Menschenrechte und Verfassungswirklichkeit in der DDR - Ausarbeitung - © 2009 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 -060/09 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Menschenrechtsverletzungen und Verfassungswirklichkeit in der DDR Sachstand WD 1 - 3000 -060/09 Abschluss der Arbeit: Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. verlehmannpe Textfeld 24.04.2009 - Zusammenfassung - Die DDR war kein demokratischer Rechtsstaat. Verfassungsfragen besaßen nur im Kontext von Machtfragen eine Bedeutung. Mit der Verfassung von 1968 wurden Grundrechte an die Loyalität zum Sozialismus gebunden und somit mit einem Gesetzesvorbehalt versehen. Dies spiegelt sich in der Verfassungswirklichkeit der DDR wider. Wesentliche Rechte waren in der Praxis eingeschränkt oder nicht vorhanden, Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Bei Wahlen ging es in der DDR im Gegensatz zu Wahlen in parlamentarischen Demokratien nicht um die Machtverteilung an frei konkurrierende politische Kräfte, sondern um eine Art plebiszitäre Bestätigung der in Art. 1 der Verfassung festgeschriebenen Führungsrolle der SED. Das Dogma der Unfehlbarkeit der Partei, das in Art. 1 Abs. 1 als „Führungsrolle der SED“ festgelegt war, schloss jede Form der freien politischen Meinungsäußerung aus. Strafvorschriften im Strafgesetzbuch ergänzten die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Auch die Versammlungsfreiheit war ein in seiner Substanz eingeschränktes Recht. Sie unterstand den ideologisch-klassenmäßigen Beschränkungen. Die Justiz war getreu der marxistischen Staatsauffassung ein Instrument des Staates, also nicht unabhängig. Rechte des politisch Andersdenkenden wurden durch den Staatsapparat weder toleriert, noch geschützt. Folter oder „Verschwinden“, die Zufügung von körperlichen und seelischen Schmerzen und Leiden waren aber bis zum Ende des SED-Regimes 1989 an der Tagesordnung. Die DDR betrieb von Anfang an eine mehr oder weniger starke kirchenfeindliche Politik. Christen wurden aus staatlichen Institutionen, den Medien und anderen Bereichen systematisch herausgedrängt. Schließlich verletzte die DDR die fundamentalen Rechte der Freizügigkeit und des Rechts auf Leben: Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 sind bei dem Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden, mindestens 98 Menschen ums Leben gekommen. Weiterhin kamen 30 Personen ohne Fluchtabsichten an der Berliner Mauer zu Tode. In der Unerbittlichkeit des Grenzregimes der DDR gegenüber seinen eigenen Bürgern bestätigte sich der Satz des Historikers Stefan Wolle: Die DDR sei kein Staat mit einer Grenze, sondern eine Grenze mit einem Staat. - 3 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 4 2. Verfassungswirklichkeit in der DDR 4 2.1. Beispiele für die Verletzung normierter Rechte in der DDR 5 2.1.1. Wahlrecht 5 2.1.2. Meinungs- und Informationsfreiheit 5 2.1.3. Versammlungsfreiheit 6 2.1.4. Strafverfahren, Rechtsschutz und Strafvollzug 7 2.1.5. Religionsfreiheit 8 3. Freizügigkeit und Recht auf Leben: Menschenrechtsverletzungen durch das DDR-Grenzregime 9 3.1. Mauertote 9 3.2. Todesopfer an der innerdeutschen Grenze 10 3.3. Ausreise 10 4. Literaturverzeichnis 11 5. Anlagen 12 - 4 - 1. Einleitung Die Vorstellung von Menschenrechten war mit der marxistisch-leninistischen Systemideologie der DDR unvereinbar, da die Existenz angeborener, vorstaatlicher und unveräußerlicher Rechte hinter die gesellschaftlich-ökonomische und klassenmäßige Bedingtheit aller Grundrechte zurücktreten musste. Grundrechte waren demnach nur als Produkte staatlicher Rechtsetzung vorstellbar, die vom Staat seinen Bürgern gewährt werden. „Grundrechte sind also immer Bürgerrechte“ (BRUNNER, S. 23) In der Verfassung von 1968 sind die Bürgerrechte in Art. 19 – 40 enthalten. Mit dieser Verfassung wurden alle verbleibenden Grundrechte ausdrücklich an die Loyalität zum Sozialismus gebunden und somit mit einem Gesetzesvorbehalt versehen. 2. Verfassungswirklichkeit in der DDR1 Die DDR war kein demokratischer Rechtsstaat. Verfassungsfragen besaßen nur im Kontext von Machtfragen eine Bedeutung. Mit den Verfassungen von 1949 und 1968/1974 wollte sich die DDR zwar den Anschein eines Rechts- und Verfassungsstaates geben, doch die Realität sah anders aus: Die Verletzung von Menschenrechten wie Rede-, Versammlungs - und Pressefreiheit war an der Tagesordnung. Das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit überwachte und verfolgte Regimekritiker und andere Bürger. Nicht erst seit dem Bau der Mauer 1961 wurde "Republikflucht" hart bestraft. Von einem rechtsstaatlichen Verfahren vor Gericht konnte keine Rede sein. Die Verfassung von 1949 sicherte zwar formal einige Grundrechte zu, doch galten diese aufgrund einschränkender Gesetze faktisch nicht und waren auch nicht einklagbar. Mit Verweis auf den Artikel zum Verbot der "Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen", mit dem alle gegen die SED gerichteten Aktivitäten gemeint waren, bekämpfte der Staat Oppositionelle. Um den Anschein von Legitimität zu bewahren, wurde 1968 eine neue Verfassung durch eine von der Staatsführung manipulierte Volksabstimmung beschlossen. Doch wie alle Wahlen in der DDR war auch diese Abstimmung nicht frei und geheim. Die zentrale Führungsrolle der SED verankerte Artikel 1 der Verfassung. Laut Verfassung konnte nur die Volkskammer Gesetze beschließen. Tatsächlich bestimmte jedoch ausschließlich die SED-Führung die Politik. Die Rolle der Abgeordne- 1 Zur Frage des Verhältnis von normierten Rechten und der Lebenswirklichkeit in der DDR ist auf den Beitrag von Martin Sabrow (2005/2006 Vorsitzender der Expertenkommission der Bundesregierung zur Erarbeitung eines Geschichtsverbundes "Aufarbeitung der SED-Diktatur") in den Anlagen zu diesem Sachstand hinzuweisen. - 5 - ten beschränkte sich auf die Zustimmung zu den von der SED vorbereiteten Gesetzesvorlagen . Eine parlamentarische Opposition existierte nicht. 2.1. Beispiele für die Verletzung normierter Rechte in der DDR 2.1.1. Wahlrecht In Art. 54 der Verfassung der DDR heißt es: „Die Volkskammer besteht aus 500 Abgeordneten , die vom Volke auf die Dauer von 5 Jahren in freier, allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden.“ Aber im Gegensatz zu Wahlen in parlamentarischen Demokratien ging es bei den Wahlen in der DDR nicht um die Machtverteilung an frei konkurrierende politische Kräfte, sondern um eine Art plebiszitäre Bestätigung der in Art. 1 der Verfassung festgeschriebenen Führungsrolle der SED. In der Praxis erfolgte die Wahl per Einheitsliste mit der Möglichkeit Kandidaten zu streichen, die Zustimmung konnte auch durch Abgabe eines unmarkierten Stimmzettels erfolgen, die geheime Wahl war nicht obligatorisch, aber möglich, offene Wahl erlaubt und propagiert. Das Wahlrecht wurde somit zur Farce. Lediglich die Wahlenthaltung konnte zur demonstrierten politischen Kritik werden. Nichtbeteiligung an der Wahl galt entsprechend als staatsfeindlicher Akt, Wahlbeteiligungen von über 99 Prozent zeugen vom Erfolg des staatlich ausgeübten Drucks, der fast einer Nötigung gleichkam. In „Wahlen in der DDR“ von Peter J. Lapp wird berichtet, dass die Wahlergebnisse generell „geschönt“ und „frisiert“ wurden und es keine schriftliche Dokumente gibt, die regelten , wann eine Stimme ungültig oder als Gegenstimme zu werten sei. (LAPP) Im erstinstanzlichen Wahlfälscherurteil des Landgerichts Dresden gegen Hans Modrow und andere heißt es, dass mit Sicherheit von einer Manipulation sämtlicher seit 1950 in der DDR veröffentlichter Wahlresultate ausgegangen werden könne. Die Geschichte der Wahlen in der DDR ist somit die Geschichte ihrer Fälschung. (MARXEN/WERLE, S. XXV) DDR-Bürgerrechtler wiesen bei den letzten unfreien Kommunalwahlen der DDR im Frühjahr 1989 Wahlfälschungen nach. Dies war einer der Auslöser der Wende. In der Folge wurde u. a. Hans Modrow als Wahlfälscher verurteilt. 2.1.2. Meinungs- und Informationsfreiheit Das Dogma der Unfehlbarkeit der Partei, das in Art. 1 Abs. 1 als „Führungsrolle der SED“ festgelegt war, schloss jede Form der freien politischen Meinungsäußerung aus. Strafvorschriften im Strafgesetzbuch (StGB) ergänzten die damit verbundene Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die DDR-Medien standen unter der straffen Kontrolle der Partei- und Staatsführung. Lenkung und Leitung der Massenmedien erfolgte zentral. Der Anteil der SED an der - 6 - Druckauflage der DDR-Tagespresse lag bei über 70 Prozent, die übrigen Tageszeitungen teilten sich die Blockparteien und die Massenorganisationen (u. a. FDJ) untereinander . (Angaben nach Informationen des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen Nr. 16, 1983, S. 12ff) Rundfunk und Fernsehen wurden in staatlicher Regie betrieben . Art. 27 der Verfassung garantierte jedem Bürger der DDR „das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Eine Meinungsäußerung „gegen die Interessen der Werktätigen und ihres Staates“ stellte allerdings bereits einen Missbrauch des Rechts der freien Meinungsäußerung dar (BLUMENWITZ, S. 56) Die Straftatbestände hinsichtlich kritischer Äußerungen gegen Staats- und Gesellschaftsform waren so ausgelegt, dass letztendlich jede missliebige Äußerung kriminalisiert werden konnte: Ein Beispiel dafür ist der § 106 Staatsfeindliche Hetze: „(1) Wer mit dem Ziel, die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen oder gegen sie aufzuwiegeln , 1. Schriften, Gegenstände oder Symbole, die die staatlichen, politischen, ökonomischen oder anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik diskriminieren, einführt, herstellt, verbreitet oder anbringt; 2. Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten; 3. Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik oder die Tätigkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Organe und Einrichtungen diskriminiert; 4. den Faschismus oder Militarismus verherrlicht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Wer zur Durchführung des Verbrechens Publikationsorgane oder Einrichtungen benutzt, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen oder das Verbrechen im Auftrage derartiger Einrichtungen oder planmäßig durchführt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren bestraft. (3) Im Fall des Absatzes 1 Ziffer 3 ist der Versuch, in allen anderen Fällen sind Vorbereitung und Versuch strafbar.“ 2.1.3. Versammlungsfreiheit Nach Art. 28 Abs 1 der Verfassung der DDR hatten „alle Bürger das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln.“ Die Ver- - 7 - sammlungsfreiheit war also ebenso ein in seiner Substanz eingeschränktes Recht. Sie unterstand den ideologisch-klassenmäßigen Beschränkungen. Nicht genehmigte Versammlungen wurden mitunter mit äußerster Härte aufgelöst – unabhängig vom Zweck der Versammlung. Am 8. Juni 1987 löste die Polizei beispielsweise eine Versammlung Ost-Berliner Jugendlicher auf, die lediglich ein auf West-Berliner Gebiet stattfindendes Rock-Konzert hören wollte. Dabei kam es zu zahlreichen Festnahmen. Den Festnahmen folgten in aller Regel strafrechtliche Sanktionen, spürbare Nachteile am Arbeitsplatz, in der Schule, an der Universität. 2.1.4. Strafverfahren, Rechtsschutz und Strafvollzug In der DDR fehlte von Beginn an das Prinzip der Gewaltenteilung, ebenso fehlte u. a. eine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Justiz war getreu der marxistischen Staatsauffassung ein Instrument des Staates, also nicht unabhängig. Kurze Wahlperioden der Richter und der beherrschende Einfluss der SED auf die Kandidatenaufstellung verstießen gegen das Recht auf unabhängige Gerichte. Die sozialistische Gesetzlichkeit der DDR führte zu einem Strafrecht und einem Strafprozessrecht, das die Rechte des politisch Andersdenkenden weder tolerierte, noch schützte. (GRÄF, S. 483) Konkret wurde Verteidigern der Zutritt zu Haftanstalten verwehrt, Beschuldigte daran gehindert, sich einen Anwalt ihres Vertrauens zu suchen, Beweisanträge ebenso wie Plädoyers von Verteidigern missachtet. Die Strafjustiz der DDR agierte im Parteiauftrag und kriminalisierte politische Gegner des SED-Regimes. Eine operative Lenkung und Anleitung der Staatsanwaltschaften durch die Partei beziehungsweise das MfS ging zahlreichen Prozessen voraus. (GRASEMANNN, S. 519) Es gab vor allem in den Anfängen der DDR Schau- und Geheimprozesse mit Todesurteilen (u. a. die sog. Waldheimprozesse). Die sog. „Boykotthetze“ im Strafrecht erwies sich in der Praxis als weitgehende Aufhebung der Grundrechte. Allein 1950 wurden zum Zwecke der „politischen Säuberung“ fast 80.000 Personen angeklagt und meist in Schnellverfahren von 20 Minuten abgeurteilt. (RICHTER, S. 35, 48.) Folter oder „Verschwinden “, die Zufügung von körperlichen und seelischen Schmerzen und Leiden waren aber bis zum Ende des SED-Regimes 1989 an der Tagesordnung. Davon zeugen die furchteinflößende Wirkung der Namen „Bautzen“ und „Hoheneck“ sowie das „Stasi- Gefängnis“ in Hohenschönhausen. Amnesty International prangerte die Zustände und den Strafvollzug in den Haftanstalten und den sog. Haftarbeitslagern jahrzehntelang an. Der Dresdner Schriftsteller Siegmar Faust verbrachte insgesamt 401 Tage in Isolationshaft , weil er Anfang der siebziger Jahre Unterschriften für mehr Meinungsfreiheit in der DDR gesammelt hatte. (MIHR, S. 93) - 8 - 2.1.5. Religionsfreiheit In Art. 20 Abs. 1 Satz 2 gewährleistete die Verfassung der DDR „die Glaubens- und Gewissensfreiheit“ als Aspekt des Gleichheitsrechts. Die Religionsfreiheit garantierte die Verfassung in Art. 39 Abs. 1 als „Bürgerrecht“. Eine Formulierung des Strafgesetzbuchs (§ 133) war so ausgelegt, dass sie den Bürger nicht gegen massiven psychischen Druck, ausgeübt mit dem Ziel, ihn seiner Religion zu entfremden bzw. von ihr fernzuhalten , schützte. (LUCHTERHANDT, S.212) Die Forschung ist sich in der Beurteilung der Politik der SED gegenüber den Kirchen und den Christen in der DDR einig: Seit Ende der vierziger Jahre wurde in der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR eine kirchenfeindliche Politik betrieben. Christen wurden aus staatlichen Institutionen, den Medien und anderen Bereichen systematisch herausgedrängt. Nur sehr wenige Christen konnten sich dort behaupten. 1952/’53 erreichte die Verfolgungswelle einen vorläufigen Höhepunkt: Mehr als 80 Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter wurden verhaftet, mindestens eintausend Christen mussten die Oberschulen und die Universitäten verlassen, noch mehr Christen flohen in den Westen. Die „Junge Gemeinde“ und christliche Studentengemeinden wurden als „Agentenorganisationen“ diskreditiert, diakonische Einrichtungen konnten ihre Tätigkeit nur fortsetzen, wenn sie ausschließlich mit behinderten Kindern arbeiteten. 1955 wurde in der DDR die Jugendweihe eingeführt: Wer an ihr nicht teilnahm, musste mit beruflichen Nachteilen rechnen. Christen hatten seit dieser Zeit immer weniger Chancen auf ein freies und selbstbestimmtes berufliches Fortkommen. Die SED hat aus dieser Politik auch öffentlich keinen Hehl gemacht. Sie betrieb eine Kaderpolitik, die offen ideologisch und politisch willige Menschen bevorzugte. Über jeden Bürger wurde eine Kaderakte geführt, die auch seine Haltung zur Kirche dokumentierte. Anfang der siebziger Jahre gab es unter Erich Honecker eine neue Kampagne gegen christliche Kinder und Jugendliche, denen schulische und berufliche Nachteile drohten. Seit Ende der siebziger Jahre formierte sich aus der zusammengeschrumpften kirchlichen Jugend, kirchlichen Mitarbeitern und Theologen eine Opposition, aus der 1989 die Bürgerbewegungen entstanden. Ein Grund für diese kirchliche Opposition war gerade auch die Benachteiligung und die Verletzung von Menschenrechten gegenüber Christen in der DDR. Diese Christen rangen um ihre Rechte und ein selbstbestimmtes Leben. (ERNST-BERTRAM/PLANER-FRIEDRICH) - 9 - 3. Freizügigkeit und Recht auf Leben: Menschenrechtsverletzungen durch das DDR-Grenzregime 3.1. Mauertote2 Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 sind bei dem Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden, mindestens 98 Menschen ums Leben gekommen. Weiterhin kamen 30 Personen ohne Fluchtabsichten an der Berliner Mauer zu Tode, schließlich verloren auch acht Grenzsoldaten der DDR ihr Leben. Unter den 133 Todesopfern waren acht Kinder unter 16 Jahren 38 Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren 66 junge Erwachsene zwischen 21 und 30 Jahren (darunter eine Frau) zehn Erwachsene zwischen 31 und 40 Jahren (darunter eine Frau) 13 Erwachsene zwischen 41 und 80 Jahren (darunter vier Frauen) bei einem jungen Mann konnten Identität und Alter bislang nicht ermittelt werden Nach Jahrzehnten aufgeschlüsselt: 1961 bis 1969: 88 Todesopfer 1970 bis 1979: 30 Todesopfer 1980 bis 1989: 15 Todesopfer An Grenzübergangstellen in Berlin starben mindestens 48 überwiegend ältere Menschen während oder unmittelbar nach den Kontrollen vorwiegend durch Herzinfarkt. In mindestens zwölf Fällen können Todesumstände nicht hinreichend geklärt werden. Dabei handelt es sich um Tote, die in Grenzgewässern ertranken, beziehungsweise tot 2 Die Zahlenangaben zu den Toten an der Berliner Mauer und den Toten an der innerdeutschen Grenze schwanken je nach Quellenlage und Definitionsfrage. Die Angaben in diesem Sachstand beziehen sich in erster Linie auf amtliche Angaben sowie die Ergebnisse einer u. a. vom Bund geförderten Forschungsarbeit. Um die Problematik genauer Angaben zu verdeutlichen, ist in den Anlagen u. a. ein Aufsatz von Hans-Hermann Hertle und Gerhard Sälter zum Problem der Bilanzierung des DDR- Grenzregimes beigefügt. - 10 - aus Grenzgewässern geborgen wurden, ohne dass eine Fluchtabsicht nachweisbar ist (sich diese aber auch nicht ausschließen lässt).3 Elf Tage nach dem Mauerbau versuchte Günter Litfin durch den Berliner Humboldthafen in die Freiheit zu schwimmen. Er wurde von Grenzern entdeckt und erschossen. Von seinem Tod erfuhr sein Bruder einen Tag später aus dem Fernsehen. Am 5. Februar 1989 starb Chris Gueffroy, der beim Versuch, über die Mauer zu klettern von DDR- Grenzern erschossen wird. Gueffroys Mutter wurde erst zwei Tage nach dessen Tod von der Stasi informiert, dass ihr Sohn bei einem Angriff auf die "militärische Sicherheitszone " schwer verletzt wurde und starb. (WWW.CHRONIK-DER-MAUER.DE) 3.2. Todesopfer an der innerdeutschen Grenze Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Berlin vom 9. Juni 2000 sind an der innerdeutschen Grenze und der Seegrenze (Ostsee) nach dem 13. August 1961 mindestens 50 Menschen gewaltsam durch Schusswaffengebrauch oder andere Gewalt der Grenztruppen getötet worden. 33 Menschen kamen durch Erd- oder Splitterminen ums Leben. (HERTLE/SÄLTER, S. 671 und BRÄUTIGAM) 3.3. Ausreise Mit dem Beitritt der DDR zu den Vereinten Nationen 1973 und der damit verbundenen Anerkennung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ sowie mit der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte 1975 beriefen sich zahlreiche DDR-Bürger auf die damit verbundenen Rechte vor allem hinsichtlich ihrer Forderung nach Ausreise. Die DDR verfolgte trotz ihrer international eingegangenen Verträge Ausreisewillige u. a. mit Entlassungen und Verhaftungen. Sinna Ott, 27 Jahre, Mutter zweier Kinder, versuchte 1976 über die Berliner Mauer in den Westteil der Stadt zu fliehen. Ott wurde wegen versuchter „Republikflucht“ und „staatsfeindlicher Hetze“ zu 22 Monaten Haft verurteilt. Ihre Kinder kamen in ein Kinderheim . (MIHR, AUSSTELLUNGSKATALOG, S. 29) 3 Die Angaben zu den Mauertoten sind aus den vorläufigen Ergebnissen des Forschungsprojekts „Die Todesopfer an der Berliner Mauer, 1961 – 1989“, einem Kooperationsprojekt des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Gedenkstätte Berliner Mauer. (HERTLE/NOOKE) - 11 - 4. Literaturverzeichnis Blumenwitz, Dieter (1989). Meinungs- und Informationsfreiheit. In: Brunner, Georg (Hrsg.) (1989). Menschenrechte in der DDR. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges., S. 49 – 72. Bräutigam, Hansgeorg (2004). Die Toten an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze und die bundesdeutsche Justiz, in: Deutschland Archiv 37/2004, S. 969- 976. Brunner, Georg (1995). Das Rechtsverständnis der SED (1961 – 1989). In: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) acht Bände in 14 Teilbänden/hrsg. vom Deutschen Bundestag. Nomos-Verl.-Ges. Band IV, S. 293 – 336. Ernst-Bertram, Bettina/Planer-Friedrich, Jens: Pfarrerskinder in der DDR - Außenseiter zwischen Benachteiligung und Privilegierung. Eigenverlag Bürgerbüro Berlin 2008 Gräf, Dieter (1995). Die Missachtung der Menschenrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze durch die Justiz. In: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit": 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) acht Bände in 14 Teilbänden/hrsg. vom Deutschen Bundestag. Nomos-Verl.-Ges. Band IV, S. 451 – 486. Grasemann, Hans-Jürgen (1995). Die Anleitung der Staatsanwaltschaft. In: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit": 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, acht Bände in 14 Teilbänden/hrsg. vom Deutschen Bundestag. Nomos-Verl.-Ges., Band IV, S. 487 – 532. Hertle, Hans-Hermann/Nooke, Maria (2008). Bilanz – Forschungsprojekt “Die Todesopfer an der Berliner Mauer, 1961 – 1989. Potsdam: Zentrum für Zeithistorische Forschung 2008. Hertle, Hans-Hermann/Sälter, Gerhard (2006). Die Todesopfer an Mauer und Grenze. Probleme einer Bilanz des DDR-Grenzregimes. In: Deutschland Archiv 4/2006, S. 667- 676. Informationen des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen Nr. 16, 1983. Lapp, Peter J. (1982). Wahlen in der DDR. Berlin: Verlag Gebr. Holzapfel. Luchterhand, Otto (19898). Religionsfreiheit. In: Brunner, Georg (Hrsg.) (1989). Menschenrechte in der DDR. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges., S. 201 – 240. - 12 - Marxen, Klaus/Werle, Gerhard (Hrsg.) (2000). Strafjustiz und DDR-Unrecht. Band 1: Wahlfälschung. Berlin, New York: Walter de Gruyter. Mihr, Anja (2002). Amnesty International in der DDR. Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi. Rieden a. F.: WB-Druck. Mihr, Anja (2002). Amnesty international und die DDR. Ausstellungskatalog. Berlin: H+P-Druck. Richter, Michael (2000). "Vom Widerstand der christlichen Demokraten in der DDR. In Scholz, Günther (Hrsg.). Verfolgt-Verhaftet-Verurteilt. Berlin: Westkreuz Verlag, 1990. S. 35 – 58. Sabrow, Martin (2008). Das Recht der Diktatur – Die Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik 1949 und 1968/74. In: Blume, Dorlis, Breymayer, Ursula /Ulrich, Bernd (Hrsg.): Im Namen der Freiheit. Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland. Dresden: Sandstein Verlag. S. 86 – 99. Weißhuhn, Reinhard (1999). Menschenrechte in der DDR. In: Arnim, Gabriele von u. a. (Hrsg.): Jahrbuch Menschenrechte 1999. Frankfurt: Suhrkamp. S. 247 – 260. WWW.CHRONIK-DER-MAUER.DE 5. Anlagen Sabrow, Martin (2008). Das Recht der Diktatur – Die Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik 1949 und 1968/74. In: Blume, Dorlis, Breymayer, Ursula /Ulrich, Bernd (Hrsg.): Im Namen der Freiheit. Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland. Dresden: Sandstein Verlag. S. 86 – 99. Hertle, Hans-Hermann/Nooke, Maria (2008). Bilanz – Forschungsprojekt “Die Todesopfer an der Berliner Mauer, 1961 – 1989. Potsdam: Zentrum für Zeithistorische Forschung 2008. Hertle, Hans-Hermann/Sälter, Gerhard (2006). Die Todesopfer an Mauer und Grenze. Probleme einer Bilanz des DDR-Grenzregimes. In: Deutschland Archiv 4/2006, S. 667- 676. Auszug aus dem Strafgesetzbuch der DDR Weißhuhn, Reinhard (1999). Menschenrechte in der DDR. In: Arnim, Gabriele von u. a. (Hrsg.): Jahrbuch Menschenrechte 1999. Frankfurt: Suhrkamp. S. 247 – 260.