutschen Einflussbereichs verlief nicht geradlinig. Vielmehr sind verschiedene Eskalationsstufen zu konstatieren, die bewusst durch das Regime in Gang gesetzt wurden, wenn sich hierfür passende Gelegenheiten boten oder innenpolitische Erwägungen einen günstigen Zeitpunkt signalisierten. Dabei konnte es durchaus vorkommen, dass aus wichtigen politischen Gründen antisemitische Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung zurücktraten, wie z.B. vor den Wahlen der Jahre 1930 bis 1932, um die Bevölkerung nicht durch ausufernden Verbalradikalismus zu verschrecken. Das Schema, das das Vorgehen der Regierung zur Entrechtung und später Vernichtung der Juden kennzeichnete, war stets das gleiche. Zunächst erfolgten Handlungsanweisungen an die Parteigliederungen, die einen gewollten politischen Druck auf die Führung auslösten, die ihrerseits mit gesetzlichen Maßnahmen die „Ordnung“ wieder her- 14 Vgl. Gellately:110 15 Longerich (2001):22 16 Vgl. Longerich (2001):32ff. - 11 - stellen konnte. So wurden bspw. die bereits ab 1933 gezielt von der NS-Führung an die örtlichen NS-Organisationen herangetragenen Aufträge zur Initiierung antijüdischer Boykotte und Ausschreitungen, wie die gewaltsame und systematisch betriebene Herausdrängung von Juden aus ihren öffentlichen Ämtern, genutzt, um 1935 die Notwendigkeit zu begründen, mit Hilfe der Nürnberger Gesetze „Rechtssicherheit“ über die Definition, wer als Jude zu betrachten sei, herzustellen. Über die Vielzahl der judenfeindlichen Maßnahmen wurde öffentlich auch in den Medien berichtet. So wurde der Beginn des Boykottes jüdischer Geschäfte, Ärzte oder Rechtsanwälte durch Göbbels im April 1933 über die Presse und den Rundfunk angekündigt und eine systematische Unterstützung der Maßnahmen in der Bevölkerung durch die NSDAP organisiert. Nicht immer waren die Aktionen von dem erwünschten Erfolg gekrönt: „In den meisten Gegenden reagierte die Bevölkerung nicht so positiv, wie die Nationalsozialisten gehofft hatten, und in größeren Städten gab es Menschen, die nun erst recht in jüdischen Geschäften kauften.“17 Ähnliches galt auch für die letzte Eskalationsstufe der Judenverfolgung, die neben der fortschreitenden Vernichtung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Existenzgrundlage und Segregation der Juden in den Jahren ab 1938 zunehmend auch deren physische Existenz durch direkte Gewaltanwendung bedrohten. Die Reichspogromnacht markierte den Übergang zur Vernichtungspolitik der kommenden Jahre. Auch hier zeigte sich wieder das typische System von Aktionen in den Parteigliederungen , die aktiv an den Ausschreitungen beteiligt waren und die die Stimmung in der Bevölkerung anheizten und der politischen Reaktion der NS-Führung, die die Ausschreitungen der Basis „angeordnet“ hatte18. Die Ereignisse im November 1938 führten auch der Bevölkerung die letzte Konsequenz des Antisemitismus vor Augen. Mehrheitlich wurde das gewaltsame Vorgehen abgelehnt , wobei sich die Bedenken in erster Line gegen die Zerstörung von Sachwerten richtete und die Beschädigung der öffentlichen Ordnung kritisiert wurde. Solidaritätsbekundungen für die Betroffenen oder gar Zweifel an der Richtigkeit der antisemitischen Maßnahmen insgesamt sind so gut wie nicht dokumentiert19. Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges wurde der ohnehin schon große öffentlich Druck auf die jüdische Bevölkerung nochmals verschärft. Die Presse beschuldigte die Juden, Schuld am Ausbruch des Krieges zu sein und ließ auch sonst keine Möglichkeit aus, den Juden Vergehen, wie z.B. das Attentat Georg Elsers auf Hitler, in die 17 Gellately (2002):45 18 Longerich (2001):61ff. 19 Bajohr:182 - 12 - Schuhe zu schieben. Neben dieser öffentlichen Propaganda wurden die gesetzlichen Maßnahmen nochmals verschärft, indem man bspw. die materielle Ausplünderung durch Arisierungen massiv vorantrieb: „In Hamburg verging zwischen Anfang 1941 und Kriegsende kaum ein Tag, an dem nicht jüdisches Eigentum versteigert wurde.“20 Seit 1941 war das Tragen des Judensterns verpflichtend und die öffentliche Kontaktaufnahme mit Juden unter Androhung von KZ-Haft verboten. Die Reaktionen hierauf waren ambivalent und insbesondere in stark christlich geprägten Gegenden eher ablehnend : „Auf der anderen Seite gaben sich manche Bürger unangenehm ‚überrascht’ wie viele Juden es noch gab. In einigen Gegenden Deutschlands waren evangelische Kirchgänger verstimmt über die vielen (konvertierten) Juden, die in die Kirche gingen, und baten den Pfarrer, nicht neben diesen Juden zum Abendmahl gehen zu müssen, die sie vom Gottesdienstbesuch ausgeschlossen sehen wollten.“21 An diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, wie tief die rassistische Definition der Nürnberger Gesetze, wer Jude sei, bereits ins Bewusstsein der Bevölkerung vorgedrungen war. Kennzeichnend für die staatlich betriebene Auseinandersetzung mit den verschiedenen judenfeindlichen Maßnahmen ist die Ausblendung von gewalttätigen Ausschreitungen oder gesetzeswidrigen Aktionen bei gleichzeitiger und oftmals wiederholter Propagierung des Hauptziels der NS-Politik, der Verdrängung bzw. Vernichtung der Juden aus dem Einflussbereich des Deutschen Reiches. Die Medien wurden gezielt eingesetzt, um die Bevölkerung mental auf die verschiedenen Eskalationsstufen der Judenverfolgung vorzubereiten, ihr gleichzeitig aber die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vorzugaukeln22. 3.2. Die Deutschen und die Judenvernichtung Die systematische Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben und der Wirtschaft , die Boykotte und die Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit sowie schließlich die Entfernung der Juden aus Deutschland vollzogen sich vor den Augen der Bevölkerung und in fast jedem Winkel des Landes. Bajohr vertritt die Auffassung, dass alle Maßnahmen gegen die Juden, bis auf die systematische Vernichtung, auf das Wohlwollen der Masse der Bevölkerung gestoßen seien23. Folgerichtig wurde über den Massenmord im Osten nie offen informiert. Allenfalls die Gettoisierung wurde durch die Presse unter beschönigenden Überschriften - „Der Führer schenkt den Juden eine 20 Gellately (2002):185f. 21 Gellately (2002):187 22 Vgl. Longerich (2006):314f. 23 Bajohr:182 - 13 - Stadt“ über das Ghetto Theresienstadt – aufgegriffen, ohne die wahren Umstände und Intentionen der massiven Bevölkerungsverschiebungen zu thematisieren. Während der „Endlösung“ wurden Fragen die Juden betreffend nur noch auf Vorgänge außerhalb Deutschlands, etwa zur Vorbereitung des Krieges gegen die USA, der als Kampf gegen „Verschwörung des Weltjudentums“ interpretiert wurde, bezogen. Auch in der Deutung der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, die als Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg deklariert wurde, wurde das Thema der (diesmal jüdisch-bolschewistischen) Verschwörung behandelt und als Mittel genutzt, um auch die innenpolitischen Maßnahmen gegen die Juden, wie z.B. die Kennzeichnungspflicht, ideologisch zu begründen und die Bevölkerung auf die Vernichtung der Juden einzuschwören.24 Hitler selbst hat das Thema der Vernichtung der Juden immer wieder auch öffentlich angesprochen, jedoch die Praxis der „Endlösung“ dabei immer ausgeblendet. Die Reaktionen der Bevölkerung auf seine Reden waren eher desinteressiert25. Hitler vermied konkrete schriftliche Befehle, die die Ermordung der Juden betrafen, war jedoch zu jedem Zeitpunkt die Triebfeder hinter dem Vernichtungsprogramm. An die Stelle klarer Weisungen trat ein bereits vor der Machtübertragung in der NSDAP praktiziertes System , das mit Hilfe mündlicher Ausführungen den Handlungsspielraum der Beteiligten festlegte und die endgültigen Ziele definierte. Innerhalb dieses Systems oblag die Organisation und Durchführung des Führerwillens den zugeordneten Stellen, für den Holocaust war dies insbesondere der im Laufe der Jahre immer weiter ausgedehnte Kompetenzbereich Heinrich Himmlers. Den Beteiligten war klar, dass neben den bewusst unscharf formulierten Vorgaben zur Vernichtung der Juden die Gewährleistung der Geheimhaltung der Operation von großer Bedeutung war. Öffentliche Unruhe, wie bei der Ermordung behinderter Menschen im Rahmen der Euthanasie, die Hitler im Gegensatz zur Judenvernichtung schriftlich angeordnet hatte, musste unbedingt verhindert werden, um die Stimmungslage an der „Heimatfront“ nicht negativ zu beeinflussen26: „Die Ermordung der europäischen Juden wurde von den Organen des ‚Dritten Reiches’ prinzipiell als Geheimsache behandelt, das heißt dieses Thema war grundsätzlich jeder öffentlichen Erörterung entzogen.“27 Zur Vertuschung der Euthanasieverbrechen wurden die Angehörigen durch eigens in den Tötungsanstalten eingerichtete Standesämter unter Angabe falscher Todesursachen über das Ableben ihrer Angehörigen und die aus seuchenpolizeilichen Gründen notwendige sofortige Einäscherung des Leichnams unterrichtet. Vergleichbare Verfahrensweisen wurden später auch bei der Umsetzung der „Endlösung“ angewandt. 24 Vgl. Longerich (2006):314 25 Vgl. Gellately (2002):210 26 Vgl. hierzu Schmuhl:190-355 27 Longerich (2001):23 - 14 - Trotz aller Bemühungen konnte das Agieren der Einsatzgruppen im Rücken der Front sowie das Geschehen in den Vernichtungslagern nicht vollständig geheim gehalten werden. Berichte über Gräueltaten kursierten in der Bevölkerung, Soldaten berichteten ihre Erlebnisse28 oder Sender wie die BBC brachten detaillierte Informationen über den Massenmord. Informationen um die Vorgänge im Osten, das Wissen, dass Deportierte mit Ermordung zu rechnen hatten und dass weitere Informationen von der Staatsführung geheim gehalten wurden, waren während des Krieges nahezu allgegenwärtig. Die NS- Führung trat diesen Gerüchten bewusst nicht entgegen, sondern bestätigte diese indirekt bspw. durch ihre sich radikalisierenden öffentlichen Verlautbarungen im Laufe des Krieges29. Lediglich die Thematisierung konkreter Ereignisse und Details des Massenmordes wurde durch das Regime mit allen Mitteln der Verfolgungsbehörden bekämpft und geahndet, so dass die „Endlösung“ als solche ab ca. 1943 zu einem klassischen Tabuthema wurde. Dies konnte jedoch die Verbreitung auch konkreter Informationen nicht verhindern, quantitative Analysen gehen davon aus, dass ca. ein Drittel der Bevölkerung vor 1945 über genauere Kenntnis über den Massenmord im Osten verfügte30. Die Interpretation der Motive für die weit verbreitete Gleichgültigkeit von Teilen der Bevölkerung, die über die Vorgänge im Osten im Bilde waren, ist nicht einheitlich. Insbesondere der Umstand, dass noch die Vorgänge des Novemberpogroms 1938 auf allgemeine Ablehnung stießen, während die Judendeportation und –vernichtung ohne vergleichbare Resonanz blieben, erscheint diskussionsbedürftig. Es gibt sowohl Stimmen, die das Beschweigen als stillschweigende Zustimmung deuten, wie z.B. Gellately, als auch solche, wie z.B. Longerich, Browning oder Bajohr, die eher zur Zurückhaltung mahnen und auf die besonderen Bedingungen des Überlebenskampfes im Krieg und die Realität des NS-Regimes als totalitäre Diktatur verweisen: „Entscheidende Bedeutung hatte der Wechsel von Zeit und Ort. Seit September 1939 befand sich Deutschland in einem Krieg… Auch wenn die Bevölkerung zu Anfang mehr besorgt als begeistert reagierte , war kaum jemand bereit, sich als Dissident, Kritiker oder Nonkonformist hervorzutun .“31 Das indifferente Verhalten der Bevölkerung wird durch die Lageberichte des SD immer wieder dokumentiert. Insbesondere die Erfahrung des Bombenkriegs wurde von vielen Deutschen mit der Frage verknüpft, ob dies die Strafe für den Umgang mit den Juden sei32: „In dieser von Angst – sowohl vor der ‚jüdischen Rache’ als auch Erörterung der zum Tabu gewordenen ‚Endlösung’ – erfüllten Atmosphäre der zweiten Kriegshälfte 28 Vgl. Manoschek:passim 29 Vgl. Longerich (2006):326 30 Vgl. Reuband:passim 31 Browning:611 32 Vgl. Bajohr:190f. - 15 - war die Bevölkerung offenbar mehr oder weniger unwillig, sich weiterhin mit Details der ‚Judenfrage’ zu befassen und die bruchstückhaft vorhandenen Einzelinformationen und offiziellen Stellungnahmen des Regimes zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen .“33 Das kollektive Nichtwissenwollen nach dem Krieg, von Longerich als „Flucht in die Unwissenheit“ umschrieben, scheint daher die logische Folge des oben geschilderten Prozesses zu sein. 4. Die Judenvernichtung und der Kriegseintritt der USA Die Wahrnehmung der Judenpolitik des „Dritten Reiches“ durch andere Staaten oder internationale Organisationen ist bisher nahezu nicht erforscht. Deutschsprachige Studien sind einzig für die USA, allerdings auch hier in sehr begrenztem Umfang, verfügbar . Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Reaktionen internationaler Organisationen auf die Vernichtung der Juden muss ebenfalls als Desiderat gelten. Für die Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg spielte die Vernichtung der Juden bzw. die Beendigung des Massenmordes keine entscheidende Rolle. Die Beseitigung der Hitlerregierung und die Zerstörung des militärischen Potentials der Achsenmächte hatte eindeutige Priorität. Da die Vernichtungslager im Osten von keiner nennenswerten militärischen Bedeutung waren, kamen sie in den militärstrategischen Überlegungen kaum vor. Auch politisch wurde die Beendigung des Völkermordes meist nur am Rande diskutiert und war kein Bestandteil der offiziell auf den alliierten Konferenzen formulierten Kriegsziele. In den Vereinigten Staaten wurde das Vorgehen des NS-Regimes gegen die Juden aufmerksam verfolgt. Bereits 1933 gab es, angesichts der Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte, erste Aufrufe zum Boykott deutscher Waren34. Über die Vorgänge in den Vernichtungslagern des Ostens war sowohl die amerikanische Führung als auch die Öffentlichkeit gut informiert. Die Resonanz auf die Ungeheuerlichkeiten, über die berichtet wurde, fiel jedoch spärlich und skeptisch aus. Erst nach der Befreiung des Vernichtungslagers Majdanek 1944 und den Berichten der Auslandskorrespondenten über das Ausmaß der Vernichtung, gelangten die Verbrechen der Deutschen an Juden auf die Titelseiten aller großen Zeitungen und Magazine35. Hitler setzte alles daran, den zumindest formal neutralen Status der Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten und erduldete sogar Angriffe amerikanischer Kriegsschiffe auf 33 Longerich (2006):327f. 34 Vgl. Gellately (2002):44 35 Waite:223f. - 16 - deutsche U-Boote. Angesichts der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit, der er sich beim Entstehen einer formalen Anti-Hitler-Koalition gegenübersah, erschien ihm eine Kriegsführung erst nach dem bald erwarteten Ende des Russlandfeldzuges sinnvoll. Die NS-Führung war jedoch trotzdem davon überzeugt, auch die Weltmacht USA im Bündnis mit Japan militärisch in die Knie zwingen zu können36. Als sich im Dezember 1941 ein Krieg mit den Vereinigten nicht mehr vermeiden ließ, erfolgte die offizielle Kriegserklärung. Zu diesem Zeitpunkt war der Massenmord im Rücken der Ostfront bereits in vollem Gang. Hitler hatte bereits im August 1941, als sich die USA gemeinsam mit Großbritannien auf die Atlantik-Charta verständigten, und sich die gefürchtete Anti-Hitler- Koalition abzuzeichnen begann, auf die neue Lage reagiert „Nicht mehr der Griff nach der nun in weite ferne gerückten Weltherrschaft hatte angesichts einer für real gehaltenen ‚jüdischen Verschwörung’ Priorität, sondern die reale Umsetzung einer phantastischen Prophezeiung, die für genau diesen Fall die physische Vernichtung der europäischen Juden angekündigt hatte.“37 Als Reaktion auf die Geschehnisse gab Hitler den lange hinausgezögerten Befehl zur Kennzeichnung und Deportation der Juden aus dem Altreich. Auch der finale Entschluss zur „Ausrottung der jüdischen Rasse“ wird in der Forschung mit dem Eintritt der USA in den Krieg in Verbindung gebracht38. Christian Gerlach geht sogar soweit, das Datum der Entscheidung zur vollständigen Vernichtung der Juden auf den Tag der Kriegserklärung festzulegen39. Zu diesem Zeitpunkt ging die NS-Führung noch von der Möglichkeit eines relativ schnellen Sieges gegen die Sowjetunion aus. Trotzdem zeigten sich bereits erste Auswirkungen der strategischen Fehlkalkulationen der Wehrmachtführung, etwa die weitaus überschätzten Möglichkeiten, die Truppe aus den Beständen in der eroberten Gebieten ausreichend versorgen zu können, die Zweifel an der Blitzkriegsstrategie aufkommen ließen40. Der Druck, die Juden in den besetzten Gebieten vollständig zu vernichten, um Ressourcen für die Wehrmacht frei machen zu können, wuchs daher und nahm noch einmal deutlich zu, als sich die anfänglichen Erfolge der Wehrmacht in das Gegenteil verkehrten. Insofern sind die Befehle der NS-Führung zur Ausweitung des Tötungsprozesses , etwa durch Einbeziehung von Frauen Kindern in die „Sonderbehandlung“ der Einsatzgruppen, nicht nur durch den oben angedeuteten Perspektivwechsel Hitlers, sondern auch durch harte strategische Erwägungen zu erklären. 36 Schreiber:69 37 Jersak:340 38 Vgl. Longerich (2001):138ff. 39 Vgl. Gerlach:26f. 40 Vgl. Aly:308ff. - 17 - 5. Literaturverzeichnis - Götz Aly, Endlösung, Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden , Frankfurt a.M. 1998. - Frank Bajohr, Über die Entwicklung eines schlechten Gewissens, Die deutsche Bevölkerung und die Deportationen 1941-1945, in: Birte Kundrus u.a. (Hg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland, Pläne, Praxis, Reaktionen 1938-1945, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20, Göttingen 2004. - Christopher R. Browning, Die Entfesselung der ‚Endlösung’. 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