Die Fethullah-Gülen-Bewegung in Deutschland - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 072/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Die Fethullah-Gülen-Bewegung in Deutschland Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 072/08 Abschluss der Arbeit: 20.06.2008 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Gibt es zur Fethullah-Gülen-Bewegung relevante Forschungen? 4 2. Welches sind die Grundlagen der Fethullah-Gülen- Bewegung? 4 2.1. Zur Person Fethullah Gülens 4 2.2. Programm 7 2.3. Organisation 11 3. Inwieweit wird diese Bewegung als fundamentalistisch eingeordnet? 13 4. Wie betrachtet Fethullah Gülen das Verhältnis von Grundgesetz und Scharia? 14 5. Wie verbreitet ist die Fethullah-Gülen-Bewegung in Deutschland? 14 6. Welche anderen Nurculuk-Bewegungen gibt es in Deutschland? 16 7. Wie ist das Verhältnis von Fethullah Gülen zu anderen islamischen Organisationen in Deutschland? 16 8. Literatur 16 - 4 - 1. Gibt es zur Fethullah-Gülen-Bewegung relevante Forschungen? Eine Recherche nach Literatur zur Fethullah-Gülen- und zur Nurculuk-Bewegung in den Datenbanken Solis und Foris ergab 37 Treffer. In jüngster Zeit war Fethullah Gülen Gegenstand einer Reihe von Dissertationen insbesondere jüngerer türkischer Sozialund Religionswissenschaftler, die meist im Umfeld einschlägiger Forschungsinstitutionen wie dem Deutschen Orient-Institut in Hamburg oder dem Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul entstanden sind. Die meisten der bei der Recherche nach der Fethullah-Gülen- und der Nurculuk- Bewegung angezeigten Werke befassen sich mit dem politischen Islam und mit den Personen Said Nursi und Fethullah Gülen. Spezielle Literatur in Bezug auf das Fethullah -Gülen-Netzwerk oder die Nurculuk-Bewegung in Deutschland gibt es – abgesehen von vereinzelten Hinweisen – nicht. Die Wissenschaftler Thomas Lemmen und Bekim Agai, die Fethullah Gülens Bildungsnetzwerk in Deutschland untersuchen befassen sich schwerpunktmäßig mit den nordrhein-westfälischen Bildungsvereinen. 2. Welches sind die Grundlagen der Fethullah-Gülen-Bewegung? 2.1. Zur Person Fethullah Gülens Die Fethullah-Gülen-Bewegung wurde von Fethullah Gülen begründet, einem islamischen Geistlichen, der 1938 in der ostanatolischen Provinz Erzurum geboren wurde. Nach juristischer und theologischer Ausbildung wirkte Fethullah Gülen, der schon in jungen Jahren als aktiver Antikommunist und religiöser Aktivist bekannt geworden war, an verschiedenen Orten der Türkei als islamischer Prediger, Pädagoge, Privatgelehrter und Publizist. Seine religiöses Wirken z.B. als Wanderprediger, Universitätsdozent, Gründer von Wohnheimen für Theologiestudenten oder als Veranstalter von muslimischen Sommercamps verschafften ihm zwar eine große Popularität sowie eine treue Gefolgschaft innerhalb der gläubigen und konservativ orientierten muslimischen Bevölkerungsgruppen der Türkei, erregten aber auch das Misstrauen der staatlichen Behörden , vor allem der sich als strikte Sachwalter des kemalistisch-laizistischen Erbes verstehenden Militärs. Zahlreiche staatliche Verfolgungsmaßnahmen wegen verbotener religiöser Aktivitäten behinderten ihn nicht nur wiederholt bei der Ausübung seines geistlichen Berufs, sondern brachten ihn sogar mehrmals in Haft, u.a. für sieben Monate nach dem Eingreifen des Militärs in die Politik 1971. Trotz dieser Rückschläge gelang es Fethullah Gülen, im Lauf der Jahre zu einem der wichtigsten geistigen Führer des türkischen Konservativismus aufzusteigen.1 1 Aras, Caha 2000: 31f.; Hermann 1996: 619; 620-625. - 5 - Nach dem Tod von Said Nursi schloss sich Gülen der Nurcu-Gruppe um Mehmet Kutlular an, die der ländlich-konservativen Gerechtigkeitspartei von Süleyman Demirel nahe stand. Da sich diese Gruppe nach Auffassung Gülens zu wenig um die Erläuterung von Glaubenswahrheiten kümmerte, sondern sich stattdessen stark ins politische Tagesgeschäft einmischte und in den Medien engagierte, trennte er sich von dieser Gruppe, um vorübergehend die Nationale Heilspartei von Necmettin Erbakan zu unterstützen. Kurze Zeit später begann er dann mit dem Aufbau einer eigenen Gemeinschaft, die allerdings wegen der verbreiteten Vorbehalte gegenüber der Nurcu-Bewegung lange Zeit im Verborgenen agierte. Zudem dürfte das konspirative Vorgehen Gülens auch dadurch veranlasst worden sein, dass er – trotz seiner loyalen Haltung gegenüber dem türkischen Staat und der Verurteilung jeglichen gewaltsamen Vorgehens gegen staatliche Institutionen – bis weit in die 1980er Jahre auf den Fahndungslisten der staatlichen Sicherheitskräfte stand. Noch 1987 säuberte die Armeeführung die Militärakademie von Anhängern Gülens, dem sie in internen Berichten (zuletzt 1992) vorwarf, dass er unter dem Vorwand, sich für eine Ordnung einzusetzen, in der man islamisch leben könne, tatsächlich langfristig eine islamische Revolution und die Einführung des islamischen Rechts (Şeriat) vorbereite. Zu diesem Zweck erweitere er systematisch seinen Einfluss im Medien - und Bildungssystem, unterwandere Militär- und Polizeischulen und bilde Selbstmordkommandos aus. Trotz dieser schwerwiegenden Vorwürfe muss Fethullah Gülen bereits damals auch Protektion aus führenden Kreisen in Verwaltung und Militär erfahren haben, die es ihm unter anderem ermöglichte, öffentlich in der Nähe von Kasernen zu predigen. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass Gülen – im Widerspruch zu den massiven Anschuldigungen der Militärs – in seinen Predigten zum Gehorsam gegenüber dem türkischen Staat aufgerufen hatte (was ihm wiederum massive Kritik von radikalen Islamisten eintrug).2 1980 schied Fethullah Gülen aus dem Dienst für das Amt für Religiöse Angelegenheiten aus und widmete sich stärker dem Aufbau seiner Bewegung innerhalb des weltweiten Nurcu-Netzwerks. Nach und nach konnte er seine Machtbasis durch den Aufbau eines dichten Beziehungsnetzwerks zu einflussreichen Politikern (wie dem späteren Ministerpräsidenten Turgut Özal) und die Gründung von eigenen Medien und Bildungsinstitutionen beträchtlich erweitern. Auf diese Weise gelang es ihm, ein religiösweltliches Imperium aufzubauen, dessen konservative Reformideen sich als wirkungsmächtige Alternative zu dem in eine tiefe Krise geratenen Kemalismus erwiesen haben. In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre kam es zu einer gewissen Annäherung zwischen der Fethullah-Gülen-Bewegung und der DYP-Partei der Ministerpräsidentin Tansu Çiller . Während Gülen diese Zusammenarbeit mit der Absicht verband, den Anspruch der Refah-Partei Erbakans, als einzige eine islamisch ausgerichtete Politik zu betreiben, zu 2 Aras, Caha 2000: 32; 36; Başkan 2005: 851; Hermann 1996: 626; 629f. - 6 - konterkarieren, versprach sich die Ministerpräsidentin für ihre Partei davon einen Gewinn an religiösem Profil und damit eine erhöhte Attraktivität bei den religiös orientierten türkischen Wählern. Gleichwohl war Fethullah Gülen weiterhin bestrebt, sich als überparteiliche moralische Autorität zu präsentieren. Dies zeigten z. B. seine zahlreichen Treffen mit führenden Politikern aller relevanten türkischen Parteien. Nicht zuletzt aufgrund des Aufbaus und der Pflege umfangreicher Beziehungen zu einer Vielzahl von Angehörigen der Führungsschicht gelang es Fethullah Gülen, in der türkischen Politik und Gesellschaft eine Position von erheblichem moralischem Einfluss zu erwerben und ein begehrter Gesprächspartner der türkischen Eliten jeglicher Couleur zu werden. Weithin sichtbarer Ausdruck der gewachsenen Stellung als moralische Autorität sind die zahlreichen öffentlichen Bekundungen der Wertschätzung für Gülen durch Mitglieder der türkischen Führungsgruppen bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten.3 Nachdem das türkische Verfassungsgericht am 16. Januar 1998 die islamistische Wohlfahrtspartei (Refah-Partei), die zwischen 1996 und 1997 Regierungspartei war, verboten hatte, nahm der türkische Justiz- und Sicherheitsapparat auch das Netzwerk von Fethullah Gülen stärker ins Visier. Im April 1998 bezeichnete der Nationale Sicherheitsrat das moderate Auftreten der Bewegung als „Täuschung und Mittel zum Zweck, um schließlich einen Gottesstaat zu errichten“.4 Am 21. März 1999 reiste Fethullah Gülen angeblich „einer gesundheitlichen Untersuchung wegen“ in die USA. Tatsächlich dürfte aber der gegen ihn in Gang gesetzte Prozess wegen geplanter Errichtung eines islamischen Staates bzw. wegen Republikverrats der wahre Grund für seine Abreise gewesen sein.5 Das türkische Privatfernsehen strahlte am 18. Juni 1999 einen offenbar geheimen Mitschnitt einer Rede Gülens an seine Anhänger aus, die Aussagen enthielten, die als Hinweise auf Pläne zur Unterwanderung des Staates durch Mitglieder seiner Bewegung interpretiert wurden. Unter anderem hatte Gülen gesagt: „Man muss die Stellen im Justiz - und Innenministerium, die man in seine Hand bekommen hat, erweitern. Diese Einheiten sind unsere Garantie für die Zukunft. Die Gemeindemitglieder sollten sich jedoch nicht mit Ämtern wie zum Beispiel Richter oder Landrat begnügen, sondern sollen versuchen , die oberen Organe zu erreichen. Ohne euch bemerkbar zu machen, müsst ihr immer weiter vorangehen und die entscheidenden Stellen des Systems entdecken. Ihr dürft in einem gewissen Grad mit den politischen Machthabern und mit den Menschen, die einhundertprozentig gegen uns sind, nicht in einen offenen Dialog eintreten, aber ihr dürft sie auch nicht bekämpfen. Wenn sich unsere Freunde zu früh zu erkennen geben, wird die Welt ihre Köpfe zerquetschen, und die Muslime werden dann ähnliches erleben wie in Algerien. Die Welt hat große Angst vor der islamischen Entwicklung. Wir müs- 3 Aras, Caha 2000: 33; Hermann 1996: 626-629; 630; 640. 4 Fretel 1998. 5 Dantschke, Seidel, Yıldırım 2008: 69. - 7 - sen uns sehr vorsichtig verhalten. Diejenigen von uns, die sich in diesem Dienst befinden , müssen sich so wie ein Diplomat verhalten, als ob sie die ganze Welt regieren würden , und zwar so lange, bis ihr diese Macht erreicht habt, die ihr dann auch in der Lage seid, mit eigenen Kräften auszufüllen, bis ihr im Rahmen des türkischen Staatsaufbaus die Macht in sämtlichen verfassungsmäßigen Organen zu eurer Front gezogen habt. Jeder andere Schritt wäre verfrüht.“6 Trotz des Aufrufs zur Gewaltlosigkeit und zum Respekt vor dem politischen Gegner empfanden die Behören das Video als Aufruf zum Staatsstreich und klagten Gülen an. Der Strafprozess begann am 31. August 2000 in Abwesenheit des Angeklagten.7 Die Höchststrafe für das Vergehen war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre Haft. 2003 setzte das Strafgericht in Ankara den Prozess aus, und am 4. Mai 2006 sprach es den Prediger – ebenfalls in Abwesenheit – frei.8 Inzwischen hatte sich das innenpolitische Klima in der Türkei sehr verändert. 2002 war die islamistische AKP an die Macht gekommen und seit dem 14. März 2003 amtiert ihr Gründer und Vorsitzender Recep Tayyip Erdoğan als türkischer Ministerpräsident. Eine Rückkehr in die Türkei wäre für Fethullah Gülen nach dem Freispruch und angesichts der gewandelten politischen Verhältnisse durchaus möglich gewesen; zumal keine neue Anklage gegen ihn erhoben wurde. Welche Gründe auch immer Gülen bewogen haben dürften, nicht in seine Heimat zurückzukehren , seinem weltweiten Netzwerk hat es jedenfalls nicht geschadet, dass er nicht mehr in der Türkei residiert, sondern möglicherweise sogar dessen Internationalisierung noch stärker beschleunigt. 2.2. Programm Die ideologisch-programmatischen Aussagen Fethullah Gülens lassen sich nicht exakt bestimmen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Gülen lange Zeit selbst keine eigenen Publikationen vorgelegt hat und zahlreiche der ihm zugeschriebenen Aussagen überaus vage, unbestimmt und teilweise auch widersprüchlich ausfallen. Zudem hat Gülen seine Vorstellungen immer wieder verändert und weiterentwickelt, so dass eine allgemein gültige Beschreibung seiner Vorstellungen kaum möglich ist. Hinzu kommt, dass die theologischen Werke Gülens nur schwer erhältlich sind. Öffentliche Bibliotheken besitzen nur wenige Bücher des Predigers, was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Thesen Gülens zusätzlich erschwert haben dürfte. In diesem Zusammenhang wäre auch darauf zu verweisen, dass insbesondere die Anhänger und Mitglieder der Fethullah-Gülen Bewegung zu Gülens Ansichten eine Vielzahl von Publikationen mit unterschiedlichsten Interpretationen vorgelegt haben, was das in der Öffentlich- 6 Dantschke, Seidel, Yıldırım 2008: 69; 7 Vgl. Guardian (1.9.2000); Tagesspiegel (21.10.2004). 8 World Wide Religious News (6.5.2006). - 8 - keit vorherrschende ambivalente Bild von den weltanschaulichen Ideen Gülens noch erheblich verstärkt hat.9 Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass auch das grundlegende Werk Gülens „Fragen an den Islam“, das 2005 auf Deutsch erschien, nur bedingt Klarheit über dessen Gedankenwelt geben konnte.10 Fethullah Gülen sieht sich in der Nachfolge des islamischen Reformers Said Nursi als Vertreter des ländlichen Anatoliens, wo die muslimische Religiosität noch tief verwurzelt ist und die von der kemalistischen Revolution hervorgerufenen kulturellen Brüche mit der Tradition weitgehend ausgeblieben sind. In politischer Hinsicht ist Gülen ein Vertreter des klassischen türkischen Konservativismus und als solcher zugleich bekennender Muslim und türkischer Nationalist. Gegenüber dem Staat, seinen Gesetzen und Institutionen fordert er unbedingten Gehorsam, da nur der Staat Ordnung und Stabilität garantieren und Anarchie verhindern könne. Deshalb spricht er sich für die unbedingte Geltung des staatlichen Gewaltmonopols aus und verurteilt aufs Entschiedenste Gewaltanwendungen außerhalb der Gesetzlichkeit. Es ist daher wenig überraschend, wenn Gülen die von Kemal Atatürk begründete moderne Türkische Republik nicht in Frage stellt und eine Rückkehr zu vordemokratischen Systemen ablehnt. Gülen spricht sich für die Entwicklung einer modernen pluralistischen Gesellschaft aus, die gegenüber dem Westen aufgeschlossen, aber auch fest in der türkisch-anatolischen Tradition verwurzelt ist. Demokratie ist für Gülen die vollkommenste aller Regierungsformen und steht nicht im Widerspruch zum Islam. Das türkische Gemeinwesen könne sich, so Gülen, nur dann gedeihlich entwickeln, wenn die unterschiedlichen Gruppen („Kurden und Türken, Sunniten und Aleviten, Rechte und Linke“) gemeinsam und als Einheit leben. Voraussetzung hierfür sei die Beendigung von dogmatisch geführten Auseinandersetzungen und der Aufbau einer auf Dialog und Toleranz gegründeten konsensfähigen Gesellschaft . Auf Gewalt basierende kurzfristige Lösungen hält er für unangemessen und wenig tragfähig; stattdessen spricht er sich z.B. in der Kurdenfrage für langfristige politische Lösungsstrategien aus. Immer wieder hat er seine Anhänger zu Respekt vor den Menschenrechten und – unter Bezugnahme auf das islamische Gebot der Liebe zum Mitmenschen – zur Toleranz gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden, auch gegenüber nicht-gläubigen bzw. atheistischen Mitbürgern, aufgerufen. Insgesamt attestierte Gülen der Türkei, bei der Etablierung von Demokratie und Menschenrechten gute Fortschritte gemacht zu haben; die wiederholte Kritik des Westens an der angeblichen demokratischen und rechtsstaatlichen Rückständigkeit der Türkei hat Gülen stets scharf zurückgewiesen.11 9 Die Sekundärliteratur über Gülen ist erheblich umfangreicher und einfacher zu erschließen als die Werke von Gülen selbst. 10 Gülen 2005. 11 Aras, Caha 2000: 31f.; Hermann 1996: 619, 631-634. Auch die zahlreichen, von muslimischen Kreisen in der Türkei argwöhnisch beobachteten Treffen Gülens mit führenden Vertretern jüdischer und - 9 - Türkentum und Islam sind für Gülen aufs Engste miteinander verknüpft. Gülen gilt als einer der führenden Wegbereiter der so genannten „türkisch-islamischen Synthese“, die als eine Art Sammlungsideologie auf der politischen Rechten eine Einigung von Islamisten und Nationalisten anstrebt. Zu diesem Zweck revitalisiert die türkischislamische Synthese gezielt vorislamische Werte und Überzeugungen der Türken wie Vaterlandsliebe, Gehorsam gegenüber dem Staat, Tradition oder nationale Kultur und verbindet diese mit der islamischen Glaubenslehre. Mit dieser ideologischen Neuorientierung gelang es der nationalistisch und islamisch orientierten türkischen Rechten, den radikalen Laizismus des Kemalismus seit den 1980er Jahren sukzessive aufzuweichen und als tragende Ideologie des türkischen Staates zu verdrängen. Die Berufung auf die türkisch-islamischen Wurzeln sowie die Anerkennung und Unterstützung der bestehenden (kemalistischen) Ordnung (bei gleichzeitiger Ablehnung des radikalen Laizismus) trugen dazu bei, die islamfeindlichen Elemente der kemalistischen Staatsideologie zu entschärfen und das Bekenntnis zum bestehenden Staat unter gemäßigten traditionsverbundenen türkischen Muslimen zu erleichtern. Dabei kann Gülen dem kemalistischen Prinzip des Laizismus im Grundsatz durchaus positive Seiten abgewinnen, etwa wenn er den Laizismus in der Türkei als Garantie dafür ansieht, dass Muslime alle ihre religiösen Pflichten erfüllen können.12 Trotz seines Bekenntnisses zu einem islamisch geprägten türkischen Nationalismus spricht sich Gülen für einen diplomatischen Dialog mit Armenien aus. Auch den Bemühungen um eine Westintegration der Türkei steht er positiv gegenüber. Zugleich fordert er jedoch, dass die Türkei ihrer regionalen Verantwortung für die postkommunistischen Staaten in Zentralasien und auf dem Balkan durch eine aktivere Außenpolitik gerecht werden müsse. Indem die Türkei ihren Erziehungs- und Kulturauftrag gegenüber diesen Staaten wahrnehme und in diesen Staaten präsent sei, könne die Türkei nicht nur ihr außenpolitisches Gewicht gegenüber Europa vergrößern, sondern auch zu einer Korrektur des im Westen verbreiteten Bilds von einem gewalttätigen und unversöhnlichen Islam beitragen.13 Fethullah Gülen grenzt sich mit seinem so genannten „türkischen Islam“ vom Islam der Araber ab, der sich durch andauernde religiöse Streitigkeiten über nachrangige Fragen (und nicht über grundlegende Glaubensfragen) auszeichne, die Einheit von Religion und „positivistischer Wissenschaft“ aufgegeben habe und mit seinen fanatischen und fundamentalistischen Ideen dem Islam insgesamt schade. Auch die in der Türkei geführte Debatte über den vermeintlichen Gegensatz von offiziellem und gesellschaftlichem christlicher Religionsgemeinschaften, unter denen das Gespräch mit Papst Johannes-Paul II im Februar 1998 in Rom sicherlich das bedeutendste war, sprechen für die religiöse Toleranz Gülens und dessen Interesse am interreligiösen Dialog; vgl. Aras, Caha 2000: 32f. 12 Aras, Caha 2000: 31f., 39; Hermann 1996: 631f.; 634; 640. 13 Hermann 1996: 633-635. - 10 - Islam, die in dem Vorwurf gipfelt, die offiziellen religiösen Einrichtungen vereinnahmten den Islam zu sehr, hält Gülen für verfehlt.14 Überhaupt ist der Islam für Gülen eine individualistische Religion, die höchst unterschiedlich praktiziert werden könne. Dogmatisierungen des islamischen Glaubens durch den Staat, nichtstaatliche Instanzen oder Einzelpersonen lehnt Gülen ab. Religiösen Fanatismus hält er für ebenso schädlich wie den radikalen Säkularismus. In seinen Predigten und Vorträgen hat Fethullah Gülen seine Anhänger immer wieder dazu aufgefordert, bei der Auslegung des Korans „nicht am einzelnen Wort zu kleben“. Für ihn ist der Islam eine sich stetig weiter entwickelnde Religion, die sich durch eine auf Verstand und wissenschaftliche Auslegungsmethodik gründende Interpretation und Erklärung des Korans an die heutige Zeit anpasst. Seine Bemühungen um eine Erneuerung des Islams stehen in der Tradition von Said Nursi und werden in hohem Maße von der islamischen Mystik (Sufismus) bestimmt (was unter anderem auch die Vorbehalte Fethullah Gülens gegenüber festeren Organisationsformen und politischen Parteien erklären dürfte). Allerdings lehnt Gülen den von vielen islamischen Mystikern propagierten Rückzug aus der realen Welt ab und plädiert stattdessen für eine diesseitige Ausrichtung des Islams.15 Allerdings gibt es auch Äußerungen Gülens, die Zweifel daran aufkommen lassen, dass er tatsächlich eine moderate, auf Toleranz und Weltoffenheit ausgerichtete Interpretation des Islams vertritt. So scheinen für Fethullah Gülen beide Formen des Dschihad, der „große Dschihad als Anstrengung jedes einzelnen Gläubigen im Kampf gegen die eigenen Fehler und schlechten Eigenschaften, aber auch der kleine Dschihad“ als bewaffneter Kampf gegen Anders- oder Ungläubige, wichtig Bausteine für die Errichtung einer islamischen Gesellschaft zu sein. Hierzu heißt es in seinem Buch „Fragen an den Islam “: „Auch wenn die in den Kämpfen mit den Ungläubigen gebrachten Opfer groß gewesen sein mögen, sind sie dennoch nur dem kleineren Dschihad zuzurechnen. Andererseits darf der kleinere Dschihad nur im Vergleich zum größeren Dschihad als klein bezeichnet werden. Er sollte niemals unterschätzt werden, weil er den Gläubigen in die Lage versetzt, entweder den Titel eines heiligen Kämpfers des Islam (Ghazi) oder den Rang eines Märtyrers (Schahid) zu erlangen, die ihm beide die Pforten des Paradieses öffnen und die Anerkennung Gottes sichern.“16 Auch seine grundsätzlich positive Grundhaltung zum türkischen Laizismus scheint sich zu relativieren, wenn er an anderer Stelle feststellt:„Wir bescheinigen dem Koran, dass er die Verfassung und die Grundlage ist, auf die sich das individuelle und gesellschaftliche Leben gründen soll. Und da der Koran eine Gnade des Barmherzigen gegenüber der Menschheit darstellt, wird er 14 Aras, Caha 2000: 31f.; Hermann 1996: 631. 15 Aras, Caha 2000: 30f.; Hermann 1996: 624; 631f. 16 Gülen 2005: 213. Hervorhebungen im Original. - 11 - auch in aller Zukunft maßgeblich sein.“17 Aussagen wie diese, die im krassen Widerspruch zu den liberalen und weltoffenen Einstellungen Gülens stehen, haben Kritiker im In- und Ausland in der Ansicht bestärkt, dass die Fethullah-Gülen-Bewegung tatsächlich ein islamisch geprägtes Gesellschaftsmodell favorisiert, in dem Toleranz und weltanschauliche Offenheit gegenüber Andersdenkenden eine erheblich geringere Rolle spielt, als die offizielle Propaganda bekundet.18 Andererseits lässt sich nicht übersehen, dass die Nähe zu nicht-islamistischen Parteien der bürgerlichen Rechten und die Distanz zum internationalen Islamismus Gülen den heftigen Zorn der militanten Islamisten eintrugen. Wiederholt musste Gülen wegen seiner liberalen Positionen etwa in Fragen der Medien- und Meinungsfreiheit oder des Kopftuchverbots – Gülen lehnte Studentenproteste gegen das Verbot ab – Morddrohungen von radikalen Islamistengruppen über sich ergehen lassen. Aber auch die Unterstützung des bestehenden türkischen Staates durch Gülen wurde von unterschiedlichster Seite heftig kritisiert. So erhoben die liberal-demokratischen Reformer unter anderem gegen Gülen den Vorwurf, er zementiere mit seiner türkisch-islamischen Synthese die bestehende autoritäre kemalistische Staatsordnung und verhindere damit eine demokratische Weiterentwicklung von Staat und Gesellschaft.19 2.3. Organisation Die Fethullaçı sind die größte Gemeinschaft innerhalb der Nurcus, der religiösen Erneuerungsbewegung des Said Nursi. Nach Militärangaben hatte sie bereits 1987 mehr als vier Millionen Mitglieder.20 Die Fethullah-Gülen-Bewegung ist als islamische Gemeinschaft (cemaat) organisiert, an deren Spitze Fethullah Gülen als hocaefendi (Lehrer /Geistlicher) steht, zum dem sich die Mitglieder der Gemeinschaft (talebe) durch bloße Gefolgschaft bekennen. Bei aller Liberalität in geistig-religiösen und gesellschaftlich -politischen Fragen weist die Organisation der Fethullah-Gülen-Bewegung starke autoritäre Züge auf, was sich vor allem an der hierarchischen, ganz auf Fethullah Gülen zugeschnittenen Struktur der Gemeinschaft ersehen lässt: Dieser führt die Gemeinschaft allein, einen Stellvertreter gibt es nicht. Ebenso wenig existieren spezielle Vorschriften und Verhaltensregeln, die das Innenleben der Gemeinschaft regeln.21 Zur Binnen- und Außenkommunikation setzt die Gemeinschaft in hohem Maße moderne Kommunikationsmedien ein. So haben sich z.B. die elektronischen Vervielfältigun- 17 Gülen 2005: 72. 18 Vgl. FAZ (19.2.2008). 19 Hermann 1996: 640-643. 20 Hermann 1996: 619; 629; 644. Aktuelle Zahlen zur Mitgliederzahl der Fethullah-Gülen Bewegung liegen nicht vor, vgl. auch Aras, Caha 2000: 33. 21 Aras, Caha 2000: 38f. Hermann 1996: 621; 636. - 12 - gen der Predigten Fethullah Gülens als wichtige Instrumente zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft und zur Steigerung der Popularität Gülens bewährt. Zur Verbreitung seiner Ideen hat Gülen im Laufe der Jahre ein riesiges Medienimperium aufgebaut, das eine Vielzahl von gedruckten und elektronischen Medien wie Nachrichtenagenturen, Zeitungen (vor allem die einflussreiche Tageszeitung „Zaman“22), Zeitschriften, Verlage , Druckereien, Radiosender und Fernsehkanäle umfasst. Zudem ist es Gülen gelungen , ihm nahestehende Vereinigungen von Journalisten, Publizisten und Lehrern ins Leben zu rufen, die über die publizistische Arbeit ihrer Mitglieder, aber auch durch eigene Publikationen das Meinungsklima in der Türkei im Sinne der Fethullah-Gülen- Bewegung beeinflussen.23 Auch das von der Fethullah-Gülen-Bewegung aufgebaute, weit verzweigte Netzwerk von Erziehungseinrichtungen sowie die Gründung von Schulen (über 200 Schulen weltweit), Vereinen, Wohnheimen und Unternehmen haben dazu beigetragen, die Gemeinschaft innerlich zu festigen und ihre Ideen in der türkischen Gesellschaft zu verbreiten . Gülen zufolge waren es vor allem die Schwächen des staatlichen und religiösen Bildungswesens, die ihn zur Gründung eigener Bildungseinrichtungen motivierten. Diese sollen die Rückständigkeit der traditionellen türkischen Bildungsangebote, die insbesondere aus der mangelnden Berücksichtigung der abendländischen Wissenschaftsentwicklung resultiere, überwinden und – unter Wahrung der eigenen Kultur – die islamischen Lehren mit den positivistischen Wissenschaften westlicher Prägung – vor allem die Naturwissenschaften – verknüpfen.24 Die Erziehungseinrichtungen werden meist von Stiftungen getragen, hinter denen Vertraute Gülens stehen. Die Finanzierung der Einrichtungen erfolgt u.a. aus Spenden der Gläubigen und Einnahmen aus dem Verkauf von Opfertierfellen. Mit Ende des Kalten Kriegs hat die Fethullah-Gülen-Bewegung ihre bildungspolitischen Aktivitäten auch über die Grenzen der Türkei hinaus ausgeweitet. Heute unterhält sie u.a. in den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, in den Balkanstaaten, aber auch in der Bundesrepublik zahlreiche private Schulen und Bildungsvereine.25 Die große Zahl und die weite Verbreitung der Bildungsinstitutionen der Fethullah-Gülen-Bewegung sowie die – im Vergleich zu den staatlichen Bildungsinstitutionen – hohe Qualität der Ausbildung haben dazu beigetragen, eine hochqualifizierte muslimische Elite heranzubilden , die potenziell in der Lage ist, Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft zu übernehmen und somit den gesamtgesellschaftlichen Einfluss der Bewegung noch weiter zu vergrößern. Kritiker werfen daher Fethullah Gülen vor, dass seine Bildungsinitia- 22 Die Zeit (15.5.2008). 23 Aras, Caha 2000: 34; Hermann 1996: 636; 638f. 24 Agai 2004: 195f.; Başkan 2005: 850. 25 FAZ (19.2.2008). - 13 - tiven weniger auf Bildungsinhalte und Qualitätsverbesserung abzielen, sondern in erster Linie auf die Bildung einer muslimischen Gegenelite, die langfristig die zentralen Macht- und Einflusspositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einnehmen kann.26 In programmatischer und organisatorischer Hinsicht unterschied sich die Fethullah- Gülen-Bewegung von der 1997 verbotenen Refah-Partei des Necemetin Erbakan deutlich . Während Gülens programmatische Aussagen vor allem auf eine gute Lebensführung im Sinne des islamischen Glaubens ausgerichtet sind, befasste sich das Programm der Refah-Partei stärker mit den sozialen Problemen der türkischen Gesellschaft. Anders als Erbakan stellte Gülen die bestehende kemalistische Ordnung ebenso wenig in Frage wie die Westausrichtung der Türkei und die hervorgehobene Rolle der Sicherheitskräfte . Im Gegensatz zu Refah-Partei, der Gülen unausgesprochen vorwarf, den Islam politisch instrumentalisieren zu wollen, spielte der internationale Islamismus für Gülen keine Rolle. Während sich die von Erbakan initiierte Bewegung zur Refah-Partei und damit zu einem politischen Akteur fortentwickelte, welcher der öffentlichen Wahrnehmung und kritischen Debatte in Parlament und Gesellschaft ausgesetzt ist, ist Fethullah Gülen aufgrund des Bewegungscharakters seiner Gemeinschaft in weitaus höherem Maße in der Lage, im Verborgenen zu agieren und sich der öffentlichen Kontrolle zu entziehen. Gleichwohl ist es Fethullah Gülen mit seiner Öffnungsstrategie gegenüber den führenden politischen und gesellschaftlichen Kräften der Türkei gelungen, den monopolistischen Anspruch der Refah-Partei auf den politischen Islam in Frage zu stellen und den gläubigen Muslimen eine politisch weniger radikale Alternative zu bieten .27 3. Inwieweit wird diese Bewegung als fundamentalistisch eingeordnet? Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban von der Evangelischen Fachhochschule Berlin kritisiert die Fethullah-Gülen-Bewegung aufgrund der Äußerungen Gülens in seinen theologischen Schriften als fundamentalistisch und wirft seinen Kollegen vor, zu wenig in der Primärliteratur recherchiert zu haben. Seiner Ansicht nach ist die Bewegung durchaus als fundamentalistisch einzuordnen. 28 Demgegenüber gehen die weitaus meisten Autoren, die sich mit der Fethulla-Gülen-Bewegung befassen davon aus, dass Gülen einen liberalen, auf Toleranz und Offenheit ausgerichteten Islam vertrete, der keineswegs anstrebe, Gesellschaft und Staat nach islamischen Vorstellungen zu gestalten. Vielmehr plädiere er für einen Dialog mit Anders- bzw. Ungläubigen und spreche sich für eine Tolerierung nicht-islamischer Weltanschauungen und Lebensweisen aus. Für ihn beziehe sich das islamische Recht, die Scharia, vor allem auf die private Lebensfüh- 26 Aras, Caha 2000: 34; Hermann 1996: 619; 636-638; Die Zeit (15. 5. 2008). 27 Aras, Caha 2000: 30, 36f.; Hermann 1996: 619f.; 626. 28 FAZ (19.2.2008). - 14 - rung der Gläubigen, weshalb er es ablehne, die Scharia auch im staatlichen Bereich für allgemeinverbindlich zu erklären. In diesem Zusammenhang wird auch auf die kritischen Einstellungen Gülens gegenüber bestimmten fundamentalistischen Position wie dem Gebot der Verschleierung von Frauen, seine Ablehnung des islamistischen Terrorismus oder die Distanz zu islamistischen Organisationen und Bewegungen hingewiesen .29 4. Wie betrachtet Fethullah Gülen das Verhältnis von Grundgesetz und Scharia? Nach den bereits dargestellten Positionen Gülens zur Scharia, denen zufolge diese im Wesentlichen auf die private Lebensführung der Gläubigen zielt und nicht auf die staatlichen Angelegenheiten, dürfte es eher unwahrscheinlich sein, dass die Anhänger Gülens in Deutschland danach streben, das Grundgesetz ganz oder teilweise durch das islamische Recht zu ersetzen. Tatsächlich scheint die Bewegung bislang keinen Anlass für eine andersgeartete Vermutung gegeben zu haben. Hinweise auf grundgesetzwidrige Positionen oder Aktivitäten des deutschen Zweigs Fethulla-Gülen-Bewegung konnten jedenfalls nicht ausgemacht werden. Auch in den Verfassungsschutzberichten der vergangenen Jahre wird die Bewegung nicht erwähnt. Dies lässt den Schluss zu, dass Programmatik und Aktivitäten der Bewegung auch von den deutschen Sicherheitskräften nicht im Widerspruch zum Grundgesetz gesehen werden.30 Auch die Tatsache, dass im Zentrum der Bildungsaktivitäten der Fethullah-Gülen-Vereine in Deutschland die umfassende ganzheitliche Bildung und nicht allein eine einseitige theologische Ausbildung steht, spricht gegen den Verdacht, die Bewegung ziele darauf ab, verfassungswidrige Einstellungen und Verhaltensweisen zu befördern. Gleichwohl wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die wirklichen Absichten der Fethullah-Gülen Bewegung nicht bekannt seien.31 5. Wie verbreitet ist die Fethullah-Gülen-Bewegung in Deutschland? Die Fethullaçı sind in Deutschland die weitaus größte Gruppe der Nurculuk-Bewegung und haben sich teilweise ihr gegenüber verselbständigt.32 Die Gülen-Bewegung besitzt eine Korandruckerei (ittihad Druck und Verlags GmbH) in Berlin-Kreuzberg, außerdem mehrere Verlage (etwa die Asya Verlags GmbH in Köln). Die Tageszeitungen „Zaman“ (Zeit) und „Yeni Asya“ (Neues Asien) werden von ihr herausgegeben; die Zeitschriften der Bewegung nennen sich „Ekoloji“ (Ökologie), „Sızıntı“ (Rinnsal), „Yeni Umit“ 29 Aras, Caha 2000: 30, 32f., 35. 30 Vgl. Verfassungsschutzbericht 2003-2007 31 Vgl. Spuler-Stegmann 1998: 143; Tagesspiegel (21.10.2004) 32 Spuler-Stegemann 1998: 136. - 15 - (Neue Hoffnung), „Aksiyon“ (Aktion), „The Fountain“, „Köprü“ (Brücke), „Zafer“ (Sieg), „Nur – The Light“ und „Nur – Das Licht“. Gülen ist einer der Hauptkolumnisten der Zeitung Zaman, die eine Auflage von 877.000 Stück aufweist. Die Europa-Ausgabe von Zaman erscheint in der „World Media Group“ in Offenbach33 und ist mit 55 000 Abonnenten die größte türkischsprachige Zeitung im westlichen Europa. Auch dort äußert sich Gülen regelmäßig. Die Berliner Redaktion der Zeitung legte aber Wert auf die Feststellung, dass der Prediger die inhaltliche Richtung der Zeitung nicht vorgebe.34 Die große Verbreitung spiegelt sich auch im Bildungsnetzwerk der Gülen-Bewegung wider. Ihr gehören einzelne Vereine an, die jedoch nicht zentral erfasst sind und keinem Dachverband angehören, was es schwierig macht, ihre Zahl oder gar die Zahl der Einzelmitglieder zu nennen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen nennt eine Zahl von 70 Mitgliedsvereinen.35 Der Großteil dieser Vereine widmet sich der Bildungsarbeit, vor allem der Vermittlung von Gülens Lehren in Verbindung mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen.36 Bekim Agai, der in seiner Dissertation über das weltweite Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen vier der deutschen Vereine - Bonner Bildungs-Center (B. B. C.), Rheinländisches Informations- und Bildungsforum (RIBIF) in Düsseldorf, Internationaler Bildungs - und Umweltverein e. V. (IBUV) in Hannover und den Yadigâr e. V. in Düsseldorf - untersuchte37, kommt zu dem Ergebnis, dass fast in jeder größeren Stadt Deutschlands ein Bildungsverein der Fethullaçı, existiert. Zumindest in Nordrhein-Westfalen soll in jeder der dreißig Großstädte mindestens ein Verein tätig sein. Ein hervorstechendes Merkmal dieser Vereine ist, dass die bei ihnen angestellten Lehrkräfte gemischter, also deutscher und türkischer Herkunft sind; in manchen Vereinen wie dem B. B. C. und dem IBUV unterrichten sogar vorwiegend nichtmuslimische Deutsche.38 33 FAZ (19 2 2008). 34 Tagesspiegel (21.10.2004). 35 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1997: 170. 36 Der katholische Theologe Thomas Lemmen listete im Jahr 2000 in einer Expertise für die Friedrich- Ebert-Stiftung folgende Bildungsvereine der Fethullaçı auf: „Gesellschaft zur Förderung der Erziehung und Bildung e. V.“ (Zühre-Bildungszentrum Düsseldorf), „Internationaler Bildungs- und Umweltverein e. V.“ (Sistem-Bildungszentrum Hamm), „Feyza-Bildungsverein e. V.“ (Feyza- Bildungszentrum Duisburg), Zirve Eltern- und Bildungsverein e. V.“ (Zirve-Bildungszentrum Wuppertal ), Türkisch-Deutscher Bildungsverein Mannheim e. V. (Ufuk-Bildungszentrum Mannheim); vgl. Lemmen 2000: 53. 37 Agai 2004: 280-298. 38 Agai 2004: 286-294. - 16 - 6. Welche anderen Nurculuk-Bewegungen gibt es in Deutschland? Die Nurculuk-Bewegung agiert in Deutschland unter dem Dachverband Jama’at-un Nur (Islamische Gemeinschaft des göttlichen Lichts e. V.), der seinen Sitz in Köln hat. Er wurde 1979 gegründet und ist Mitglied des Islamrats39. 5 000 bis 9 000 Mitglieder werden Jama’at-un Nur zugerechnet. Laut der Marburger Turkologin Ursula Spuler- Stegemann wurden sämtliche der 130 Bücher des Nurculuk-Begründers Said Nursi, auch die englischen und arabischen Übersetzungen, in Berlin gedruckt und in die Türkei geschleust, weil sie dort lange verboten waren.40 7. Wie ist das Verhältnis von Fethullah Gülen zu anderen islamischen Organisationen in Deutschland? Über Verbindungen der verschiedenen Mitgliedsorganisationen zu anderen islamischen Organisationen ist so gut wie nichts bekannt, da die Gülen-Bewegung keinen Dachverband hat, der entsprechende Aktivitäten organisieren und dokumentieren könnte. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es angesichts der Größe der Bewegung zumindest auf lokaler und regionaler Ebene eine Vielzahl von Kontakten gibt. 8. Literatur 1. Agai, Bekim (2004). Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts . Schenefeld: Diss. Bonn. 2. Aras, Bulent; Caha, Omer (2000). Fethullah Gulen and his liberal „Turkish Islam“ movement. In: Middle East Review of International Affairs 4 (2000) 4 30-42. 3. Başkan, Filiz (2005). The Fethullah Gülen Community: Contribution or Barrier to the Consolidation of Democracy in Turkey? In: Middle Eastern Studies 41 (2005) 849-861. 4. Bundesministerium des Innern (Hrsg.). Verfassungsschutzbericht 2003-2007. Berlin 2004-2008. http://www.verfassungsschutz.de/de/publikationen/verfassungsschutzbericht [Stand: 20.6.2008]. 5. Dantschke, Claudia; Seidel, Eberhard; Yıldırım, Ali (o. J.). Politik im Namen Allahs . Der Islamismus – eine Herausforderung für Europa. http://www.ceyhun.de [Stand: 13.6.2008]. 6. Gülen, Fethullah (2005). Fragen an den Islam, 2 Bände. Mörfelden-Walldorf. 39 Der Islamrat besteht vorwiegend aus türkischen Vereinen, während der andere große islamische Dachverband in Deutschland, der Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V., eher arabisch ausgerichtet ist. 40 Spuler-Stegemann 1998: 142. - 17 - 7. Hermann, Rainer (1996). Fethullah Gülen – eine muslimische Alternative zur Refah -Partei? In: Orient. Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients 37 (1996) 619-645. 8. Lemmen, Thomas (2000). Islamische Organisationen in Deutschland. Bonn. 9. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (1997). Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. 10. Spuler-Stegemann, Ursula (1998). Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder Miteinander. Freiburg. 11. Die türkischen Bildungsbürger. In: FAZ (19.2.2008). http://www.faz.net/s/ Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E2BA7D754823F4AAD9683 EDB66F9E4006~ATpl~Ecommon~Scontent.html [Stand: 13.6.2008]. 12. Gulen acquitted of trying to overthrow secular government. In: World Wide Religious News (6. 5. 2006). http://www.wwrn.org/article.php?idd=21432 [Stand: 13.6.2008]. 13. Türkisches Gymnasium: Senat fragte Verfassungsschutz nicht Umstrittene Organisation wurde kaum überprüft. Denn es gibt keine Pflicht, sich vor Schulgründungen beim Nachrichtendienst zu informieren. In: Tagesspiegel (21.10.2004). http://www.tagesspiegel.de/berlin/;art270,2161664 [Stand: 13.6.2008]. 14. Turkey accuses popular Islamist of plot against state. In: Guardian (1.9.2000). http://www.guardian.co.uk/Archive/Article/0,4273,4057646,00.html [Stand: 13.6.2008]. 15. Die anatolische Versuchung. In: Die Zeit (15.5.2008).