Deutscher Bundestag Stärken und Schwächen der Weimarer Reichsverfassung Eine Gegenüberstellung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000-034/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 2 Stärken und Schwächen der Weimarer Reichsverfassung Eine Gegenüberstellung Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000-034/12 Abschluss der Arbeit: 22.06.2012 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Überblick über den Aufbau der Weimarer Reichsverfassung 5 3. Zentrale Stärken und Schwächen der Weimarer Reichsverfassung 6 4. Literatur (Auswahl) 13 5. Anlage 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 4 1. Einleitung Die folgende Ausarbeitung beschäftigt sich mit den Stärken und Schwächen der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die am 31. Juli 1919 von der in Weimar tagenden Nationalversammlung beschlossen und am 11. August 1919 in Kraft trat. Sie gilt als die liberalste ihrer Zeit und versuchte mehrere bewährte Elemente klassischer demokratischer Verfassungen zu vereinen. Dazu gehörte auch die Institution eines starken Präsidenten wie in der amerikanischen Verfassung. So nannte der erste Präsident der Nationalversammlung, der SPD-Politiker Eduard David (1863- 1930), in seiner Rede anlässlich der Verabschiedung der Verfassung das Werk nicht ohne Grund die „demokratischste Verfassung der Welt“1. Der Konstitution haftete jedoch bis in die letzten Jahre hinein eher ein negativer Charakter an, der sich schon zu Zeiten der Republik selbst manifestierte, vor allem aber auf den immer wieder betonten Charakter des Grundgesetzes als eine Art „Antithese“ zur Weimarer Verfassung gründete . Allzu oft wurde die Verfassung aus der Perspektive des Scheiterns der Weimarer Republik betrachtet – so wie die Zeit zwischen 1918 und 1933 insgesamt, die in der zeitgeschichtlichen, aber auch politikwissenschaftlichen Forschung oft als „Vorhof des Dritten Reiches“ bzw. als „Lehrstück des Scheiterns einer Demokratie“ dargestellt bzw. interpretiert wurde. „Bonn ist nicht Weimar“ - geprägt 1956 durch den Titel eines Werks des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann - avancierte so zu einem Leitsatz, der ganzen Schülergenerationen vermittelt wurde und der in der „alten“ Bundesrepublik - bis in die ersten Jahre der deutschen Wiedervereinigung hinein - in der öffentlichen politischen Meinung als legitimierender Faktor für das „Erfolgsmodell “ Bundesrepublik Deutschland bzw. Grundgesetz diente. In den letzten Jahren hat sich der Blick der zeithistorischen Forschung auf die Weimarer Republik jedoch stark verändert. So kommt der Historiker Andreas Wirsching jüngst zu der Feststellung : „Ältere Fragestellungen, die sich etwa der deutschen Trias vom Scheitern der Demokratie, nationalsozialistischer Diktatur und demokratischem Neubeginn verpflichtet wussten, treten in den Hintergrund. Kultur und erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen, die sich von den politischen Daten lösen, sind wichtiger geworden“2 So sei die „historisch-pädagogische Funktion“ Weimars an ihr Ende gekommen und auch Berlin drohe nicht Weimar zu werden.3 Ein solcher Wandel lässt sich auch für die neueren Betrachtungen zur Weimarer Reichsverfassung aus rechtswissenschaftlicher oder politikwissenschaftlicher Perspektive konstatieren.4 So kommt der Rechtswissenschaftler Christoph Gusy zu dem Ergebnis, dass die „Weimarer Verfas- 1 Zit. n. Llanyue, Marcus (2009): Mehr Demokratie wagen: Weimar und die direkte Demokratie. In: Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie. Erfurt: Landesbüro Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 145. 2 Zit. n. Wirsching, Andreas (2012): Vom „Lehrstück Weimar“ zum Lehrstück Holocaust? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), Nr. 1-3, S. 14. 3 Ebd., S. 10. 4 Vgl. hier zu z.B. Büttner, Ursula (2009): Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung oder Gusy, Christoph (2009): Eine gute Verfassung mit schlechtem Image: Die Weimarer Reichsverfassung. In: Recht und Politik 45 (2009), S. 74 - 85. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 5 sung eine gute Verfassung in schlechter Zeit (war). (…) Auch in Deutschland ist es längst angebracht , die WRV als ein bedeutendes Dokument der deutschen Verfassungsgeschichte anzuerkennen .“5 Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm betrachtet die Weimarer Reichsverfassung unter der Prämisse, dass sich das „Schicksal einer Verfassung (…) erst aus dem Zusammenwirken von Konstruktion, Situation und Interpretation über die Zeit“ ergebe6 Vor diesem Hintergrund versteht sich auch die Bewertung des Historikers Volker Ullrich: „Bis heute genießt die Weimarer Verfassung einen schlechten Ruf. Ihre Mängel wurde und werden immer wieder für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie verantwortlich gemacht. Aus den Erfahrungen von Weimar zu lernen – dieser Imperativ stand den Vätern und Müttern des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 1948/49 deutlich vor Augen. (…) Doch an der Verfassung allein war die Weimarer Republik nicht gescheitert, sondern daran, dass es zu wenige Republikaner gegeben hatte, die bereit gewesen waren, sie mit Leben zu erfüllen.“7 Im folgenden sollen die Stärken und Schwächen der Weimarer Reichsverfassung in einer Gegenüberstellung betrachtet werden, wobei sich unter einzelnen Stichwörtern sowohl Stärken als auch Schwächen feststellen lassen. 2. Überblick über den Aufbau der Weimarer Reichsverfassung Als kurze Einführung soll im folgenden in skizzenhafter Weise der Aufbau der Weimarer Reichsverfassung dargestellt werden. Eingeleitet wurde sie mit einer Präambel, die den bundesstaatlichen Einheitscharakter des Deutschen Reiches nach dem Ende des Kaiserreiches unterstrich: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“8 Daran schlossen sich zwei Hauptteile an: 1. Aufbau und Aufgaben des Reiches 2. Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen 5 Zit. n. Gusy, Christoph (2010): Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 32 (2010), S. 222f. 6 Vgl. Grimm, Dieter (2002): Mißglückt oder glücklos? Die Weimarer Reichsverfassung im Widerstreit der Meinungen . In: Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte). München: Oldenbourg 2002, S. 151 – 161. 7 Zit. n. Ullrich, Volker (2009): Republik ohne Republikaner. Vor 90 Jahren wurde die Weimarer Verfassung verabschiedet . In: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 56 (2009), Nr. 7/8, S. 20. 8 Zit. n. Thüringer Landtag (Hg.) (1998): 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung (1919 - 1999) (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Heft 14). Erfurt: Thüringer Landtag, S. 149. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 6 Der erste Hauptteil „Aufbau und Aufgaben des Reiches“ untergliederte sich wiederum in die sieben Abschnitte: 1. Reich und Länder (Artikel 1 bis 19) 2. Der Reichstag (Artikel 20 bis 40) 3. Der Reichspräsident und die Reichsregierung (Artikel 41 bis 59) 4. Der Reichsrat (Artikel 60 bis 67) 5. Die Reichsgesetzgebung (Artikel 68 bis 77) 6. Die Reichsverwaltung (Artikel 78 bis 101) 7. Die Rechtspflege (Artikel 102 bis 108) Der zweite Hauptteil „Grundrechte und Grundpflichten“ war in fünf Abschnitte unterteilt: 1. Die Einzelperson (Artikel 109 bis 118) 2. Das Gemeinschaftsleben (Artikel 119 bis 134) 3. Religion und Religionsgemeinschaften (Artikel 135 bis 141) 4. Bildung und Schule (Artikel 142 bis 150) 5. Das Wirtschaftsleben (Artikel 151 bis 165) Die nachfolgenden Artikel 166 bis 181 umfassen lediglich Übergangs- und Schlussbestimmungen .9 3. Zentrale Stärken und Schwächen der Weimarer Reichsverfassung Stichwort Stärke Schwäche Definition der Staatsform: parlamentarisch -demokratische Republik - Art. 1, Satz 1 („Das Deutsche Reich ist eine Republik“) wandelt das bis dahin monarchische Deutsche Reich in eine parlamentarischdemokratische Republik um Prinzip der Volkssouveränität - Die Weimarer Reichsverfassung schrieb das Prinzip der Volkssouveränität fest (Art. 1, Satz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) - Das deutsche Volk war durch die Wahl zum Reichstag, der Direktwahl zum Reichspräsidenten und die Möglichkeit der direkten Beteiligung an der Gesetzgebung durch Volksentscheide in einem Ausmaß am politischen Prozess beteiligt, das zum Grad seiner staatsbürgerlichen Reife in keinem Ver- 9 Vgl. die in der Anlage mitgegebene Kopie der Weimarer Reichsverfassung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 7 Stichwort Stärke Schwäche hältnis stand und sich deshalb nachteilig auswirkte Wahlrecht - Das Wahlrecht sah eine allgemeine , gleiche, unmittelbare und geheime Wahl vor - Wahlberechtigt waren alle Männer und Frauen ab 20 Jahren - Das reine Verhältniswahlrecht führte zum Einzug von Klein- und Kleinstparteien, was zur Zersplitterung des Reichstages und damit zur Instabilität für Regierungsmehrheiten führte - Damit war die Bildung von Koalitionen erschwert, was in der Folge zu Minderheitenkabinetten führte Umwandlung der bisherigen monarchischen Einzelstaaten in Reichsländer - Die Weimarer Reichsverfassung schrieb den Ländern freistaatliche Verfassungen vor (Art. 17 WRV) - Auch auf Länderebene wurde dadurch das monarchische Prinzip zugunsten des parlamentarisch -demokratischen Systems abgeschafft - Die Bildung von Länderregierungen und die Wahl von Landtagen waren verfassungsrechtlich garantiert - Bisherige einzelstaatliche Hoheitsrechte des Kaiserreichs (z.B. eigenes Münzwesen oder eigene Armee) wurden abgeschafft - Die Weimarer Reichsverfassung wahrte die Einheit des Deutschen Reiches und verhinderte auch damit eine Zersplitterung in Einzelstaaten - Die Dominanz Preußens wurde nicht beseitigt; von den 66 Stimmen der 18 Ländern fielen allein Preußen 26 Stimmen zu, was Mehrheiten gegen Preußen weiterhin erschwerte Gewaltenteilung - Die WRV verwirklichte das Prinzip der Gewaltenteilung: Reichstag (Legislative), Reichspräsident (Exekutive /Legislative in „Notzeiten“), Reichsregierung (Exekutive), Reichsrat (Legislative), Staats- - Die unterschiedliche Machtgewichtung der Gewalten führte allerdings zur letztendlichen Schwächung des parlamentarischen Systems (v.a. Machtverteilung zwischen Reichstag und Reichspräsidenten) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 8 Stichwort Stärke Schwäche gerichtshof (Judikative) - der Staatsgerichtshof blieb ein „zahnloser Tiger“, der trotz eigenem Anspruch nicht die Funktion eines „Hüters über die Verfassung“ einnahm Reichstag - Zentrale Stellung als Legislativgewalt - Der Reichstag hatte das Recht, Gesetze des Reiches zu beschließen (Art. 68 Abs. 2 WRV) - Kontrollrechte gegenüber dem Reichskanzler und der Reichsminister: Sie bedurften des Vertrauens des Reichstages - Zu starke Stellung gegenüber dem Reichskanzler durch die Möglichkeit eines „destruktiven Misstrauensvotums“ (Art. 54 WRV): Der Reichstag kann dem Reichskanzler das Vertrauen entziehen, ohne gleichzeitig eine personelle Alternative vorlegen zu müssen (Grundgesetz: Konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG) - Der Reichstag konnte vom Reichspräsidenten – wenn auch nur einmal aus einem Grund – aufgelöst werden (Art. 25 WRV) Reichspräsident - Höchster Repräsentant des Staates - Mitbeteiligung an der Kontrolle der Regierung (Art. 53 WRV: Ernennung und Entlassung von Reichskanzler und Reichsministern) - Ausfertigung und Verkündung von Reichsgesetzen - Der Reichspräsident erhielt durch seine omnipräsente Machtstellung die Funktion eines „Ersatzkaisers“ - Er war an der Gesetzgebung durch Art. 48 WRV („Notverordnungsartikel “) beteiligt - Der Reichspräsident konnte den Reichstag nach Art. 25 WRV auflösen – wenn auch nur einmal aus einem Grund - Funktion als Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Art. 47 WRV) sowie exponierte Stellung bei einem „außerordentlichen Notstand“ nach Art. 48 WRV („Notverordnungsparagraph “), der ihm auch die Möglichkeit der Reichsexekution gab - Direktwahl durch das Volk; keine Begrenzung der Wieder- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 9 Stichwort Stärke Schwäche wahlmöglichkeiten Reichsregierung - Doppelte Abhängigkeit von Reichstag und Reichspräsident, die sie bei Misstrauen absetzen konnten Reichsrat - Der Reichsrat war u.a. durch seine Einspruchsmöglichkeit gegenüber dem Reichstag an der Gesetzgebung beteiligt (Art. 74 WRV) - Der Reichsrat war jedoch keine echte Vertretung von Länderinteressen , sondern übte eher eine beratende Funktion aus (keine „zweite Kammer“ im Gesetzgebungsverfahren) - Die Einspruchsmöglichkeit des Reichsrates nach Art. 74, Satz 1 WRV hatte nur aufschiebenden Charakter; der Einspruch konnte vom Reichstag u.a. mit 2/3-Mehrheit zurückgewiesen werden bzw. der Reichspräsident konnte einen Volksentscheid anberaumen (Art. 74, Satz 6). Damit wurde das föderale Element zugunsten einer Stärkung der Bundesgewalt – auch im Vergleich zum Kaiserreich – zurückgedrängt Staatsgerichtshof (Art. 108 WRV) - Der Staatsgerichtshof (StGH) war zwar das Verfassungsgericht der Weimarer Republik, allerdings lässt sich die Institution nicht mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichen - Er trat nur bei Bedarf zusammen und setzte sich personell aus verschiedenen Gerichten zusammen (u.a. war der Präsident des StGH zugleich Präsident des Reichsgerichts; ferner saß u.a. ein Vertreter des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes im StGH) - Für die Vollstreckung von Entscheidungen war nach Art. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 10 Stichwort Stärke Schwäche 19, Satz 2 der Reichspräsident zuständig - Der Staatsgerichtshof, war zwar nach Art. 19, Satz 1, für Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes zuständig , allerdings entfiel diese Zuständigkeit dann, wenn es in einzelnen Ländern dafür Landesverfassungsgerichte gab (z.B. in Bayern, Thüringen oder Anhalt); auch dies verlieh dem Staatsgerichtshof insgesamt eine schwache Stellung - Es fehlten aber vor allem wesentliche , heute zum Kern einer Verfassungsgerichtsbarkeit gehörende Elemente wie die Normenkontrollklage oder vor allem die Verfassungsbeschwerde , mit der jeder Bürger – wie in der Bundesrepublik möglich – die Einhaltung seiner Grundrechte gegenüber dem Staat einklagen kann Grundrechte (Art. 109 - 165) - Erstmaliger Verfassungsrang von Grundrechten in Deutschland - Sie orientierten sich am Grundrechtekatalog der (nicht in Kraft getretenen) sogenannten Paulskirchen-Verfassung von 1849 - Stellung schwächer als im heutigen Grundgesetz (GG): dies zeigte sich besonders nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 als mit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 (sog. „Reichstagsbrandverordnung “) wesentliche Grundrechte der WRV (u.a. persönliche Freiheit, Recht der freien Meinungsäußerung, Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis ) außer Kraft gesetzt wurden - Grundrechte werden erst weiter hinten aufgeführt (im GG: Art. 1 - 20) - Grundrechte waren kein un- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 11 Stichwort Stärke Schwäche mittelbares, die Gewalten (Legislative , Exekutive, Judikative ) bindendes Recht; sie wurden in der Weimarer Republik nur nach Maßgabe der Gesetze gewährleistet (GG: Gesetze werden nur nach Maßgabe der Grundrechte erlassen) - Kompromisscharakter: Die in der Nationalversammlung vertreten Parteien schrieben je nach Interesse ihrer vertretenen Klientel (Arbeiter, Beamte, Unternehmer etc.) Grundrechte und Grundpflichten in die Verfassung , die sich teilweise widersprachen und dem Grundrechtekatalog der WRV eher einen unverbindlichen Absichtscharakter verliehen („Verfassung ohne Entscheidung “) Volksbegehren /Volksentscheide (Art. 73 – 76 WRV) - Aushöhlung des repräsentativen Systems - Die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden (insgesamt wurden sieben Volksbegehren und Volksentscheide initiiert) führte zu einer Vergiftung des politischen Klimas in der Weimarer Republik ; obwohl das eine durchgeführte Volksbegehren - vier weitere scheiterten bei der Prüfung im zuständigen Reichsinnenministerium - und die beiden durchgeführten Volksentscheide (a. Gesetz zur sog. „Fürstenenteignung“ 1926 sowie b) das sog. „Freiheitsgesetz “ gegen den „Young-Plan“ 1929) ebenfalls scheiterten, öffnete der Art. 73 WRV Demagogen Tür und Tor und minimierte die Akzeptanz der De- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 12 Stichwort Stärke Schwäche mokratie in Deutschland weiter Parteien - Die Parteien waren verfassungsrechtlich nicht integriert, wodurch der Erhalt ihres Charakters als reine Interessensparteien mit einhergehender mangelnder Kompromissfähigkeit erleichtert wurde - Den Parteien wurde letztlich nur die Aufgabe der Organisation von Wahlen zugewiesen Keine „wehrhafte Demokratie“ - Die Verfassung war der beliebigen Disposition des Gesetzgebers gestellt: Alle Verfassungsartikel konnten nach Art. 76 WRV mit 2/3-Mehrheit durch den Reichstag verändert werden (Grundgesetz: der Art. 79 GG Absatz 3 („Ewigkeitsklausel “) sieht vor, dass die Art. 1 und Art. 20 GG sowie die Gliederung des Bundes in Länder und die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung unveränderbar sind) Weiterentwicklung des Sozialstaates - Gewerkschaften und Unternehmensverbände erhielten durch Art. 159 ein verfassungsmäßiges Existenz- und Betätigungsrecht - Artikel 161 verankerte das Sozialversicherungswesen in der Verfassung, das von Bismarck begründet worden war - Artikel 163, Satz 2 und 3 formulierte den Verfassungsauftrag der Etablierung einer staatlichen Arbeitsvermittlung sowie einer Arbeitslosenversicherung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 13 4. Literatur (Auswahl) Boldt, Hans (1998): Die Weimarer Reichsverfassung. In: Die Weimarer Republik 1918 – 1933. Politik , Wirtschaft, Gesellschaft (= Studien zur Geschichte und Politik). Hg. v. K. D. Bracher u.a. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 44 – 62 Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo (2010): Verfassungsgeschichte. München: C.H. Beck Grimm, Dieter (2002): Mißglückt oder glücklos? Die Weimarer Reichsverfassung im Widerstreit der Meinungen. In: Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte). München: Oldenbourg 2002, S. 151 - 161 Gusy, Christoph (1997): Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen: Mohr Siebeck Ders. (2010): Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 32 (2010), S. 208 - 224 Ders.: Eine gute Verfassung mit schlechtem Image: Die Weimarer Reichsverfassung. In: Recht und Politik 45 (2009), S. 74 - 85 Landesbüro Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung (2009): Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie. Erfurt: Landesbüro Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung Mommsen, Hans (2009): Ist die Weimarer Republik an Fehlkonstruktionen der Reichsverfassung gescheitert? Chancen und Scheitern der ersten deutschen Republik. In: Weimar und die Republik . Geburtsstunde eines demokratischen Deutschlands. Weimar: Weimarer Verlagsgesellschaft, S. 105 - 121 Richter, Ludwig (1994): Die Weimarer Reichsverfassung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (1994), Nr. 32-33, S. 3 – 10 Thüringer Landtag (Hg.) (1998): 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung (1919 - 1999) (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Heft 14). Erfurt: Thüringer Landtag Ullrich, Volker (2009): Republik ohne Republikaner. Vor 90 Jahren wurde die Weimarer Verfassung verabschiedet. In: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 56 (2009), Nr. 7/8, S. 17 - 20 Weber-Fas, Rudolf (1997): Deutschlands Verfassung. Vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart. Bonn: Bouvier Wirsching, Andreas (2012): Vom „Lehrstück Weimar“ zum Lehrstück Holocaust? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), Nr. 1-3, 9 – 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-034/12 Seite 14 5. Anlage Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Kopie)