© 2016 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 049/13 Das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975 aus heutiger Sicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 2 Das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975 aus heutiger Sicht Verfasser: Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 049/13 Abschluss der Arbeit: 4. Juli 2013 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Themenkomplex 1 5 2.1. Beurteilung des Abkommens aus heutiger Sicht 5 2.2. Beweggründe der damaligen Bundesregierung, das Abkommen abzuschließen 7 2.3. Zeitgenössische Rezeption des Abkommens in Parlament und Öffentlichkeit 8 3. Themenkomplex 2 11 3.1. Deutsch-brasilianische Beziehungen Mitte der 1970er Jahre 11 3.2. Initiatoren bzw. maßgebliche Verfechter des Abkommens 12 3.3. Behandlung des Abkommens in Gremien innerhalb und außerhalb des Parlaments 12 4. Themenkomplex 3 13 4.1. Wahrnehmung des brasilianischen Militärprogramms in Deutschland 13 4.2. Beurteilung der brasilianischen Fähigkeit, Atomwaffen herzustellen, aus heutiger Sicht 14 5. Themenkomplex 4 19 5.1. Realisierungsgrad des Abkommens Stand heute 19 6. Themenkomplex 5 21 6.1. Bedeutung des Abkommens heute im Spiegel des Atomausstiegsbeschlusses der Bundesregierung 21 6.2. Bedeutung des Abkommens heute für die deutsch-brasilianischen Beziehungen 22 7. Quellen- und Literaturverzeichnis 22 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 4 1. Einleitung Brasilien ist mit 8,5 Mio. Quadratkilometern das fünftgrößte Land der Welt. Es gehört zu den sog. BRICS-Staaten (also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die aufgrund aktueller wirtschaftlicher Dynamik als „kommende Weltmächte“ oder zumindest als an der Schwelle zu weltpolitischer Bedeutung stehende Länder betrachtet werden. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Intensivierung dieser Beziehungen waren die 1970er Jahre . Damals gab es eine Reihe vertraglicher Vereinbarungen zwischen der sozial-liberalen Koalition in Bonn und der brasilianischen Regierung, die von 1964-1985 vom Militär dominiert wurde und autoritäre Strukturen aufwies. Teilweise spricht die Forschung sogar explizit von einer Militärdiktatur , die in Brasilien vor der 1985 einsetzenden Transition zu demokratischen Verhältnissen geherrscht habe, was aber auf die bilateralen Beziehungen keinen Einfluss gehabt zu haben scheint.2 Eines der bekanntesten Beispiele damaliger Kooperation zwischen Bonn und Brasilia ist das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975, das den Bau von acht KKWs durch die deutsche Kraftwerk Union AG, einer Kooperation von AEG und Siemens, vorsah sowie Bestimmungen über breit angelegten Technologietransfer enthielt. Im Zusammenhang mit dieser bis heute gültigen Vereinbarung, die auf brasilianischer Seite einen 1990 offiziell aufgehobenen geheimen militärischen Zusatzteil (sog. „Parallel-Programm“) enthielt, versucht vorliegende Ausarbeitung folgende Fragen zu beantworten: Themenkomplex 1: Wie wird der Atomvertrag aus heutiger Sicht beurteilt? Was waren die Beweggründe der damaligen Bundesregierung, dieses umfassende Vertragswerk einzugehen? Wie wurde der Vertrag damals im Parlament und in der Öffentlichkeit aufgenommen? Themenkomplex 2: Wie waren damals die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zum autoritär regierten Brasilien? Wer hat maßgeblich den Vertrag eingefädelt? Inwiefern war das Parlament einbezogen, welche Gremien haben sich mit dem Vertrag befasst? Themenkomplex 3: Wurde das geheime Militärprogramm der Brasilianer in der deutschen Öffentlichkeit und im Bundestag wahrgenommen? Was ist heute bekannt über die Fähigkeiten Brasiliens , Atomwaffen herzustellen? 1 2 Vgl. dazu etwa die Einschätzung von Gans, S.405, die 1994, also zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Aufsatzes, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Strategische Analysen (ISA) in Bonn war. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 5 Themenkomplex 4: Was wurde bis heute vom Vertrag realisiert? Themenkomplex 5: Welche Rolle spielt der Vertrag heute angesichts des Atomausstiegsbeschlusses der Bundesregierung? Welche Bedeutung hat der Vertrag heute für die deutschbrasilianischen Beziehungen? 2. Themenkomplex 1 2.1. Beurteilung des Abkommens aus heutiger Sicht Der Tagesspiegel kritisierte unlängst die 1975 vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Brasilien auf nuklearem Gebiet als verfehlte Weichenstellung.3 Der in Berlin erscheinenden Zeitung zufolge waren die von Brasilien gewählten Standorte für die im Zuge des Abkommens gebauten Kernkraftwerke zu riskant und bergen bis heute unkalkulierbare Risiken, die nach Fukushima kaum mehr vertretbar erscheinen.4 Ähnlich kritische Stimmen dominieren die aktuelle Berichterstattung, die allerdings als nicht besonders intensiv einzustufen ist. Verständnis wird gelegentlich hinsichtlich der Beweggründe Brasiliens geäußert, in den 1970er Jahren (und inzwischen wieder) auf Atomkraft zu setzen.5 Das südamerikanische Flächenland schien damals durch eine Reihe unvorhergesehener Entwicklungen seine lange Zeit für sicher gehaltene Autarkie in energietechnischer Hinsicht zu verlieren. Seine „schier unerschöpflichen Wasserkraftreserven“6 konnten, wie es hieß, nicht verhindern, dass das Land im Zuge der Energiekrise von 1973 und wegen wachsender Industrialisierungsbedürfnisse mehrfach Versorgungsschwierigkeiten im Bereich Elektrizität bekam. Infolgedessen suchten die brasilianischen Regierungen nach einem zweiten „Energie-Standbein“, das die Strombereitstellung sichern sollte. Aufgrund hoher Uranerzvorkommen im Land erschien den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft die damals noch durch keine größeren Havarie-Erfahrungen belastete Kernenergie als nächstliegende Alternative.7 Dazu hieß es bereits in einer Analyse von 1979 bestätigend: „In Brasilien ist die Entscheidung für die Kernenergie in erster Linie auf die außergewöhnliche Belastung durch umfangreiche und zunehmend kostspielige Energieimporte zurückzuführen. Brasilianische Regierungsvertreter bekennen mit seltener Offenheit, daß beträchtliche Anstrengungen zur Suche nach Erdöl und Erdgas keinen nennenswerten Erfolg gebracht haben. Außerdem ist vorauszusehen, daß die gewaltigen Reserven des Landes an Wasserkraft, soweit sie in der Nähe der Verbrauchszentren liegen, 3 Vgl. Lichterbeck, Philipp, Tagesspiegel-Artikel „Atomstrom aus dem Regenwald“ vom 28.04.2013. 4 Vgl. ebd. 5 Ebd. 6 Herzog, S.81. 7 Vgl. ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 6 etwa bis 1990 voll genutzt sein werden. Der Kernenergie wird deshalb eine große Bedeutung als zusätzliche und alternative Energiequelle zugemessen.“8 In derselben Analyse steht an anderer Stelle: „Über den Umfang der brasilianischen Uranreserven gibt es nach wie vor erhebliche Spekulationen. Brasilianische Regierungsvertreter – darunter auch der Minister für Bergbau, Shigeaki Ueki – sprechen von Vorkommen im Umfang von 60 000 Tonnen, die den Bedarf von zehn 1300-MW-Reaktoren decken könnten. Brasilien verfügt auch über große Lagerstätten von Thorium. Brasilianische Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, die mit ausländischer Hilfe vorangetrieben werden, zielen auf den Einsatz von Thorium als Brennstoff in fortgeschrittenen Konversionsreaktoren und gasgekühlten Brutreaktoren.“9 Vor dem Unglück von Fukushima und der anschließenden Rückkehr der Bundesregierung zum Beschluss von Rot-Grün, aus der Atomtechnologie auszusteigen, bekannten sich auch Vertreter der christlich-liberalen Regierungskoalition in Berlin mit Blick auf Lateinamerika nachdrücklich zu diesen brasilianischen Argumenten der Versorgungssicherheit und verteidigten das Abkommen im Parlament. Dazu etwa der CDU-Abgeordnete Pfeiffer: „Der Stromverbrauch in Brasilien ist seit 1990 um 74 Prozent angestiegen und zwar auf fast 400 TWh in 2005. […] Brasilien setzt dabei fast ausschließlich auf einen Energieträger: die Wasserkraft mit 83 Prozent. Welche Gefahren eine so einseitige Ausrichtung mit sich bringt, hat das Land 2001 heftig zu spüren bekommen . Nach einer langen Trockenperiode musste die Stromversorgung in weiten Teilen des Landes rationiert werden. Mit einer Zunahme um über 50 Prozent bis 2020 rechnen die IEA [Internationale Energie Agentur] und die brasilianische Energiebehörde. Zubau der Wasserkraft ist möglich , doch nicht mehr in dem Maße wie in den vergangenen Jahrzehnten, da die Potenziale ausgeschöpft sind.“10 Daher sei, so Pfeiffer weiter, ein vernünftiger Energiemix, der auch Kernkraft beinhalte, für Brasilien anzuraten.11 Mittlerweile äußern sich offizielle deutsche Stellen zurückhaltender. Damit bleibt offen, ob das einst von Kanzler Helmut Schmidt mit dem brasilianischen Präsidenten General Ernesto Beckmann Geisel geschlossene Abkommen13 zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch immer befürwortet wird oder man es lediglich als juristische Weichenstellung der Vorgängerregierungen hinnimmt. 8 Redick, S.280-281. 9 Ebd., S.281-282. 10 Rede vom 25. Oktober 2007, 16. WP, 121. Sitzung des Bundestages. Anlage 2 zum Stenografischen Bericht. 11 Vgl. ebd. sowie die Hinweise von Adamek, S.130. 12 13 Vgl. den Artikel „Brasilien atomar“ in „taz“ vom 15.11.2004. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 7 2.2. Beweggründe der damaligen Bundesregierung, das Abkommen abzuschließen Das Abkommen mit Brasilien sei in diesen Zusammenhang einzuordnen. In der Forschung werden aber auch andere Beweggründe genannt. Mit Blick auf den langen Vorlauf des Abkommens, der bis in die 1950er Jahre zurückreichte und damit begann, dass Bonn 1958 drei Uranzentrifugen an Brasilien lieferte18, werden etwa auch militärische Überlegungen nicht ausgeschlossen. Darauf weist z.B. Jean Krasno vom Hunter College hin. Sie schreibt: „As the story goes, a Brazilian admiral, Alvaro Alberto, having already approached France and the United States without success, went to West Germany in 1953 and met with Paul Harteck of Hamburg´s Institute of Physics. Harteck put Alberto in touch with physicist Wilhelm Groth, who grabbed Alberto´s proposal with both hands. Since West Germany was forbidden to pursue nuclear enrichment at a level that might produce a bomb, German scientists welcomed an opportunity to do research abroad.”19 Beim Abkommen von 1975 spielten solche militärischen Überlegungen allem Anschein nach auf deutscher Seite keine Rolle.20 Das zentrale Argument war nunmehr der Erhalt bzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen in der damals expandierenden deutschen Atomindustrie und bei ihren Zulie- 14 15 16 17 Ebd. 18 Wolfgang Kunath in: Stuttgarter Zeitung vom 13.01.2006, Artikel „Seit 23 Jahren geplant: Atommeiler in den Tropen“. Zur Chronologie dieser „Vorgeschichte“ des Abkommens vgl. detailliert, wenngleich tendenziös Buchsbaum, S.35-39. 19 Krasno, S.429. 20 Vgl. Wöhlcke, S.8/9 und - mit kritischerer Haltung – Eichhorn, S.14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 8 ferern.21 Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen in Deutschland, die 1975 erstmals seit 1955 wieder die Millionengrenze überschritten, galt das als lukrativ betrachtete Atomabkommen mit einem Volumen von 12 Mrd. DM den politischen Entscheidungsträgern in Deutschland als unerhörter Glücksfall, als entscheidendes Instrument, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu verringern. Vom Volumen her war es der bis dahin größte Exportauftrag der westdeutschen Geschichte und wurde von der Regierung Schmidt einhellig begrüßt.22 Der federführende Beamte, Ministerialdirigent Schmidt-Küster, etwa rechnete mit nachhaltigen Impulsen für den deutschen Export, ja mit positiven „spill-over“-Effekten auf andere Branchen und sagte: „Rund um die Kraftwerke wollen die Brasilianer ja weitere Industrien aufbauen – Stahlwerke, Düngemittelfabriken und vieles andere. Das gibt viel Arbeit für unsere Industrie und auch für andere.“23 2.3. Zeitgenössische Rezeption des Abkommens in Parlament und Öffentlichkeit Als Regierungsvereinbarung unterhalb der völkerrechtlichen Vertragsschwelle musste das Atomabkommen weder ein Gesetzgebungs- noch Ratifizierungsverfahren im Deutschen Bundestag durchlaufen. Eine ausführliche Debatte fand deshalb hier während der 7. Wahlperiode (1972- 1976) nicht statt. Das Sachregister der Parlamentsdokumentation verweist denn auch nur auf eine geringe Anzahl kleiner Anfragen (mündlich und schriftlich), die von MdB-Seite zum Abkommen gestellt wurden, aber offensichtlich keine größere politische Diskussion nach sich zogen. Diese Anfragen sind nachfolgend komplett aufgelistet: „Beurteilung des indischen Atomversuchs durch Brasilien“ (Drs 7/2296) (KlAnfr). „Verstärkung der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Kernforschung, Kerntechnik und Urananreicherung“ (BT PlPr 7/106, 11.6.74, S.7268B, SchrAnfr). „Kampagne verschiedener US-Konzerne gegen die deutsch-brasilianischen Kernenergiekooperationspläne “ (BT PlPr 7/178, 12.6.75, S.12471 C – 12472 A, MdlAnfr). „Einwände der USA gegen das mit Brasilien geplante Kooperationsabkommen über friedliche Nutzung der Kernenergie“ (BT PlPr 7/178, 12.6.75, S.12477 A – 12478 B, MdlAnfr). „Intervention der amerikanischen Regierung und anderer westlicher Staaten gegen das geplante deutsch-brasilianische Kernkraftwerksgeschäft“ (BT PlPr 7/182, 20.6.75, S. 12771 C-D, MdlAnfr). 21 Vgl. Eichhorn, S.14 sowie den Artikel „Querschüsse aus den USA“ von Heinz Michaelis in „Die Zeit“ vom 20. Juni 1975. Hier heißt es: „Das Brasilien-Geschäft […] sichert nun erst einmal die Arbeitsplätze bei der KWU. Rund 13000 Menschen arbeiten dort in den Fabriken, Ingenieurbüros und Verkaufskontoren, ´fast alles hochqualifizierte Facharbeiter und ein großes Ingenieurteam.´ Dazu kommen dann die Folgewirkungen, denn nur 20 Prozent der Teile werden in den Werkshallen der KWU gefertigt. 80 Prozent stammen von Unterlieferanten, so daß an jedem Kernkraftwerk 300 Firmen beteiligt sind.“ 22 Vgl. Artikel „Fix und Fertig“ im Spiegel vom 9. Juni 1975, S.34. 23 Zit. nach dem Artikel „Querschüsse aus den USA“ von Heinz Michaelis in „Die Zeit“ vom 20. Juni 1975. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 9 „Vereinbarkeit des Abkommens mit Brasilien über die friedliche Nutzung der Kernenergie mit dem Atomwaffensperrvertrag“ (BT SchrAnfr. 5, 6 und 7 Kern SPD, 16.7.75, Drs 7/3860, Schr- Antw. Dr. Gehlhoff StSekr AA, 16.7.75, Drs 7/3860). „Stand des Ratifikationsverfahrens zum Atomwaffensperrvertrag in Brasilien“, BT PlPr 7/193, 16.10.75, S. 13399 D – 13400 A, MdlAnfr). „Revision der atomaren Abkommen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs mit Brasilien “ (BT PlPr 7/210, 12.12.75, S. 14542 D – 14543 A, MdlAnfr). „Verstoß gegen internationale Abkommen durch den Verkauf von Kernkraftwerken an Brasilien“ (BT Drs 7/5951, 13.12.76, S. 4, SchrAnfr). Im Zentrum dieser Anfragen standen die massiven Einwände der US-Amerikaner gegen das Abkommen , die für eine gewisse Aufregung in der deutschen Öffentlichkeit sorgten. Dabei zeigte sich eine deutliche Parteinahme der deutschen Leitmedien für die Regierung Schmidt. „Spiegel“ und „Zeit“ etwa unterstellten den amerikanischen Vorbehalten gegen das Abkommen egoistische Motive. Die USA hätten selbst gerne den Atom-Deal abgeschlossen und „neideten“ nun den Deutschen den Erfolg.24 Im Hamburger Nachrichtenmagazin war am 9. Juni 1975 beispielsweise von „schlecht getarnte[n] Versuche[n]“ Washingtons die Rede, „den Mammut-Auftrag doch noch für die eigene Industrie an Land zu ziehen.“25 Und Joachim Sckwelien echauffierte sich in der Zeit-Ausgabe vom 27. Juni 1975: „Es geht nicht an, daß Industriegiganten wie die Vereinigten Staaten nach der Flugzeugindustrie und der Computerproduktion nun auch den Reaktorweltmarkt für sich mit Beschlag belegen. Das widerspräche den marktwirtschaftlichen Grundsätzen des freien Wettbewerbs, die Amerika bereits dadurch ausgehöhlt hat, daß es den Westdeutschen mit billigen Krediten seiner Import-Exportbank große Reaktorgeschäfte in Jugoslawien und Spanien vor der Nase wegschnappte.“26 Die deutsche Presse befand das deutsch-brasilianische Atomgeschäft insgesamt als unbedenklich, ja notwendig. Dazu noch einmal Sckwelin: „Da die Bundesrepublik exportabhängig ist und im Kernenergiesektor nur konkurrenzfähig bleiben kann, wenn sie Großanlagen ins Ausland liefert, ist dieses Geschäft wirtschaftlich völlig gerechtfertigt.“27 Kritischer als in Deutschland fielen die Reaktionen im Ausland aus, besonders nachdem der 1977 ins Amt gekommene US-Präsident Jimmy Carter die bis dahin nur vom Kongress erhobenen Bedenken gegen Brasiliens Atomprogramm aufgriff und das mit Deutschland geschlossene Abkommen nun auch unter Menschenrechtsaspekten kritisierte.28 Über diese Phase berichtet Redick 24 Vgl. den Artikel „Neid der Multis“ im Spiegel vom 23. Juni 1975, S.62. 25 Artikel „Fix und Fertig“ im Spiegel vom 9. Juni 1975, S.34. 26 Artikel „Heißes Geschäft mit dem Atomstrom“, 27. Juni 1975. 27 Ebd. 28 Vgl. Eichhorn, S.14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 10 in seiner Bestandsaufnahme der Ereignisse von 1979. Er schreibt: „Das Abkommen von 1975 über die nukleare Zusammenarbeit zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland löste eine heftige internationale Debatte und besorgte Anfragen hinsichtlich der Verbreitung von Atomwaffen aus. Als Resultat der ausländischen Kritik verstärkte sich der Enthusiasmus der Brasilianer für ihr nationales Atomprogramm noch. Der Präsident der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Furnas Centrais Electricas verstieg sich 1977 zu der ganz unrealistischen Prognose, Brasilien werde im Jahre 2000 etwa 63 Kernkraftwerke in Betrieb haben. Steigende Kosten, technische Probleme und neue Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit der Kernenergie haben jedoch dazu beigetragen , daß Anfang 1979 das brasilianische Atomprogramm deutlich an Schwung verloren hat.“29 Aus der Sicht von 1988 ergänzt Wöhlcke: „Der deutsch-brasilianische Atom-Vertrag von 1975 war in mehrerer Hinsicht umstritten; kritische Stimmen wurden laut im Hinblick auf die vermeintlich ´überholte´ Technik, auf die großen brasilianischen Wasserkraftreserven, auf die hohen Kosten, auf Gesundheits- und Umweltrisiken und auf die Möglichkeit einer Nutzung der importierten Technologie für militärische Zwecke. In bezug auf den letzten Punkt wurde argumentiert, daß der deutsch-brasilianische Vertrag den NV-[Nichtverbreitungs-]Vertrag zwar formal nicht verletze, Brasilien aber die Chance eröffne, ihn durch den Aufbau und die selbständige Weiterentwicklung paralleler Kapazitäten auf der Basis der importierten Technologie zu unterlaufen.“30 Und weiter: „Der deutsch-brasilianische Atomvertrag sah unter anderem vor, daß Brasilien die Technologie der Urananreicherung mittels der sogenannten Ultrazentrifuge bekommen würde, die eine Hochanreicherung von Uran 235 erlaubt, wie sie für Kernwaffen erforderlich ist. Aufgrund massiven Drucks seitens der USA entschloß sich der deutsche Partner, lediglich die ältere und weniger effiziente Technologie der sogenannten Jet-Zentrifuge (Trenndüsenverfahren in Resende /Bundesstaat Rio de Janeiro) weiterzugeben, mit der eine Anreicherung von Uran 235 für die zivile Nutzung der Kernenergie möglich ist, nicht aber eine Hochanreicherung für Kernwaffen . Die brasilianischen Militärs reagierten darauf mit dem ´parallelen Programm´ einer Hochanreicherung von Uran 235 sowie der Herstellung von Plutonium 239, das als Nebenprodukt beim Betrieb von normalen Leistungsreaktoren entsteht.“31 Dieses parallele Programm war der Kontrolle seitens der International Energy Agency (IAEA) entzogen. Die Forschungsanlage für die Anreicherung lag in Iperó (Bundesstaat Sao Paolo) und wurde von der Kriegsmarine betrieben; die Trennung von Plutonium (aus dem Kernkraftwerk Angra-1, das die US-Amerikaner gebaut hatten ) erfolgte im Instituto de Pesquisas Energéticas e Nucleares (IPEN/Sao Paolo). Dazu ergänzt Wöhlcke aus der Sicht von 1988: „Informationen, wonach im Rahmen dieses Projekts ´nur´ ein Kernantrieb für U-Boote entwickelt werde, konnten die Kritiker nicht überzeugen, weil diese Informationen unbestätigt blieben und weil der Bau eines solchen Antriebs ein technologisches Niveau voraussetzt, das auch die Entwicklung von Kernwaffen erlaubt. Der springende Punkt wäre also die Möglichkeit, den U-Boot-Antrieb als Alibi für die Legitimierung einer 29 Redick, S.281. 30 Wöhlcke, S.9. 31 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 11 Hochanreicherung von Uran zu benutzen, was die Entwicklung von Kernwaffen außerhalb internationaler Kontrollen ermöglichen würde.“32 3. Themenkomplex 2 3.1. Deutsch-brasilianische Beziehungen Mitte der 1970er Jahre Die Beziehungen sind schwer zu quantifizieren, dürfen jedoch als rege bezeichnet werden und reichten bis in den Bereich deutscher Direktinvestitionen in das brasilianische Schulsystem. Dies geht aus den zahlreichen Eintragungen im Sachregister des Deutschen Bundestages aus der 7. Wahlperiode (1972-1976) hervor. Beispiele für die hier unter dem Stichwort Brasilien aufgelisteten Dokumente sind etwa das „Gesetz zu dem Abkommen vom 27. Juni 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Republik Brasilien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen“33 oder der „Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Aufrechterhaltung der Regelung der Aussetzung der Erteilung von Einfuhrgenehmigungen für Einfuhren in die Bundesrepublik Deutschland von Baumwollgeweben, roh und gebleicht, mit Ursprung in der Bundesrepublik Brasilien.“34 Das Hauptgewicht lag auf bildungspolitischen und wirtschaftlichen Fragen, besonders auf solchen der bilateralen Handelsbeziehungen. Brasilien wurde auf diesem Gebiet für Deutschland in den 1970er Jahren zu einem zunehmend wichtigen Kooperationspartner in Lateinamerika. Das deutsch-brasilianische Atomabkommen ist in diesem Zusammenhang zu sehen und von deutscher Seite maßgeblich als Element einer Exportförderungsstrategie mit allgemeinwirtschaftlichen Konsequenzen betrachtet worden.35 Vorbereitet wurde das Abkommen bereits zu Beginn der sozial-liberalen Ära in Bonn. Erster Ausdruck der Bemühung um atomtechnische Zusammenarbeit war das ebenfalls im Sachregister der Parlamentsdokumentation aufgeführte „Gesetz zu dem Vertrag vom 7. Juni 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Republik Brasilien über das Einlaufen von Reaktorschiffen in brasilianische Gewässer und ihren Aufenthalt in brasilianischen Häfen.“36 Auf den rechtlichen Aspekt des Handels mit Nukleartechnologie abzielend, beweist dieses Gesetz, dass bereits die Regierung Brandt in Verhandlungen über kerntechnische Kooperationen mit dem Militärstaat Brasilien stand und das vom Kabinett Schmidt später geschlossene Abkommen in dieser Hinsicht kein Solitär innerhalb der sozial-liberalen Ära war.37 32 Wöhlcke, S.10. 33 Siehe Doppelbesteuerungsabkommen BR Drs 611/75 (BT Drs 7/4229). Dieses Doppelbesteuerungsabkommen wurde zum 1. Januar 2006 gekündigt 34 BT Drs 7/ 3829, vgl. auch Parlamentsdokumentation Sachregister 07B, 7. WP, S.425. 35 Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 2.2. 36 BT Drs 7/903, vgl. auch Parlamentsdokumentation Sachregister 07B, 7. WP, S.424/425. 37 Vgl. Buchsbaum, S.38/39. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 12 3.2. Initiatoren bzw. maßgebliche Verfechter des Abkommens Laut Herzog von der Kraftwerk Union (KWU), dem industriellen Kooperationspartner der Brasilianer , ging die Initiative zum Abkommen von 1975 von Brasilien aus. Er schreibt: „In dieser Situation [der Energiekrise von 1973] entwickelte man [in Brasilien] das Konzept, durch eine breit angelegte vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Brasilien und einem auf dem Gebiet der friedlichen Kernenergienutzung ausreichend entwickelten Industrieland die notwendige Basis zur Know-how-Übertragung zu schaffen. Brasilien entschied sich 1974/75 zur Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland.“38 Neben dem Abkommen mit Deutschland ist Brasilien im Nuklearbereich bis 1988 auch Kooperationen mit Italien, Spanien, USA, VR China, Paraguay, Peru und Venezuela eingegangen.39 Hauptverfechter des Abkommens innerhalb Brasiliens war das Militär in seinem Bestreben, das sog. „Parallel-Programm“ (geheime Aufrüstung) voranzubringen. Diese Zielsetzung wurde nach 1990 von der demokratischen Regierung des Präsidenten Collor offengelegt, kritisiert und für offiziell beendet erklärt.40 Zweck des Abkommens war es, Brasilien die Fähigkeit zu vermitteln, nach Fertigstellung der acht von Deutschland zu bauenden KKWs selbst Atomkraftwerke zu bauen. „Alle acht Kernkraftwerke sollen dem Typ des 1300-MW-Kernkraftwerks mit Druckwasserreaktor entsprechen, der von der Kraftwerk Union AG (KWU) entwickelt wurde. Die ersten beiden dieser Kernkraftwerke sollen in der Nähe von Angra dos Reis, 130 km südwestlich von Rio de Janeiro, entstehen .“41 Dabei handelt es sich um die Reaktoren Angra-2 und Angra-3. Angra-1 war ein älterer Atomreaktor , den die Amerikaner für Brasilien gebaut hatten und der nur 600 MW Leistung brachte, was für Brasilien mit ein Grund war, auf Deutschland als Kooperationspartner auszuweichen.42 3.3. Behandlung des Abkommens in Gremien innerhalb und außerhalb des Parlaments Wegen der schon unter Abschnitt 2.2. erwähnten Qualität des Abkommens als Vereinbarung unterhalb der Ratifizierungsschwelle fanden auch in den folgenden Wahlperioden nach 1975 eher wenige Debatten im Parlament statt. Eine gewisse Häufung ist erst in der aktuellen 17. WP festzustellen . Dies geht aus den im Anhang beigefügten DIP-Auszügen hervor, die unter dem Stichwort „deutsch-brasilianisches Atomabkommen“ angefertigt wurden und den bis in die Gegenwart eher 38 Herzog, S.81. 39 Vgl. Wöhlcke, S.13. 40 Krasno, S.430. 41 Herzog, S.81. 42 Vgl. ebd., S.82. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 13 randständigen Charakter des Themas in der parlamentarischen Auseinandersetzung dokumentieren . Die ebenfalls beigefügten Presseberichte zum Thema, von der Pressedokumentation erstellt und als repräsentativer Querschnitt der publizistischen Auseinandersetzung mit dem deutschbrasilianischen Atomabkommen zu betrachten, ergeben das gleiche Bild für die allgemeinere Öffentlichkeit . Auch hier kam es eher selten zu einer Erörterung der Thematik. Offensichtlich stand das Abkommen von 1975 zu keinem Zeitpunkt in Deutschland im Mittelpunkt des Interesses. 4. Themenkomplex 3 4.1. Wahrnehmung des brasilianischen Militärprogramms in Deutschland Die Stuttgarter Zeitung wies 2006 darauf hin, dass die brasilianischen Militärs stets im Verdacht gestanden hätten, bei ihrem Eintreten für den Ausbau von Kernkraftwerken „nicht nur die friedliche Nutzung im Sinn zu haben.“43 Beweise dafür in Gestalt des als „Parallel-Programm“ tatsächlich vertretenen Aufrüstungskonzepts gelangten jedoch erst 1987 ins Ausland und dürfen nicht vor 1990 als allgemein bekannt bezeichnet werden, also erst zu einem Zeitpunkt, als das Aufrüstungsprogramm offiziell nicht mehr bestand. Vielleicht erklärt sich damit die bereits erwähnte geringe Wahrnehmung in Deutschland, die nicht nur für das zivile Atomprogramm Brasiliens gilt, sondern auch speziell für dessen einstigen militärischen Teil. In einem aktuellen Fernsehbeitrag des ZDF Auslandsjournals über Brasilien war bezeichnenderweise vom Atomprogramm keine Rede.44 Gelegentlich gehen zwar die Printmedien auf Nuklearaspekte ein, wie die im Anhang beigefügte Pressedokumentation zeigt45, doch kann auch hier nur von einem bestenfalls beiläufigen Interesse gesprochen werden. Die Neue Züricher Zeitung etwa argumentierte 2007, als Brasiliens Interesse am Atomprogramm wieder massiv stieg, sehr vorsichtig: „Auch militärische Interessen können hinter der Kernenergie-Diskussion in Brasilien stehen. Zwar gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Brasilien die Absicht hätte, atomaren Sprengstoff herzustellen; das Land ist 1998 dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, und die Anreicherungsanlagen sind von der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) inspiziert worden. Dennoch verfolgt Brasiliens Marine nach wie vor das Ziel, nukleare Antriebsformen für U-Boote zu entwickeln; das Anreicherungsprogramm geht im wesentlichen auf die Initiative und das Know-how der Marine zurück. Durch den Bau weite- 43 Stuttgarter Zeitung vom 13.01.2006, Artikel „Seit 23 Jahren geplant: Atommeiler in den Tropen“, von Wolfgang Kunath. 44 „auslandsjournal XXL: Sonne, Samba und Protest – Brasilien auf dem Weg zur WM.“ ZDF-Sendung vom 26.06.2013, Ausstrahlung 22.55 Uhr bis 23.40 Uhr. 45 Vgl. etwa den Artikel „Brasilien liebäugelt wieder mit der Kernkraft“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30.06.2007, in dem auch von militärischen Interessen als möglichen Motiven für den „nuklearen Flirt“ des Landes die Rede ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 14 rer Kernkraftwerke und den Ausbau der Urananreicherung würde sich die Marine in ihrem seit langem verfolgten Projekt gestärkt sehen.“46 Lediglich publizistische Einzelstimmen widmen sich gezielt dem Thema. So ist als ein prominenter Warner vor brasilianischen Rüstungsabsichten Hans Rühle zu nennen, der frühere Leiter im Planungsstab des Bundesverteidigungsministeriums. Mehrfach trat Rühle 2010 an die Öffentlichkeit mit Beiträgen über die Rüstungsambitionen Brasilias. Er rechnete mit dem ersten Bau einer Bombe binnen dreier Jahre.47 Auch sein Namensvetter Michael Rühle, der für den NATO- Generalsekretär arbeitet, hält in seiner 2010 veröffentlichten Glosse „Wie wird man Atommacht?“ Brasilien für eines der wahrscheinlichsten Länder mit konkreten Ambitionen im Atomwaffenbereich . Mit Blick auf die auffallende Beschleunigung der brasilianischen Uran-Anreicherung, die von dortigen Stellen damit begründet wird, Treibstoff für Brasiliens atomgetriebene U-Boot-Flotte nur auf diese Weise gewinnen zu können, schreibt Rühle ironisch, im Stile einer „Anleitung“ für werdende Atommächte: „In diesen geheimen, militärisch geleiteten Anlagen werden Sie künftig Uran auf waffenfähiges Niveau anreichern oder Plutonium wiederaufarbeiten. Wenn es Sie nicht stört, dass andere früh Verdacht schöpfen, können Sie noch einen Schritt weiter gehen und zum Beispiel kleine Atomreaktoren für Ihre U-Boote entwickeln. Das ist vielleicht etwas dubios, aber erlaubt. Fragen Sie die Brasilianer.“48 4.2. Beurteilung der brasilianischen Fähigkeit, Atomwaffen herzustellen, aus heutiger Sicht Trotz der plausibel erscheinenden Mutmaßungen beider Rühles gibt es keinen vollgültigen Beweis dafür, dass Brasilien inzwischen wirklich Nuklearwaffen herstellen kann oder dies auch nur will. Dies liegt größtenteils an der konsequenten Ablehnung von kompletten Vor-Ort- Inspektionen internationaler Kontrolleure durch Behörden des lateinamerikanischen Landes. Schon 1988 bemerkte Wöhlcke von der SWP in diesem Zusammenhang: Die „brasilianische Nuklearpolitik ist für Außenstehende nicht leicht zu durchschauen, weil sie unter einem Schirm von Geheimhaltung und Desinformationen geschützt wird.“49 Entsprechend unklar sei, ob Brasilien wirklich nach Atomwaffen strebe.50 Immerhin war für Wöhlcke folgendes Tatsache: „Unter Experten herrscht die Meinung vor, daß sowohl Argentinien wie auch Brasilien technologisch in der Lage wären, Kernwaffen herzustellen.“51 Das während der Zeit des Militärregimes in Brasilien (1964-1985) bzw. in der Transitionsphase hin zur Demokratie (1985-1990) betriebene geheime Militärprogramm (sog. Parallel.Programm)52 46 NZZ vom 30.06.2007, Artikel „Brasilien liebäugelt wieder mit der Kernkraft.“ 47 Vgl. Hans Rühle (2010), passim. 48 Michael Rühle, Wie wird man Atommacht?, S.48. 49 Wöhlcke, S.3. 50 Vgl. ebd., S.5. 51 Ebd., S.12. 52 Vgl. Krasno, S.429. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 15 war bis zu seiner Einstellung in den 1990er Jahren nach Ansicht von Experten schon so weit gediehen , dass bereits ein Versuchsgelände in Cachimbo errichtet wurde.53 Inwieweit das bereits als Nuklearwaffenbefähigung interpretiert werden kann, ist jedoch in der Forschung umstritten. Dazu schreibt Krasno 1994: „As of January 1993, a nuclear non-proliferation official in the U.S. State Department believed that Brazil had not yet gained the ability to produce weapons-grade fuel in the necessary quantity. However, a group of Brazilian nuclear physicists predicted in 1989 that this capability may only be a few years off, while the former president of Brazil´s Physics Society, Luis Pinguelli Rosa, testified in December 1992 that the Aramar facility is continuing to expand and that about nine hundred centrifuges were in operation.”54 Krasnos Fazit lautete, dass eine genaue Einschätzung von Brasiliens technologischen Fähigkeiten Mitte der 1990er Jahre aufgrund der Geheimhaltungspolitik im Land nicht möglich sei, dass die Zeichen aber auf eine in naher Zukunft bestehende Fähigkeit zum A-Bomben-Bau deuteten: „In addition to having the capacity to enrich uranium to the degree necessary for a bomb, Brazil has its own uranium deposits and manufactures missiles and aircraft capable of carrying nuclear weapons . If Brazil intended to develop a nuclear capability, it could become completely selfsufficient in a matter of a few years.“55 Wöhlcke vertrat, wie einleitend gezeigt, 1988 eine ähnliche Position, bezog in seine Überlegungen allerdings explizit die Nachbarstaaten Brasiliens als Erklärungsfaktor mit ein. So sei es etwa für die Frage, ob Brasilien ernsthaft nach der Bombe strebe, wichtig, ob sein Lokalrivale Argentinien dies ebenfalls tue. Das sei freilich unklar und mache die Antwort dadurch noch komplizierter : „Die Frage, ob einer der beiden oder beide Staaten Kernwaffen herstellen können, wird in der Regel in einer Art beantwortet, die einem Verwirr- und Versteckspiel gleichen. Die gegenwärtige zivile Führung beider Länder lehnt den Bau von Kernwaffen zwar kategorisch ab, befürwortet aber gleichzeitig die Entwicklung der entsprechenden Kenntnisse und Technologien, um sich alle Optionen in einer veränderten Situation offenzuhalten. Die verfassunggebende Versammlung Brasiliens mochte sich derartigen Ambivalenzen allerdings nicht länger anschließen und beschloß im August 1988 einen Verfassungsartikel, demzufolge alle nuklearen Aktivitäten innerhalb des Staatsgebiets nur friedlichen Zwecken dienen dürfen und die Zustimmung des Kongresses benötigen. Es wird sich herausstellen müssen, welche Interpretationsmargen der Begriff der ´friedlichen Zwecke´ letztlich haben wird und inwieweit Anspruch und Wirklichkeit bezüglich der Verfassung miteinander kompatibel bleiben werden. In den Streitkräften scheint die Reserve gegenüber Kernwaffen geringer als in der gegenwärtigen zivilen Führung zu sein, und es kann wohl nicht gänzlich ausgeschlossen werden, daß es in beiden Ländern in Zukunft erneut Militärregime geben könnte, die möglicherweise eine positive Einstellung zur Kernwaffenoption haben werden. Mehrere Motive könnten dabei eine Rolle spielen: - Machtdemonstrationen der Streitkräfte ´nach innen´, d.h., an die Adresse der sogenannten ´sociedad(e) civil´; 53 Vgl. Krasno, S.430. 54 Ebd., S.431/432. 55 Ebd., S.432. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 16 - symbolische Betonung von Unabhängigkeit gegenüber der Sicherheits- und Hegemonialpolitik der USA; - Unterstreichung eines regionalen Führungsanspruchs in Lateinamerika; - Aufwertung des internationalen Status als bedeutende Drittwelt-Macht; - Reaktion auf die möglicherweise in Entwicklung befindlichen Kernwaffen im jeweiligen Nachbarstaat . Die bislang zögernde Haltung auch des Militärs in bezug auf eine ´eigene Bombe´ hängt wohl mit verschiedenen Faktoren zusammen. Zunächst einmal werden sicherlich erhebliche Widerstände innerhalb der öffentlichen Meinung erwartet, weil die defensive Qualität einer Nuklearstreitmacht schwer zu vermitteln sein dürfte – zumindest, solange der jeweilige Nachbarstaat noch keine ´eigene Bombe´ hat – und weil die Diskussion über den Zusammenhang zwischen Rüstung und Entwicklung in diesem Bereich ganz neue Legitimierungsprobleme aufwerfen könnte. Darüber hinaus würden vermutlich auch die jeweiligen Außenministerien mit Zurückhaltung auf eine sicherheitspolitisch unzureichend begründete Kernwaffenoption reagieren, da sie außenpolitisch mit mehr Nachteilen als Vorteilen verknüpft wäre.“56 Das Fazit Wöhlckes von 1988, das aufgrund unklarer Faktenlage und fortgesetzter „Geheimhaltungspolitik “ Brasiliens auch für die Gegenwart gelten dürfte, lautet: Mit dem definitiven Willen Brasiliens zur Bombe ist nur dann zu rechnen, wenn Argentinien vorprescht und selbst die Bombe baut. Das sei aber nach dem Ende des Kalten Krieges nicht unmittelbar zu erwarten: „Das angedeutete Szenario einer konfliktträchtigen und konkurrierenden Kernwaffenoption Argentiniens und Brasiliens ist z.Zt. sehr unwahrscheinlich. Die wahrscheinlichere und positivere Tendenz zielt in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in Richtung auf mehr Kooperation und Vertrauen .“57 2004 gab es dann allerdings neuerliche Spekulationen über eine Nuklearrüstungsabsicht der Brasilianer , die nun selbst für die zivile Regierung Lula nicht mehr ausgeschlossen wurde, also keineswegs mehr ausschließliches „Steckenpferd“ der Militärs im Lande zu sein schien. Die FAZ schrieb damals: „Die Regierung Lula will auf jeden Fall an ihrem Atomprogramm festhalten, es sogar weiter ausbauen […]. Mißstimmigkeiten gab es zuletzt um die Urananreicherungsanlage Resende. Dort hatte Brasilien mehrfach Inspekteuren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) den Zugang zu den Zentrifugen verwehrt. Dies hatte den Verdacht entstehen lassen, Brasilien nutze sein Atomprogramm möglicherweise doch für militärische Zwecke. Angeblich haben brasilianische Ingenieure aber eine eigene kostengünstige Zentrifugentechnik entwickelt, die vor Spionage geschützt werden soll.“58 56 Wöhlcke, S.14. 57 Ebd., S.15/16. 58 FAZ vom 20.11.2004, Artikel „Nuklearprogramm mit Brasilien beendet.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 17 Bereits 1994 hatte Sabine Gans darauf verwiesen, dass unter „dem Deckmantel demokratischer Institutionen“ das brasilianische Militär weiter versuche, eigene Interessen durchzusetzen. „So wurde den offiziellen brasilianischen Nuklear- und Raketenprogrammen jeweils eine mehr oder weniger geheime militärische Komponente zur Seite gestellt.59 Dass diese Geheimkomponenten auf eine Umwandlung Brasiliens zur Nuklearmacht zielten, galt Gans damals als sicher. Als klassische Symptome für eine solche Zielsetzung schätzte sie die schon erwähnten Anstrengungen Brasiliens ein, eine nuklearbetriebene U-Boot-Flotte aufzubauen, aber auch den Versuch, Raketen zum Abschuss von zivilen Satelliten zu installieren. Beide Aktivitäten sind Voraussetzungen für eine verdeckte atomare Aufrüstung, da das als U-Boot-„Treibstoff“ benutzte Uran in hochangereicherter Form auch als Bombenmaterial verwendet werden kann und die ballistischen Raketen für den Satellitentransport selbstverständlich auch als Trägersysteme für etwaige Atombomben geeignet sind.60 Nicht zu verkennen ist allerdings, dass es damals ebenso wie heute massive gesellschaftliche und politische Tendenzen in Brasilien gab bzw. gibt, die vehement gegen eine atomare Aufrüstung gerichtet und nicht zu vernachlässigen sind. So wurden am 9. Februar 1994 aufgrund dieser Tendenzen von den politisch Verantwortlichen Abkommen ratifiziert, die Entwicklung, Herstellung und Lagerung von Nuklearwaffen in Südamerika explizit verbieten. Ferner hat Brasilien 1994 „eingewilligt, auf die Herstellung von Raketen, die sich zur Beförderung von Massenvernichtungswaffen eignen, zu verzichten […].“61 Die Einhaltung dieser Verzichtserklärung hängt nach Gans davon ab, ob sich die demokratischen Institutionen festigen und dem Militär dauerhaft Zügel angelegt werden können, was 1994 keineswegs sicher, aber möglich schien.62 Im selben Jahr schrieb Politikprofessorin Krasno vom Hunter College, dass es zwar Tendenzen gebe, Brasilien und Argentinien würden ihre traditionelle Rivalität zugunsten verstärkter Kooperation einstellen. Dadurch schien eine unmittelbare Gefahr eines atomaren Wettrüstens in Lateinamerika gebannt. Dennoch verwies die Brasilien-Expertin aus den USA auf Indizien dafür, “that both countries may already be capable of producing weapons-grade, nuclear material sufficient for a device comparable to the Hiroshima bomb.”63 Als Motiv für Brasiliens grundsätzliches Streben nach der Atombombe nennt Krasno nationalen Stolz wie einst im Falle Frankreichs unter de Gaulle. Nicht die militärische Notwendigkeit oder ein aggressiver Impetus nach außen seien handlungsleitend, sondern das Gefühl, als Macht in der eigenen Hemisphäre nicht ernst genommen zu werden, wenn man nicht über Nuklearpotential verfüge.64 Nuklearrüstung aus Prestigegründen, gewissermaßen, als Vehikel zum „geopolitischen 59 Vgl. Gans, S.405. 60 Vgl. Michael Rühle, passim. 61 Gans, S.406. 62 Vgl. ebd. 63 Krasno, S.425. 64 Vgl. ebd., S.426. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 18 Erwachsenwerden.“65 Tatsächlich fand der letzte wirkliche Krieg gegen den Hauptantagonisten Argentinien 1825-1828 statt, was die aktuelle Rivalität beider Länder als mehr virtuell denn wirklich bedrohlich erscheinen lässt. „Hence, Brazil and Argentina seem to be motivated more by a desire to achieve military and scientific prestige vis-à-vis each other and the ´northern´ nuclear club than by any real fear of aggression.”66 Aufgrund dieses Prestigedenkens, dem laut Krasno keine unmittelbare Rüstungsgefahr entspringe , lehnte Brasilien ebenso wie Argentinien lange Zeit eine Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ab, denn, so Wöhlcke: „Der Vertrag setze jene Länder, welche die Nukleartechnologie entwickeln wollen, Restriktionen aus, nicht aber jene Länder, welche diese Technologie bereits beherrschen. Auf diese Weise entstehe eine internationale Zwei- Klassen-Gesellschaft, wobei die privilegierte Klasse der unterprivilegierten vorschreiben wolle, letztere solle genau auf das verzichten, was die privilegierte Klasse habe und für sich mit großer Selbstverständlich auch in Anspruch nehme.“67 Wöhlcke ging in seiner Einschätzung von 1988 ausführlich auf die für das Thema bedeutsame Nonproliferationsgeschichte Lateinamerikas ein und schrieb: „Der Vertrag von Tlatelolco (1967), der die Herstellung, den Besitz und die Lagerung von Kernwaffen in Lateinamerika verbietet, wurde von allen lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme von Cuba und Guyana unterzeichnet . Die beiden einzigen Staaten, die realistischerweise in absehbarer Zukunft befähigt wären, Kernwaffen herzustellen – nämlich Brasilien und Argentinien – haben den Vertrag von Tlatelolco zwar unterzeichnet, aber nicht in Kraft gesetzt und sich dabei auf Klauseln berufen, die den Vertrag erst dann rechtsgültig machen, nachdem ihn alle lateinamerikanischen Staaten sowie alle außerregionalen Staaten mit Territorien in Lateinamerika unterzeichnet und alle Nuklearmächte sich verpflichtet haben, die Vertragsstaaten nicht zu bedrohen. Trotz dieser Klauseln haben die meisten lateinamerikanischen Staaten den Vertrag in Kraft gesetzt.“68 Dass dieser Vertrag eine deutliche völkerrechtliche und moralische Bremse gegen atomare Rüstungspläne ist, scheint den Entscheidungsträgern Brasiliens bewusst zu sein und veranlasste Präsident Lula sogar dazu, den Verzicht auf Nuklearwaffen in die Verfassung zu schreiben.69 Dies dämpfte nach Meinung von Politanalysten das Drängen der dortigen Militärs Richtung Bombe erheblich. , 65 Vgl. Wöhlcke, S.4/5. 66 Krasno, S.426. 67 Vgl. ebd. sowie Wöhlcke, S.6/7. 68 Wöhlcke, S.7. 69 Vgl. Adamek, S,141. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 19 5. Themenkomplex 4 5.1. Realisierungsgrad des Abkommens Stand heute Nur ein kleiner Teil der Vereinbarungen des 1975 geschlossenen Abkommens wurde tatsächlich umgesetzt.71 Dies hing mit früh einsetzenden Realisierungsschwierigkeiten auf brasilianischer Seite zusammen. Redick stellte bereits 1979 fest: „Angra II, eine 1245-MW-Anlage, die derzeit von Deutschen gebaut wird, hatte Probleme mit der Stahlbeton-Pfahlgründung. Unstabile geologische Verhältnisse bedrohen auch den Bau von Angra III, der Mitte 1979 in Angriff genommen werden soll. Verzögerungen und andere unvorhergesehene Schwierigkeiten haben die projektierten Kosten des deutsch-brasilianischen Vorhabens emporschnellen lassen und in Brasilien wachsende Kritik hervorgerufen. Paulo Nogueira Batista, der Präsident der staatlichen Kernenergiegesellschaft NUCLEBRAS, bezifferte Ende 1978 die Gesamtkosten des Programms auf 15 Milliarden Dollar – fünf Milliarden mehr als geplant; aber Kritiker behaupten, daß am Ende die Kosten doppelt so hoch werden.“72 Sabine Gans ergänzt aus der Sicht von 1994: „Die beiden Länder vereinbarten [1975] den Verkauf deutscher Technologie zum Bau von acht brasilianischen Kernreaktoren. Im Zuge dieses Technologietransfers sollte auch das Know-how zur Urananreicherung und Wiederaufbereitung vermittelt werden.“73 Davon wurde aber bis zur Demokratisierung des Landes nur ein Bruchteil realisiert – mit der Folge, dass die demokratischen Regierungen ab 1990 zunächst kaum noch Interesse an einer Wiederbelebung des Programms hatten: „Brasilien hat sich inzwischen [1994] dazu 70 71 Vgl. Mez, S.19. 72 Redick, S.281. In dieser Zeit wurde auch mit dem Bau einer Wiederaufbereitungsanlage begonnen, deren Fertigstellung für 1983/84 vorgesehen war. Ebd. Wöhlcke bestätigt die Probleme Brasiliens bei der Realisierung des Abkommens: „Die zivile Nutzung der Kernenergie wurde in Brasilien von einer Serie von technischen Schwierigkeiten und finanziellen Problemen begleitet. Das von Westinghouse [einem US-Konzern] gelieferte Kernkraftwerk Angra-1 (Leichtwasserreaktor, 626 MWe), das 1982 ans Netz ging und etwa 1 % des gesamten Stromverbrauchs deckt, erwies sich als chronisch störanfällig. Die im Rahmen des deutsch-brasilianischen Atomvertrags vorgesehene Fertigstellung von Angra-2 (Leichtwasserreaktor, 1245 MWe, Hersteller: KWU/BRD und Angra -3 (wie Angra-2) für 1988 bzw. 1989 wurde infolge finanzieller Engpässe vorerst [d.h. 1986] auf Eis gelegt, ebenso die Planung von sechs weiteren Reaktorblöcken.“ Wöhlcke, S.8/9. 73 Gans, S.405. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 20 entschlossen, nur zwei der ursprünglich vereinbarten acht deutschen Reaktoren fertigzustellen .“74 In der Stuttgarter Zeitung hieß es dazu 2006 unter Berufung auf brasilianische Experten: „Das Atomabkommen zwischen Bonn und Brasilia […] kostete das südamerikanische Land ´rund acht Milliarden Dollar und war ein Fehlschlag´, wie der Energieexperte Luiz Pinguelli Rosa meint. Angra 1 und 2 liefern heute gerade mal gut zwei Prozent des brasilianischen Stroms, während – weltweit einmalig – über 91 Prozent des Bedarfs umweltfreundlich aus Wasserkraft gewonnen wird.“ 75 Auch die Neue Zürcher Zeitung und andere Betrachter werteten das deutsch-brasilianische Abkommen vor Wiederaufnahme brasilianischer Atompläne 2007 als „kläglich gescheitert.“76 Von den geplanten acht AKWs in deutscher Bauart wurde bisher nur eines fertiggestellt, Angra 1 [das noch von den US-Amerikanern gebaut wurde] ist seit 1981 am Netz, Angra 2, das erste mit deutscher Technologie errichtete, seit 2001. 2010 wurde mit dem Bau von Angra 3, dem zweiten Reaktor deutschen Musters, begonnen, der bis 2015 fertiggestellt werden soll.77 In einer Hinsicht war das Abkommen jedoch ein Erfolg. Das Abkommen trug also dazu bei, die Technologiekompetenz Brasiliens zu erhöhen und das Land von Know-how-Importen unabhängiger zu machen. Ein weiterer Überrest der Vertragsvereinbarung von 1975, die in Deutschland strittige und seit dem Atomausstieg der Bundesrepublik juristisch problematische Hermes-Bürgschaft zur Exportförderung , ist laut Darstellung des Tagesspiegel vom 28. April 2013 inzwischen „vom Tisch“. Brasilien brauche keine Finanzhilfen aus Deutschland mehr, um die Wiederaufnahme des 1986 aus Kostengründen eingestellten AKW-Baus durchzuführen. Als Begründung für die Rückkehr zur Atomtechnik dient nach Darstellung der Zeitung der wachsende Energiehunger des ökonomisch aufstrebenden Landes. Laut offiziellen Angaben aus Brasilien wird sich allein der Strombedarf des Landes bis 2050 verdreifachen. Unmittelbar müssen die 2014 und 2016 bevorstehenden sportlichen Großereignisse (Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele) gestemmt werden, die auch in energiepolitischer Hinsicht eine Herausforderung darstellen. Insofern greift die brasilianische Regierung nach Einschätzung des Tagesspiegels gegenwärtig nach jedweder 74 Gans, S.406. 75 Stuttgarter Zeitung vom 13.01.2006, Artikel „Seit 23 Jahren geplant: Atommeiler in den Tropen“, von Wolfgang Kunath. 76 NZZ vom 30.06.2007, Artikel „Brasilien liebäugelt wieder mit der Kernkraft.“ 77 Vgl. den Artikel „Geisterstunde“ von Peter Burghardt in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Juni 2012. 78 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 21 Energiereserve, deren es habhaft werden kann, darunter auch nach Atomkraft – zumal weltweit derzeit 65 neue Atomkraftwerke entstünden, den Ausstiegsbeschluss der Deutschen auf globaler Ebene also eh kaum jemand mitmache. Dies würden brasilianische Regierungsbeauftragte deutschen Pressevertretern auch vorhalten und mit Unverständnis auf Deutschland schauen, das sich eine – in brasilianischer Sicht – „unnötige“ Selbstbeschränkung in seiner Energiepolitik auferlegt habe.79 Vor diesem Hintergrund, nicht wegen etwaiger Atombombenpläne, seien die brasilianischen KKW-Programme der letzten Monate zu deuten.80 Diese anscheinend nicht-militärische Motivation zeigt sich auch daran, dass für Brasilien die Kernkraft nur noch ein Energielieferant unter anderen darstellt und keineswegs mehr prioritär betrachtet wird wie 1975. Dazu haben auch erfolgreiche Tiefseebohrungen vor der Küste des lateinamerikanischen Landes beigetragen, die erhebliche Erdölvorkommen erschlossen81, die Kernkraft also verzichtbar erscheinen lassen. Damit dürfte ein Bau der restlichen sechs im Atomabkommen vereinbarten Kernkraftwerke mit deutscher Technologie gegenwärtig weder anzunehmen noch von brasilianischer Seite überhaupt gewünscht sein. 6. Themenkomplex 5 6.1. Bedeutung des Abkommens heute im Spiegel des Atomausstiegsbeschlusses der Bundesregierung De facto besteht das Abkommen weiter, ja verlängert sich alle fünf Jahre um diesen Zeitraum, wenn es nicht gekündigt wird.84 Dies ist bisher nicht geschehen – auch nicht unter Rot-Grün 79 Vgl. den Artikel „Atomstrom aus dem Regenwald“ von Philipp Lichterbeck, in: Der Tagesspiegel. 80 Vgl. den Artikel „Geisterstunde“ von Peter Burghardt in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Juni 2012. Hier heißt es mit Blick auf die erwähnten sportlichen Großereignisse: „Nach Stromausfällen beschlossen der frühere Präsident Luiz Inàcio Lula da Silva und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff, zusätzliche Wasserkraftwerke zu bauen, mitten im Regenwald, und eben mindestens dieses dritte Atomkraftwerk.“ 81 Vgl. die entsprechenden Hinweise in: „auslandsjournal XXL: Sonne, Samba und Protest – Brasilien auf dem Weg zur WM.“ ZDF-Sendung vom 26.06.2013, Ausstrahlung 22.55 Uhr bis 23.40 Uhr. 82 83 84 Vgl. Fritz Vorholz in dem Artikel „´Fest, flüssig, gasförmig´“, erschienen in: „Die Zeit“ vom 11.11.2004. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 049/13 Seite 22 2004, als die Nicht-Verlängerung erstmals diskutiert wurde.85 Deshalb geht auch die derzeitige Bundesregierung weiter von seiner Existenz und Rechtsverbindlichkeit aus.86 6.2. Bedeutung des Abkommens heute für die deutsch-brasilianischen Beziehungen 7. 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