Deutscher Bundestag Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland 1941-1945 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000 - 036/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 2 Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000 - 036/10 Abschluss der Arbeit: 30.03.2010 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Der Begriff des „Kriegsgefangenen“ und das Problem der Erfassung 4 2. Anzahl sowjetischer Kriegsgefangener in deutschem Gewahrsam 5 3. Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener 7 4. Opferstatus und Entschädigungsleistungen 9 5. Literatur 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 4 1. Der Begriff des „Kriegsgefangenen“ und das Problem der Erfassung Den Begriff des „Kriegsgefangenen“ und wie mit einem solchen zu verfahren war, klärte die Genfer Konvention vom 29.Juli 1929 über die „Behandlung der Kriegsgefangenen“.1 Demnach unterstanden „alle zu den Streitkräften der kriegführenden Parteien gehörenden Personen, die im Verlaufe von kriegerischen Handlungen … gefangen genommen worden“ waren, „der Gewalt der feindlichen Macht“. Sie sollten „jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier“ geschützt werden. Die Genfer Konvention regelte u. a. die Bedingungen, unter denen Gefangene rückgeführt werden sollten, die Organisation der Kriegsgefangenenlager, Nahrung, Kleidung, Hygiene, religiöse Praxis und Lagerdisziplin sowie nicht zuletzt die Frage der Zwangsarbeit. Unterschiede in der Behandlung sollten nur insofern gemacht werden, soweit sie sich auf den Dienst- und Gesundheitsgrad, die berufliche Eignung und das Geschlecht bezogen. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten Europas hatte die UdSSR die Genfer Konvention nicht unterzeichnet. Gleichwohl erklärte sie zu Beginn des Krieges, dass sie die Grundprinzipien achten werde, machte allerdings hierbei zwei Ausnahmen. Dies betraf zum einen das Recht der Kriegsgefangenen, Pakete zu empfangen, sowie zum anderen das Recht des Kriegsgefangenen, mit seinen Angehörigen zu korrespondieren. Deutschland nahm die Tatsache der Nichtunterzeichnung durch die Sowjetunion als Vorwand, die Normen der Genfer Konvention gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen nicht einzuhalten. Für die Klärung der Frage, wie viele Kriegsgefangene es tatsächlich gegeben hat, ist neben der Klärung des Sachverhalts, wer als solcher zu bezeichnen ist, entscheidend, wer letztlich von der Gewahrsamsmacht als ein solcher registriert wurde; denn nur, wer individuell förmlich erfasst und gemeldet wurde, konnte auch als Kriegsgefangener dokumentiert werden. Wenn also entsprechende personenbezogene Dokumente vorhanden sind, können auch Angaben über die Zahl der erfassten Soldaten gemacht werden. Obgleich man in der Behandlung zwischen sowjetischen und Kriegsgefangenen anderer Staaten unterschied, wurden im Bereich des Oberkommandos der Wehrmacht sowjetische Kriegsgefangene entsprechend den Dienstvorschriften zur Behandlung von Kriegsgefangenen korrekt registriert.2 Zu diesem Zweck war, um den Forderungen des Artikels 77 der Genfer Konvention über die „Hilfs- und Auskunftstellen für die Kriegsgefangenen“ genüge zu tun, die Wehrmachtsauskunftstelle für Kriegsverluste und Kriegsgefangene (WASt) errichtet worden. Sie sollte den gegnerischen Staaten jederzeit Auskunft über die Kriegsgefangenen geben sowie die eigenen Verluste dokumentieren.3 1 Vgl. Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde und das Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen, 30. April 1934, RGBl II, S. 207-257. 2 Vgl. Reinhard Otto/Rolf Keller/Jens Nagel (2008): Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941- 1945. Zahlen und Dimensionen, in: VfZ 56, Heft 4, S. 557-602, hier S. 561. 3 Nachfolgerin der WASt ist die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht: http://www.dd-wast.de/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 5 2. Anzahl sowjetischer Kriegsgefangener in deutschem Gewahrsam Die Frage, wieviele Soldaten der Roten Armee zwischen dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, kann bis heute nicht abschließend beantwortet werden. Ebenso offen ist die Frage, wieviele sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben kamen . Allerdings ist über keine Kriegsgefangenengruppe, die sich in deutschem Gewahrsam befand , so intensiv recherchiert und geforscht worden, wie zu den Soldaten der Roten Armee. Nach derzeitigen Schätzungen gerieten zwischen viereinhalb und fünfeinhalb Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft.4 Innerhalb der ersten Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion waren bis Ende 1941 mehr als drei Millionen sowjetische Gefangene in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Die für diese ersten Kriegsgefangenen zur Verfügung stehenden Lager waren mehr als provisorisch und die Transportwege, auf denen sie dorthin gelangen sollten, überlastet, so dass sie einem mehr als ungewissen Schicksal entgegen gingen. Christian Streit bezifferte die Gesamtzahl der sowjetischen Kriegsgefangenen auf 5,73 Millionen Personen, von denen ca. 3,3 Millionen ums Leben gekommen seien.5 Alfred Streim zufolge seien 5,34 Millionen Rotarmisten gefangen genommen worden, von denen 2,53 Millionen nicht überlebt hätten.6 Eine weitere Angabe wird von Hans Roschmann gemacht, der, während des Zweiten Weltkrieges als Offizier an der Ostfront mit Fragen zu Kriegsgefangenen befasst, sich auf eine Übersicht des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vom 1. Mai 1944 bezog. Demnach waren zu diesem Zeitpunkt 5.163.381 sowjetische Kriegsgefangene gezählt worden, davon waren 1.981.364 bis zu diesem Zeitpunkt verstorben.7 In dem Standardwerk zum Zweiten Weltkrieg „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ weist Rüdiger Overmans darauf hin, dass es sich bei den Zahlenangaben um Überlegungen handele, „die der empirischen Untermauerung noch“ bedürften.8 Der jüngste Versuch, den tatsächlichen Zahlen ein Stück näher zu kommen, wurde von Reinhard Otto, Rolf Keller und Jens Nagel unternommen.9 Grundlage für die Berechnungen dieser drei Autoren sind die Erkennungsmarkennummern, die bei der Registrierung eines Kriegs- 4 Vgl. Klaus-Dieter Müller/Konstantin Nikischkin/Günther Wagenlehrer (1998) (Hrsg.): Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941-1956, Köln/Weimar: Böhlau, hier die Einleitung, S. 9f. 5 Christiaan Streit (1978): Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, hier S. 244ff. 6 Alfred Streim (1981): Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall Barbarossa“, Heidelberg /Karlsruhe: Juristischer Verlag, S. 224ff. 7 Hans Roschmann (1982): Gutachten zur Behandlung und zu den Verlusten sowjetischer Kriegsgefangener in deutscher Hand von 1941-1945 und zur Bewertung der Beweiskraft des sogenannten „Documents NOKW-2125 (Nachweisung des Verbleibs der sowjetischen Kriegsgefangenen nach dem Stande vom 1.5.1944)“, Ingolstadt: Veröffentlichung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle, S. 21. 8 Rüdiger Overmans (2005): Die Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen Reiches 1939-1945, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, 2. Halbband: Ausbeutung , Deutungen, Ausgrenzungen, München: Deutsche Velagsanstalt, S. 729-875, hier S. 820. 9 Reinhard Otto/Rolf Keller/Jens Nagel (2008): Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941-1945. Zahlen und Dimensionen, in: VfZ 56, Heft 4, S. 557-602. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 6 gefangenen vergeben wurden. Im Rahmen dieser individuellen Registrierung gingen die wichtigsten Angaben zu den Kriegsgefangenen als Listen- oder auch als Einzelmeldungen der WASt zu, die auf dieser Basis eine Stammkartei anlegte. Alle später von den Kriegsgefangenenlagern gemeldeten Änderungen wurden ebenfalls in diese Stammkartei aufgenommen. Nach Meinung von Otto, Keller und Nagel müssten die Erkennungsmarkennummern, die jeweils nur einmal vergeben werden sollten, Indiz für die Anzahl der von der Wehrmacht individuell registrierten Kriegsgefangenen sein. Die so erzielten Zahlen, stellen jedoch nur eine Mindestangabe dar, da so das Schicksal der einzelnen Kriegsgefangenen zwischen dem Zeitpunkt der Gefangennahme und dem Zeitpunkt der Registrierung unberücksichtigt bleibt. Bereich Vergebene Nummern Reduzierter, gerundeter Wert aufgrund von Doppelregistrierungen Deutsches Reich „Russenlager“ 688.677 1.400.000 Andere Lager 744.428 Generalgouvernement 595.385 446.000 Reichskommissariate Ostland 626.725 470.000 Ukraine 603.980 452.000 Skandinavien 25.112 25.000 Insgesamt 2.793.000 Quelle: Otto/Keller/Nagel 2006, S. 590, Tabelle 6 Doch auch die von Otto, Keller und Nagel vorgelegten Zahlen können nicht als endgültig betrachtet werden. Sie geben lediglich Aufschluss darüber, für wie viele sowjetische Kriegsgefangene ursprünglich eine Registrierung vorgenommen wurde. Für Juli dieses Jahres ist in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte ein Artikel von Klaus-Dieter Müller angekündigt, der sich mit den von Otto, Keller und Nagel vorgelegten Ergebnissen auseinandersetzen wird. Müller ist Mitarbeiter an dem seit 2000 durchgeführten Projekt „Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte. Forschungen zum Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit“. Im Rahmen dieses Vorhabens, dessen Finanzierung vom Bundesministeriums des Innern und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gesichert ist, werden sämtliche Personalunterlagen der Wehrmacht zu sowjetischen Kriegsgefangenen digitalisiert und über eine Datenbank humanitären und wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung gestellt. Bislang enthält diese Datenbank ca. 800.000 Einträge.10 10 http://www.stsg.de/cms/zeithain/totenbuecher/totenbuch_sowjetische_kriegsgefangene; vgl. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg.) (2003): Für die Lebenden – Den Toten gedenken, Dresden; vgl. http://www.stiftungevz .de. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 7 3. Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener Mit „gewöhnlichen“ Notständen im Krieg nicht zu erklären ist die exorbitant hohe Zahl an Toten unter den sowjetischen Kriegsgefangenen.11 Diese wird mit den Transportbedingungen begründet , ebenso mit der völlig unzureichenden Unterbringung in den sogenannten Russenlagern, der chronischen und ausgesprochen mangelhaften Ernährung, der Missachtung sämtlicher hygienischer Standards in den Lagern, so dass Seuchen wie Fleckfieber und Ruhr grassierten, sowie den zynischen Bedingungen des Zwangsarbeitseinsatzes. Seit 1939 schuf die Wehrmacht zur Unterbringung der Gefangenen ein engmaschiges Netz von Kriegsgefangenenlagern. Im Vorfeld des Überfalls auf die Sowjetunion – das „Unternehmen Barbarossa “12 – sollten speziell für sowjetische Kriegsgefangene Lager eingerichtet werden, da die NS-Führung eine „bolschewistische“ Infiltrierung der Bevölkerung vermeiden wollte. Im Reichsgebiet waren nach einem OKW-Befehl vom 16. Juni 1941 Kriegsgefangenen- Mannschaftsstammlager (Stalags) und Kriegsgefangenen-Offizierslager (Oflags) vorgesehen, die mit einer arabischen Zahl und einer Zahl aus der „300-Reihe“ bezeichnet wurden. Die Belegstärke sollte jeweils zwischen 30.000 bis 50.000 Gefangenen liegen, wobei die Gesamtkapazität demnach im Reichsgebiet 790.000 Mann betragen sollte. Die tatsächliche Belegung der „Russenlager“ pendelte sich aber niedriger bei einem Wert zwischen 20.000 und 30.000 ein, schließlich wurden nicht alle vorgesehenen Lager auch errichtet. „Russenlager“ für die gefangenen Sowjetsoldaten wurden mit einfachsten Mitteln errichtet. Anfangs mussten die Gefangenen oftmals unter freiem Himmel kampieren, da der Zeitraum für die Errichtung der ersten Unterkünfte nicht ausgereicht hatte. Eines der am besten erforschten „Russenlager “ ist das „Stalag 304 (IV H)“, das Lager in Zeithain. Wie sie die Lebensumstände für die sowjetischen Kriegsgefangenen gestalteten, wird anhand dieses Lagers näher skizziert. Bei dem Gebiet, auf dem das Lager errichtet wurde, handelte es sich um militärisches Sperrgebiet , auf dem sich bis Mitte April 1941 ein Truppenübungsplatz befand, zu dem Zivilpersonen keinen Zutritt hatten. Nach einem unsäglichen Transport in Güter- oder Viehwaggons wurden sowjetische Gefangene auf dem Bahnhof Jacobsthal „ausgeladen“. Einem Fußmarsch von 2 Kilometern folgte für die Gefangenen im sogenannten Vorlager des Stalags eine ärztliche Untersuchung. Sie wurden entlaust und registriert, wobei die Gefangenen diese Registrierungsnummer während der gesamten Zeitdauer der Gefangenschaft beibehielten. Anfangs bestand das Lager Zeithain nur aus einem mit Stacheldrahtverhau umgebenen Gelände. Die Gefangenen kampierten im Freien, da die Unterkunftsbaracken nicht einmal im Rohbau standen. Die Gefangenen gruben sich daraufhin Erdlöcher, wofür ihnen allerdings kein Werkzeug zur Verfügung stand. In den folgenden Monaten mussten sich die Gefangenen ihre Unterkünfte 11 Vgl. zum Folgenden : Jörg Osterloh (1998): Sowjetische Kriegsgefangene in deutscher hand. Die Lebensbedingungen in den Lagern am Beispiel Zeithain, in: Müller/Nikischkin/Wagenlehner, S. 291-314. 12 Vgl. Klaus Jochen Arnold (2005): Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion : Kriegführung und Radikalisierung im "Unternehmen Barbarossa", Berlin: Duncker & Humblot. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 8 selbst bauen, die erst ab Oktober 1941 zur Verfügung standen. In Räumen, die für 90 Personen konzipiert waren, wurden zwischen 200 und 300 Gefangene gepfercht. Im Winter 1941/42 verfügten die meisten Gebäude weder über Fenster noch Türen. Auch Schlafpritschen gab es anfangs nicht. Ende 1942 war das Lager fertig gestellt. In den 166 Holz- und 24 Steinbaracken hausten 25.000 Gefangene. Die hygienischen Verhältnisse in Zeithain entsprachen zu keinem Zeitpunkt den Erfordernissen einen Gefangenenlagers. Für die „Entlausung“ standen erst ab November 1941 zwei Baracken zur Verfügung, d. h. eine solche fand bis zu diesem Zeitpunkt nicht statt. Die Kapazitäten dieser Anlagen ließen jedoch lediglich zu, dass jeder Gefangene ungefähr einmal im Monat ein Entlausungsbad erhielt. Für die persönliche Hygiene standen dem Gefangenen ein halber Eimer warmen Wassers sowie etwas flüssige Seife zur Verfügung. Die Gefangenen litten demzufolge unter einer extremen Verlausung sowie unter allem möglichen Ungeziefer, insbesondere Wanzen und Flöhen. Ab 1942 erst gab es neben dem Entlausungsbad auch einen Brunnen, der dazu dienen musste, dass die Gefangenen ihre Kleidung waschen sollten. Monate-, teilweise jahrelang trugen sie die zerlumpten und geflickten Uniformen. Unmittelbar nach dem Eintreffen der ersten Gefangenen begann in Zeithain eine Ruhrepidemie zu wüten, die den gesamten Sommer über anhielt. Da es zudem zu wenige und nur unzureichende Latrineneinrichtungen gab, die zudem zuwenig desinfiziert wurden, wurde die Ausbreitung der Krankheit noch begünstigt, so dass in dieser Zeit ca. 20 Prozent der Insassen erkrankt waren. Ab November 1941 ging zwar die Zahl der Ruhrerkrankungen zurück, dafür aber traten erste Fleckfieberfälle auf. Mitte Dezember 1941 wurde deshalb das gesamte Lager unter Quarantäne gestellt, die erst im März 1942 wieder aufgehoben wurde. Anfangs fielen der Seuche 20, später schätzungsweise bis zu 200 Personen pro Tag zum Opfer. Über einen Zeitraum von ungefähr 100 Tagen starben durchschnittlich 70 Menschen täglich. Die Nichtunterzeichnung der Genfer Konvention von 1929 durch die Sowjetunion nutzte das OKW insbesondere in jenen Belangen als Begründung für die unzulängliche Behandlung der sowjetischen Soldaten, die deren Ernährung betrafen. Den Gefangenen sollte nur das absolut mindeste Maß an Nahrungsmitteln zukommen. D. h. in den Lagern wurden anfangs kaum mehr als 1000 Kalorien pro Person an Lebensmitteln verteilt. Nach einem Erlass des Heeresverwaltungsamtes vom 6. August 1941 sollten die sowjetischen Kriegsgefangenen pro Tag 2040 Kalorien erhalten, für Personen im Arbeitseinsatz waren 2200 Kalorien pro Tag vorgesehen. Der Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, fasste dies so zusammen: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern.“ Zu einem Umdenken kam es erst, als die Einbeziehung sowjetischer Kriegsgefangener zur Zwangsarbeit infolge des zunehmenden Arbeitskräftemangels, insbesondere in den kriegswichtigen Industriezwiegen, immer notwendiger wurde. Für die Verpflegung sollten möglichst geringwertige Lebensmittel zum Einsatz kommen. Ein speziell hergestelltes „Russenbrot“ bestand zu 50 Prozent aus Roggenschrot, zu je 20 Prozent aus Zuckerrübenschnitzeln und Zellmehl sowie zu 10 Prozent aus Strohmehl oder Laub. Der Bedarf an Fleisch sollte aus Pferde- oder Freibankfleisch gedeckt werden. Da im Verlauf des Sommers 1942 deutlich wurde, dass sowjetische Kriegsgefangene unter diesen Umständen nicht in der Lage waren, die abverlangte Arbeitsleistung auch zu erbringen, wurden Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 9 die Rationen angehoben. Erst mit Wirkung vom 21. August 1944 aber wurde durch das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft angeordnet, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen in der Frage der Ernährung mit anderen Kriegsgefangenen gleichzustellen seien. Dies geschah aber nicht aus humanitären Gründen, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen, um die von den Gefangenen geforderte Arbeitsleistung sicher zu stellen. Da sich die allgemeine Versorgungslage jedoch in den Monaten zuvor zunehmend verschlechterte, kamen diese geforderten Mengen gegenüber Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in den meisten Fällen nicht zum Einsatz . Konkret sah die Verpflegung im Lager Zeithain folgendermaßen aus: Morgens kam „Tee“ oder Ersatzkaffee zur Austeilung, mittags erhielt jeder Gefangene einen halben Liter dünner Suppe, der Balanda, die aus ungereinigten Rüben und einer geringen Menge an Kartoffeln bestand. Abends wurde die tägliche Ration „Russenbrot“ verteilt, d. h. fünf bis zehn Personen teilten sich einen Brotlaib von ca. einundeinhalb Kilogramm. Jeder Gefangene erhielt ein Stück Margarine oder Rübenmarmelade. Essgeschirr und -besteck waren nicht vorgesehen, d. h. es war für jeden Gefangenen überlebenswichtig, sich dieses selbst zu beschaffen. Anfangs war der Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener durch die NS-Führung nicht vorgesehen worden. Hierfür waren rassistische Überlegungen sowie die Furcht vor einer möglichen ideologischen Beeinflussung der deutschen Bevölkerung ausschlaggebend. Bereits ab Sommer 1941 gab es aber Erwägungen, von dieser Haltung abzurücken. Durch die ständigen Aushebungen der Wehrmacht fehlten im Sommer 1941 bereits 2,6 Millionen Arbeitskräfte. Ab Anfang August 1941 wurden sowjetische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit eingesetzt, nachdem am 21. Juli 1941 ein Rundschreiben des OKW die Richtlinien für den „Russeneinsatz“ festgelegt hatte. Die in Zeithain gefangenen gehaltenen sowjetischen Soldaten bauten anfangs in erster Linie das Lager auf. Später waren große Arbeitskommandos im Braunkohlebergbau tätig sowie in den Betrieben der chemischen Industrie der Region Halle/Saale, d. h. Buna, Leuna, Schkopau, sowie in den Werken der Mitteldeutschen Stahl-Werke AG in Riesa, Gröditz und Lauchhammer. 4. Opferstatus und Entschädigungsleistungen Laut Klaus-Dieter Müller wurden ca. 1,8 Millionen sowjetische Kriegsgefangene am Ende des Zweiten Krieges repatriiert. Nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion blieben die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen – wie auch die Zivilisten – unter ständiger Beobachtung.13 Zwar erfuhren die Repatrianten keine Ausgrenzung aus der Gesellschaft in „moralisch-psychologischer Hinsicht“, aber während des ersten Nachkriegsjahrzehnts konnten sie lediglich eine Existenz am Rande des öffentlichen Lebens führen. Der Begriff „Repatriant“ wurde fast zum Synonym für „Volksfeind“. (Polin 2001, S. 186) Die ehemaligen Kriegsgefangenen wurden zu Bürgern zweiter Klasse. Der sowjetische Staat, der es – wie andere Staaten auch – nicht vermocht hatte, seine Bürger vor der kriegsbedingten Gefangenschaft zu schützen, lehnte die Übernahme der Verantwortung für diesen Umstand ab. Die ehemals gefangenen genommenen Bürger hätten diesen Umstand selbst verschuldet. Folgen, die aus der Gefangenschaft resultierten, konnte der sowjetische Staat damit auch auf seine Bürger abwälzen. Aussagen darüber, wie viele ehemalige Kriegsgefangene heute in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion noch leben, können nicht getroffen werden. 13 Vgl. zum Folgenden : Polian, Pavel (2001): Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung, München/Wien: R. Oldenbourg Verlag. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 10 Entsprechend einer Vereinbarung zwischen den Regierungen der Republik Belarus, der Russischen Föderation, der Ukraine und der Bundesrepublik Deutschland vom 30. März 1993 stellte die deutsche Regierung Gelder für Entschädigungszahlungen an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung während des Zweiten Weltkrieges zur Verfügung. Am 2. August 1994 wurden mit der Verordnung Nr. 899 der Regierung der Russischen Föderation „Bedingung und Modus der Entschädigungszahlungen an die von den Nationalsozialisten verfolgten Personen“ geregelt. Die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen blieben jedoch unberücksichtigt. (Polian 2001, S. 204) Erst mit dem Dekret über die „Wiederherstellung der gesetzmäßigen Rechte der russischen Staatsbürger unter den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten, die während des Großen Vaterländischen Krieges und in der Nachkriegszeit repatriiert wurden“ des russischen Präsidenten Jelzin vom 24. Januar 1995 erhielten ehemalige Kriegsgefangene einen Status als Kriegsteilnehmer. Dadurch wurde es diesem Personenkreis möglich, einschlägige gesetzliche Regelungen in Anspruch zu nehmen. (Polian 2001, S. 205) Am 12. August 2000 trat das Gesetz über die Einrichtung einer „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Kraft.14 Kriegsgefangene – auch sowjetische – werden jedoch nicht in die durch diese Stiftung vorgenommenen Entschädigungsleistungen einbezogen. Ehemalige sowjetische Kriegsgefangene haben, sieht man von den wenigen Entschädigungen privater Initiativen ab, keinerlei Wiedergutmachungsleistungen erhalten.15 5. Literatur Arnold, Klaus Jochen (2005): Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion : Kriegführung und Radikalisierung im "Unternehmen Barbarossa", Berlin: Duncker & Humblot. Bischof, Günter/Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.) (2005): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr, Wien/München: Oldenbourg. Echternkamp, Jörg (Hrsg.) (2005): Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München: Deutsche Verlags-Anstalt (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt). Goeken-Haidl, Ulrike (2006): Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Essen: Klartext. Ibel, Johannes (Hrsg.) (2008): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, Berlin: Metropol. Linne, Karsten (2006): „Die Arbeitskraft sämtlicher Kriegsgefangener ist rücksichtslos auszunutzen “: Die Zwangsarbeit sowjetischer Kriegsgefangener für die Wehrmacht im Osten, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, 54, S. 190-206. 14 Vgl. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Magazine/emags/economy/048/t-6-sieben-jahre-stiftungerinnerung -verantwortung-und-zukunft.html. 15 Vgl. zum Beispiel die Initiativen des Vereins Kontakte. Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion http://www.kontakte-kontakty.de/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000 - 036/10 Seite 11 Müller, Klaus-Dieter/Konstantin Nikischkin/Günther Wagenlehner (1998) (Hrsg.): Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941-1956, Köln/Weimar: Böhlau. Osterloh, Jörg (1998): Sowjetische Kriegsgefangene in deutscher hand. Die Lebensbedingungen in den Lagern am Beispiel Zeithain, in: Müller/Nikischkin/Wagenlehner, S. 291-314. Otto, Reinhard (1998): Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42, München: R. Oldenbourg Verlag. Otto, Reinhard/Rolf Keller/Jens Nagel (2008): Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941-1945. Zahlen und Dimensionen, in: VfZ 56, Heft 4, S. 557-602. Overmans, Rüdiger (2005): Die Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen Reiches 1939-1945, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, 2. Halbband: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzungen, München: Deutsche Velagsanstalt, S. 729-875. Polian, Pavel (2001): Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung, München/Wien: R. Oldenbourg Verlag. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg.) (2003): Für die Lebenden – Den Toten gedenken, Dresden . Stratievski, Dmitri (2008): Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland und ihre Rückkehr in die UdSSR, Berlin: Verlag Osteuropa-Zentrum. Zeidler, Manfred/Ute Schmidt (Hrsg.) (1999): Gefangene in deutschem und sowjetischem Gewahrsam 1941-1956: Dimensionen und Definitionen, Dresden/Berlin (= Berichte und Studien Nr. 23, hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden).