Fragen zur ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert Die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 ("Holodomor") sowie die Folgen der Resowjetisierung nach Ende des Zweiten Welkrieges - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 1 - 065/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Fragen zur ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert Die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 ("Holodomor") sowie die Folgen der Resowjetisierung nach Ende des Zweiten Welkrieges Ausarbeitung WD 1 - 065/08 Abschluss der Arbeit: 28.05.2008 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Abteilungsleiters Wissenschaft und Außenbeziehungen des Deutschen Bundestages. - 3 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 4 1.1. Historische Entwicklung der Ukraine seit dem Spätmittelalter 4 2. Ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen in den Jahren 1917 bis 1921 5 2.1. Die „Ukrainische Volksrepublik“ 5 2.2. Die „Westukrainische Volksrepublik“ 6 3. Die Hungersnot der Jahre 1932/33 6 3.1. Die Entwicklung der Ukraine seit 1922 im Rahmen der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ (USSR) als Bestandteil der UdSSR 6 3.2. Zahlen über die Hungersnot 1932/33 9 3.3. Interpretation der Hungersnot 1932/33 9 3.4. Die aktuelle Bewertung der Hungersnot 1932/33 durch die ukrainische Politik 12 3.5. Die Frage der internationalen Anerkennung des „Holodomor“ als Genozid 13 4. Die (Re-) Sowjetisierung der Ukraine nach Ende des Zweiten Weltkrieges 14 4.1. Die Entwicklung der Ukraine von 1939 bis Juni 1941 14 4.2. Die Entwicklung der Ukraine seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 15 4.3. Die Entwicklung der Ukraine seit der Rückeroberung durch die Rote Armee 1943/44 16 5. Zusammenfassung 18 6. Literaturverzeichnis 22 - 4 - 1. Einleitung Die Ukraine ist ein vergleichsweise junger Nationalstaat, der im Rahmen des Zusammenbruchs der Sowjetunion im Jahr 1991 seine volle staatliche Souveränität erlangte (Schneider 2005: 24). Zuvor hatte es in der ukrainischen Geschichte verschiedene staatliche Gebilde auf dem heutigen Territorium der Ukraine gegeben. Sie besaßen aber keine vollständige und dauerha fte Unabhängigkeit (Boeckh 2007: 49; Munzinger Archiv Online 2008). Die Ukraine gehörte mit Ausnahme ihrer westlichen Regionen – die erst Ende der 1930er Jahre Bestandteil der Sowjetunion wurden – über mehrere Jahrhunderte zum russischen bzw. zum sowjetischen Staatsgebiet.1 Insbesondere seit ihrer Unabhängigkeit bemüht sich die Ukraine im Rahmen ihrer Staats- und Nationenbildung darum , eine eigene nationale ukrainische Identität zu entwickeln, um damit auch die Unterschiede zu reduzieren, die zwischen den historisch unterschiedlich geprägten Landesteilen bestehen2 (Jilge 2007: 24; Urban 2006; von Werdt 2005). Dabei kommt der Betrachtung von prägenden Ereignissen der ukrainischen Geschichte der Neuzeit eine wichtige identitätsstiftende Rolle zu. Als förderlich erweist sich dabei die Öffnung bisher verschlossener sowjetischer Archive3 und der Enttabuisierung von historischen Vorkommnissen , über die in der Sowjetunion nicht gesprochen werden durfte. Dazu zählen auch die Hungersnot der Jahre 1932/334 („Holodomor“ oder „Golodomor“5) sowie die Resowjetisierung der Ukraine durch die sowjetische Zentralmacht nach dem endgültigen Abzug der nationalsozialistischen Besatzer im Jahr 1944. Insbesondere die Hungersnot von 1932/33 ist heute ein Schlüsselereignis im nationalen Geschichtsbild der Ukraine, mit der eine historische und ethnische Eigenständigkeit herausgearbeitet werden soll (Jilge 2007: 24ff.; Schuller 2007). 1.1. Historische Entwicklung der Ukraine seit dem Spätmittelalter Gehörten größere Teile der Ukraine seit dem Spätmittelalter zum Einflussbereich Polens und Litauens bzw. seit der Lubliner Union von 1569 zum Königreich Polen-Litauen6, so kamen mit dem ukrainisch-russischen Vertrag von Perejaslaw aus dem Jahr 1654 Ge- 1 In dieser Zeit kam es insbesondere im Nordosten der Ukraine zur Ansiedlung von Russen, in dessen Folge bis heute diese Ländeshälfte auch russisch geprägt ist. Heute sind ca. 17 % der Bevölkerung der Ukraine Russen (Schneider 2005: 12). 2 So gehörte der agrarische Westen einst zum Habsburgerreich. Der Osten war ein industrielles Kerngebiet der Sowjetunion. 3 Diese Öffnung ermöglicht auch neue historische Quellenforschungen. 4 Hungernöte in der Sowjetunion gab es unter anderem in den Jahren 1921/23 sowie 1946/46 (Boeckh 2007: 119). 5 Der Begriff wird im weiteren Verlauf der Ausarbeitung erläutert. 6 Mit der Union von Ljublin zwischen Polen und Litauen wurde praktisch das gesamte ukrainische Gebiet unter polnische Oberhoheit gestellt (Schneider 2005: 12). - 5 - biete östlich des Dnjepr7 unter das Protektorat des Zarenreiches. Im Rahmen der so genannten polnischen Teilungen8 Ende des 18. Jahrhunderts, bei der das Staatsgebiet Polens zwischen Preußen, Österreich und Russland in drei Phasen aufgeteilt wurde, fiel der Westen der heutigen Ukraine – (Ost)- Galizien und die Bukowina – an die österreichische Donaumonarchie. Weite Teile der Ukraine, die bis dahin unter polnischer Herrschaft gestanden hatten, gelangten an Russland. So gingen unter anderem die ukrainischen Gebiete östlich des Dnjepr und der Düna an das russische Zarenreich (Munzinger Archiv 2008; Schneider 2005: 12). Innerhalb des Zarenreiches stellte die Ukraine die größte nationale Minderheit. 2. Ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen in den Jahren 1917 bis 1921 Infolge der Abdankung des Zaren in der russischen Februarrevolution 19179 und der Auflösung des Habsburger Vielvölkerstaates hatten die Ukrainer sowohl in Österreich- Ungarn als auch in Russland versucht, nach Jahrhunderten wieder einen ukrainischen Staat zu bilden und ihre staatliche Unabhängigkeit zu erreichen (Schneider 2005: 12). Beide Versuche einer ukrainischen Staatsbildung nach dem Ersten Weltkrieg scheiterten jedoch. 2.1. Die „Ukrainische Volksrepublik“ Als Reaktion auf die russische Februarrevolution 1917 konstituierte sich im März 1917 auf bisher russischem Territorium in Kiew das ukrainische Parlament, die Zentralrada („Zentralna Rada“), welches im Juni 1917 die ukrainische Autonomie ausrief und am 20. November 1917 die „Ukrainische Volksrepublik“ („Ukrajins’ka Narodna Respublika “: UNR) sowie am 22. Januar 1918 die staatliche Unabhängigkeit proklamierte, die aber von russischer Seite nicht anerkannt wurde. Die von bürgerlichen Kräften getragene „Ukrainische Volksrepublik“ war von kurzer Dauer, da sich im weiteren Verlauf des russischen Bürgerkrieges die kommunistischen Bolschewiki auch in der Ukraine militärisch durchsetzen konnten.10 Der Machtkampf hatte begonnen, als sich am 27. Dezember 1917 in Charkow eine bolschewistisch orientierte ukrainische Gegenregierung gebildet hatte, die vom „Rat der Volkskommissare“11 in Petrograd12 anerkannt wurde. Im Januar 1919 kam es zur Ausrufung der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ (USSR). In der Auseinandersetzug zwischen den Anhängern der „Ukrainische Volksre- 7 Ukrainisch: Dnipro 8 1772, 1793, und 1795. 9 Nach gegenwärtiger (gregorianischer) Zeitrechnung fand die Revolution im März 1917 statt. 10 In ihrer Auseinandersetzung mit Russland setzte sie auch auf eine Zusammenarbeit mit Polen, einem erklärten Gegner der ZUNR. 11 Die mit der Oktoberrevolution 1917 von den Bolschewiki ins Leben gerufene Regierung der Sozia - listischen Sowjetrepublik. 12 Heute Sankt Petersburg. - 6 - publik“ sowie der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ wurden die Bolschewiki zwar phasenweise immer wieder zurückgedrängt 13, doch konnten sie letztendlich den Bürgerkrieg in der Ukraine für sich entscheiden. Ende 1922 wurde die USSR per Staatsvertrag eine Unionsrepublik innerhalb der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken “14(UdSSR) (Boeckh 2007: 20; 49; Munzinger Archiv 2008). 2.2. Die „Westukrainische Volksrepublik“ In den bis zum Jahr 1918 zur Habsburgermonarchie gehörenden westlichen Territorien der heutigen Ukraine - dem östlichen Teil Galiziens - etablierte sich nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns im Spätherbst 1918 die in Lemberg ausgerufene „Westukrainische Volksrepublik“ („Zachidno-Ukrajins’ka Narodna Respublika: ZUNR), die ebenfalls nur kurze Zeit Bestand hatte. Bereits im Januar 1919 wurde eine Vereinigung mit der „Ukrainischen Volksrepublik“ erklärt.15 Nach einem 1918/19 erfolgten Krieg um das ethnisch gemischte Territorium16 Ostgaliziens zwischen der ZUNR bzw. der Gesamtukraine und Polen17, dem so genannten polnisch-ukrainischen Krieg, wurde durch den Frieden von Riga 18 im Jahr 1921 (Ost-) Galizien für fast zwei Jahrzehnte Bestandteil des erstmals seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – nach 123 Jahren Teilung – wiedererrichteten polnische Staates im Rahmen der „Zweite Polnischen Republik“ (Wehrhahn 2004: 13ff.; Munzinger Archiv 2008). 3. Die Hungersnot der Jahre 1932/33 3.1. Die Entwicklung der Ukraine seit 1922 im Rahmen der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ (USSR) als Bestandteil der UdSSR Die USSR war mit ihren rund 29 Millionen Einwohnern (1929) die zweitgrößte Sowjetrepublik der UdSSR. Sie war sehr stark agrarisch geprägt und gehörte mit ihren reichhaltigen und fruchtbaren landwirtschaftlichen Anbauflächen zur so genannten Kornkammer der Sowjetunion. Nach einer anfänglichen Phase der relativen Entspannung im Verhältnis zu Moskau19 wurde die USSR seit Ende der 1920er Jahren von der Moskauer 13 So hatten zum Beispiel von Frühjahr bis Dezember 1918 deutsche und österreichisch-ungarische Truppen nach dem Frieden von Brest-Litowsk die Ukraine besetzt. In dieser Zeit wurde durch nationalkonservative Kräfte das so genannte Hetmanat wieder eingeführt. 14 Russisch: „Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik (SSSR). 15 Die Streitkräfte wie auch Parlament und Regierung blieben aber eigenständig. 16 Ukrainer, Polen, Juden stellten die größten Bevölkerungsgruppen. 17 Welches ebenfalls das mit Polen und Ukrainern sowie anderen Bevölkerungsgruppen gemischt besiedeltes Galizien in sein neues Staatsgebiet einverleiben wollte. 18 Im März 1923 wurde die polnische Ostgrenze – und damit die Zugehörigkeit Ostgaliziens zu Polen – auch international von den „Entente-Mächten“ anerkannt (Wehrhahn 2004: 13). 19 So war die Landwirtschaft zum Beispiel noch nicht vollständig kollektiviert. Es kam zudem zu einer Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur im Rahmen der Politik der „Einwurzelung“ („Korenizacija “). - 7 - Zentralregierung einer immer stärkeren wirtschaftlichen und politischen Kontrolle ausgesetzt . Im Rahmen der von Josef Stalin20 für die gesamte Sowjetunion angeordneten ökonomischen Modernisierung des Landes wurden auch in der Ukraine die Industrialisierung sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft gewaltsam vorangetrieben (Boeckh 2007: 20; Boeckh 2001: 363; Mark; Simon 2004: 6). Dabei wurde der „K ulak “, der „wohlhabende Bauer“ auf dem Dorf21, von der kommunistischen Führung unter Stalin im gesamten Land zum Feind erklärt. Hauptaufgabe der kollektivierten Landwirtschaft war es aus Sicht der Bolschewiken, die wachsende Arbeiterschaft in den neu entstehenden (Schwer-) Industriestandorten der Städte ausreichend mit Nahrung zu versorgen (Lüdemann 2006: 75; Boeckh 2007: 53). Mit der durch Gewalt und Zwang durchgeführten Enteignung der selbständigen ukrainischen Bauernschaft und der Kollektivierung der gesamten landwirtschaftlichen Produktion wurden die bisherige dörfliche Gemeinschaft sowie die Tradition des individuell bewirtschafteten Landbesitzes zerstört. Staatliche Großbetriebe in Form von Kolchosen und Sowchosen ersetzten die bisherigen Strukturen. Diese in relativ kurzer Zeit durchgeführte Agrarrevolution von oben führte unter anderem zu einer Schwächung der Produktivität im Agrarsektor und zur Schrumpfung der Anbaufläche insgesamt. Eine zentrale Folge war der Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. Durch ihre (Agrar-) Politik gefährdete die sowjetische Führung ihr eigenes Ziel, die Versorgung der wachsenden Industriearbeiterschaft in den Städten mit Nahrungsmitteln sicherzustellen (Schuller 2008; Boeckh 2007: 53; Mark; Simon 2004: 6; Simon 2008: 86). Der Rückgang der Ernterträge, hervorgerufen auch durch schlechte Wetterbedingungen bzw. eine Dürreperiode im Jahr 1931, veranlasste im Sommer 1932 die kommunistische Führung in Moskau dazu, den Bauern hohe Ablieferungsmengen an Getreide abzuverlangen , die diese jedoch faktisch nicht erbringen konnten. Die kommunistische Führung unterstellte daraufhin den Bauern ein absichtliches Fehlverhalten, wie zum Beispiel schlechte Arbeitsmoral sowie das Stehlen und Verstecken von geerntetem Getreide, und sie unterstellte, dass die Bauern auf dieser Weise gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft opponieren wollten (Simon 2008: 84). Nachdem die ukrainischen Betriebe die hohen Ablieferungsquoten beim Getreide nicht aufbringen konnten, erschienen staatlich angeordnete bewaffnete Requirierungskommandos, die den Bauern große Teile der Getreideernte entwendeten. So wurde im Sommer 1932 mehr als die Hälfte der Jahresernte 22 requiriert, was wiederum eine ausreichende Neuaussaat sowie die gleichzeiti- 20 Lebensdaten: 1878-1953; Geburtsname: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili; den Namen Stalin ("der Stählerne") nahm er 1912 an (Munzinger Archiv). 21 Faktisch alle selbständigen Bauer mit Privatbesitz, die sich der Enteignung und Kollektivierung widersetzten. 22 Die Planbehörde hatte die Abgabepflichten der Bauern von 34 % der Getreideernte im Jahr 1930 auf 52 % im Jahr 1932 erhöht (Schuller 2007). - 8 - ge Eigenversorgung der Bauern unmöglich machte (Simon 2008: 84; 86; Barth 2006: 142; Mark; Simon 2004: 5ff.). Im weiteren Verlauf der Getreidekrise wurden auf Anordnung von Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow23, zu dieser Zeit Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und damit Ministerpräsident der Sowjetunion sowie engster Gefährte Josef Stalins, so genannte Naturalienstrafen eingeführt. Bei jenen Bauern, die bei ihren Getreideablieferungen nicht das vorgegebene Soll erfüllten, wurden sämtliche Nahrungsmitteln konfisziert (Simon 2008: 86). Nachdem alle Nahrungsmittel aufgebraucht bzw. konfisziert worden waren, setzte in vielen ländlichen Regionen der Ukraine sowie in anderen Gebieten der Sowjetunion – unter anderem im Nordkaukasus sowie in den Regionen Mittlere und Untere Wolga – seit dem Spätherbst 1932 ein letztlich durch die politische Führung der Sowjetunion befördertes Massensterben der Bauern und ihrer Familienangehörigen durch Hungertod ein (Simon 2008: 84). Nach Ausbruch der Hungersnot leitete die Moskauer Führung unter Stalin keinerlei Hilfsmaßnahmen ein. Stattdessen ließen Stalin und Molotow durch eine Direktive vom Januar 1933 die Hungergebiete der Ukraine sowie andere Regionen der Sowjetunion - wie zum Beispiel den Nordkaukasus - durch Polizei und Militär abriegeln. Flüchtende Menschen, die in den Städten oder anderen Regionen der Sowjetunion Zuflucht gesucht hatten, wurden in ihre Dörfer mit Gewalt zurückgeschickt und ganze Gemeinden von der Außenwelt abgeriegelt. Des Weiteren wurden auch die Handelsläden für Lebensmittel in den betreffenden Regionen geschlossen, so dass Nahrungsmittel auch nicht mehr käuflich erworben werden konnten (Barth 2006: 143; Jahn 2004: 25; Lüdemann 2006: 75/76). Die Moskauer Führung leugnete im eigenen Land als auch gegenüber der Weltöffentlichkeit die Hungersituation in der Ukraine und anderen Regionen der UdSSR. Hilfsmaßnahmen aus dem Ausland unterband sie oder ließ sie umleiten. Trotz der Knappheit an Getreide verstärkte die Moskauer Führung die Lebensmittelknappheit noch, indem sie im Jahr 1933 noch ca. 1,7 Millionen Tonnen Getreide24 ins Ausland exportieren ließ und mit dem erzielten Erlösen Maschinen und Industrieausrüstungen kaufte (Lüdemann 2006: 75/76, Boeckh 2007: 54). Das lebensverachtende Vorgehen Stalins gegenüber der ukrainischen Bauernschaft wurde durch eine Säuberungs- und Terrorwelle gegen die ukrainische KP sowie die „Intelligenz“ dieser Sowjetrepublik begleitet (Mark; Simon 2004: 8; Lüdemann 2006: 75/76). Das große Hungersterben in der Ukraine endete mit der neuen Getreideernte im Spätsommer 1933. Offenbar um nicht die weitere Versorgung der Städte mit Getreide zu gefährden, unternahm die kommunistische Führung in 23 Lebensdaten: 1890-1986. 24 Dabei handelte es sich um eine deutlich geringere Menge als in den Vorjahren. Allerdings hätte die exportierte Getreidemenge nach Meinung vieler Historiker ausgereicht, die hungernde Bevölkerung zu ernähren. - 9 - Moskau eine Kehrwende in ihrer Politik gegenüber der Getreide produzierenden Bauernschaft . Sie reduzierte unter anderem die Mengenanforderungen bei den Getreidelieferungen , stellte einen Teil der Zwangsmaßnahmen ein und erlaubte den Bauern die Eigenversorgung von ihrem Gartenland (Mark; Simon 2004: 8). 3.2. Zahlen über die Hungersnot 1932/33 Wie viele Menschen der Hungersnot in der Ukraine und anderen Regionen der Sowjetunion in den Jahren 1932/33 zum Opfer fielen, lässt sich im Nachhinein nicht mehr exakt rekonstruieren. Es sind heute nur gesicherte Schätzungen möglich, da die Sowjetunion zum damaligen Zeitpunkt die Hungersnot nicht nur geleugnet, sondern auch die statistische Erfassung der Toten verhinderte hatte. Zudem hatte sie bis Ende der 1980er Jahre die öffentliche Diskussion über den Hungertod tabuisiert (Mark; Simon 2004: 9). Aktuelle Schätzungen von Seiten der Geschichtswissenschaft gehen mehrheitlich davon aus, dass ca. fünf bis sieben Millionen Menschen in der Sowjetunion insgesamt Opfer der Hungersnot in den Jahren 1932/33 wurden (Jilge 2007: 24). Im Fall der Ukraine wird in der Regel von einer Opferzahl zwischen drei und 3,5 Millionen ausgegangen25, wobei darunter insbesondere jene Gebiete gezählt werden, die heute zum Staatsgebiet der Ukraine gehören. Schätzungsweise wurden ca. 10 % der damaligen Bevölkerung der Ukraine Opfer der Hungersnot, wobei die einzelnen Regionen der Ukraine zahlenmäßig unterschiedlich betroffen waren. 26 Schwerpunkte der Hungersnot waren die Getreide produzierenden ländlichen Regionen. Das Massensterben in Folge des Hungers fand nicht in den Städten, sondern fast ausschließlich in den Dörfern statt. Schätzungen zufolge handelte sich bei ca. 80 % der Verhungerten in der Ukraine ethnisch um Ukrainer (Jilge 2007: 24; Simon 2008: 83/84; Mark; Simon 2004: 9/10; von Werdt 2005; Boeckh 2007: 54). 3.3. Interpretation der Hungersnot 1932/33 Die Bewertung und Interpretation der Hungersnot in der Ukraine 1932/33 ist in der Wissenschaft uneinheitlich. Ukrainische Historiker haben für dieses zentrale Ereignis in der jüngeren ukrainischen Geschichte, bei denen mehrere Millionen Menschen ums Leben kamen, den ukrainischen Begriff des „Holodomor“ geprägt. Das Wort „Holodomor “ fügt sich aus „Holod“ für Hunger und „Mor“ für Seuche oder Massenmord zusammen (Schuller 2008). Dieser Begriff findet seit mehreren Jahren auch in anderen Ländern zunehmend Verwendung (Barth 2006: 136). 25 Es gibt auch Schätzungen, die sowohl die Opferzahl in der Ukraine als auch in der gesamten Sowjetunion deutlich höher beziffern. 26 Insbesondere die Zentral- und Ostukraine. - 10 - Die Forschungskontroverse über den „Holodomor“, die insgesamt wissenschaftlich noch nicht entschieden ist, ist in einigen Sachfragen offenbar weitgehend beendet. So besteht überwiegend Übereinstimmung darüber, dass der Hungersnot 1932/33 mehrere Millionen Menschen in der damaligen Sowjetunion zum Opfer fielen und die Ukraine dabei besonders stark betroffen war. Weitgehender Konsens besteht auch darüber, dass die Hungernot nicht in erster Linie klimatische Ursachen hatte oder auf eine schlechte Ernte zurückzuführen war, sondern durch die damalige Politik der sowjetischen Führung unter Stalin hervorgerufen wurde. Insbesondere die gewaltsame staatliche Getreiderequisition entzog den Bauern das zur Selbstversorgung notwendige Getreide und führte in die Hungerkatastrophe. Offenbar hatte die sowjetische kommunistische Führung zur Durchsetzung ihrer politischen Vorstellungen, insbesondere in der Frage der Kollektivierung27, auch vor dem massenhaften Tod von Menschen nicht zurückgeschreckt (Mark; Simon 2004: 5; Jilge 2007: 24). Nach wie vor kontrovers wird in der Wissenschaft diskutiert, welche Motive und welche Ziele die damalige sowjetische Führung mit ihrer Politik in der Hungerkrise verfolgt habe. Dahinter verbirgt sich insbesondere die Frage, ob ein stalinistisches Verbrechen wie die Hungersnot 1932/33 als Genozid eingestuft werden kann oder nicht. Während in der ukrainischen Forschung die Genozid-These – als Genozid am ukrainischen Volk – vorwiegend befürwortet wird, ist das Meinungsbild sowohl in der deutschen als auch in der internationalen Forschung uneinheitlich (Mark; Simon 2004: 5; 10; Simon 2008: 89; Barth 2006: 7; Jilge 2007: 24). Die „Konvention der Vereinten Nationen über die Vorbeugung und die Bestrafung des Verbrechens des Völkermords“ vom 9. Dezember 1948 spricht unter anderem vom Völkermord, „wenn jemand in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, Mitglieder dieser Gruppe tötet“ oder ihnen nach den Kriterien der Völkermordkonvention schweren Schaden zufügt (Jahn 2004: 22). Befürworter der Genozid-Theorie zählen das Ereignis in der Sowjetunion 1932/33 zu „einer der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhundert“ (Simon 2008: 83), bezeichnen es als „einer der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts “ (Jahn 2004: 27) oder sehen in ihm einen „integralen Bestandteil des Jahrhunderts der Massenvernichtung“28 (Sapper; Weichsel; Gebert 2004: 3). Die Anhänger der Genozid -Theorie gehen unter anderem davon aus, dass Stalin die in seinen Augen unzureichende Getreideaufbringung Anfang der 1930er Jahre als bewussten Widerstand gegen seine Politik und sein Regime interpretiert habe. Sie habe nach Stalins Einschätzung die 27 Wobei die Kollektivierung vor Beginn der Hungerkrise 1932/1933 überwiegend abgeschlossen war und die ehemals freien Bauern zudem Zeitpunkt in Kolchosen tätig waren. In den nicht-russischen Gebieten war der Widerstand gegen die Kollektivierung größer als im russischen Kernland der Sowjetunion (Boeckh 2007: 328). 28 20. Jahrhundert. - 11 - Loyalitätskrise in der Ukraine offensichtlich werden lassen. Der „Terror durch Hunger“ durch die politische Führung der Sowjetunion gegen die Ukraine sei beabsichtigt gewesen und bewusst einsetzt worden, um Menschen zu ermorden. Es habe sich um ein systematisch geplantes und organisiertes Verhungernlassen gehandelt. Der „Hungerterror“ gegen die Ukraine zielte demnach im Rahmen der Stalinschen Nationalitätenpolitik darauf ab, einen vollständigen oder zumindest teilweisen Genozid an den - national gesinnten – Ukrainern, die in der Bauernschaft ihre größte Basis besessen hätten, herbeizuführen und damit alle möglichen Bestrebungen in der Ukraine nach mehr Autonomie oder Unabhängigkeit für immer zu beenden und die Basis für eine mögliche nationale Bewegung zu zerstören (Jahn 2004: 14; 27/28; Boeckh 2007: 54; Barth 2006: 137; Jahn 2004: 26, Simon 2008: 89; Mark; Simon 2004: 11). In diesen Kontext gehörten auch die fast zeitgleich durchgeführten Säuberungen gegen die nationale ukrainische Intelligenz sowie die kommunistische Führung im Land (Simon 2008: 87). Andere Befürworter der Genozid-Theorie sehen in der staatlich forcierten Hungersnot 1932/33 nicht in erster Linie einen Genozid am ukrainischen Volk, sondern einen Genozid an den Bauern in der Sowjetunion. Sie verweisen darauf, dass aus politischen Motiven das vormals selbstständige Bauerntum, welches enteignet und in Kolchosen gezwungen worden war, einem systematischen Nahrungsentzug ausgesetzt worden sei, um es wegen seiner nach wie vor ablehnenden Haltung gegenüber der von der Moskauer Zentrale angeordneten Kollektivierung zu disziplinieren und gefügig zu machen. Dabei wären die ukrainisch besiedelten fruchtbaren Schwarzerdegebiete der Sowjetunion mit ihrem vergleichsweise hohen Anteil an ehemals selbständigen bäuerlichen Existenzen besonders betroffen gewesen (Barth 2006: 142; Simon 2008: 85; Mark; Simon 2004: 6; Barth 2006: 144). Den Anhängern der Genozid-Theorie wird auf Basis auch neuer Forschungen entgegengehalten , dass die Politik der Bolschewiki widersprüchlicher gewesen sei, als es Interpretationsansätze nahe legten, die ausschließlich von nationalen oder politischen Faktoren im Zusammenhang mit der Hungersnot 1932/33 ausgingen (Jilge 2007: 249). Das Verhalten der sowjetischen Führung beim Hungertod 1932/33 in der Ukraine wird von den Gegnern der Genozid-Theorie durchaus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Sie verweisen aber darauf, dass von der sowjetischen Führung offenbar nicht das Ziel angestrebt worden wäre, das gesamte ukrainische Volk oder die gesamte ukrainische Bauernschaft zu ermorden (Barth 2006: 137; Jahn 2004: 27/28).29 So seien die ukrainischen Städte sowie die in ihnen beschäftigte Industriearbeiterschaft nicht Ziel der Hungermorde gewesen (Barth 2006: 144). Kritiker der Genozid-Theorie verweisen zudem auch darauf, das die ukrainische kommunistische Parteiorganisationen sowie die 29 So spricht Egbert Pohl (2004) deshalb von einem „dezimatorischen Massen- und Völkermord“. - 12 - ukrainischen Sicherheitskräfte sich aktiv an den von der Moskauer Führung angeordneten Maßnahmen gegen die Bauernschaft beteiligt und die verbrecherischen Befehle ausgeführt hätten und schon deshalb von einem Genozid am ukrainischen Volk nicht gesprochen werden könne.30 Ferner spreche gegen einen Genozid an den Ukrainern, dass es sich bei der Hungersnot 1932/33 um ein gesamtsowjetisches Phänomenen gehandelt habe und rund die Hälfte der Opfer außerhalb der Ukraine zu beklagen gewesen seien. Dazu gehörten unter anderem auch außerukrainische Gebiete, etwa solche in Kuban, im Nordkaukasus und im Ural31 (Boeckh 2007: 54). Es wird auch darauf verwiesen, dass rund 20 % der Hungeropfer der Bauernschaft in der Ukraine anderen Ethnien angehörten und damit nicht ausschließlich ethnische Ukrainer Opfer des „Holodomor“ gewesen seien. Zudem weisen Kritiker der Genozid-Theorie auch darauf hin, dass der „Holodomor “ und die hinter ihm stehende Theorie des Genozids verstärkt seit der staatlichen Unabhängigkeit des Landes eine wichtige Funktion für die Konstruktion der nationalen ukrainischen Identität spiele. So sei die Deutung der Hungersnot als Genozid auch Teil der Bestrebung, „durch eine als einzigartig gedeutete totalitäre Erfahrung die Nation als besondere Opfer- und Erinnerungsgemeinschaft zu konstituieren und ihre Einheit historisch zu legitimieren“ (Jilge 2007: 30). Mit der Klassifizierung als Genozid grenzten sich die ukrainischen Befürworter der Völkermordthese auch bewusst von der kommunistischen Vergangenheit bzw. der von den Russen dominierten Sowjetunion ab (Barth 2006: 137; Boeckh 2007: 54/55; Sapper, Weichsel, Gebert, 2004: 3; Simon 2008: 83). So entwickelte sich der „Holodomor“ zum Beispiel zu einem Kernelement des antisowjetischen Geschichtsbildes der ukrainischen Nationalbewegung „Ruch“, die „das ukrainische Dorf“ als „Hort des nationalen Gedächtnisses“ als von der sowjetischen Führung brutal unterdrückt darzustellen suche (Jilge 2007: 24). Andere Betrachter verweisen wiederum darauf, dass es auch in Zukunft unwahrscheinlich sei, dass sich die Genozidthese eindeutig mit historischen Dokumenten belegen ließe (Schmidt 2008). 3.4. Die aktuelle Bewertung der Hungersnot 1932/33 durch die ukrainische Politik Der seit 2005 regierende ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko setzt in seiner Politik auch verstärkt nationale Akzente, zu deren Schwerpunktsetzungen die Auseinandersetzung mit der totalitären sowjetischen Vergangenheit gehört. Im Zentrum der staatlichen Förderung steht das Gedenken an die Opfer des „Holodomor“ in der Ukraine 1932/33. Dabei wird der „Holodomor“ der Jahre 1932/1933 offiziell als „Genozid am 30 In diesem Zusammenhang sprach der ukrainische Botschafter in der BR Deutschland in seinem Schreiben an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bezüglich der mitwirkenden Ukrainer von „gekauften bedürftigen Ukrainern“. 31 In diesem Zusammenhang verweisen die Anhänger der Genozidthese darauf, dass in einigen anderen Regionen der Hungersnot 1932/33 innerhalb der Sowjetunion ebenfalls viele Ukrainer gesiedelt hätten, wie zum Beispiel im Kuban. - 13 - ukrainischen Volk“ bezeichnet und seine Leugnung als widerrechtlich eingestuft. Ein entsprechendes von Präsident Juschtschenko vorgelegtes Gesetz „Über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932-1933“ hatte das ukrainische Parlament am 28. November 2006 mit Unterstützung der Parteien der „Orangen Revolution“ verabschiedet (Jilge 2007: 26; Sawyzkyj 2006). Die Erinnerung an den „Holodomor“ wird in der Ukraine seit einigen Jahren durch den am vierten Samstag im November begangenen offiziellen „Tag des Gedenkens an die Opfer des Holodomor und der politischen Repressionen “ wach gehalten (Jilge 2007: 25). Am 75. Jahrestag der Hungerkatastrophe im November 2007 bezeichnete Präsident Juschtschenko auf einer Gedenkveranstaltung in Kiew die Hungersnot als einen Völkermord bzw. als „bewussten, geplanten und umgesetzten Versuch, eine ganze Nation zu unterwerfen“ (Basler Zeitung 2007). Zudem stellte er die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Kommunismus auf eine gemeinsame Stufe: „Die Verbrechen des Bolschewismus und des Kommunismus sind mit denen der Nazis identisch“ (Basler Ze itung 2007). 3.5. Die Frage der internationalen Anerkennung des „Holodomor“ als Genozid Die Bejahung der Genozidthese in der Ukraine findet auch darin ihren Ausdruck, dass die Ukraine verstärkt in jüngster Zeit diplomatische Bemühungen um die internationale Anerkennung des „Holodomor“ als Genozid unternimmt (Jilge 2007: 26). In diesem Zusammenhang haben sich auch bisher verschiedene nationale Parlamente in der Welt – insbesondere aus Nord- und Südamerika sowie aus Europa32 – der ukrainischen Interpretation des „Holodomor“ als Genozid angeschlossen. In diesem Zusammenhang ist Ende der 1980er Jahre eine Kommission im Umfeld des US-Parlamentes zu dem Ergebnis gekommen, dass der Hunger als Akt eines Genozids absichtlich gegen die Ukrainer herbeigeführt worden sei (Boeckh 2007: 54/55). In einer Resolution vom 20. Oktober 2003 nahm das Repräsentantenhaus der USA eine Resolution an, in der das Ereignis als “Terrorakt und Massentötung, gerichtet gegen das ukrainische Volk” bezeichnet wurde. Seit dem Jahr 2003 bemüht sich die ukrainische Diplomatie auch darum, den „Holodomor“ als Genozid am ukrainischen Volk durch die UN-Vollversammlung anerkennen zu lassen (Sawyzkyj 2006). Bisher wurde auf der Ebene der Vereinten Nationen der „Holodomor“ aber nicht als Genozid anerkannt. Im Herbst 2003 verabschiedete die 58. Vollversammlung der Vereinten Nationen zum 70-jährigen Gedenken an die Hungersnot 1932/33 eine Resolution, in der das Hungersterben als „nationale Tragödie des ukrainischen Volkes“ bezeichnet wurde (Deutsch-Ukrainische Gesellschaft – Rhein- Neckar e.V. 2007). Auch die Generalkonferenz der UNESCO war auf ihrer Tagung im November 2008 dem Anliegen, den „Holodomor“ im Rahmen einer Resolution als Ge- 32 Winfried Jilge spricht (Stand: Anfang 2007) von zehn nationalen Parlamenten. Der ukrainische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland führt (Stand: Anfang 2008) 13 Parlamente auf: USA, Kanada, Argentinien, Paraguay, Ecuador, Spanien, Estland, Polen, Ungern, Litauen, Tschechien , Georgien und Australien. - 14 - nozid am ukrainischen Volk anzuerkennen, nicht nachgekommen. Nach Ansicht des Wissenschaftlers Egbert Jahn hätte die internationale Anerkennung des „Holodomor“ als Genozid weltweit weitreichende Folgen. Sie würde seiner Ansicht nach einen Präzedenzfall für zahlreiche andere Völker, in deren Geschichte ein Massenmord an der Bevölkerung stattfand, schaffen. Zudem zöge dies enorme juristische Forderungen nach Entschädigung nach sich und hätte auch „andere unvorhersehbare Folgen“ (Deutsch- Ukrainische Gesellschaft – Rhein-Neckar e.V. 2007). In Deutschland hat sich in diesem Zusammenhang der Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland zu Jahresbeginn 2008 in einem Schreiben - dem eine Film- DVD des ukrainischen Regisseurs Oleh Jantschuk mit dem Titel „Hunger33“ („Holod- 33“) beilag - an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zum Thema „Holodomor “ gewandt und um Unterstützung gebeten. Von Seiten der russischen Politik wird die Einordnung des „Holodomor“ als Völkermord nach ethnischen und nationalen Kriterien abgelehnt. Im Frühjahr 2008 nahm die Duma eine Erklärung an, in der die Ukraine als eines von mehreren Opfern der Hungerkrise genannt wurde. Die Frage, ob die Hungerkrise von 1932/1933 ein Völkermord des Kreml am ukrainischen Volk gewesen sei, die von Kiew bejaht und von Moskau abgelehnt wird, belastet auch die derzeitigen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine (Zekri 2008). Dabei wird von russischer Seite die von der Ukraine national und international verfolgte Anerkennung der Genozidthese auch als „antirussische Schuldzuweisung“ bezeichnet (Jilge 2007: 27). Allerdings gibt es in der russischen Wissenschaft Stimmen, die die Hungerkrise 1932/33 als einen an Ukrainern und Russen verübten Völkermord werten (Deutsch- Ukrainische Gesellschaft – Rhein-Neckar e.V. 2007). 4. Die (Re-) Sowjetisierung der Ukraine nach Ende des Zweiten Weltkrieges 4.1. Die Entwicklung der Ukraine von 1939 bis Juni 1941 Im Zusammenhang mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 und dem zuvor – am 23. August 1939 – abgeschlossenen „Hitler-Stalin- Pakt“ (eigentlich: „deutsch-sowjetischer Nichtangriffs-Vertrag“33) über die territoriale Aufteilung Polens, besetzten sowjetische Truppen am 17. September 1939 Ostpolen34. Dieses zuvor zu Polen gehörende Gebiet (Ost-Galizien), welches heute den größten Teil der Westukraine ausmacht, schlug die Führung der UdSSR der Ukrainischen SSR zu (Boeckh 2007: 20). Diese „Westausdehnung des Stalinismus“ führte zur Etablierung der 33 Der auf 10 Jahre abgeschlossene Vertrag enthielt neben dem offiziellen Vertragstext auch ein geheimes Zusatzprotokoll, welches die Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion regelte. Auch die baltischen Staaten, Bessarabien und Finnland wurden den jeweiligen Interessensphären der Vertragspartner zugeteilt (Deutsches Historisches Museum 2008). 34 1940 kamen noch Bessarabien und die Nordbukowina hinzu. - 15 - sowjetischen Herrschaft in der bis dahin nicht kommunistischen Westukraine, jener Region also, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erfolglos gegen Polen versucht hatte, eine eigenständige „Westukrainische Volksrepublik“ zu etablieren.35 Hierzu gehörte die Auflösung sämtlicher alten Institutionen, die Verstaatlichung der gewerblichen Wirtschaft, der Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft sowie damit zusammenhängend die stalinistische Terrorisierung politisch missliebiger Bevölkerungsgruppen, in deren Ergebnis nicht nur mehrere Hunderttausende Personen verhaftet, deportiert, zu Gefängnisstrafen verurteilt oder in Gulags eingewiesen worden waren, sondern es auch zu Erschießungen kam, die schließlich in den Massenmorden der Einheiten des Innenministeriums der UdSSR - dem „NKWD36“ („Narodny Kommissariat Wnutrennich Djel“)37 - im Juni 1941 kumulierten (Pohl 2001a: 341; Pohl 2001b: 1). 4.2. Die Entwicklung der Ukraine seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gerieten dieses Gebiet sowie der größte Teil SSR innerhalb weniger Monate in das Herrschaftsgebiet des nationalsozialistischen Deutschlands. Während der deutschen Besatzungszeit 1941 bis 1944 war die Ukraine Schauplatz von Massenmorden größten Ausmaßes insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung. Zur rücksichtlosen nationalsozialistischen Unterdrückungs - und Ausbeutungspolitik gegenüber der Ukraine gehörte auch die Rekrutierung und Massendeportation von ca. 2,3 Millionen „Ostarbeitern“ aus der Ukraine sowie das bewusst herbeigeführte Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener (Pohl 2001a: 343; 348/349; Boeckh 2007: 20). Infolge der deutschen Terrorherrschaft kam es seit Herbst 1942 in der Ukraine – insbesondere in der Region Wolhynien – zur Etablierung einer breit gefächerten Partisanenbewegung. Hierzu gehörten neben der von der Roten Armee unterstützten sowjetisch orientierten Partisanenbewegung auch bewaffnete Verbände der im Frühjahr 1943 aufgestellten „Ukrainischen Aufstandsarmee“ („Ukraiska Povstanska Armija“: UPA), der militärischen Arm der politischen Bewegung „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ („Orhanizacija Ukrajins’kych Nacionalistiv “: OUN38), welche ein unabhängige und nicht sowjetische Ukraine forderte (Boeckh 2007: 64). Die UPA, deren Stärke Ende 1943 nach Schätzungen zwischen 35 In dieser Region stellten die Polen (40 %), Ukrainer (34 %), Weißrussen und Juden (je 8,5 %) die größten Bevölkerungsgruppen. 36 Ab 1946 umbenannt in „MVD“ (Boeckh 2007: 183). 37 „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“. 38 Die 1929 gegründete Organisation blieb bis Ende der 1930er Jahre die stärkste nationalistische ukrainische Organisation in der Westukraine, die totalitäre Elemente enthielt. Ziel war die Durchsetzung einen eigenständigen ukrainischen Nationalstaates mittels einer „nationalen Revolution“. Sie hatte bereits zu polnischer Zeit im Untergrund einen ukrainischen Staat mit Waffengewalt zu erreichen versucht. In den Jahren 1940/41 spaltete sich die OUN in verschiedene Fraktionen (Boeckh 2007: 329; 331). - 16 - 40.000 und bis zu 100.000 Personen betrug und die sich besonders aus ukrainischen Polizisten rekrutierte, kämpfte unter ihrem Oberbefehlshaber Roman Schuchewytsch39 mit Hilfe von Guerilla-Taktiken in einem „Zweifrontenkrieg“ sowohl gegen die deutschen Besatzer als auch gegen die Sowjetpartisanen für einen unabhängigen ukrainischen Staat (Gnauck 2007; Boeckh 2007: 334). Dabei kam es in einigen Phasen der deutschen Besatzungszeit zu einer partiellen Zusammenarbeit. Dazu gehörten zum Beispiel Waffenlieferungen der Deutschen an die UPA im März 1944. Zudem sollen einige regionale Einheiten der UPA ab 1943 insbesondere in der Westukraine - in Wolhynien und Teilen Ostgaliziens - gegen Polen und Juden gerichtete ethnische Säuberungen verfolgt haben, bei denen Schätzungen zufolge bis zu 100.000 Menschen umgekommen sein sollen40 (Hirsch 2007; Pohl 2001a 351; 356; Lüdemann 2006: 76). In der heutigen Ukraine wird von politischer Seite eine „Rehabilitierung“ der UPA und ihrer Angehörigen gefordert. In diesem Zusammenhang hat der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko im Rahmen eines Dekrets im Jahr 2006 angeregt, die noch lebenden Veteranen der UPA mit den ehemaligen Angehörigen der Roten Armee moralisch und materiell – insbesondere im Rentenrecht – gleichzustellen (Gnauck 2006; Urban 2006). 4.3. Die Entwicklung der Ukraine seit der Rückeroberung durch die Rote Armee 1943/44 Nach Abschluss der von März 1943 bis Oktober 1944 dauernden Rückeroberung der Ukraine kam es zum abermaligen Aufbau des sowjetischen Systems – der Umwandlung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens nach dem Vorgaben der kommunistischen Partei – im Land. (Boeckh 2001: 330; 367). Dagegen wehrte sich die seit 1943 insbesondere in der Westukraine im Partisanenkampf befindliche UPA, die ihren im Untergrund geführten militärischen Widerstandskampf gegen die neuerliche sowjetische Besatzung fortsetzte. Der Höhepunkt ihres Wirkens erreichte sie Ende 1943 und mit Beginn des Jahres 1944. Die Auseinandersetzung zwischen der UPA auf der einen Seite und Einheiten der Roten Armee41 sowie Sondertruppen des NKWD und des Ministeriums für Staatssicherheit (NKGB; ab 1946 MGB) auf der anderen Seite wurde mit großer Brutalität von allen Beteiligten geführt. Sie dauerte bis Anfang der 1950er an und endete mit einer Niederlage der UPA. Allerdings hatte bereits Ende der 1940er Jahre die Aufstandsarmee erhebliche Rückschläge hinnehmen müssen. Letztere war zu schwach ausgerüstet und zu gering organisiert, so dass sie gegen die Übermacht der sowjetischen Armee letztendlich keine Chance besaß. Über 50.000 Partisanen der UPA gelang zwischen 1945 und 1948 die Flucht über die Slowakei und Polen nach Deutschland oder Österreich (Boeckh 2001: 368; Boeckh 2007: 336 u. 361; Pohl 2001a: 356; 39 Lebensdaten: 1907-1950. 40 Bei Vergeltungsaktionen der Polen sollen bis zu 20.000 Ukrainer umgekommen sein (Hirsch 2005). 41 Sie wurden ab 1946 nicht mehr direkt gegen die UPA eingesetzt (Boeckh 2007: 340). - 17 - Lüdemann 2006: 79) Allerdings hatte es in der Geschichte der Sowjetunion einen vergleichbaren militant geführten und über mehrere Jahre andauernder Widerstand gegen die Staatsmacht in dieser Form kein zweites Mal gegeben (Boeckh 2007: 23; 97; Pohl 2001a: 356). Die UPA fand in der Bevölkerung durchaus Unterstützung. Allerdings hob sie auch gewaltsam Soldaten und Lebensmittel aus. Nach der erfolgreichen Zurückdrängung der deutschen Truppen setzte in der Ukraine eine stalinistische Repressionswelle ein, welche größere Bevölkerungsgruppen durch Verhaftungen, Gefängnisstrafen, Deportationen, Verbannungen und langjährige Zwangsarbeit in Straflagern erfassten. Dabei sollte die Gesellschaft aus Sicht der kommunistischen Staatsführung von allen Gegnern und potentiell feindlichen Elementen mit Hilfe von Filtrations- und Überprüfungsverfahren „gesäubert“ werden (Boeckh 2001: 374; Boeckh 2007: 97). Da die Ukraine während des Zweiten Weltkrieges unter NS-Okkupation gestanden hatte, bedeutete dies in stalinistischer Logik Landesverrat (Boeckh 2007: 293). Zu den Betroffenen, die eine kritische Überprüfung des Staatsmacht und deren Sicherheitsorgane über sich ergehen lassen mussten, zählten unter anderem ukrainische Kriegsgefangene sowie Ukrainer, die zur Zwangsarbeit als „Ostarbeiter“ nach Deutschland deportiert worden waren42 und nach dem Krieg aus dem Westen im Rahmen von Repatriierungen zurückgeführt worden waren.43 Sie wurden vom Sowjetregime, da sie „dem Feind in den Hände gefallen waren“, grundsätzlich als „Kollaborateure“ betrachtet und in Filtrationslagern verhört (Boeckh 2007: 300/301). Schätzungen gehen davon aus, dass sich zeitweise alleine rund 500.000 Menschen aus der Ukraine in sowjetischen Straflagern befunden hätten (Boeckh 2001: 367/368). Zu den aus Sicht der Sowjetmacht tatsächlichen oder potentiellen Gegnern gehörten grundsätzlich auch jene Personen, die während der nationalsozialistischen Besatzungszeit Ämter und Funktionen innegehabt hatten, wie zum Beispiel Hilfspolizisten oder Kommunalvorsteher. Auch kommunistische Parteimitglieder, die ohne Erlaubnis der Partei auf besetztem Gebiet zurückgeblieben waren, gerieten wie die anderen Gruppen unter den Verdacht der Kollaboration (Pohl 2001a: 358). Eine weitere Personengruppe, die generell überprüft wurde, waren die ukrainischen Angehörigen deutscher Militärverbände während des Zweiten Weltkrieges . Staatlicher Gewalt ausgesetzt waren auch die Mitglieder von OUN und UPA und deren Familien, in denen die sowjetische Führung den realen und möglichen Träger nationalukrainischer Bestrebungen sah. Zu der Gruppe, die ebenfalls massiven Repressionen ausgesetzt war, gehörten auch die Kirchenrepräsentanten der Unierten Kirche44 42 Die Ukraine stellte mit ca. einem Drittel die meisten Zwangsarbeiter im nationalsozialistischen Deutschland (Boeckh 2007: 296). 43 Alleine zwischen Mai und Oktober 1934 wurden über zwei Millionen Personen alleine aus den drei westlichen Besatzungszonen zurückgeführt (Boeckh 2007: 296). 44 Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche ist eine seit Ende des 16. Jahrhunderts mit Rom unierte Kirche des byzantinischen Ritus. Die unierte Geistlichkeit hatte als westukrainische „Nationalkirche “ nach dem Ersten Weltkrieg die Westukrainische Volksrepublik unterstützt. - 18 - in der Ukraine. Letztere war in der Westukraine ein Pfeiler der ukrainischen Nationa lbewegung , wo sie mit der ukrainischen bäuerlichen Welt eng verzahnt war. Nach 1945 wurde sie von der sowjetischen Staatsmacht mit der orthodoxen Kirche zwangsvereinigt und ihre Bischöfe nach Sibirien verbannt (Boeckh 2001: 368: 374) Aus einer internen Zusammenstellung von Lawrentij Pawlowitsch Berija45, die er nach dem Tod von Stalin verfasste, geht im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung des sowjetischen Staates mit dem militärischen Widerstand der UPA hervor, dass in der Westukraine im Zeitraum von 1944 bis 1953 insgesamt fast 500.000 Personen verhaftet, getötet und deportiert worden waren. Von ihnen wurden ca. 134.000 Personen verhaftet, von denen über 109.000 Personen zu Lager- und Gefängnishaft verurteilt46, ca. 153.000 Personen als „Mitglieder von Spionage- und Terrorgruppen des nationalistischen Untergrunds “ getötet und fast 204.000 Personen aus der Ukrainischen Sowjetrepublik als „Banden-Helfer“ deportiert wurden (Boeckh 2007: 366/367). Der staatlichen Gewaltwelle in der Sowjetukraine nach dem Krieg waren auch die ethnischen Minderheiten – Tschechen, Polen, Juden und Rumänen – an den neuen Landesgrenzen im Westen der sowjetischen Ukraine ausgesetzt. Sie wurden zur Übersiedlung auf das Staatsgebiet ihrer Konnationalen gezwungen (Boeckh 2007: 542). Ingesamt fielen in der Ukraine der Massen-Repression, die zur Beschleunigung der Sowjetisierung und Resowjetisierung des Landes durchgeführt wurde und die bereits 1943/44 begonnen hatte, Schätzungen zufolge mehrere Hunderttausende Menschen zum Opfer. Dazu zählen unter anderem die Todesfälle in den Gulags und Gefängnissen, während der Deportation und Verbannung sowie die Massenerschießungen von Seiten des NKWD (Boeckh 2007: 542; Pohl 2001a: 361) In diesem Zusammenhang war von Ende der 1930 bis Ende der 1940er Jahre47 der spätere sowjetische Staatschef Nikita (Sergejewitsch) Chruschtschow48 Erster Sekretär der ukrainischen Parteiorganisation der KP. In dieser Zeit setzte er die stalinistischen Direktiven der Moskauer Zentrale ohne Widerstände um. (Boeckh 2001: 367; Boeckh 2007: 21; 88; Pohl 2001a: 358). 5. Zusammenfassung Die Ukraine erlangte im Jahr 1991 im Rahmen des Zerfalls der Sowjetunion erstmals in ihrer Geschichte ihre vollständige Unabhängigkeit (Boeckh 2007: 49; Munzinger Archiv 2008). Seit der Erringung der eigenen Staatlichkeit findet in der Ukraine auch eine 45 Lebensdaten: 1899-1953. NKWD-Chef 1938 bis 1950. 46 Sie wurden unter der Anschuldigung verhaftet, dem „antisowjetischen nationalistischen Untergrund“ anzugehören. Sie wurden ferner unter der Anschuldigung der „Spionage, der Diversion, der Schädlingstätigkeit , terroristischer Absichten, antisowjetischer Agitation, der Hilfe und Teilnahme bei Strafhandlungen der deutsch-faschistischen Okkupanten in der Westukraine“ verhaftet (Boeckh 367). 47 1938 bis 1949. 48 Lebensdaten: 1894-1971. - 19 - Rückbesinnung auf prägende Ereignisse der eigenen Geschichte statt. Dazu zählen zum Beispiel die Hungersnot der Jahre 1932/33 („Holodomor“) sowie die Restalinisierung Mitte der 1940er Jahre in der Ukraine, die beide zu Zeiten der Sowjetunion nicht thematisiert werden durften. Die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion Ende der 1920er-Jahre/Anfang der 1930er Jahre führte unter anderem durch eine sinkende Produktivität und die Reduzierung von Anbauflächen zur Verringerung der Ernteerträge. Insbesondere seit dem Sommer 1932 belegte die kommunistische Führung in Moskau die landwirtschaftlichen Betriebe mit nicht erfüllbaren hohen Ablieferungsmengen beim Getreide. Das Unterschreiten der Ablieferungsquote nahm Stalin zum Anlass, durch bewaffnete Requirierungskommandos den in Kolchosen organisierten Bauern mehr als die Hälfte ihrer Jahresernte49 wegnehmen zu lassen, so dass diesen die Grundlage ihres Wirtschaftens sowie ihre Nahrungsgrundlage entzogen wurde. Im weiteren Verlauf verschärfte Moskau sein Vorgehen gegen die Bauernschaft, in dem es bei zu geringen Getreidelieferungen sämtliche Nahrungsmittel konfiszieren ließ. Durch diese Politik setzte in vielen Getreide produzierenden ländlichen Regionen der Sowjetunion – mit dem Schwerpunkt der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Ukraine – ein letztlich durch die politische Führung der Sowjetunion verursachtes Massensterben der Bauern und ihrer Familienangehörigen durch Hungertod ein (Simon 2008: 84). Die Hungergebiete wurden zudem militärisch oder polizeilich abgeriegelt, fliehende Hungernde in ihre Heimatdörfer zurückgeschickt, die Handelsläden für Lebensmittel geschlossen, die Hungersituation gegenüber der Öffentlichkeit geleugnet und Hilfsmaßnahmen aus dem Ausland unterbunden. Das Hungersterben endete erst mit der neuen Getreideernte im Spätsommer 1933, nachdem zuvor die Anforderungen bei den Getreidelieferungen – offenbar aus Angst vor einer drohenden Mangelversorgung der Industriearbeiterschaft in den Städten – von der Staatsführung reduziert worden waren. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. fünf bis sieben Millionen Menschen in der Sowjetunion – davon alleine zwischen drei und 3,5 Millionen in der Ukraine – insgesamt Opfer der staatlich verursachten Hungersnot in den Jahren 1932/33 wurden (Jilge 2007: 24). Über die Deutung der Hungernot in der Sowjetunion 1932/33 – die ihren regionalen Schwerpunkt in der Ukraine hatte – besteht eine Forschungskontroverse, die wissenschaftlich noch nicht entschieden ist. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob die Hungerkrise von 1932/33 als ein gegen das ukrainische Volk gerichteter Genozid eingestuft werden kann oder nicht. Während die ukrainische Forschung von einem derartigen Genozid mehrheitlich ausgeht, ist das Meinungsbildung in der deutschen wie auch in der internationalen Forschung nicht einheitlich (Mark; Simon 2004: 5; 10; Simon 2008: 89; 49 Die Planbehörde hatte die Abgabepflichten der Bauern von 34 % der Getreideernte im Jahr 1930 auf 52 % im Jahr 1932 erhöht (Schuller 2007). - 20 - Barth 2006: 7; Jilge 2007: 24). Befürworter der Genozid-Theorie sind der Ansicht, dass es sich um ein systematisch geplantes und organisiertes Vorgehen der kommunistischen Führung unter Stalin gegen das ukrainische Volk gehandelt habe. Er habe darauf abgezielt , alle nationalen Bestrebungen in der Ukraine nach mehr Autonomie oder Unabhängigkeit zu zerstören. Ein anderer Teil der Wissenschaft geht stattdessen von einem versuchten Genozid gegen das vormals selbstständige Bauerntum aus, welches wegen seines Widerstandes gegen die Kollektivierung hätte diszipliniert werden sollten. In diesem Zusammenhang wären die ukrainisch besiedelten fruchtbaren Schwarzerdegebiete der Sowjetunion mit ihrem vergleichweise hohen Anteil an zwangskollektivierten ehemaligen selbständigen bäuerlichen Existenzen besonders betroffen gewesen (Barth 2006: 142; Simon 2008: 85; Simon 2004: 6; Barth 2006: 144). Dabei wird in der Regel aber einschränkend darauf verwiesen, dass offenbar von Seiten der sowjetischen Führung nicht das Ziel verfolgt worden sei, das gesamte ukrainische Volk oder die gesamte Bauernschaft in der Ukraine bzw. in der Sowjetunion durch Aushungerung zu ermorden . So sprechen einige Autoren zum Beispiel von einem „dezimatorischen Massenund Völkermord“. (Barth 2006: 137; Jahn 2004: 27/28). Bisher haben weltweit 13 Staaten sich der Position der Ukraine angeschlossen, dass es sich bei der Hungerkrise 1932/33 um einen Genozid am ukrainischen Volk gehandelt habe. Kritiker der Genozid-Theorie verweisen unter anderem darauf, dass sich Genozidthese nicht eindeutig mit historischen Dokumenten belegen lasse, es sich bei der Hungernot 1932/33 um ein gesamtsowjetisches Phänomenen gehandelt habe, bei dem rund die Hälfte der Opfer der Hungersnot 1932/33 außerhalb der Ukraine zu beklagen gewesen wären, in der Ukraine selber ca. 20 % der Opfer anderen Ethnien angehört hätten, die städtische Bevölkerung der Ukraine fast nicht betroffen gewesen wäre, die kommunistische Parteiorganisation in der Ukraine beteiligt gewesen wäre sowie die Requirierungskommandos mehrheitlich aus Ukrainern bestanden hätten (Boeckh 2007: 54: Barth 2006: 137; Boeckh 2007: 54/55; Sapper, Weichsel, Gebert, 2004: 3; Simon 2008: 83). Die im Jahr 1944 nach Rückzug der deutschen Besatzungstruppen einsetzende Sowjetisierung und Resowjetisierung der Ukraine – das gilt insbesondere für die westliche Ukraine , die erst 1939 von der Sowjetunion im Rahmen des „Hitler-Stalin Paktes“ von Polen annektiert worden war – war mit einer umfangreichen Repressionswelle verbunden . Alle Ukrainer, die Kontakt mit den Deutschen hatten, wurden von Seiten der Staatsmacht grundsätzlich der Kollaboration und des Landesverrates verdächtigt und einem Filtrations- und Überprüfungsverfahren der staatlichen Sicherheitsorgane unterworfen . Ihm fielen Schätzungen zufolge mehrere Hunderttausende Ukrainer zum Opfer. Hierzu zählen unter anderem die Todesfälle in den Gulags und Gefängnissen, während der Deportation und Verbannung sowie die Massenerschießungen von Seiten des NKWD (Boeckh 2007: 542; Pohl 2001a: 361) Zu den Opfern der Massenrepression - 21 - gehörten zum einen jene Bevölkerungsgruppen, die während des Krieges Funktionen unter den Deutschen innegehabt hatten, als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt worden waren oder deutschen Militärverbänden angehört ha tte (Boeckh 2007: 293; 300/301). Der staatlichen Gewaltwelle waren zudem die Mitglieder der OUN und der UPA, deren Familien sowie Vertreter der Unierten Kirche ausgesetzt, die als tatsächlicher oder vermeintlicher Träger nationalukrainischer Interessen galten. Einer internen Zusammenstellung von NKWD-Chef Berija zufolge wurden im Zusammenhang mit dem Partisanenkampf der UPA in der (West-) Ukraine von Seiten der sowjetischen Sicherheits- und Militärkräften im Zeitraum von 1944 bis 1953 annährend 500.000 Personen verhaftet, getötet und deportiert. Dabei wurden rund 153.000 Personen als „Mitglieder von Spionage- und Terrorgruppen des nationalistischen Untergrunds“ getötet - 22 - 6. Literaturverzeichnis - Barth, Boris (2006). Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte. Theorien . Kontroversen, München. - Boeckh, Katrin (2001). Kontinuität und Ende der sowjetischen Herrschaft – die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik 1945-1991, in: Jordan, Peter; Kappeler, Andreas; Lukan, Walter; Vogl, Josef (Hrsg.). Ukraine: Geographie - Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Bildung – Wirtschaft – Recht (Österreichisches Ost- und Südosteuropa-Institut), Frankfurt, S.363- 388. - Boeckh, Katrin (2007). 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