© 2020 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 027/20 Push- und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 027/20 Seite 2 Push- und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 027/20 Abschluss der Arbeit: 4. November 2020 (zugl. Abrufdatum der zitierten Internetadressen) Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 027/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Dokumentation 7 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 027/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Migrations- und Wanderungsbewegungen sind als fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte in allen Zeiten zu beobachten.1 Warum und unter welchen Umständen Menschen ihre Heimat verlassen, um in einem anderen Land Zuflucht oder ein besseres Leben zu finden, beschäftigt Politik und Wissenschaft seit langem. In diesem Kontext ist das Konzept von Push- und Pull-Faktoren weit verbreitet, demzufolge bestimmte Bedingungen im Sende- und Aufnahmeland die Migration in Bewegung setzen. Das Konzept entstammt der so genannten klassischen Migrationstheorie, die üblicherweise auf die Arbeiten des deutsch-englischen Kartografen und Demografen George Ernest Ravenstein zurückgeführt wird, der 1885 auf Grundlage britischer Zensusdaten sieben „Laws of Migration“ formulierte . Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei die Vorstellung, dass es Menschen austeilende Länder („countries of dispersion“) und Menschen aufnehmende Länder („countries of absorbtion“) gebe und die Bewegungen zwischen beiden spezifischen überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen (u.a. der Abhängigkeit von der Distanz und der Dominanz ökonomischer Motive).2 Bereits 1932 führten die russischen Soziologen Alexander und Eugen Kulischer die „Mechanik der Bevölkerungsbewegungen“ auf den engen Zusammenhang von anziehenden und abstoßenden Kräften zurück, während der schwedische Ökonom Gunnar Myrdal 1944 explizit den Ausdruck „push and pull factors“ verwendete, um die Gründe für die afroamerikanische Süd-Nordmigration seit dem Bürgerkrieg in den USA zu beschreiben.3 Darauf aufbauend entwickelte Everett S. Lee 1966 eine einflussreiche „Theorie der Migration“, wonach sich vier Kategorien von Wirkungsfaktoren unterscheiden lassen: Faktoren in Verbindung mit dem Herkunftsgebiet, Faktoren in Verbindung mit dem Zielgebiet, intervenierende Hindernisse und persönliche Faktoren.4 Die ersten beiden Gruppen greifen dabei den Gedanken von Push- und Pull-Faktoren auf, wobei Lee diese jedoch nicht auf makroökonomische Variablen wie Lohnniveau und Arbeitslosenquote beschränkt, sondern offener als Vielzahl struktureller Merkmale konzipiert.5 Dem Soziologen Frank Kalter zufolge beruht die Bedeutung von Lees Ansatz insbesondere darauf, dass er zum einen die Bandbreite der berücksichtigten Variablen erweitert 1 Han, Petrus: Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle, Fakten, politische Konsequenzen, Perspektiven. Konstanz u.a. 42018, S. 5. 2 Düvell, Franck: Europäische und internationale Migration. Einführung in historische, soziologische und politische Analysen. Hamburg 2006, S. 79; eine deutschsprachige Zusammenstellung der Arbeiten Ravensteins und weiterer theoretischer Grundlagentexte ist abgedr. bei Széll, György (Hg.): Regionale Mobilität. Elf Aufsätze. München 1972. 3 Kulischer, Alexander/Eugen Kulischer: Kriegs- und Wanderzüge. Weltgeschichte als Völkerbewegung. Berlin u.a. 1932, S. 4; Myrdal, Gunnar: An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy. New York u.a. 1944, S. 193. 4 Lee, Everett: Theorie der Wanderung. Abgedr. in: Széll (Hg.): Mobilität (wie Anm. 2), S. 115-129. 5 Kalter, Frank: Theorien der Migration. In: Müller, Ulrich/Bernhard Nauck/Andreas Dieckmann (Hg.): Handbuch der Demographie 1. Modelle und Methoden. Berlin u.a. 2000, S. 438-475, hier: 452f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 027/20 Seite 5 und zum anderen auch individuelle Merkmale einbezieht, die die subjektive Wahrnehmung der Faktoren im Herkunfts- und Zielgebiet prägen.6 Gegenüber diesen ihrem Wesen nach strukturalistischen Ansätzen sind Arbeiten aus der neoklassischen Ökonomie akteurszentriert und betrachten die handelnde Person als den wesentlichen Akteur in Migrationsprozessen.7 Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Michael P. Todaro etwa geht von rational handelnden individuellen Akteuren aus, die sich überwiegend an der Existenz von Lohnunterschieden orientieren, wobei weniger die realen Lohndifferenzen die Migrationsentscheidung bestimmen, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit eines Arbeitsplatzes sowie die zu erwartenden höheren Löhne.8 Dass sich das Konzept der Push- und Pull-Faktoren sowohl auf der Mikro- als auch der Mesound Makroebene anwenden lässt, hat ebenso zu seiner Verbreitung beigetragen wie seine Einfachheit .9 Dagegen kritisieren Vertreter jüngerer Ansätze in der Migrationsforschung das Konzept grundsätzlich: Zum einen handle es sich nicht um eine Theorie, sondern „im Prinzip nur [um] eine suggestive Sprechweise“.10 Zum anderen erkläre das Konzept viele Phänomene bestenfalls unvollständig und sei mittlerweile vielfach empirisch widerlegt. Dabei marginalisiere es u.a. die strukturierende Rolle, die Staaten, Netzwerke und Institutionen für den Migrationsprozess spielen , ignoriere nichtökonomische Faktoren weitgehend und sei nicht dazu in der Lage, die wechselhafte Dynamik des Migrationsgeschehens zu verstehen.11 Christof Parnreiter führt hierfür zusammenfassend drei Ursachen an: Erstens sei ein essentialistisches Verständnis von Push- und Pull-Faktoren unhistorisch, statisch und reduktionistisch. Zweitens handle es sich dabei um „rückschauenden Reduktionismus“, der menschliche Verhaltensweisen ex post zu plausiblen, logischen und notwendigen Handlungen erkläre, ohne aktuelle oder künftige Entwicklungen erfassen zu können. Drittens führen Armut, Lohndifferentiale oder der Mangel an Arbeitskräften nicht immer zu Migration. Zusätzliche Erklärungsvariablen, unter welchen Bedingungen etwa der Bedarf an Arbeitskräften tatsächlich Mobilität auslöse, seien in Push- und Pull-Modellen jedoch ausgespart. „Diese bleiben mechanistisch, da eine lineare Kausalität zwischen schiebenden oder ziehenden Kräften und der Wanderung konstruiert wird.“12 6 Ebd. 7 Düvell: Migration (wie Anm. 2), S. 81. 8 Hoesch, Kirsten: Migration und Integration. Eine Einführung. Wiesbaden 2018, S. 63. 9 Ebd., S. 79. 10 Kalter: Theorien (wie Anm. 5), S. 447. 11 de Haas, Hein: The determinants of international migration. Conceptualising policy, origin and destination effects . In: International Migration Institute: Working Papers Series 2011, No. 32, S. 9. Online verfügbar unter: https://www.ilo.org/dyn/migpractice/docs/225/Determinants.pdf. 12 Parnreiter, Christof: Theorien und Forschungsansätze zu Migration. In: Ders./Karl Husa/Irene Stacher (Hg.): Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts? Frankfurt a.M. 2000, S. 25-52, hier: 45f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 027/20 Seite 6 Nach Parnreiter ist die Abkehr von den ökonomisch ausgerichteten klassischen und neoklassischen Ansätzen Ausdruck eines grundlegenden Paradigmenwechsels, der in der Migrationsforschung zu einer Vielzahl unterschiedlicher Erklärungsansätze geführt hat.13 Während wissenschaftliche Arbeiten die Vorstellung von Push- und Pull-Faktoren somit seit den 1980er-Jahren problematisieren, findet sich diese „auch heute häufig als kaum hinterfragte Grundannahme in politischen und medialen Migrationsdiskursen.“14 In diesem Zusammenhang stellte ein im November 2016 im Auftrag des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) veröffentlichter Forschungsüberblick zu Push- und Pull-Faktoren im Kontext der Asylmigration fest: „In sum, not only the role of push/pull/intervening factors, but even the relationship between those factors is likely to be complex. […] Whilst it should be noted that theorising an encompassing migration model to understand migration determinants could be idealistic, attempting to account for the complexity of both structural factors and people’s decisions by moving beyond simplistic models (push-pull framework), or dichotomies (forced versus voluntary movements) would be highly beneficial.”15 Auch neuere Studien, die an den grundsätzlichen Annahmen des Konzepts der Push- und Pull- Faktoren festhalten, verweisen auf die Komplexität der Migrationsprozesse und untersuchen dementsprechend weniger einzelne Fluchtursachen („root causes“), sondern das Zusammenwirken vielfältiger Triebkräfte („drivers“), die in bestimmten Konfigurationen migrationsbegünstigend wirken können.16 Vor diesem Hintergrund erscheint es zumindest fraglich, inwiefern sich der konkrete Einfluss einzelner, isoliert betrachteter Faktoren auf das Migrationsgeschehen exakt bestimmen lässt. Die vorliegende Dokumentation umfasst aktuelle soziologische, ökonomische und politikwissenschaftliche Studien sowie politischen Analysen, die das Konzept der Push- und Pull-Faktoren nutzen, weiterentwickeln oder ablehnen. Darüber hinaus ist eine Pressedokumentation beigefügt, die Artikel zu relevanten Studien und dem aktuellen EU-Migrationspakt enthält. 13 Ebd., S. 26. 14 Hoesch: Migration (wie Anm. 8) S. 62f. 15 European Asylum Support Office: The Push and Pull Factors of Asylum-Related Migration. A Literature Review , November 2016, S. 32. Die ausgewerteten Studien sind über eine Datenbank erschlossen und online verfügbar unter: https://www.easo.europa.eu/push-and-pull-factors-database. Nach Auskunft des EASO ist eine Aktualisierung der Datenbank nicht geplant. Die EU fördert u.a. das Migrationsforschungsnetzwerk International Migration, Integration and Social Cohesion in Europe (IMISCOE), das eine aktuelle Forschungsdatenbank anbietet. Online verfügbar unter: https://migrationresearch.com/search. 16 Carling, Jørgen/Francis Collins: Aspiration, desire and drivers of migration. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 44 (2018) 6, S. 909-926, hier: 920f. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1080/1369183X.- 2017.1384134. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 027/20 Seite 7 2. Dokumentation Cusamano, Eugenio/Matteo Villa: Sea Rescue NGOs: a Pull Factor of Irregular Migration?, Robert Schuman Centre for Advanced Studies Policy Briefs 2019/22. Online verfügbar unter : https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/65024/PB_2019_22_MPC.pdf Czaika, Mathias/Constantin Reinprecht: Drivers of migration. A synthesis of knowledge, IMI Working Paper Series April 2020, No. 163. Online verfügbar unter: https://www.migrationinstitute .org/publications/drivers-of-migration-a-synthesis-of-knowledge European Asylum Support Office: Asylanträge aus den westlichen Balkanstaaten. 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