© 2016 Deutscher Bundestag WD 1 – 3000 – 071/13 Die Rolle des Deutschen Bundestages in den deutsch-ungarischen Beziehungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 2 Die Rolle des Deutschen Bundestages in den deutsch-ungarischen Beziehungen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000 – 071/13 Abschluss der Arbeit: 12.11.2013 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte, Politik Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Geschichtliche Verbindungen zwischen Deutschland und Ungarn unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Bayerns 4 2. Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn während des Kalten Krieges und die Rolle des Deutschen Bundestages hierbei 8 3. Die Rolle Ungarns für die deutsche Wiedervereinigung 11 4. Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern, insbesondere zwischen beiden Parlamenten nach der Wiedervereinigung 12 5. Einflüsse und mögliche Vorbildwirkung des Verfassungsgefüges der Bundesrepublik Deutschland auf die Gestaltung des Verfassungsgefüges in Ungarn 14 6. Literaturverzeichnis 19 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 4 1. Geschichtliche Verbindungen zwischen Deutschland und Ungarn unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Bayerns Erst Mitte des 9. Jahrhunderts erschienen die Magyaren auf dem Gebiet des heutigen Ungarn und zu Beginn des 10. Jahrhunderts gab es die weiteste Westbewegung der Ungarn. In der Schlacht bei Merseburg (933) wurde den Ungarn eine Niederlage bereitet und 955 wurden mit der Schlacht auf dem Lechfeld die kriegerischen Einfälle der Ungarn in Bayern beendet.1 Die Zeit zwischen 973, als erste christliche Missionare aus Bayern am ungarischen Hof eintrafen und 1038, dem Tod des ungarischen Königs Stephan I., war geprägt von der Festigung der ungarischen Staatsmacht und der Ausbreitung des Christentums.2 Den politischen Beziehungen zwischen Ungarn und Bayern folgte die Entwicklung dauerhafter wirtschaftlicher Kontakte.3 Die Mongolen unter Batu Khan drangen 1241/42 bis in das ungarische Kernland vor. Erst mit dem Tod des Großkhans zogen die Mongolen plötzlich ab, doch blieben die ehemaligen Vasallen Ungarns Bulgarien, Kumanien und Galizien den Mongolen tributpflichtig.4 Zu dem Ausmaß der Zerstörung durch mongolische Truppen schrieb der Chronist von Niederaltaich 1242: “Ungarn wurde nach 350jährigem Bestand von den Tartaren in diesem Jahre vernichtet.“5 In der Folgezeit entstanden deutsche Siedlungen; die Siedler kamen vorwiegend aus dem rheinischen und moselfränkischen Raum, aber auch aus Bayern. Es gab Städtegründungen in den Bergbaugebieten Kremnitz, Schemnitz und Neusohl (sog. „Niederungarn“) 6; aber auch im übrigen Ungarn gab es Städtegründungen nach deutschem Recht.7 Auf bayerischer Seite war Regensburg ein wichtiger Umschlagplatz für den Ungarn- und Transithandel.8 Im Bergbau und Montanwesen war hingegen 1 Hoensch, 1991, S. 17f. . Noch 955 hatte es „Klosterstürme“, wie den Einfall der Ungarn im Kloster Benediktbeuern gegeben, bei dem nahezu der gesamte Konvent getötet und das Kloster zerstört wurde; s.: Jahn, 2001, S. 286. 2 996: Der ungarische König Gesa heiratete die bayerische Herzogin Gisela; daraus folgt die zweite Christianisierungswelle , die nun vom ungarischen Hof ausging. Zugleich machte sich Gesa, „gestützt auf eine aus bayerischen Rittern gebildete Leibgarde“ daran, durch Enteignungen und eine starke Zentralgewalt und landesweite Verwaltung sowie durch Heiratspolitik seine Macht zu erweitern; s.: Hoensch, 1991, S. 18f. Der zentralistische Staatsaufbau wurde unter seinem Sohn Stephan abgeschlossen. Freiwilligen Einwanderern (Slawen, Deutschen, Walachen) wurden besondere Rechte eingeräumt; sie wurden „gezielt zur Besiedlung der waldreichen Gebirge und zur Grenzverteidigung eingesetzt.“ (Hoensch, 1991, S. 20; ebenso: Bogyay, 1990, S. 36.) 3 Exportgüterwaren Erze aus den Bergwerken der Karpaten, Schlachtvieh aus dem Tiefland von Donau und Theiß; s.: Jahn, 2001, S. 127. 4 Bogyay, 1990, S. 46f. 5 Bogyay, 1990, S. 47f. 6 s.: Jahn, 2001, S. 128; Bogyay, 1990, S. 50; Puttkamer, 2011, S. 21f. verweist zudem darauf, dass seit dem 13. Jahrhundert auch die Kumanen zuzogen und einen besonderen Rechtsstatus genossen. Zur selben Zeit Zuzug rumänischer Wanderhirten und schließlich seit dem 14. Jahrhundert Roma in Siebenbürgen und Ungarn. 7 Petz in: Jahn, 2001, S. 128, s.a.: Hoensch, 1991, S. 24; Bogyay, 1990, S.50. 8 s.: Petz in: Jahn, 2001, S. 128; Kubinyi, S. 32ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 5 Nürnberg führend. 9 Zu Beginn der Neuzeit verloren die Nürnberger diese Position jedoch zugunsten der Augsburger Finanzhäuser, besonders der Fugger.10 Im ausgehenden Mittelalter, besonders in der Zeit von Matthias Hunyadi, Beiname „Corvinus“, gab es sehr enge politische11, kulturelle12 und wirtschaftliche Verbindungen zwischen Ungarn und bayerischen Städten, besonders den Donaustädten Passau und Regensburg.13 Fast 400 Jahre, nämlich von 1526 bis 1918, gehörte Ungarn oder Teile Ungarns zum Habsburgerreich . Die Schlacht bei Mohacs am 29. August 1526 war der Beginn einer Vielzahl osmanischer Feldzüge , die Ungarn als ein verwüstetes, in weiten Gebieten nahezu entvölkertes Land zurückließen14, das zudem seine politische Souveränität in weiten Teilen verlor. Die Osmanen siegten 1526 nach einer nur zweistündigen Schlacht, bei der der ungarische König auf der Flucht ertrank und fast alle weltlichen und kirchlichen Würdenträger getötet wurden; die Sieger plünderten die Ortschaften und verschleppten mehr als 100 000 Menschen.15 In der Folge zogen sich die Fugger aus dem Ungarnhandel zurück; somit hatte diese Schlacht bereits Auswirkungen auf die bilateralen Handelsbeziehungen.16 Es kam zu einer Dreiteilung Ungarns, die 150 Jahre Bestand haben sollte. Danach gehörte ein immer kleiner gewordenes Königreich Ungarn (Kroatien, Teile Westungarns , Teile der Slowakei) zum Habsburgerreich; Siebenbürgen und Gebiete östlich der Theiß und Transsylvanien waren dem Osmanischen Reich tributpflichtig, der größte Teil Ungarns ge- 9 s.: Petz in Jahn, 2001, S. 128. 10 s.: Petz in Jahn, 2001, S. 129. 11 . Mit Hilfe von Söldnerheeren gelang es Matthias Corvinus, die Südgrenze seines Reiches gegen die Osmanen zu sichern. Die Habsburger (Friedrich III.) stellten zunächst den Anspruch auf den ungarischen Thron zurück; Corvinus fand Unterstützung bei den wittelsbachischen Herzögen. (1475-1480 der Wittelsbacher Herzog Christoph, Bruder des regierenden Herzog Albrecht IV. des Weisen, war als im Dienstverhältnis stehender Ritter am ungarischen Hof, wechselte jedoch 1480 auf die Seite Kaiser Friedrichs III. (s.: Jahn, 2001, S. 194f.) 1485 kam er sogar in den Besitz von Wien und führte den Titel „Herzog zu Österreich“ (s.: Hoensch, 1991, S. 36). Bereits 1469 schloss Corvinus einen Allianz-und Lehenvertrag als König von Ungarn und Böhmen mit Kurfürst Friedrich I von der Pfalz, Herzog Ludwig IX. von Bayern-Landshut und Herzog Albrecht IV. von Bayern-München, der 1487 verlängert wurde. Ebenso sind aus dem 15. Jahrhundert viele Pfründeinhaber aus Regensburg und Passau in Ungarn bekannt; s. Kubinyi, 38f. 12 besonders stark waren die wechselseitigen Beziehungen zu den Nürnberger Werkstätten. Beispiel: Albrecht Dürer d.Ä. kam als Goldschmied aus Ungarn nach Nürnberg, sein Sohn ist Albrecht Dürer d.J.; Jahn, 2001, S. 187. 13 Kubinyi, S. 39. 14 Die vielfältigen neuen kulturellen Erfahrungen (Kaffee, Mais, Paprika, Tabak etc.) sollten nicht darüber hinwegtäuschen , dass über Generationen Feldzüge auf dem Gebiet Ungarns geführt wurden, die verheerende Folgen für das Land hatten: während seine Einwohnerzahl 1490 noch bei 4 Millionen lag, betrug sie 1790 nur noch 1,5 Millionen; s. Jahn, 2001, S. 235. Hinzu kam die Ausbreitung der Versteppung weiter Teile Ungarns (Puszta; s.: Hoensch, 1991, S. 44f). 15 Hoensch, 1991, S. 40; ebenso: Bogyay, 1990, S. 73. 16 Petz in: Jahn, 2001, S. 129. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 6 hörte jedoch zum Osmanischen Reich. 17 Erst nach dem Sieg der Habsburger über das Osmanische Reich in der Schlacht bei Zenta (1697) fielen im Frieden von Karlowitz (1699) Ungarn (ohne das Banat), Siebenbürgen sowie die größten Teile Kroatiens und Slavoniens an das Habsburgerreich zurück.18 Während der Belagerung von Wien durch die Osmanen 1683 residierte der kaiserliche Hofstaat in Passau und der Wittelsbacher Kurfürst Max Emanuel beteiligte sich mit Truppen an den Feldzügen . Im Durchschnitt überlebte weniger als die Hälfte der bayerischen Soldaten.19 Als bereits 1704 Habsburg nach der Besetzung Kurbayerns bayerische Rekruten für seinen Krieg gegen die aufständischen Kuruzzen aushob, begannen in Bayern Aufstände, die wiederum mit Hilfe ungarischer Truppen unterdrückt wurden. 20 Im Laufe des Österreichischen Erbfolgekrieges (1740-1748) besetzten zunächst im Herbst 1741 französisch-bayerische Truppen Oberösterreich und Böhmen ; doch nach Beendigung der Kriege in Schlesien zogen Truppen Habsburgs in Bayern ein. Viele bayerische Ortschaften wurden in Brand geschossen, geplündert und Verkehrswege zerstört. 21 Eine besondere Rolle spielten die 17 s. Hoensch,1991, S. 42ff, Bogyay, 1990, S. 74f. Die Besetzung Ofens durch die Osmanen und Einrichtung einer osmanischen Provinzverwaltung 1541war „eigentlicher Beginn der „Türkenzeit“ in Ungarn. Von 1541 bis 1686 residierte ein Pascha des Osmanischen Reichs in Ofen. Die Hohe Pforte eroberte in den Feldzügen von 1543/45, 1552 und 1566 weitere Teile des alten Ungarn. Das Fürstentum Siebenbürgen hatte sich der Oberhoheit des Sultans gebeugt und genoss dafür weitgehende Autonomie. Nur der westlichste Teil bildete ein ungarisches Königreich der Habsburger mit der Hauptstadt Pressburg. Für die Donauländer Ungarn, Österreich und Bayern war die gemeinsame Bedrohung durch das Osmanische Großreich im späten 16. und im gesamten 17. Jahrhundert ständig präsent.“ (Jahn, 2001, S. 233f.; s. auch: Puttkamer, 2011, S. 13). 18 Hoensch, 1991, S. 53. 19 Jahn, 2001, S. 235; Glassl, S. 70, behauptet sogar, dass Ende 1684 das bayerische Kontingent von 8000 auf 2000 dezimiert worden sei. Im nachfolgenden harten Winter waren jedoch etwa zwei Drittel der bayerischen Soldaten in den Winterquartieren gestorben; s.: Glassl, S. 67. Im Sommer 1685 heiratete Max Emanuel in Wien die Tochter des Kaisers, Marie Antonie (Glassl, S. 70). „An der Zurückeroberung von Buda beteiligte sich 1686 fast die gesamte abendländische Christenheit (..). Der Türkenkrieg dauerte noch dreizehn Jahre. Max Emanuel, Kurfürst von Bayern, eroberte Belgrad, Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden, der „Türkenlouis“, drang weit auf dem Balkan vor und sicherte endgültig den Besitz Siebenbürgens.(…) die Rückeroberung Budas war nicht nur militärisch entscheidend, sondern hatte auch eine durchschlagende moralische und politische Wirkung. Auf dem Reichstag von 1687/88 erkannten die Stände „aus Dankbarkeit“ das Erbrecht der männlichen Linie des Hauses Habsburg an und verzichteten auf das in der Goldenen Bulle von 1222 verankerte Widerstandsrecht.“; Bogyay, 1990, S.86f. 20 Jahn, 2001, S. 236. 21 wie in Deggendorf, Plattling, Straubing, Natternberg, Vilshofen s: Jahn, 2001, S. 284ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 7 ungarischen Truppen.22. 1745 verzichtete Bayern im Frieden von Füssen auf die habsburgische Krone; den Abschluss aller Kriegshandlungen bildet der Frieden von Aachen 1748. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wanderten schätzungsweise 150.000 bis 200.000 Menschen aus dem südwestdeutschen Raum (Pfalz, Schwarzwald, Oberschwaben), aber auch aus Franken nach Ungarn aus.23 Während der Hungerkrise 1770/72 folgten zudem Tausende aus Niederbayern , der Oberpfalz, dem Bayerischen Wald und dem Hochstift Passau den Werbern.24 Städte wie Ulm, Günzburg, Marxheim, Donauwörth, Regensburg, besonders aber Passau waren Sammel- und Einschiffungsplätze für die deutschen Auswanderer.25 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Ungarn ein Vielvölkerstaat, „in dem 1842 5,57 Millionen Magyaren 8,56 Millionen „Anderen“ gegenüberstanden.“26 nicht nur die verschiedenen Minderheiten (Kroaten; Rumänen, dann auch Slowaken) erstarkten, sondern auch die ungarische Nationalbewegung ; Ungarisch wurde zur Amtssprache. 27 Nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1848 verlor Ungarn seine staatliche Souveränität; mit der Bildung der Doppelmonarchie 1867 wurde Ungarn gemeinsam mit Siebenbürgen und Kroatien einer der beiden Teilstaaten der k.u.k.-Monarchie. Eine besondere Bedeutung hatte die ungarnfreundliche Haltung der aus Bayern stammenden Kaiserin Elisabeth (1837-1898) für die 22 „Bemerkenswert ist, dass sich die westungarischen Husarenregimenter dieser Epoche zu einem ganz erheblichen Teil aus deutschstämmigen Soldaten rekrutierten, die naturgemäß über beste Sprachkenntnisse verfügten und daher hervorragend für Spähtrupps mit mehr oder weniger sanfter Befragung der ortsansässigen Bevölkerung geeignet waren.“ in: Jahn, 2001, S. 288. Zahlreiche Ortschaften wurden von den Truppen des Pandurenoberst Franz Freiherr von der Trenck verwüstet. Ausführlich hierzu Christian Lankes: „ Die Bezeichnung leitet sich vom lateinischen „banderium“ ab, dem militärischen Aufgebot eines ungarischen Adeligen für die Krone. Die Panduren waren berühmt für ihre Tapferkeit, aber auch berüchtigt für ihre Grausamkeit und Habgier. Rekrutiert wurden die rund 1000 Panduren durch Franz Freiherr von der Trenck aus Untertanen seines Gutes in Südungarn , nahe der Türkengrenze. Der Sohn eines kaiserlichen Offiziers und Jesuitenzögling war einige Jahre aktiver Offizier in einem ungarischen Linieninfanterieregiment gewesen und hatte vorübergehend auch im russischen Militär gegen die Türken gekämpft. Im Frühjahr 1742 rollten die ungarischen Truppen von Passau her die bayerischen Stellungen entlang der Donau nach Westen auf. (..) Er kämpfte im Isar- und Pfaffenwinkel und zerstörte die Saline Reichenhall. Im Sommer 1742 wurden die Panduren im Bayerischen Wald eingesetzt(..) Im Herbst 1742 eroberte Trenck die Stadt Cham, die nahezu vollständig niederbrannte. (…) Trenck selbst war, ungeachtet zahlreicher militärischer Erfolge, für Maria Theresia untragbar geworden. Nach einem zweijährigen Schauprozess in Wien wurde er vom Sommer 1748 bis zu seinem Tod (1749, Erlbeck) in der Festung Spielberg zu Brünn inhaftiert.“ (In: Jahn, 2001, S. 289f.). 23 Überblick: Kállay, S. 91ff. 24 s: Wolfgang Petz in: Jahn, 2001, S. 293f. 25 Während im Mittelalter Deutsche in Westungarn, den Nordkarpaten und Siebenbürgen siedelten sowie in Städten , wie z.B. Ofen einen Großteil der Bevölkerung ausmachten, siedelten sie im 18. Jahrhundert im Ungarischen Mittelgebirge, der Schwäbischen Türkei um Fünfkirchen, der Batschka zwischen Donau und Theiß, also in den Gebieten, die nach der Vertreibung der Türken weitgehend entvölkert waren; s: Wolfgang Petz in: Jahn, 2001, S. 293f. 26 Hoensch, 1991, S. 62; ebenso: Bogyay, 1990, S. 100. 27 s. Hoensch, 1991, S. 62; s.a.: Bogyay, 1990, S. 103ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 8 Entwicklung des österreichisch-ungarischen Verhältnisses. Zwischen Bayern und Ungarn gab es in der Zeit von 1848 bis 1918 nicht nur vielfältige Verknüpfungen zwischen Adelshäusern, sondern auch vielfältige Kontakte auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet.28 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ungarn am 16. November 1918 Republik, am 21. März 1919 wurde die Räterepublik ausgerufen, am 3. Juni 1919 eine Gegenregierung in Szeged gebildet, und am 1. August 1919 trat die Räteregierung zurück.29 Es folgte „eine Welle antisemitischer Gewalt“, Ende der 1930er Jahre folgten Gesetze, die die jüdischen Ungarn vollständig vom öffentlichen Leben ausschlossen.30 Durch den Vertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 verlor Ungarn mehr als zwei Drittel seiner Fläche und mehr als 60 Prozent seiner Einwohner. Hinzu kam, dass nunmehr über 3 Millionen Ungarn im Ausland lebten. Die Rückforderung vormals ungarischer Gebiete wurde in Ungarn von allen Bevölkerungskreisen erhoben. 31 1938 und 1940 sprachen Deutschland und Italien im Ersten und Zweiten Wiener Schiedsspruch Ungarn die südliche Slowakei und das nördliche Siebenbürgen zu. 1941 beteiligte sich Ungarn an dem Krieg gegen die Sowjetunion. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn; unter ihrem Schutz machten die nationalistischen und antisemitischen Pfeilkreuzler regelrecht Jagd auf Regimegegner und Juden. Es begannen die Deportationen ungarischer Juden.32 2. Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn während des Kalten Krieges und die Rolle des Deutschen Bundestages hierbei Vor Beginn der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn im Frühjahr 1945 hatte es bereits unmittelbar nach der Besetzung durch die Sowjetunion im Spätherbst 1944 Deportationen von Deut- 28 s.: Zsolt K. Lengyel, in: Jahn, 2001, S. 327f.; s.a.: Völkl, 1988, S. 105ff. Hoensch relativiert auch den kulturellen Einfluss: „ Nach der Jahrhundertwende traten als Folge der emanzipatorischen Strömungen die zuvor dominierenden österreichischen und deutschen Einflüsse in Kunst und Kultur zugunsten englischer und französischer Vorbilder zurück.“ Hoensch, 1991, S. 71. Zum Landbesitz der Wittelsbacher in Ungarn: „ Von den politischen Ereignissen nicht gänzlich losgelöst, jedoch eher familien- sowie sozial-und wirtschaftsgeschichtlich bemerkenswert ist die Verbindungsfunktion der mehrere Tausend Hektar großen bayerisch-königlichen Wälder von Sárvár mit einem im 16. Jahrhundert erbauten und im 19. Jahrhundert erweiterten Schloss. Dieses Anwesen im heutigen transdanubischen Komitat Vas (Eisenburg) war am Ende der 1860er Jahre in wittelbachischen Besitz gelangt und blieb danach über Epochengrenzen hinweg wichtiger Zielpunkt der Familie in Ungarn. In der Geschichte des ungarländischen Forstwirtschaftswesens zeichnet es sich durch eine fachlich anspruchsvolle Betriebsweise aus.“ (Lengyel, in: Jahn, 2001, S. 353). 29 Hoensch, 1991, S. 77. 30 So wurde den Juden der Zugang zu den Universitäten erschwert. „Die Judengesetze der Jahre 1938 bis 1941, die den Nürnberger Rassegesetzen kaum nachstanden, trieben die Ausgrenzung von Juden schließlich auf die Spitze . Von hier aus war es im Sommer 1944 nur noch ein kleiner Schritt, die jüdischen Ungarn an die deutschen Besatzer auszuliefern und sich ihres Eigentums zu bemächtigen.“Puttkamer, 2011, S. 23. 31 s. Hoensch, 1991, S. 78f, ebenso: Bogyay, 1990, S. 130; Puttkamer, 2011, S. 19. 32 Angelika Fox, in : Jahn, 2001, S. 365f.; ebenso: Hoensch, 1991, S. 87ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 9 schen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gegeben. 33 Es folgten Verordnungen, die die Grundlage für Entrechtung, Enteignung und Internierung in Sammellagern bildete. Die erste Ausweisungswelle erfolgte 1946 in die amerikanische Besatzungszone; fast 170.000 Menschen erreichten Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Als die US-Vertreter in der Alliierten Kontrollkommission weitere Aufnahmen ablehnten, wurden in einer zweiten Welle (August 1947-Juni 1948) zwischen 35.000 und 50.000 Deutsche in die sowjetische Besatzungszone ausgewiesen. Nahezu 230.000 Deutsche blieben in Ungarn.34 In Bayern stammten von den nahezu 2 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen ungefähr 50.000 aus Ungarn.35 Auf politische Schauprozesse in Ungarn folgten Proteste der amerikanischen und der britischen Regierung sowie 1950 eine Verurteilung wegen der Verletzung der Menschenrechte durch die UN-Vollversammlung.36 Gleichwohl hielt die Verfolgung an. Außer Verhaftungen und Hinrichtungen gab es bis etwa Ende 1954 Zwangsumsiedlungen innerhalb Ungarns.37 Ungarn blieb bis 1955 die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen verwehrt.38 Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung der Infrastruktur und der Belastung durch die Zahl der Vertriebenen und Flüchtlinge insgesamt waren die Aktionen des Bundestages auf die Verbesserung der Gesamtsituation ausgerichtet.39 Die Beziehungen zu Ungarn wurden erst 1956 aktuell. Am 30. Oktober erklärte der neu ernannte Ministerpräsident Imre Nagy Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt und zugleich die Neutralität Ungarns. Am 4. November besetzte russisches Militär alle wichtige Einrichtungen in Ungarn , die Regierung wurde verhaftet, ebenso zahlreiche Sympathisanten. Tausende wurden bei den Straßenkämpfen getötet, mehr als 20 000 Menschen verhaftet, Tausende in sowjetische Ar- 33 Sewann, 2012, S. 354ff. 34 Sewann, 2012, S. 348f. 35 Angelika Fox, in: Jahn, 2001, S. 366. Einzelbeispiel 1944/45: „Im Dezember 1944 siedelte die Technische Hochschule von Budapest nach Dresden und nach der Zerstörung der Stadt im Februar 1945 nach Dingolfing über. Etwa 800 Studenten fanden in der Umgebung von Dingolfing und Landau vorübergehend eine Bleibe.“ (Angelika Fox, in: Jahn, 2001, S. 366). Bogyay, 199, S. 142, spricht davon, dass rund die Hälfte der Ungarndeutschen „umgesiedelt“ worden sei. Hoensch, 1991, S. 95, spricht von rund 240 000 Ungarndeutschen, die bis 1948 in die amerikanische und die sowjetische Zone sowie ein kleinerer Teil auch nach Österreich umgesiedelt worden sei. 36 In den Jahren 1948 und 1949 kam es in Ungarn zu einer Reihe von Schauprozessen, die an die Stalinzeit der 1930er Jahre erinnert. Am 15. Oktober 1949 wurde das Todesurteil gegen den ehemaligen Innenminister Rajk und zwei weitere Mitangeklagte vollstreckt. 37 s.: Hoensch, 1991, S.117; er gibt an, dass etwa 70 000 Menschen von den Zwangsumsiedlungen betroffen gewesen seien. 38 Hoensch, 1991, S. 116f. 39 Der Bundeskanzler teilt am 22. Mai 1950 mit, dass das Bundesministerium für Angelegenheiten der Vertriebenen auf Ersuchen des Bundestages ein Referat eingerichtet hat, dass sich mit Fragen der in den Ostblockstaaten lebenden Deutschen beschäftigen soll. Desweiteren ist der Bundestag über entsprechende Fragestellungen unterrichtet worden; s.: BT/DS 1/988. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 10 beitslager gebracht. Sondergerichte verhängten Todesurteile, deren Zahlen bislang nicht gesichert sind, und mehr als 200 000 Ungarn flohen ins Ausland. 40 Die westlichen Staaten waren zur selben Zeit in den Suez-Konflikt verstrickt. Die NATO- Mitgliedstaaten in den Vereinten Nationen forderten die Sowjetunion in einem Resolutionsentwurf auf, ihre Truppen aus Ungarn zurückzuziehen, Sanktionen der Vereinten Nationen blieben aber aus.41 Der Deutsche Bundestag gedachte in einer Plenardebatte am 8. November der Ereignisse in Ungarn42 und beschäftigte sich in den Folgejahren mehrfach mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus Ungarn. Bereits im November 1956 beschloss er entsprechende Hilfsmaßnahmen zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge und setzte sie in den Folgejahren fort43 ; erst 1959 wurde die Aufnahme ungarischer Flüchtlinge eingeschränkt.44 Insgesamt wurden in der Bundesrepublik 13.500 Flüchtlinge aus Ungarn aufgenommen.45 Auch Bayern nahm nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands von 1956 weiter Flüchtlinge auf. In der Folgezeit wuchs die Zahl ungarisch-sprachiger Medien in Bayern, aber auch Einrichtungen, teilweise durch die bayerische Regierung oder kirchliche Stellen unterstützt, wie z.B. das Ungarische Gymnasium in Kastl/Oberpfalz, das 1958 eingerichtet wurde und bis zum Jahr 2006 fortbestand.46 Eine Veränderung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten trat erst in den 1970er Jahren ein; im September 1973 trat Ungarn dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) bei und im Dezember wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. 1975 gehörte Ungarn zu den Unterzeichnerstaaten der Schlussakte von Helsinki. 40 s.: Hoensch, 1991, S. 134; Christian Lankes, in: Jahn, 2001, S. 368; Bogyay, 1990, S. 144; Penzlin, 2007, S. 5; Klimó, 2006, S. 33. Oplatka, 2009, S. 20, weist darauf hin, dass die ungarische Regierung 1955/56 im Rahmen der Entspannungspolitik die Grenzbefestigungen an seiner West-und Südgrenze abgebrochen habe; zudem sei die Massenflucht auch deshalb möglich gewesen, weil „sich die ungarischen Ordnungskräfte in den Revolutionswirren aufgelöst hatten“. 41 s.: Hoensch, 1991, S. 134; Bogyay, 1990, S.144; Penzlin, 2007, S. 6; Békés, 2006, S. 53ff. 42 Stenographische Berichte, 2. Wahlperiode, Band 32,, 8.11.1956, S. 9266ff. 43 s.: BT/DS 2/2919(neu); BT/DS 2/2926 v.28.11.1957; BT/DS 2/2928 v. 29.11.1956; BT/DS 3/1216 v. 8.7.1959. 44 Unter Hinweis auf die Probleme der Unterbringung von den unvermindert anhaltenden Flüchtlingsströmen aus der DDR werde die Bundesregierung vorrangig Flüchtlingen aus Ungarn mit deutscher Volkszugehörigkeit Aufenthalt zusichern. In seiner Antwort vom 8. Juli 1959 teilte der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte dem Bundestag weiter mit, dass nach dem Ungarnaufstand von 1956 rund 15 000 ungarische Flüchtlinge aus Österreich aufgenommen worden seien sowie darüber hinaus ungarische Flüchtlinge, die über andere Staaten nach Deutschland gekommen waren; s.: BT/DS 3/1216. 45 Sewann, 2012, S. 390; Penzlin, 2007, S. 8. 46 s: Lengyel, in: Jahn, 2001, S. 355; Christian Lankes, in: Jahn, 2001, S. 368 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 11 3. Die Rolle Ungarns für die deutsche Wiedervereinigung Ohne Blutvergießen gelang Ungarn 1989 der Übergang zur Demokratie. Am 15. März 1989, dem Jahrestag der ungarischen Revolution gegen die Habsburger 1848 gab es Massendemonstrationen in Budapest. Bereits am 16. Juni 1989 wurden auf dem Budapester Heldenplatz die Särge von Imre Nagy und seinen Mitstreitern aufgestellt sowie ein leerer Sarg als Symbol für die anonymen Opfer des Aufstandes von 1956. Die Opfer wurden rehabilitiert, und die Ereignisse von 1956 nicht mehr als „Konterrevolution“, sondern als „Volksaufstand“ bezeichnet. 47 Demonstrations-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden durchgesetzt, in Verhandlungen am Runden Tisch wurde die Republik erarbeitet. „Daß die ungarische Regierung Zehntausende von Ostdeutschen mit Polizeigewalt außer Landes schaffen und zur Rückkehr in ihre ungeliebte Heimat zwingen sollte, ließ sich in der DDR formulieren, war aber zu der Zeit in Ungarn schon undenkbar.“48 Am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag des Aufstands von 1956, wurde die Republik ausgerufen. Am 25. März und 8. April 1990 gab es die ersten freien Wahlen in Ungarn. Bereits im Mai waren die technischen Absperrungen an den Grenzen nach Österreich beseitigt worden, wurden aber bewacht. 49 Gleichwohl kam es im darauffolgenden Sommer zur Flucht von DDR-Bürgern in den Westen; Tausende wurden in mehreren Lagern der Internationalen Roten Kreuzes, aber auch der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Das „Paneuropäische Picknick“ am 19. August 1989 in Sopron war zunächst eine zivilgesellschaftliche Initiative , um Menschen aus den ungarischen und österreichischen Nachbargemeinden bei einem gemeinsamen Fest an der geöffneten Grenze zusammenzuführen. Doch bereits Ende Juni bat man Otto von Habsburg als Präsidenten der Paneuropa-Union um die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung .50 Als weiteren Schirmherr fand man den Reformpolitiker und ehemaligen Staatsminister Imre Pozsgay.51 Mehrere Hundert DDR-Flüchtlinge nutzten das Picknick zur Flucht nach Österreich52 und die ungarische Regierung geriet unter Entscheidungsdruck, wie mit der ständig anwachsenden Zahl von DDR-Flüchtlingen verfahren werden sollte.53 In der Nacht vom 23. auf den 24. August wurden die Flüchtlinge aus der bundesdeutschen Botschaft in Budapest nach 47 s.: Jahn, 2001, S. 371; Klimó, S. 25; Oplatka, 2009, S. 19. 48 Oplatka, 2009, S. 19. 49 Bereits am 3. März 1989 gab es einen Gedankenaustausch zwischen dem neuen ungarischen Ministerpräsidenten Németh und dem sowjetischen Parteichef Gorbatschow in Moskau, bei dem auch die Absicht der Ungarn zur Sprache kam, die Grenzbefestigungen schrittweise abzubauen. S. hierzu ausführlich: Oplatka, 2009, S. 66ff. Als am 27. Juni die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, bei Sopron offiziell den Grenzzaun durchschnitten, war dies nur noch eine symbolische Aktion, die gleichwohl eine erhebliche Wirkung hatte; s. hierzu: Oplatka, 2009, S. 105ff. 50 Oplatka, 2009, S. 154f. 51 Oplatka, 2009, S. 156. Beide Politiker nahmen nicht selbst an der Veranstaltung teil (s. Oplatka, 2009, S. 158. 52 Oplatka, 2009, S. 162f. 53 s. Oplatka, 2009, S. 170ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 12 Wien ausgeflogen.54 Am 25. August fanden auf Wunsch der ungarischen Regierung in Schloß Gymnich bei Bonn Gespräche zwischen den Regierungschefs , Ministerpräsident Nemeth und Bundeskanzler Kohl sowie zwischen den Außenministern Genscher und Horn, statt, bei denen die ungarische Seite ihre Entscheidung bekanntgab, die Grenze nach Österreich zu öffnen und offenzuhalten.55 Am 31. August fand in Berlin ein Gespräch zwischen Günter Mittag als Vertreter des erkrankten Staats-und Parteichefs Honecker sowie den Außenministern Fischer und Horn, in denen sich die DDR-Vertreter gegen ein ungarisches „Ultimatum“ verwehrten, während die ungarische Seite ankündigte, den Vertrag mit der DDR über den visumfreien Reiseverkehr von 1969 außer Kraft zu setzen und so viele DDR-Flüchtlinge ausreisen zu lassen, wie Österreich bereit sei aufzunehmen. Eine Lösung wurde offenbar für den 11. September angekündigt. Den weiteren Vorschlag Horns, die DDR solle zusichern, Ausreiseanträge von rückkehrwilligen DDR-Bürgern wohlwollend zu prüfen, wiesen Fischer und Mittag sofort zurück.56 Am 11. September wurden die Grenzübergänge nach Österreich geöffnet; bis Anfang November, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, reisten annähernd 50.000 DDR-Bürger über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland.57 Die Ereignisse in Ungarn im Sommer 1989 und schließlich die Grenzöffnung haben den Prozess der Wiedervereinigung sicherlich beschleunigt. 4. Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern, insbesondere zwischen beiden Parlamenten nach der Wiedervereinigung Zwar hatten Deutschland und Ungarn bereits 1973 diplomatische Beziehungen aufgenommen und beide Parlamente waren Mitglied der Interparlamentarischen Union (IPU), doch erst mit dem Reformprozess in Ungarn in den 1980er Jahren wurden die parlamentarischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten intensiver. Innerhalb dieses Reformprozesses war die Vertreibung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Thema. Bereits auf dem IV. Kongreß der Ungarndeutschen 1983 hatte das Politbüromitglied Aczél das Prinzip der Kollektivschuld verurteilt und die Vertreibung als Unrecht bezeichnet.58 Damals noch eine Einzelmeinung, folgten nach 1989 offizielle Erklärungen. So verurteilte das ungarische Parlament im März 1990 die Vertreibung der Ungarndeutschen in aller Form und bat die Opfer und deren Nachkommen um Vergebung. Zwischen 1990 und 1992 verabschiedete das Parlament die „Wiedergutmachungsgesetze“ und die ungarische Regierung 54 Zur Vorbereitung seitens der ungarischen Regierung und seitens des Internationalen Roten Kreuzes, s. Oplatka, 2009, S. 184ff. 55 Oplatka, 2009, S. 193ff. 56 Oplatka, 2009, S. 207ff. 57 Oplatka, 2009, S. 231. 58 Sewann, 2012, S. 353. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 13 erkannte an, dass die Vertreibung der Ungarndeutschen ein Unrecht gewesen ist.59 Im November 2007 fand im ungarischen Parlament eine Gedenkkonferenz anlässlich des 60. Jahrestages der Vertreibung statt. Das Parlament beschloss im Dezember 2011, dass der 19. Januar Nationaler Gedenktag für die Vertreibung der Ungarndeutschen sein soll. Der Bundestag würdigte den Reformprozess in Ungarn schon im Juni 1989 mit dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD,FDP und GRÜNEN „Zur politischen Entwicklung in Ungarn“, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, diesen Prozess im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu fördern , auch im Rahmen der Verhandlungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn .60 Noch bevor 1992 der deutsch-ungarische Freundschaftsvertrag geschlossen wurde61, dem 1994 das Europa-Abkommen zwischen der Europäischen Union und Ungarn und am 1.Mai 2004 der Beitritt Ungarns zur Europäischen Union folgten, begann der Deutsche Bundestag, seine Beziehungen zu der ungarischen Nationalversammlung zu stärken. So wurde 1987 erstmals eine Deutsch-Ungarische Parlamentariergruppe eingerichtet, von 1990 an nahmen auch ungarische Studentinnen und Studenten am Internationalen Stipendienprogramm des Deutschen Bundestages (IPS) teil, und es gab vermehrt Delegationsreisen und anderweitigen Austausch zwischen Gremien des Bundestages und dem ungarischen Parlament. Die Deutsch-Ungarische Parlamentariergruppe und ihr „Gegenstück“, die Ungarisch-Deutsche Freundschaftsgruppe, die zu den größten Parlamentariergruppen im ungarischen Parlament zählt, unterhalten enge Beziehungen. Bei den zahlreichen Gesprächen, die in der letzten Wahlperiode mit ungarischen Parlamentariern und Regierungsvertretern geführt wurden, wurden auch Fragen der neuen Verfassung, neuer Gesetzesvorhaben (Mediengesetz) und die EU- Ratspräsidentschaft Ungarns diskutiert. Auch die Fachausschüsse des Deutschen Bundestages unterhalten gute Kontakte zu ungarischen Politikern, bei denen aktuelle Fragen diskutiert werden .62 An dem Stipendienprogramm des Deutschen Bundestages (IPS) haben seit 1990 mehr als 100 Ungarinnen und Ungarn teilgenommen. In Ungarn gibt es seit 2008 ein Stipendienprogramm ausschließlich für junge Deutsche. Neben regelmäßigen Kontakten auf verschiedenen Ebenen sind auch Zeichen des Gedenkens wichtiger Bestandteil der Beziehungen zwischen den beiden Parlamenten. 1991 wurde in Anwesenheit des ungarischen Parlamentspräsidenten die Gedenktafel zur Erinnerung an die Grenzöffnung am 10. September 1989 als „Zeichen der Freundschaft zwischen dem deutschen und dem ungarischen Volk für ein vereinigtes Deutschland, für ein unabhängiges Ungarn und für ein de- 59 Klimó, 2006, S. 49; s.a.: Sewann, 2012, S. 353f. und 358ff. 60 BT/Ds 11/4840 v. 21.6.1989. 61 „Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa“, BT/Ds 12/2469. 62 Wie z.B,. die Delegationsreise des Europa-Ausschusses nach Budapest vom 1.-3. März 2011 also zu der Zeit der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 14 mokratisches Europa“ am Reichstagsgebäude angebracht. Im darauffolgenden Jahr wurde eine entsprechende Gedenktafel am ungarischen Parlamentsgebäude angebracht. In einer Festansprache beim Gedenktag zur Vertreibung der Ungarndeutschen vor dem ungarischen Parlament am 11. März 2013 würdigte ihn Bundestagspräsident Prof. Dr. Lammert als „eindrucksvolle Geste der Verständigung und Versöhnung“. Er betonte die Bedeutung von Minderheitsrechten und wies ausdrücklich auf die Besorgnisse in Deutschland und der Europäischen Union zu den weiteren Änderungen und Ergänzungen der ungarischen Verfassung hin. Diese stand am gleichen Nachmittag zur abschließenden Beratung auf der Tagesordnung des ungarischen Parlaments. Am darauffolgenden Tag traf der Bundestagspräsident mit dem ungarischen Staatspräsidenten in Berlin zusammen und brachte auch hier seine Besorgnis zum Ausdruck.63 In einer Aktuellen Stunde zum „Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn im Hinblick auf die Einhaltung europäische Grundwerte“ am 14. März 2013 teilten die Sprecher aller Fraktionen die Besorgnisse über die aktuelle Entwicklung in Ungarn.64 Auch die vorangegangenen Verfassungsänderungen waren Bestandteil von Gesprächen zwischen deutschen und ungarischen Politikern.65 Bereits in der Vergangenheit hatten die Parlamentarier in einer Aktuellen Stunde die aktuelle Situation in Ungarn zur Sprache gebracht.66 Über die direkten Beziehungen der beiden Parlamente hinaus gibt es weitere, vielfältige Kontakte , wie zum Beispiel über die Interparlamentarische Union und besonders das Europäische Parlament 67 und seine Gremien sowie die politischen Stiftungen. 5. Einflüsse und mögliche Vorbildwirkung des Verfassungsgefüges der Bundesrepublik Deutschland auf die Gestaltung des Verfassungsgefüges in Ungarn 1949, drei Jahre nach Ausrufung der Republik, wurde die erste geschriebene Verfassung Ungarns verabschiedet. „Sie spiegelte die Vorstellung eines Staates ohne Gewaltenteilung, einer maximalen Zentralisierung der Macht und einer möglichst weitgehenden Verhinderung von Widerstand .“68 63 Kailitz, Susanne, „Mehr als laue Worte“ in: Das Parlament, Nr.12/2013. 64 Deutscher Bundestag, 17. WP, 228. Sitzung, 14. März 2013. 65 Wie z.B. bei der Festveranstaltung der Ungarischen Botschaft in Berlin anlässlich des 20. Jahrestages des deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrages am 22. Mai 2012. 66 s.: Aktuelle Stunde „Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz“, Deutscher Bundestag, 17. WP, 84. Sitzung, 20. Januar 2011. 67 Siehe z.B. die Diskussion im EU-Parlament nach der Aufforderung der EU-Kommission von Gesetzesänderungen in Ungarn im März 2012: http://www.euractiv.de/erweiterung-und-nachbarn/artikel/bruessel-erhoehtdruck -auf-ungarn-006064. 68 Klimó, 2006, S. 45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 15 1972 erfolgte die „erste grundlegende Revision“.69 Vor dem Hintergrund der KSZE-Konferenz in Helsinki sollte die Verfassung eine „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ widerspiegeln.70 Klimó sieht in ihr die ersten „zaghaften und widersprüchlichen Anfänge“, die dazu geführt hätten, „dass der Übergang zu einem demokratischen Rechtsstaat Ende der 1980er Jahre relativ zügig beschritten werden konnte. Im Mai 1988 leitete die Partei eine erneute Verfassungsrevision ein.“71 In dieser Phase gab es im Mai 1989 auch ein Symposium deutscher und ungarischer Rechtswissenschaftler, die sich mit der Entwicklung des ungarischen Verfassungsrechts und den deutschen Erfahrungen beschäftigte.72 Am 23. Oktober 1989 trat die Verfassungsnovelle in Kraft; formal ist sie eine Änderung der Verfassung von 1949, sie enthält aber bereits die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und des Parteienpluralismus, und unterscheidet sich damit grundsätzlich von der stalinistischen Verfassung von 1949. 73 Verhandlungen über eine neue Verfassung scheiterten Mitte der 1990er Jahre, weil bereits im Parlament kein Konsens zur Wahl des Präsidenten, der Frage einer zweiten Parlamentskammer und der Würdigung der Stephanskrone erreicht werden konnte.74 Maßgeblich für die weitere Betrachtung soll das neue Grundgesetz von Ungarn sein, das zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist75. Seit seinem Wahlsieg im April 2010 hat die Regierung unter Viktor Orbán die Verabschiedung einer neuen Verfassung forciert. Das Parlament verabschiedete die Verfassung zwar am 18. April 2011 mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, doch hatten sich die Abgeordneten der oppositionellen Sozialisten und der LMP bereits frühzeitig nicht mehr am Entscheidungsprozess im Vorbereitungsausschuss beteiligt und auch die Schlussabstimmung 69 Klimó, 2006, S. 45. 70 Klimó, 2006, S. 46. 71 Klimó, 2006, S. 46. Statt politischer „Wende“ favorisiert Klimó den Begriff „Systemwechsel“: „Das „System“ der kommunistischen Parteidiktatur wurde tatsächlich gewechselt, seine Eliten konnten ihre Machtpositionen in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft jedoch weitgehend behaupten. In Ungarn fand keine „Wende“ wie in der DDR statt, die alle staatlichen Bereiche erfasst hatte.“ (Klimó, 2006, S. 210; s.auch: Bos, 2011, S. 60). 72 s.: Antal Ádám u. Heinrich Scholler (Hg.), Die Verfassung als Katalysator zwischen Gesellschaft und Staat, München 1990. 73 Boos, 2011, S. 45; Halmai, 2011, S. 145; Küpper, 2011, S. 136. Die Verfassungsnovelle von 1989 räumt dem Ministerpräsidenten eine zentrale Rolle ein und es gibt – vergleichbar dem deutschen Grundgesetz – das konstruktive Misstrauensvotum; s. hierzu: Klimó, 2006, S. 48. 74 Boss, 2011, S. 46. 75 deutsche Übersetzung: http://www.mfa.gov.hu/NR/rdonlyres/09A650FD-0ACB-4C14-B572- 7CDEF40B8966/0/grundgesetz_ungarn.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 16 im Plenum boykottiert.76 Bereits im März 2011 hatte die sogenannte „Venedig-Kommission“ der Europäischen Kommission bemängelt, dass der Verfassungsgebungsprozess nicht transparent sei und dass das Budgetrecht des Parlaments noch weiter eingeschränkt werde.77 Zunächst ist festzustellen, dass der Aufbau des ungarischen Grundgesetzes78 sich sehr von dem des deutschen Grundgesetzes unterscheidet. Dies betrifft sowohl den formalen Aufbau, der in der ungarischen Verfassung wechselt zwischen römischen und arabischen Ziffern, alphabetischer und numerischer Aufzählung, als auch die Zuordnung der Themen zu den übergeordneten Bereichen . Die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes finden sich auch in der ungarischen Verfassung , aber nicht nur in dem Kapitel „Grundlagen“. Stattdessen gibt es dort jedoch auch Bestimmungen , die in Deutschland in der Strafprozessordnung oder dem Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt sind.79 Neben den Unterschieden im formalen Aufbau ist der inhaltliche Aufbau des ungarischen Grundgesetzes sehr verschieden von dem des deutschen. Das ungarische Grundgesetz beginnt mit der Anrufung “Gott, segne den Ungarn!“ und dem „nationalen Glaubensbekenntnis“.80 Bereits in der Präambel81 wird herausgehoben, dass keine anderen Ethnien als die Ungarn die Nation ausmachen, die zugleich als eine christliche Gemeinschaft bezeichnet wird; die anderen Ethnien werden ausgeschlossen, eingeschlossen werden hingegen die Ungarn, die außerhalb des ungarischen Staatsgebietes leben. Anders als noch die Verfassungsnovelle von 1989 wird hier das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität aufgehoben .82 76 Bos, 2011, S. 53. Küpper, 2011, S. 137: „Auf eine politische Debatte wurde komplett verzichtet, um den ambitionierten Zeitplan einzuhalten. Eine Diskussion fand weder innerhalb der Regierungskoalition noch im politischen Raum mit den anderen politischen Kräften statt, und auch die Rechtswissenschaft wurde kaum zu Rate gezogen.(…) Auch eine parlamentarische Debatte wurde nur formal abgehalten, denn der Entwurf wurde Mitte März ins Parlament eingebracht, wo bereits einen Monat später, am 18. April 2011, die Schlussabstimmung stattfand.“ 77 s.: Bos, 2011, S. 54; Halmai, 2011, S. 145. 78 Küpper, 2011, S. 138, bewertet die Bezeichnung „Grundgesetz“ als widersprüchlich, da man mit ihr anspiele auf den Verfassungszustand vor 1949, „als staatsrechtliche Regelungen eben nicht in einer chartalischen Verfassung (alkotmány) niedergelegt waren, sondern in zahlreichen Gesetzen von einfachem Rang. Ungeachtet dieser nominellen Anknüpfung erklärt sich das Grundgesetz zur obersten Rechtsnorm im Land und somit zu einer chartalischen Vollverfassung.“ 79 s. Art. IV, Abs.3 u. 4; Art. V der ungarischen Verfassung. 80 s.: Toth, 2013, S. 23f. 81 Küpper, 2011, S. 138, weist darauf hin, dass die Präambel- anders als in anderen europäischen Verfassungen – „ausdrücklich zu einem Teil des Normtextes und damit für verbindlich erklärt wird.“ 82 Halmai, 2011, S. 146f. Als am 1.1.2000 die Stephanskrone aus dem Nationalmuseum in das ungarische Parlamentsgebäude gebracht wurde, hatte das Verfassungsgericht zuvor in dem entsprechenden Gesetz der konservativen Regierungskoalition die Streichung des Zusatzes angeordnet: „Die heilige Krone symbolisiert die Einheit des ungarischen Staates.“ Mit dem Grundgesetz geht man hinter diese Entwicklung zurück. S. hierzu: Klimó, 2006, S. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 17 In dem folgenden Kapitel „Grundlagen“ werden nicht nur Grundrechte aufgeführt, sondern auch Ausführungen zum Staatswappen und der Nationalhymne (Art. I) und dem „Prinzip des ausgeglichenen , transparenten und nachhaltigen Haushaltswirtschaftens“ (Art. N) gemacht. In Art. C (Gewaltenteilung, Widerstandsrecht) finden sich Parallelen zu Art. 20 GG, in Art. G, Abs. 3 (Staatsangehörigkeit) zu Art. 16, Abs. 1 GG, in Art. P (Schutz des nationalen Erbes) Ähnlichkeiten mit Art. 20a GG. Doch während im deutschen Grundgesetz ausschließlich der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere geregelt ist, dehnt das ungarische Grundgesetz diese Regelung auf die kulturellen Werte aus, die zusammen „das gemeinsame Erbe der Nation“ bildeten. Ebenso gilt dies für Art. L (Schutz von Ehe und Familie); dieser findet sich zwar auch in Art. 6, Abs. 1 GG, doch anders als in der deutschen Fassung werden im ungarischen Grundgesetz Ehe und Familie definiert „als Grundlage der Erhaltung der Nation.“ In dem nachfolgenden Kapitel „Freiheit und Verantwortung“ werden mit den Art. I-XXXI im wesentlichen die Grundrechte aufgeführt, durchaus vergleichbar mit den Grundrechten im deutschen Grundgesetz; es enthält aber auch sehr ausführliche Bestimmungen zum Wahlrecht (Art. XXIII) sowie in Art. XXIX Ausführungen zu den Rechten der in Ungarn lebenden Nationalitäten. In dem ausführlichen Kapitel „Der Staat“ (Art. 1-54) finden sich Parallelen zum deutschen Grundgesetz bei den Art. 1 und 2 zu Art. 38 ff GG, in Art. 6 Abs. 1 zu Art. 76 GG und Art. 6, Abs. 3 zu Art. 77 GG sowie in Art. 10, Abs. 1 zu Art. 63 GG. Hervorzuheben ist auch, dass in Art. 54 Bestimmungen zu den Grundrechten enthalten sind, die vergleichbar sind mit der sogenannten „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG. Jedoch erfährt diese Bestimmung bereits in Art. I, Abs. 3 sowie in Art. S (Änderung des Grundgesetzes ohne Einschränkung mit Zweidrittelmehrheit des Parlaments) eine Einschränkung. 83 Es gibt Ähnlichkeiten mit Bestimmungen des Grundgesetzes; wie aufgezeigt, betreffen sie die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes, enthalten aber Zusätze, wie z.B. bei den Themen „Schutz von Ehe und Familie“, „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ oder der „Ewigkeitsklausel “, die einer politischen Zielsetzung Verfassungsrang einräumen. Um diese politischen Zielsetzungen der Regierung unter Viktor Órban bewegen sich auch die öffentlichen Auseinandersetzungen um Verfassungsänderungen mit Schwächung des Parlaments84 und des Verfassungsgerichts 85 , aber auch um den Inhalt neuer Gesetze, wie z.B. des neuen Mediengesetzes86 83 s.a.: Halmai, 2011, S. 147; Küpper, 2011, S. 140 u. S. 142. 84 Das Parlament besitzt nicht mehr das Budgetrecht, s. Küpper, 2011, S. 139. 85 Dem Verfassungsgericht wurde das Recht auf Überprüfung von Steuer- und Finanzgesetzen abgesprochen, in dem es diese Gesetze nur noch hinsichtlich der Frage kontrollieren kann, ob sie u.a. gegen die Menschenwürde verstoßen; s. hierzu: Halmai, 2011, S. 149f. Küpper, 2011, S. 141 : „Der eingeschränkte Kontrollumfang ist für sich genommen rechtsstaatlich unbedenklich. In Europa gibt es Rechtsstaaten wie etwa die Niederlande, die ohne Verfassungsgericht auskommen; im Vergleich mit einem Rechtsstaat ganz ohne Verfassungsgericht ist ein System mit einem eingeschränkten Verfassungsgericht kaum weniger rechtsstaatlich. Bedenklich ist hingegen der Hintergrund der Maßnahme, d.h. dass die Regierung auf Kontrolle mit Kompetenzverkürzung reagiert. Insoweit ist Art. 37 Abs.4 Grundgesetz eine fortgesetzte Mahnung an alle Kontrollorgane, was bei einer allzu unabhängigen Amtsauffassung geschehen kann.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 18 und das Gesetzgebungsverfahren, innerhalb dessen bereits mehrfach Gesetze mit rückwirkender Wirksamkeit verabschiedet worden sind.87 Der größte rechtsstaatliche Mangel der gegenwärtigen Verfassung Ungarns ist die Betonung der Ideologie einer ethnisch einheitlichen Nation. Inwieweit es einer Regierungsmehrheit gelingen kann, die verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen oder von Gruppen zu beschränken, ist eine Frage der politischen Kultur dieses Landes, aber auch eine Frage der Aufmerksamkeit europäischer Einrichtungen.88 86 So kritisiert die OSZE, dass das Gesetz nicht den Pluralismus der Medien und den freien Informationsfluss sicherstelle, und mahnt deshalb eine Überarbeitung an. Nyman-Metcalf, Katrin, Analysis oft he Hungarian Media Legislation, hrsgg.v. OSCE, Representative on Freedom of the Media, 28.2.2011, S.4f. (www.osce.org/fom/75990). S.a.: Küpper, 2011, S. 141. 87 Wie z.B. bei dem Gesetz zur rückwirkenden Besteuerung von Abfindungen entlassener Staatsbeamter oder das Gesetz zur Erhebung von Sondersteuern für bestimmte Unternehmen, s.: Bos, 2011, S. 57ff., Küpper, 2011, S. 139. 88 s.: Küpper, 2011, S. 144; Halmai, 2011, S. 156; Toth, 2013, S. 28; im April 2012 kündigte die EU-Kommission an, Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 071/13 Seite 19 6. Literaturverzeichnis Ádám Antal u. Scholler, Heinrich (Hg.), Die Verfassung als Katalysator zwischen Gesellschaft und Staat: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nach 40 Jahren im Vergleich mit den Bestrebungen der ungarischen Verfassungsreform; Ergebnisse eines ungarisch-deutschen Kolloquiums am 18. und 19. Mai 1989 im Goethe-Institut, Budapest/Südosteuropa-Gesellschaft, München 1990. 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