Deutscher Bundestag Bezeichnet die Bundesregierung den Holocaust als Völkermord? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000/033/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 2 Bezeichnet die Bundesregierung den Holocaust als Völkermord? Verfasser: Aktenzeichen: WD 1 – 3000/033/12 Abschluss der Arbeit: 25. April 2012 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Völkermord, Genozid, Holocaust: Das Problem der Definition 4 3. Die Bundesregierung und die Verwendung des Begriffs Völkermord als Synonym für den Holocaust 5 4. Literatur 8 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 4 1. Einleitung Der Auftraggeber möchte wissen, ob die Bundesregierung den Holocaust als Völkermord bezeichnet und wenn ja, wann und durch wen der Holocaust erstmals „offiziell als Völkermord bezeichnet“ wurde. Die Fragestellung impliziert ein politisches Interesse am Begriff Völkermord. „Völkermord“ beziehungsweise „Genozid“ ist aber ein durchaus interdisziplinär verwendeter und entsprechend unscharfer Begriff. Es existiert eine fast unüberschaubare Fülle an Literatur, die sich mit der Frage auseinandersetzt, was Völkermord ist beziehungsweise wie das Verbrechen begrifflich zu definieren sei. Das Verbrechen selbst berührt eine Vielfalt wissenschaftlicher Professionen: Der Völkermordbegriff richtet somit Fragen u. a. an juristische, ethische, politische, soziologische, kulturwissenschaftliche und historische Disziplinen.1 Von einem abschließend interdisziplinär definierten Begriff kann keine Rede sein. Auch ist die wissenschaftliche Diskussion in allen beteiligten Professionen nicht frei von politischen Interessen. Der Völkermordbegriff ist Gemeingut, Gegenstand leidenschaftlicher wissenschaftlicher und politischer Diskurse und Rechtssatz zugleich. (vgl. Fassbender, S 62) Es ist vor diesem Hintergrund kaum möglich, dass der Völkermordbegriff als Bezeichnung für den Holocaust zu einem bestimmten Zeitpunkt und offiziell durch die Regierung eines Landes quasi in einem bürokratischen Akt anerkannt worden ist. Auch wäre eine solche „offizielle“ Anerkennung des Begriffs, wie auch immer sie aussehen sollte, sicher keine notwendige Voraussetzung , damit der Begriff in der politischen Auseinandersetzung legitimiert ist. 2. Völkermord, Genozid, Holocaust: Das Problem der Definition Der Etablierung des Begriffs Völkermord geht ein Jahrzehnte währender Prozess der Begriffsbildung voraus, der u. a. durch völkerrechtliche, strafrechtliche, soziologische, historische, ethische und politische Auseinandersetzungen geprägt ist. Der Begriff „Genocid“2 geht zurück auf Raffael Lemkin (1900 – 1959), der ihn in seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ prägte und nachhaltig dafür sorgte, dass die Auseinandersetzung mit diesem Verbrechen sowohl vom Völkerbund als auch später von den neu gegründeten Vereinten Nationen auf die Agenda gesetzt wurde. In einem offiziellen Dokument taucht der Begriff „Genocid“ erstmals in der Anklageschrift des Nürnberger Internationalen Militärtribunals auf. (vgl. Schabas, S. 30 – 74) Im Deutschen setzte sich seiner Zeit das Wort in der Schreibweise „Genozid“ durch; verbreiteter ist heute das Synonym „Völkermord“. (Fassbender S. 57) In der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 19483 wird das Völkermordverbrechen erstmals rechtlich definiert: Mehr oder weni- 1 Ein Beitrag aus Sicht der Literaturwissenschaft: Stockhammer, Robert (2005). Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. 2 Genocid ist ein Kunstwort aus dem griechischen Wort genos (Stamm, Rasse, Volk) und dem lateinischen caedere (töten) beziehungsweise dem Suffix –cide. (Barth, S. 8) 3 Die Bundesrepublik Deutschland erklärte ihren Beitritt am 9. August 1954. Per Gesetz wurde ein entsprechender Passus als § 220a in das Strafgesetzbuch eingefügt, der mit dem Gesetz zur Einführung des Völkerstrafge- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 5 ger entspricht die Definition den wesentlichen Maßnahmen zur Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten.4 (Heinsohn, S. 15) Diese rechtliche Definition wird heute u. a. von Politikwissenschaftlern als unzureichend kritisiert. (vgl. Rummel) So ist der Begriff Völkermord in der UN-Konvention heute beispielsweise ungeeignet für die Problematik der „ethnischen Säuberungen “. (Barth, S. 198) Für die Morde an den europäischen Juden haben sich mehrere Begriffe umgangssprachlich und wissenschaftlich etabliert: „Judenvernichtung“, „Endlösung“, „Shoah“, „Churban“ oder „Hurban“ (aus dem Hebräischen), „Holocaust“5 oder auch einfach „Auschwitz“. (vgl. Barth, S. 79) Es gibt nicht wenige Historiker, die Begriffe wie „Holocaust“ und „Shoa“ kritisieren, da sie für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ständen und somit den „übergeordneten Kontext nationalsozialistischer Vernichtungsabsichten“ (Barth, S. 103) ausblenden würden. (so u. a. Zimmermann, S. 1123) Umgekehrt wird ebenso leidenschaftlich die Frage diskutiert, ob die synonyme Verwendung des Begriffs Völkermord nicht die „Einzigartigkeit des Holocausts“ negiere. (Bohrer) Folgt man der Definition der UN-Konvention, dann könne ohne Zweifel von den nationalsozialistischen Völkermorden (Plural!) gesprochen werden, denn beispielsweise auch Sinti und Roma seien in diesem Sinne Opfer eines Völkermords. (vgl. Barth, S. 103) „Um nachträglich zu einer Definition des internationalen Megatötens zu gelangen, die auch jene Delikte einschließt, welche die Völkermordkonvention unerwähnt lassen musste, ist eine kaum noch überschaubare Anzahl konkurrierender Formulierungen und Terminologien entstanden.“ (Heinsohn, S. 16) Darüber hinaus gibt es eine ebenso unüberschaubare Flut an Definitionen des Begriffs Völkermord, die sich entsprechend kritisch mit der Definition der UN-Konvention auseinandersetzen. Vor diesem sehr komplexen Hintergrund steht nun die Frage der Verwendung des Völkermordbegriffs als Synonym für den Holocaust durch die Bundesregierung. 3. Die Bundesregierung und die Verwendung des Begriffs Völkermord als Synonym für den Holocaust In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zur „Rückführung der Gebeine deutscher Kolonialverbrechen nach Namibia“ (BT Drs. 17/6813) schreibt die Bundesregierung: „Historische Sachverhalte werden völkerrechtlich nach den zum Zeitpunkt des Geschehens jeweils geltenden Rechtssetzbuches vom 29. Juni 2002 wegfiel. Die Deutsche Demokratische Republik folgte am 27. März 1973 mit Vorbehalten , wie alle Ostblockstaaten. 4 Die marxistisch-leninistischen Regime unterstützten die Konvention erst, als deutlich wurde, dass die Massentötungen kommunistischer beziehungsweise sozialistischer Staaten straffrei blieben. Eine marxistische Theorie des Genozids wurde nicht entwickelt. 5 Vgl. zum Begriff Holocaust: Zimmermann, Hans Dieter (1997). Holokauston, holocaustum, holocaust: Die Bedeutung des Wortes „Holocaust“. In: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte. 44. Jahrgang, Heft 12, S. 1120 – 1123. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 6 normen bewertet.“ Vor dem Hintergrund dieser Antwort fragt der Auftraggeber, ob die Bundesregierung damit feststelle, dass der Holocaust kein Völkermord gewesen sei. Die Schlussfolgerung, aus der Antwort gehe hervor, dass die Bundesregierung behaupte, der Holocaust sei kein Völkermord gewesen, ist falsch. Sowohl aus historischer, als auch aus völkerrechtlicher und schließlich auch aus politischer Perspektive besteht kein Zweifel daran, dass der Holocaust ein Völkermord gewesen ist – wenn auch die Begründung für diese Aussage jeweils unterschiedlich sein mag. Der Mord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges stellt aber für alle an der Begriffsdefinition interessierte wissenschaftliche Fachrichtungen den archetypischen Fall von Völkermord dar6: „Er ist für die vergleichende Genozidforschung der zentrale Bezugspunkt, und alle Debatten gehen vom Holocaust aus.“ (Barth, S. 78) Diese Sichtweise nimmt auch die Rechtsprechung ein: In einem Urteil des UN- Kriegsverbrechertribunals für Ruanda aus dem Jahr 1998 wird die Verurteilung des Holocaust durch den Militärgerichtshof in Nürnberg (vgl. Kap. 2, S. 4) als „konstitutiv“ für den Tatbestand des Völkermords bezeichnet. Dies, obwohl die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen erst nach dem Verbrechen des Holocausts erfolgte. (vgl. Entscheidung vom 4. September 1998, ICTR 97-23-S, Absatz 14) Die Verwendung des Begriffs Völkermord für den Mord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges durch die Bundesregierung ist in zahlreichen Reden dokumentiert. Nachfolgend soll dieser Befund durch eine kleine Auswahl von Textstellen in Reden belegt werden: Rede von Staatsminister Bernd Neumann anlässlich der Eröffnung der „Topographie des Terrors “ Datum: 06.05.2010 Ort: Topographie der Terrors, Berlin: „Das so genannte Prinz-Albrecht- Gelände ist ein Ort der Täter – Zentrum und Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft , die weite Teile Europas überzog. Hier wurden grundlegende Entscheidungen getroffen und ihre tödliche Durchführung organisiert. Dies betrifft den systematischen, auf die völlige Vernichtung abzielenden Völkermord an den Juden Europas und die Entrechtung und Ermordung der Sinti und Roma ebenso wie die Verbrechen an den Sowjetbürgern und Polen im Zuge des Vernichtungskriegs im östlichen Europa.“ (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-06-neumann-rede-topoterror .html;jsessionid=6A3A13A558E1C7B9939FDDB7B79E4568.s3t1 Stand: 20. April 2012) Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, auf der Festveranstaltung der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe am 12. November 2008 in Berlin: „Für uns als Deutsche ist „60 Jahre Israel“ ein besonderes Datum. 60 Jahre nach Gründung des Staates Israel, 63 Jahre nach Ende der Shoa bleibt die Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel unverändert. Das furchtbare Verbrechen der Shoa ist Teil unserer deutschen Geschichte. Die Erinnerung daran, die dauerhafte Auseinandersetzung mit ihr, auch mit Rassismus und Antisemitismus heute ist die Verantwortung, die aus dem Völkermord erwächst. Sie wird und muss auch 6 Zur Frage der Schwierigkeiten vergleichender Völkermordforschung im Kontext des Holocausts vgl.: Henningsen , Manfred (2005). Über die Schwierigkeiten vergleichender Völkermordforschung oder Kann man das deutsche Holocaust-Regime mit anderen Demozid-Regimes vergleichen. In: Sivers, Gabriele/Diehl, Ulrich (Hrsg.) (2005). Wege zur politischen Philosophie. Festschrift für Martin Sattler. Würzburg: Königshausen & Neumann. S. 235 – 250. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 7 in Zukunft gelten.“ (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2008/11/122-3-bmaaparlamentariergruppe .html Stand: 20. April 2012) Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der Fachtagung „Zwei Jahrzehnte Politik für Aussiedler und nationale Minderheiten“ am 4. September 2008 in Berlin zum Völkermord an Sinti und Roma: „Der Schutz und die Förderung autochthoner Minderheiten sind ein unabdingbares Wesensmerkmal unseres demokratischen Selbstverständnisses. Gerade in der Verantwortung für unsere Geschichte ist das für uns eine besondere Aufgabe, wenn wir vor allem an die Verfolgung und Ermordung deutscher Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten denken. Als Bundesregierung werden wir zum Gedenken an diesen Völkermord in unmittelbarer Nähe zum Reichstag ein Mahnmal errichten.“ (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2008/09/87-1-bk-aussiedler.html Stand: 20. April 2012) Gerhard Schröder zur Einweihung der Akademie der Künste am 21. Mai 2005 in Berlin: „Diese Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist uns allen eine moralische Verpflichtung . Auch wenn es stimmt, dass die überwältigende Mehrheit der heute lebenden Deutschen keine Schuld an den Verbrechen trägt, so tragen wir doch alle eine besondere Verantwortung, derer wir uns bewusst bleiben müssen. Die Erinnerung an Krieg und Völkermord ist Teil unserer gelebten Verfassung. Sie gehört also zu unserer nationalen Identität, und zwar auch deshalb, weil es nie zuvor einen tieferen Riss durch tausend Jahre europäischer Kultur und Zivilisation gegeben hat.“ (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2001_2007/2005/05/2005-05-21- rede-von-bundeskanzler-gerhard-schroeder-zur-einweihung-der-akademie-der-kuenste-am-21- .html Stand: 20. April 2012) Helmut Kohl, 21. April 1985, Ansprache in Bergen-Belsen zum 40. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern: „Zwölf Jahre lang war das Licht der Menschlichkeit in Deutschland und, in einem Teil der Jahre, in Europa von allgegenwärtiger Gewalt verdeckt. Das nationalsozialistische Deutschland versetzte die Welt in Angst und Schrecken. Diese Zeit des Mordens, ja des Völkermordes ist das dunkelste, das schmerzlichste Kapitel in der deutschen Geschichte.“ (http://helmutkohl .kas.de/index.php?menu_sel=17&menu_sel2=&menu_sel3=&menu_sel4=&msg=1344 (Stand: 20. April 2012) Auch die Homepage der Bundesregierung lässt keinen Zweifel an der Einordnung des Holocausts als Völkermord. Dort ist zu lesen: „Am 8. Mai feiert Israel sein 60jähriges Bestehen. Auch für Deutschland ist das ein Grund zum Feiern. Was nach der Shoa, dem Völkermord an mehr als sechs Millionen Juden, kaum jemand für möglich hielt, ist heute Wirklichkeit: Deutschland und Israel verbindet eine enge Freundschaft. Bereits 1965, also vor mehr als 40 Jahren, nahmen die beiden Länder diplomatische Beziehungen auf. Seitdem ist viel Gemeinsames geschehen. Auch im Jubiläumsjahr 2008 gibt es eine Reihe von gemeinsamen Veranstaltungen und Projekten. An denen sich auch die Bundesregierung beteiligt. Hier können Sie mehr darüber erfahren.“ (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/Israel/israel-einleitung.html Stand: 20. April 2012)) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/033/12 Seite 8 4. Literatur Barth, Boris (2006). Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. München: Verlag C. H. Beck. Bohrer, Karl Heinz (2001). Warum Unvergleichbarkeit? In: Merkur, 55. Jahrgang, Heft 7, S. 641 – 644. Fassbender, Bodo (2006). Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. In: Die politische Meinung, Nr. 434, S. 57 – 63. Heinsohn, Gunnar (1998). Lexikon der Völkermorde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Henningsen, Manfred (2005). Über die Schwierigkeiten vergleichender Völkermordforschung oder Kann man das deutsche Holocaust-Regime mit anderen Demozid-Regimes vergleichen. In: Sivers, Gabriele/Diehl, Ulrich (Hrsg.) (2005). Wege zur politischen Philosophie. Festschrift für Martin Sattler. Würzburg: Königshausen & Neumann. S. 235 – 250. Rummel, Rudolph J. (2003). "Demozid" - der befohlene Tod: Massenmorde im 20. Jahrhundert. Münster, Hamburg, London: LIT. Schabas, William A. (2003). Genozid im Völkerrecht. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlagsges. Stockhammer, Robert (2005) Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Zimmermann, Hans Dieter (1997). Holokauston, holocaustum, holocaust: Die Bedeutung des Wortes „Holocaust“. In: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte. 44. Jahrgang, Heft 12, S. 1120 – 1123.