Das Bundesverfassungsgericht Kurzübersicht zu Entstehungsgeschichte und Funktion - Ausarbeitung - © 2009 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 056/09 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser: Das Bundesverfassungsgericht Kurzübersicht zu Geschichte und Funktion Ausarbeitung WD 1 - 3000 -056/09 Abschluss der Arbeit: 07. Mai 2009 Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - Zusammenfassung - Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es in Deutschland nicht erst auf der Grundlage des Grundgesetzes. Elemente einer Verfassungsgerichtsbarkeit sind bereits im Mittelalter nachweisbar. Seit dem 14. Jahrhundert hatte die Austrägalgerichtsbarkeit große Bedeutung . Sie gilt als eine der wichtigsten Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Umstritten ist die Einordnung des Reichskammergerichts (ab 1495) und des Reichshofrats (ab 1518) in die Liste der Vorläufer eines Verfassungsgerichtes, obwohl die Gerichtsbarkeit selbst wesentliche Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit umfasste. Das in der Paulskirchenverfassung 1849 vorgesehene Reichsgericht kann als „Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts“ gelten, auch wenn es durch das Scheitern der Paulskirchenverfassung nie realisiert wurde. In der Folgezeit war weder im Deutschen Bund noch im Deutschen Reich von 1871 ein Verfassungsgericht vorgesehen. Die Skepsis gegenüber einer richterlichen Kontrolle von Normen wich erst in der Weimarer Republik und schließlich gänzlich in der Bundesrepublik: Das Grundgesetz gab nach den Erfahrungen des Dritten Reiches der Stärkung von Recht und Gerichtsbarkeit eine überragende Bedeutung – ausgedrückt u. a. in der starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts . Die Funktionen des Bundesverfassungsgerichts („Hüter der Verfassung “) sind u. a. die Kontrolle insbesondere des Gesetzgebers, die Normenkontrolle und die Verfassungsanpassung. Diesen „normbezogenen Funktionen“ stehen „gesellschaftspolitische Funktionen“ gegenüber. Dazu gehört beispielsweise die Integrationsfunktion: Missstände werden durch das Gericht beseitigt, der Vorrang der Verfassung in der Gesellschaft verdeutlicht. Eine weitere, allerdings umstrittene, gesellschaftspolitische Funktion ist die eines „Ersatzgesetzgeber“. Damit ist gemeint, dass das Gericht mit seiner Verfassungsrechtsprechung initiierend auf die eigentlich zum Handeln aufgerufenen Institutionen einwirkt. - 3 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 4 2. Entstehungsgeschichte 4 2.1. Der Parlamentarische Rat und die Entscheidung für ein Verfassungsgericht 6 2.2. Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz 7 3. Organisation 11 4. Funktionen des Bundesverfassungsgerichts 11 5. Literaturverzeichnis 13 6. Anlage 14 - 4 - 1. Einleitung In Meinungsumfragen wird dem Bundesverfassungsgericht unter den staatlichen Institutionen stets das höchste Vertrauen entgegengebracht.1 Diese außergewöhnliche Legitimation ist sogar unbeeinflusst von der öffentlichen Diskussion über kontroverse Entscheidungen des Gerichts. Das Gericht selbst, seine Aufgaben und Funktionen, sind das Ergebnis eines langen verfassungsgeschichtlichen Weges, der mit der Entscheidung für eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Mütter und Väter des Grundgesetzes sein vorläufiges Ziel erreicht hat. Grundgesetz und Verfassungsgerichtsbarkeit stehen in enger Verbindung. Die vom Parlamentarischen Rat formulierten Grundrechte stellen unmittelbares einklagbares Recht dar, anders als beispielsweise der Katalog der Grundrechte und Grundpflichten der Weimarer Reichsverfassung. Die Frage nach der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte ist ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für die Errichtung des Verfassungsgerichts. „Noch unter der Weimarer Verfassung von 1919 herrschte die Ansicht vor, der Gesetzgeber sei nicht an die Grundrechte gebunden, weil er sie durch Gesetze einschränken könne.“ (LIMBACH, S. 57) Der zweite wesentliche Bestimmungsfaktor für die Einrichtung eines Verfassungsgerichts ist die Frage, ob Richter letztlich politisch vereinbarte Normen kontrollieren sollten. Die Schwerpunkte der Ausarbeitung liegen dem Auftraggeberwunsch folgend auf der Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und den Funktionen des Bundesverfassungsgerichts. 2. Entstehungsgeschichte Dass das Bundesverfassungsgericht tatsächlich eine „Institution ohne Tradition“ (LIMBACH, S. 11) sei, kann unter historischen Gesichtspunkten nicht unwidersprochen bleiben. Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es in Deutschland nicht erst auf der Grundlage des Grundgesetzes. Weit entfernte Wurzeln und Vorläufer einer Gerichtsbarkeit, die beispielsweise Recht zwischen Staatsorganen sprach, beziehungsweise Elemente von Verfassungsgerichtsbarkeit begegnen überall dort, wo Gerichte über Fragen der Verfassung im Sinne der rechtlichen Grundstruktur eines Gemeinwesens entscheiden. (ROBBERS, 1 Eine Erhebung von Infratest dimap vom März 2009 ergab, dass knapp die Hälfte von 1000 Befragten Vertrauen in Bundesregierung und den Deutschen Bundestag haben. Beim Bundestag sind es 48 und bei der Bundesregierung 45 Prozent. Demgegenüber äußern 76 Prozent großes Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht. Weiter in einer Vertrauenskrise stecken dagegen die Parteien, die nur bei 23 Prozent der Befragten auf Vertrauen stoßen. (Quelle: Focus, 18. März 2009) - 5 - S. 3) In der Verknüpfung mit dem Strafrecht sind in diesem Sinne Elemente einer Verfassungsgerichtsbarkeit bereits im Mittelalter nachweisbar, so zum Beispiel im Streit um lehnsrechtliche Verpflichtungen oder bei Hochverratsprozessen. Auch das 1235 im Mainzer Landfrieden mit einer Verfassung versehene Königliche Hofgericht, das beispielsweise zuständig war für Klagen um Reichsrechte und Reichsgut sowie Streitigkeiten zwischen Reichsunmittelbaren, kann im weitesten Sinne als Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet werden. Seit dem 14. Jahrhundert hatte die Austrägalgerichtsbarkeit2 große Bedeutung. Sie gilt als eine der wichtigsten Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Zunächst frei gebildet, später zunehmend institutionalisiert, schlichtete die Austrägalgerichtsbarkeit Streitigkeiten zwischen gleichrangigen Territorialherren, die nicht reichsunmittelbar waren. Die Austrägalgerichtsbarkeit kann als Vorform der Gerichtsbarkeit in föderalen Streitfällen gelten. (ROBBERS, S. 4) Umstritten ist die Einordnung des Reichskammergerichts (ab 1495) und des Reichshofrats (ab 1518) in die Liste der Vorläufer eines Verfassungsgerichts. Umstritten deshalb, weil beide Gerichte in der Regel keine letztinstanzliche Entscheidung trafen, sondern gegen deren Sprüche der Reichstag zur Entscheidung angerufen werden konnte. Es fehlt also die letztinstanzliche politisch unabhängige Entscheidung als Merkmal. Demgegenüber kamen beiden Gerichten aber Aufgaben der Friedenssicherung und der Schutz ständischer und individueller Rechte zu, die zumindest als Wurzeln einer Verfassungsgerichtsbarkeit gelten können. (HESSE, S. 3) 1806, im Jahre des Untergangs des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, endete die Existenz der beiden Gerichte. Die sog. Paulskirchenverfassung von 1849 sah vor, dass ein Reichsgericht eingerichtet und mit verfassungsrechtlichen Kompetenzen ausgestattet werden solle. Der Zuschnitt der Zuständigkeiten war „erstaunlich modern“, das Gericht kann als „Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts“ (ROBBERS, S. 5) gelten, auch wenn es durch das Scheitern der Paulskirchenverfassung nie realisiert wurde. In der Folgezeit wurde die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Ländern zumindest formal gestärkt, auf der Ebene des Deutschen Bundes aber strukturell zurückgedrängt: „Vollständiger noch als im Deutschen Bund mit den Zuständigkeiten der Bundesversammlung war im Norddeutschen Bund von 1867 und im Deutschen Reich von 1871 die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit zugunsten eher politisch orientierter Streiterledigung 2 Die Austrägalgerichtsbarneit war eine Schiedsgerichtsbarkeit in Rechtsstreitigkeiten zwischen Reichsfürsten, freien Städten und Reichsrittern zur gütlichen Rechtsprechung. Spätestens seit der Frühen Neuzeit und der mit ihr einhergehenden Entwicklung des modernen Nationalstaates war diese Gerichtsbarkeit ein Spezifikum des Heiligen Römischen Reiches mit seiner Vielzahl souveräner und halbsouveräner Territorien, denen gegenüber der Kaiser keine Herrschaftsgewalt besaß. - 6 - aufgegeben.“ (ROBBERS, S. 5) Art. 76 der Reichsverfassung sah beispielsweise vor, dass der Bundesrat nicht-privatrechtliche Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten zu entscheiden hatte. In dieser Tradition stand auch Art. 106 der preußischen Verfassungsurkunde aus dem Jahr 1850, der ausdrücklich die richterliche Prüfung königlicher Verordnungen untersagte. Dies ist Ausdruck einer während des 19. Jahrhunderts in Deutschland mehrheitlich herrschenden Skepsis gegenüber der richterlichen Kontrolle über Normen. Bismarck brachte die Ablehnung einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Formel, von einem Urteilsspruch eines Gerichts nicht die politische Zukunft des Landes abhängig machen zu dürfen. (MERTEN, S. 12) Diese Skepsis wich erst zu Zeiten der Weimarer Republik. Wegweisend war das Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1925, in dem festgestellt wurde, dass Richter nur verfassungsgemäße Gesetze anwenden dürften. Zwar existierte noch kein eigenes Verfassungsgericht 3, aber der Weg zu einer richterlichen Normenkontrolle war damit geebnet. Stark institutionalisiert, aber in der Praxis relativ unwirksam, war der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Ländern der Weimarer Republik. Preußen errichtete den in der Landesverfassung vorgesehenen Staatsgerichtshof nicht, andere Länder überwiesen ihre inneren Verfassungsstreitigkeiten dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. „Bei der Schaffung des Grundgesetzes konnte danach an eine breite, weit in die Geschichte zurückgreifende Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit angeknüpft werden.“ (ROBBERS, S. 7) Die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit hatte in Deutschland also Tradition. Vollständig verwirklicht hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit aber erst mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (SCHLAICH, S. 1) 2.1. Der Parlamentarische Rat und die Entscheidung für ein Verfassungsgericht Das Unrecht und die Rechtlosigkeit der Zeit des Nationalsozialismus war die alles überragende Triebfeder bei der Ausgestaltung einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene : Die Stärkung von Recht und Gerichtsbarkeit wird durch die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts ausgedrückt. Beispielhaft bei der Frage nach der verfassungsrechtlichen Verankerung eines Gerichts im Rahmen der Beratungen zum Grundgesetz wirkten auch die Länderverfassungen. So hatte Bayern bereits einen Verfassungsgerichtshof eingerichtet (Art. 60ff. Bayer. Landesverfassung). In der Gesamtheit der Landesverfassungen waren bereits alle heute bekannten Elemente einer Verfas- 3 Der Staatsgerichtshof, dessen Präsident in Personalunion der Präsident des Reichsgerichts war, urteilte zwar über föderale Streitigkeiten und über Ministerklagen; unbekannt blieben aber die Verfassungsbeschwerde und die Organklage. - 7 - sungsgerichtsbarkeit enthalten: Organstreit, abstrakte und konkrete Normenkontrolle, Verfassungsbeschwerde, Minister- und Richteranklage. (LECHNER, S. 10f.) Der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf sah bereits wesentliche Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts vor und auch die Organisation des Gerichts war in ihren wesentlichen Grundzügen bereits in Herrenchiemsee erarbeitet worden. Offen blieb zunächst, ob die Kompetenzen einem obersten Gerichtshof zugewiesen werden sollten – vergleichbar dem Supreme Court der USA oder dem schweizerischen Bundesgericht – oder ob ein eigenes Verfassungsgericht geschaffen werden sollte. (ROBBERS, S. 7) Der Parlamentarische Rat in Bonn hat die oben skizzierten Pläne aus Herrenchiemsee im Wesentlichen übernommen, erzielte aber zunächst weder eine Einigung über die Frage eines „Einheitsgerichts“ noch hinsichtlich der Qualifikationsanforderungen an die Richter. Die Entscheidung für ein Einheitsgericht, also eine „institutionelle Verselbständigung“ des Bundesverfassungsgerichts ist schließlich zurückzuführen auf einen Entschluss des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege. U. a. wollte man ein Mammutgericht vermeiden, das die gesamte Rechtsprechung in einer Behörde zusammenfasste . Darüber hinaus konnte man bei Schaffung mehrerer oberer Bundesgerichte verschiedene Länder mit dem Sitz eines solchen Gerichts „beglücken“4. (LIMBACH, S. 15) Bemerkenswert bleibt die Entscheidung, dem Bundesverfassungsgericht keinen eigenen Abschnitt im Grundgesetz zu widmen, sondern die das Gericht betreffenden Artikel in den Abschnitt „Rechtsprechung“ aufzunehmen. Damit wurde einerseits versäumt , die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts zu betonen, andererseits wurde damit aber die Rechtsprechung beziehungsweise Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts besonders hervorgehoben. (ROBBERS, S. 8) 2.2. Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz U. a. Artikel 92 – 94 des Grundgesetzes regeln Errichtung, Aufgaben und Besetzung des Bundesverfassungsgerichts. In Abschnitt IX „Rechtsprechung“ heißt es: Artikel 92 Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt. 4 Außer Karlsruhe sind heute Leipzig (Bundesverwaltungsgericht), Erfurt (Bundesarbeitsgericht), Kassel (Bundessozialgericht) und München (Bundespatentgericht, Bundesfinanzhof) Sitz eines Oberen Gerichtshofes. - 8 - Artikel 93 (1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind; 2. bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages; 2a. bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes; 3. bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht; 4. in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen dem Bunde und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist; 4a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein; 4b. über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28 durch ein Gesetz, bei Landesgesetzen jedoch nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann; 5. in den übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fällen. (2) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet außerdem auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 die Erforderlichkeit für eine bundesge- - 9 - setzliche Regelung nach Artikel 72 Abs. 2 nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 Satz 1 nicht mehr erlassen werden könnte. Die Feststellung, dass die Erforderlichkeit entfallen ist oder Bundesrecht nicht mehr erlassen werden könnte, ersetzt ein Bundesgesetz nach Artikel 72 Abs. 4 oder nach Artikel 125a Abs. 2 Satz 2. Der Antrag nach Satz 1 ist nur zulässig, wenn eine Gesetzesvorlage nach Artikel 72 Abs. 4 oder nach Artikel 125a Abs. 2 Satz 2 im Bundestag abgelehnt oder über sie nicht innerhalb eines Jahres beraten und Beschluss gefasst oder wenn eine entsprechende Gesetzesvorlage im Bundesrat abgelehnt worden ist. (3) Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig. Artikel 94 (1) Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt. Sie dürfen weder dem Bundestage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören. (2) Ein Bundesgesetz regelt seine Verfassung und das Verfahren und bestimmt , in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben. Es kann für Verfassungsbeschwerden die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges zur Voraussetzung machen und ein besonderes Annahmeverfahren vorsehen. […] Artikel 99 Dem Bundesverfassungsgerichte kann durch Landesgesetz die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, den in Artikel 95 Abs. 1 genannten obersten Gerichtshöfen für den letzten Rechtszug die Entscheidung in solchen Sachen zugewiesen werden, bei denen es sich um die Anwendung von Landesrecht handelt. - 10 - Artikel 100 (1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt. (2) Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil des Bundesrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Artikel 25), so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. (3) Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes oder des Verfassungsgerichtes eines anderen Landes abweichen, so hat das Verfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen .“ Das Gesetz zur Regelung der Verfassung des Bundesverfassungsgerichts wurde fast zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet. Der juristische Ausschuss der Ministerpräsidenten der drei Westzonen hatte bereits im Sommer 1949 einen Gesetzentwurf vorgelegt. Das Rechtsamt für die Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes legte einen ähnlichen Vorschlag vor. Beide Entwürfe wurden skeptisch aufgenommen. SPD-Bundestagsfraktion und danach auch die Bundesregierung legten jeweils einen Gesetzentwurf vor, der dem zuständigen Ausschuss zur Beratung überwiesen wurde. Der Entwurf der Bundesregierung wurde auch dem Bundesrat zugeleitet , der ihn mit zahlreichen Änderungen versah. Das schließlich nach Dritter Lesung am 1. Februar 1951 im Deutschen Bundestag verabschiedete Gesetz war auf der Grundlage der beiden letztgenannten Entwürfe und Änderungswünsche durch einen Unterausschuss intensiv vorbereitet worden. Lediglich die KPD-Abgeordneten stimmten gegen das Gesetz. (LECHNER, S. 10, ROBBERS, S. 8) Für kein anderes oberstes Verfassungsorgan wurde ein eigenes Gesetz geschaffen, was die ganz eigene Stellung des Gerichts nochmals unterstreicht. (BILLING, S. 114) § 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht lautet: „Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes .“ - 11 - 3. Organisation Das Bundesverfassungsgericht besteht aus 16 Richterinnen und Richtern. Acht Richter werden durch den Deutschen Bundestag gewählt, die anderen acht Richter wählt der Bundesrat, jeweils mit Zweidrittelmehrheit. Die Amtszeit der Richter beträgt zwölf Jahre . Das Gericht besteht aus einem Ersten Senat mit acht Richtern unter dem Vorsitz des Präsidenten und einem Zweiten Senat ebenfalls mit acht Richtern unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten. Beide Senate sind für Normenkontrollen und Verfassungsbeschwerden zuständig, der Zweite Senat ist für alle übrigen Verfahren zuständig. (vgl. LIMBACH, S. 20ff.) Beide Senate haben mehrere Kammern mit jeweils drei Mitgliedern, deren Aufgabe es ist, zu prüfen, ob eine Verfassungsbeschwerde angenommen wird. In Verfahren „von grundsätzlicher Bedeutung“ entscheidet aber der Senat über die Annahme. Angesichts der hohen Zahl an Verfahren ist die Entlastung der Senate durch die Kammern notwendig . Nach eigenen Angaben gehen derzeit beim Bundesverfassungsgericht jährlich fast 6.000 Verfassungsbeschwerden ein. Zwischen 1951 und 2005 sind beim Bundesverfassungsgericht 151.424 Verfassungsbeschwerden eingegangen, davon wurde die überwiegende Zahl nicht angenommen, nur 3.699 Verfassungsbeschwerden waren erfolgreich (2,5 Prozent). (http://www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/organisation.html) Wenn ein Senat von der Rechtsauffassung des anderen Senats abweichen will, entscheidet das sog. „Plenum“ des Gerichts. Dieses besteht aus allen 16 Richterinnen und Richtern . 4. Funktionen des Bundesverfassungsgerichts Als logische Folge der Lehre von der Suprematie der Verfassung ist die Grundidee des Bundesverfassungsgerichts die eines „Hüters der Verfassung“, der jeden Akt der gesetzgeberischen Gewalt, der Regierung und Verwaltung und jede Entscheidung der Gerichte auf Antrag auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. (BILLING) Wesentlich ist dabei die Einschränkung, dass das Gericht ausschließlich auf Antrag tätig werden darf. Es bedarf also immer eines Anstoßes von außen. (LIMBACH, S. 20) Neben dem Schutz der Verfassung ist es Aufgabe des Verfassungsgerichts, das Grundgesetz rechtsverbindlich zu interpretieren. Daraus leiten sich weitere Funktionen des Bundesverfassungsgerichts ab. Diese Funktionen können aus politikwissenschaftlicher Sicht unterschieden werden in sog. „normbezogene Funktionen“ und sog. „gesellschaftspolitische Funktionen“. (KRANENPOHL). Beide Begriffe machen bereits deutlich, dass das Bundesverfas- - 12 - sungsgericht eine Institution zwischen Recht und Politik ist, eine Trennung beider Sphären aber nicht möglich ist. Zutreffend kann man von einer Verrechtlichung von Politik und umgekehrt von einer (eingeschränkten) politischen Mitsteuerungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts sprechen. Das Bundesverfassungsgericht ist dabei selbständig gegenüber allen anderen Verfassungsorganen . Es ist nach seinem Wesen ein „Gerichtshof“, d. h. ein Organ der Rechtsprechung mit dessen wesentlichen Merkmalen; es übt rechtsprechende Gewalt aus und hat nicht die Rolle eines Schiedsgerichts, das beispielsweise auf Vergleich abzielt. (LECHNER, S. 15) Der Funktionenkatalog des Bundesverfassungsgerichts weist aber über den Bereich des "Rechts" und damit den Charakter der Institution als Gericht hinaus : Das Bundesverfassungsgericht folgt einer eigenen „political-question-doctrine“, d. h., es entzieht sich nicht politischen Fragen. Das gilt übrigens auch im Bereich der Außen - und Sicherheitspolitik (das US-Supreme Court kennt beispielsweise den „Rechtsprechungsverzicht “ in der Außen- und Sicherheitspolitik). Das Bundesverfassungsgericht gewährt bei seiner Rechtsprechung aber ausdrücklich die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung. (LECHNER, S. 19f.) Hinsichtlich der normbezogenen Funktionen ist zwischen Normenkontrolle und Verfassungsanpassung zu unterscheiden. Das Bundesverfassungsgericht prüft formal, ob eine Norm mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Normenkontrolle). Mit der verfassungskonformen Auslegung, also der spezifischen Interpretation einer Norm, setzt das Bundesverfassungsgericht zudem Recht. Justiz und Verwaltung ist somit vorgegeben, wie eine Norm anzuwenden ist. Die Verfassungsanpassung durch das Bundesverfassungsgericht erfolgt über - die Konkretisierung von Verfassungsnormen, - die Öffnung von Normen für neue Bedeutungen, - der Aktualisierung von Normen, - der Neuinterpretation von Normen. (KRANENPOHL, S. 3) Die gesellschaftspolitischen Funktionen zielen auf Integration und Legitimation der Normen und wirken somit in die Gesellschaft hinein. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es, Wertentscheidungen der Verfassung anhand konkreter Fälle zu aktualisieren . Mit Legitimation ist die bloße Existenz des Gerichts und seiner Rechtsprechung gemeint, die den rechtsstaatlichen Charakter der Verfassung und die Einhegung politischer Macht ausdrücken. (KRANENPOHL, S. 5) Salopp formuliert, trägt es zur Legiti- - 13 - mation der Verfassung bei, dass „der Bürger“ bei vermeintlichen Ungerechtigkeiten immer noch den „Gang nach Karlsruhe“ gehen kann. Schließlich muss das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich seiner gesellschaftspolitischen Funktionen auch als „Agenda-Setter“ gesehen werden: Mit den Folgen der Entscheidungen des Gerichts oder sogar konkreten Aufforderungen des Gerichts, muss sich die Politik nicht selten auseinandersetzen. Eine weitere gesellschaftspolitische Funktion ist die gemeinhin als „Ersatzgesetzgeber“ bezeichnete Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Damit ist gemeint, dass das Gericht mit seiner Verfassungsrechtsprechung initiierend auf die eigentlich zum Handeln aufgerufenen Institutionen einwirkt. Der Begriff des „Ersatzgesetzgebers“ ist insofern falsch, da das Gericht keinen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Gesetzgebung hat und darüber hinaus gegenüber dem Gesetzgeber auch keine Sanktionsmöglichkeiten besitzt. Es ist allerdings unbestritten, dass das Bundesverfassungsgericht aktiv initiierend auf die Gesetzgebung einwirkt wenn die zuständigen Institutionen nicht handeln. (KRANENPOHL, S. 5f.) 5. Literaturverzeichnis Billing, Werner (2003). Bundesverfassungsgericht. In: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 5., aktual. Aufl. Opladen: Leske+Budrich 2003. Hesse, Konrad (1998). Stufen der Entwicklung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit . In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge / Bd. 46, 1998 S. 1-23. Kranenpohl, Uwe (2004). Funktionen des Bundesverfassungsgerichts. Eine politikwissenschaftliche Analyse. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Ausgabe 50/51 vom 6. Dezember 2004. Lechner, Hans (2006). Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar. München: Verlag C. H. Beck. Limbach, Jutta (2001). Das Bundesverfassungsgericht. München: Verlag C. H. Beck. Merten, Detlef (2008). Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit – Einführung in das Tagungsthema. In: Merten, Detlef (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich. Berlin: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. S. 11 – 18. - 14 - Robbers, Gerhard (2005). Geschichtliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/Dollinger Franz-Wilhelm (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz : Mitarbeiterkommentar und Handbuch. Heidelberg: Müller, 2005. S. 3 – 8. Schlaich, Klaus (2007). Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen . Ein Studienbuch. München: Verlag C. H. Beck. Wessel, Uwe (2004). Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik. München: Karl Blessing Verlag. http://www.bundesverfassungsgericht.de/ (Stand: 6. Mai 2009) 6. Anlage Tabelle: Funktionen der Verfassungsrechtsprechung im politischen System Deutschlands