Deutscher Bundestag Die Europäische Union – Hüterin der Werte der Französischen Revolution Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000 – 051/13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 2 Die Europäische Union - Hüterin der Werte der Französischen Revolution Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000 – 051/13 Abschluss der Arbeit: 26.06.2013 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Die Französische Revolution – Meilenstein der Demokratisierung in Europa 4 2. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft 5 3. Zusammenfassung und Ausblick 7 4. Literatur 8 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 4 1. Die Französische Revolution – Meilenstein der Demokratisierung in Europa Nachdem der französische König Ludwig XVI. den 14. Juli 1789 mit einer letztlich erfolglosen Jagdgesellschaft verbracht hatte, begab er sich im Schloss von Versailles zu Bett und notierte den berühmt gewordenen Tagebucheintrag: „rien“ (nichts).1 In der Nacht ließ ihn der Herzog von Liancourt wecken, um ihn über die Eroberung der Bastille zu informieren. Erschrocken soll der König ausgerufen haben: „Das ist ja eine Revolte!“ Der Herzog widersprach: „Nein, Sire, das ist keine Revolte, das ist eine Revolution.“2 Bereits seit seiner Thronbesteigung fünf Jahre zuvor hatte Ludwig XVI. mehr oder weniger ergebnislos versucht, der drängendsten Probleme des Ancien Régime Herr zu werden. Die Schwäche des absolutistischen Systems zeigte sich in einem maroden Staatshaushalt, in sozialen Spannungen und in der Unfähigkeit zu Reformen. Die sich im Folgenden entwickelnde erste Phase der Französischen Revolution fand einen ihren Höhepunkte in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1798. Die von dem Gedankengut der Aufklärung getragene Erklärung wurde zu einem wirkungsmächtigen Meilenstein in der europäischen Demokratiegeschichte und die erste europäische Grundrechtscharta. Das von der französischen Nationalversammlung vorgelegte Dokument war zugleich Ausdruck eines selbstbewussten Parlaments, das es in dieser Form in Europa noch nicht gegeben hatte. Das größte und damals reichste Land des Kontinents erwies sich damit als Vorreiter einer demokratischen Bewegung. In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt es: „In der Überzeugung, dass die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen der öffentlichen Missstände und der Verderbtheit der Regierungen sind, haben die in der Nationalversammlung vereinigten Vertreter des französischen Volkes beschlossen, in einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechte darzulegen, damit diese Erklärung allen Mitgliedern des gesellschaftlichen Verbandes beständig vor Augen ist und sie ohne Unterlass an ihre Rechte und Pflichten erinnert werden; damit die Handlungen der gesetzgebenden wie auch der ausübenden Macht in jedem Augenblick mit dem Zweck jeglicher politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Beschwerden der Bürger, von nun an auf einfache und unbestreitbare Grundsätze gegründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung und das Wohl aller richten mögen.“3 1 vgl. Münkler, „Eine neue Epoche der Weltgeschichte“, S.15. 2 Ebd. 3dokumentiert in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B22/89. 26. Mai 1989, S. 14. in einer anderen Übersetzung: http://www.demokratiegeschichte.eu/fileadmin/user_upload/Material/Erklaerung_der_Menschen- _und_Buergerrechte_1789__Material_.pdf (Stand 18.06.2013) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 5 Im Folgenden listet die Erklärung „in Gegenwart und unter dem Schutz des Allerhöchsten“ siebzehn grundlegende Absätze auf, in denen Freiheit, Würde und Schutzrechte jedes Menschen postuliert werden. Zunächst heißt es: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf dem allgemeinen Nutzen begründet werden.“ In Absatz zwei sind die „natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ festgehalten: „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung“. Der Ursprung jeder Herrschaft liege beim Volk. Kein Einzelner könne Herrschaft ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgehe, heißt es weiter. Es folgen Ausführungen zur allgemeinen Ethik des Zusammenlebens („Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet;“) über die Grundlagen der Gesetzgebung („Das Gesetz darf nur die Handlungen verbieten, die der Gesellschaft schaden.“) bis zur Meinungsfreiheit („Die freie Mitteilung der Gedanken und Ansichten ist eines der kostbarsten Menschenrechte.“) und zur Besteuerung: „Alle Bürger haben das Recht, selbst oder durch ihre Vertreter die Notwendigkeit der öffentlichen Abgaben festzustellen, sie frei zu bewilligen, ihre Verwendung zu überwachen und ihre Höhe, ihre Veranlagung, ihre Einziehung und ihre Dauer zu bestimmen.“ Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als großes Ereignis der anfänglichen, liberalen Phase der Französischen Revolution wurde zwar bald überschattet von der Schreckensherrschaft einer Revolutionsregierung, die mit Massenhinrichtungen und ideologisch begründetem Terror gegen alle die vorging, die sie als die „Feinde der Revolution“ definierte. Allein 1793/94 wurden über 16.000 Menschen hingerichtet.4 Gleichwohl blieb die Erklärung Ausdruck der Aufklärung als kultur- und mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung für die Französische Revolution. 2. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft Der spanische Philosoph und Soziologe José Ortega y Gasset bemerkte 1929: „Machen wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes – Theorien und Normen, Wünsche und Vermutungen –, so stellt sich heraus, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen…; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“5 Seit den Anfängen der Europäischen Union in den fünfziger Jahren wird der von anfänglich sechs auf inzwischen 27 Staaten angewachsene Verbund oft hauptsächlich als Wirtschaftsgemeinschaft mit dem weltweit größten Binnenmarkt wahrgenommen. Durch diese rein ökonomische Sicht der Europäischen Union gerät aber oft in Vergessenheit, dass sie von Beginn an vor allem ein Projekt war, das nach zwei Weltkriegen und ihren schrecklichen Folgen 4 vgl. Kaelble, Wege zur Demokratie, S.22. 5 José Ortega y Gasset, Aufstand der Massen, S. 134. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 6 durch die Überwindung der nationalen Grenzen und die Rückbesinnung auf die gemeinsamen Werte und die so reiche gemeinsame Kultur für einen dauerhaften Frieden in Europa sorgen wollte. Altbundeskanzler Helmut Schmidt spricht von einer „europäischen Identität“, die sich zunächst auf die Kultur im engeren Sinne beziehe, „als da wären Religion, Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Architektur und Malerei. Sodann umfasst sie eine politische Kultur, die auf den Idealen der Würde und Freiheit der Person basiert sowie auf gleichen Grundrechten. Es ist die Kultur der demokratischen Verfassungen, des Rechtsstaats mit geordnetem privatem und öffentlichem Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicher Macht und Kirche. Es ist die Kultur des Wohlfahrtsstaates und des Willens zur sozialen Gerechtigkeit. Sie umfasst schließlich die wirtschaftliche Kultur des privaten Landwirts, Unternehmers und Kaufmanns, des freien Marktes, der freien Gewerkschaften, des zuverlässigen Geldwertes und des gesetzlichen Schutzes vor Ausbeutung der Arbeitnehmer durch Arbeitgeber sowie der Verbraucher durch Kartelle und Monopole“.6 Die verbindliche Formulierung des geistigen Gemeinguts begann jedoch erst im Jahr 1999, als ein europäischer Konvent unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog den ersten Entwurf einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union erarbeitete, die ursprünglich Teil eines europäischen Verfassungsvertrages werden sollte. Da der Vertrag 2005 wegen der ablehnenden Referenden in den Niederlanden und Frankreich nicht zustande kam, bekam die Charta erst 2009 Rechtskraft, als im Vertrag von Lissabon ein Verweis auf sie eingefügt wurde.7 Im Vertrag über die Europäische Union (in der Fassung des Lissabonner Vertrags) heißt es in Artikel 2: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“8 Dass die europäische Integration kein Selbstzweck ist, sondern grundlegenden Zielen dient, macht Artikel 3 Absatz 1 deutlich: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“9 6 vgl. Schmidt, Die Selbstbehauptung Europas, S.208. 7 vgl. Schrötter: Kleines Europa-Lexikon, S. 388. 8 vgl. http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/08/st06/st06655-re07.de08.pdf (Stand 19.06.2013) Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie der dazugehörigen Protokolle und Anhänge mit den Änderungen aufgrund des am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten und am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon. 9 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 7 Die Grundrechtecharta geht noch darüber hinaus. In sieben Kapiteln mit insgesamt 54 Artikeln beschreibt sie detailliert die Rechte, Freiheiten und Grundsätze, auf die sich die Europäische Union beruft.10 Das Kapitel I „Würde des Menschen“ konkretisiert beispielsweise: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden.“ Im Artikel 3 werden eugenische Praktiken verboten, insbesondere diejenigen, welche die Selektion von Personen zum Ziel haben. Zudem wird die Nutzung des menschlichen Körpers zur Erzielung von Gewinnen verboten wie auch das reproduktive Klonen von Menschen. Auch im Kapitel IV „Solidarität“ gibt es konkrete Auslegungen des Begriffs. Hier wird beispielsweise das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst formuliert. Im letzten Kapitel „Allgemeine Bestimmungen“ allerdings wird festgelegt, dass die Charta lediglich die europäischen Institutionen „unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips“ binde. Sie begründe weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändere sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Die Charta dokumentiert die gemeinsame europäische Wertebasis. In der Präambel heißt es: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ 3. Zusammenfassung und Ausblick Die Französische Revolution ist nicht zuletzt wegen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ein europäisches Ereignis, das bis heute nachwirkt. Diese Erklärung formuliert die Basis der noch heute gültigen europäischen Werteordnung und zugleich der europäischen Identität. Die von den Ideen der Aufklärung getragene Erklärung von 1789 hat in vielen Bereichen Spuren in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hinterlassen, die 2009 mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Rechtskraft erlangte. Dabei wurden die bereits 1789 formulierten Grundwerte den Begrifflichkeiten und Erfahrungen unserer Zeit angepasst und inhaltlich konkretisiert. Hierzu gehören im Wesentlichen: Achtung der Menschenwürde Freiheit Demokratie Gleichheit Rechtsstaatlichkeit Wahrung der Menschenrechte Hinzu kommen Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern. Diese Werte spielen heute vor allem in zwei konkreten 10 Ebd., S.482ff Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 8 Fällen eine wichtige Rolle: Erstens ist ihre Achtung unerlässliche Voraussetzung für den Beitritt eines neuen Mitgliedstaats zur Union. Zweitens kann die Verletzung dieser Werte zur Aussetzung der mit der Zugehörigkeit eines Mitgliedstaats zur Union verbundenen Rechte führen. In jüngster Zeit führte ein Vorschlag der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament zu Kontroversen, nach dem künftig Parteien, die die „Werte der EU nicht respektieren“, mit Strafzahlungen belegt werden sollten. Man wolle, so die Begründung für diesen Vorschlag, auf diese Weise verhindern, dass „rechtsradikale oder fremdenfeindliche“ Parteien im EU-Parlament vertreten seien. Gegner des Vorschlags wiesen hingegen auf die Gefahr hin, dass damit die Freiheit der Meinungsäußerung und damit eben einer der Grundwerte Europas in Gefahr gebracht werde.11 4. Literatur Bergmann, Jan (Hrsg.): Handlexikon der Europäischen Union, Baden-Baden 2012. http://beckonline .beck.de/?bcid=Y-400-W-mickellexeu. (Stand 19.06.2013). Gasset, José Ortega Y: Der Aufstand der Massen, Stuttgart, 1957. Die spanische Originalausgabe erschien 1930. Joas, Hans; Wiegandt, Klaus (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/Main 2005. Kaelble, Hartmut: Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart 2001. Kinder, Hermann; Hilgemann, Werner: Dtv-Atlas der Weltgeschichte 1. Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. München, 2011. Münkler, Herfried: „Eine neue Epoche der Weltgeschichte“. Revolution als Fortschritt oder Rückkehr? Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (B22/89) vom 26. Mai 1989. Porras Ramirez, Jose: Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, hrsg. von Peter Häberle. Band 60, Tübingen 2012, S. 69ff Schmidt, Helmut: Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Stuttgart, 2000. Schmitt, Eberhard: Die Französische Revolution von 1789. Grundpositionen der Deutung. Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (B22/89) vom 26. Mai 1989. 11 vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 22.05.2013. http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2013/05/22/euplant -strafen-fuer-parteien-die-nicht-die-werte-der-eu-vertreten/ (Stand 19.06.2013) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 051/13 Seite 9 Soboul, Albert: Die große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789 - 1799). Frankfurt am Main, 1973.