© 2016 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 – 025/16 Dauer von Ghettos im Nationalsozialismus Ausgewählte Einzelfragen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 025/16 Seite 2 Dauer von Ghettos im Nationalsozialismus Ausgewählte Einzelfragen Aktenzeichen: WD 1 - 3000 – 025/16 Abschluss der Arbeit: 31.05.2016 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 025/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Quellen und Literatur 4 3. Begriffsdefinition 5 4. Die „Ghetto-Liste“ des Bundesfinanzministeriums 5 5. Ergebnisse 6 6. Fazit 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 025/16 Seite 4 1. Einleitung Im Folgenden geht es um die Frage, wie lange während des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa und der UdSSR1 Ghettos existierten. Dabei soll insbesondere geklärt werden, wann das erste bekannte Ghetto errichtet und wann das letzte Ghetto geschlossen wurde. 2. Quellen und Literatur 2009 erschien „The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos during the Holocaust”, die 2014 auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Die Enzyklopädie umfasst rund 1.140 Orte, in denen Ghettos errichtet wurden. In kurzen Beiträgen werden die Hintergründe und die lokalen Gegebenheiten beleuchtet sowie – soweit bekannt – Zahlen und Daten benannt. 2 2012 veröffentlichte das United States Holocaust Memorial Museum die „Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933-1945“, das neben den 1.150 aufgeführten Ghettos auch Material zu den Konzentrationslagern enthält und daher sehr viel umfangreicher ist. Auch der Dokumentationsteil ist weitaus größer.3 In den letzten fünf Jahren sind zudem auch in Deutschland einige neuere Forschungsarbeiten zu Struktur, Aufbau und Alltag in den Ghettos erschienen.4 Dabei wird betont, dass es noch viel Forschungsbedarf gebe, da sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft bisher eher auf die Konzentrationslager beschränkt habe.5 1 Als einziges westeuropäisches Ghetto wird die „Jodenbuurt“ in Amsterdam genannt. Vgl. Pohl, Dieter: Ghettos. In: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager . München 2009, S. 166. 2 Miron, Guy / Shulhani, Shlomit (Eds.): The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos during the Holocaust, Yad Vashem Publications: 2010 (2. Vol.), 2. Auflage. 3 Megargee, Geoffrey P. / Dean, Martin / Hecker, Mel (Eds.): Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945, Indiana University Press: 2009 (Vol. 1), 2012 (Vol. 2). 4 Vgl. Hensel, Jürgen/Lehnstaedt, Stephan (Hrsg.): Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos. Osnabrück 2013. Der Tagungsband umfasst Arbeiten verschiedener Historiker, die teilweise als Gutachter vor Gericht hinzugezogen wurden, wenn es um die Klärung von Rentenansprüchen nach dem ZRGB ging. 5 Vgl. Vgl. Zarusky, Jürgen: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, S. 48. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 025/16 Seite 5 3. Begriffsdefinition Während der Begriff „Getto“ bereits seit dem Spätmittelalter für bestimmte, Juden zugewiesene Wohngebiete genutzt wurde, erfuhr er unter den Nationalsozialisten eine Umdeutung6. Die beiden Enzyklopädien nutzen Arbeitsdefinitionen, die sich nur geringfügig unterscheiden. Exemplarisch wird an dieser Stelle auf die Definition der Yad Vashem Enzyklopädie zurückgegriffen. Ein Ghetto ist demnach „jede Konzentration von Juden unter Zwang länger als ein Monat in einem klar abgegrenzten Wohnbezirk einer bereits bestehenden Ansiedlung (Großstadt, Kleinstadt oder Dorf) in Gebieten, die von Deutschland oder seinen Verbündeten kontrolliert wurden“.7 Ausgehend von den unterschiedlichen Definitionen kommen beide Enzyklopädien zu einer geringfügig unterschiedlichen Anzahl von Ghettos. Es ist davon auszugehen, dass in den abweichenden Kriterien auch die Erklärung für die weitaus höhere Zahl der Ghettos in der Liste des Bundesfinanzministeriums liegt. 4. Die „Ghetto-Liste“ des Bundesfinanzministeriums Das Bundesfinanzministerium veröffentlicht auf seiner Internetseite eine „Ghetto-Liste in Überarbeitung “8, die insgesamt 1.453 Ghettos umfasst, bei denen jeweils ein Datum für die „Eröffnung“ und die „Liquidierung“ angegeben ist. 9 Die frühesten Ghettos sind nach den Angaben des Bundesfinanzministeriums Das Ghetto Buk (Polen), Eröffnung 21.9.1939, Liquidierung 9.12.1939 Das Ghetto Lipno (Polen), Eröffnung 21.9.1939, Liquidierung 30.11.1939 Das Ghetto Ostrów Wielkopolski (Polen), Eröffnung 21.9.1939, Liquidierung 31.12.1939 Das Ghetto Zbaszyn (Polen), Eröffnung 21.9.1939, Liquidierung 31.12.1939 6 Vgl. Michmann, Dan: Angst vor den ‚Ostjuden‘. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust.Frankfurt, 2010, S. 77f. 7 Ebd., S. 13f. 8 Vgl. http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen /Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/Kriegsfolgen_Wiedergutmachung/Kabinett_beschliesst-Ghettoliste _2016.pdf?__blob=publicationFile&v=3 9 Quellenangaben fehlen in dieser Liste. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 025/16 Seite 6 Keines dieser vier Ghettos wird in den beiden Enzyklopädien erwähnt. Die Ortsnamen tauchen lediglich an manchen Stellen auf, wenn davon die Rede ist, dass Juden aus diesen Städten in andere Ghettos verwiesen wurden.10 Auffallend ist, dass alle vier Ghettos das gleiche Eröffnungsdatum haben und nur wenige Monate existierten. An dem angegeben Datum der Eröffnung, dem 21.9.1939, fand eine Besprechung des Chefs der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, mit den Leitern der Einsatzgruppen statt. Hier erklärte Heydrich: „Das Judentum ist in den Städten in Gettos zusammenzufassen, um eine bessere Kontrollmöglichkeit und spätere Abschubmöglichkeit zu haben. Hierbei vordringlich ist, dass der Jude als Kleinsiedler vom Land verschwindet. Diese Aktion muss innerhalb der nächsten 3 bis 4 Wochen durchgeführt sein.“11 Es kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, warum die vier Ghettos mit diesem Datum in der Liste genannt werden. Möglicherweise wurde das Datum der Besprechung als Beginn der ersten Ghettobildung in Polen zu Grunde gelegt. 5. Ergebnisse Sowohl die Enzyklopädien als auch die zu Rate gezogene Literatur nennen keine genauen Daten zur Bestimmung von Beginn und Ende einzelner Ghettos. In den meisten Fällen gab es wohl Übergangsperioden. Auch die Einrichtung der sogenannten Judenräte bedeutete nicht zwingend, dass bereits ein Ghetto existierte.12 Zudem wurden viele Ghettos in bereits bestehenden jüdischen Wohnvierteln eingerichtet. Übereinstimmend wird jedoch sowohl in den Enzyklopädien wie in der Literatur13 als frühestes Ghetto Piotrków Trybunalski (dt. Petrikau) in Zentralpolen genannt , das im Oktober 1939 errichtet wurde und bis zum Juli 1943 existierte.14 Damit hat das Ghetto Piotrków Trybunalski in etwa die durchschnittliche Dauer der Ghettos in Polen, dem Baltikum und der UdSSR. 10 beispielsweise der Ort Lipno: Megargee, Geoffrey P. / Dean, Martin / Hecker, Mel (Eds.): Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945, (Vol. 2), S.14. 11 Zitiert nach: Michman, Dan: Angst vor den ‚Ostjuden‘, S. 74. 12 Ebd., S.73f. 13 Vgl. Zarusky, Jürgen: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, S. 46. 14 In der Liste des Bundesfinanzministeriums werden für dieses Ghetto folgende Daten genannt: Eröffnung 8.10.1939, Liquidierung 30.07.1943. Vgl. Megargee, Geoffrey P. / Dean, Martin / Hecker, Mel (Eds.) Encyclopedia of Camps and Ghettos, S. 280: „On October 8, 1939, Oberbürgermeister (Lord Mayor) Hans Drechsel ordered the establishment of a ghetto in Piotrków Trybunalski, which was the first ghetto in Nazi-occupied Europe.” Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 025/16 Seite 7 So wie eine Datierung der Ghettoentstehung nur exemplarisch vorgenommen werden kann und überdies Übergangsperioden berücksichtigen muss, kann auch kein einheitliches Ende sämtlicher Ghettos angegeben werden. In der Forschung besteht allerdings weitgehend Einigkeit darüber , dass die meisten Ghettos in Osteuropa und der UdSSR im Sommer und Herbst 1943 aufgelöst wurden.15 Auf polnischem Boden existierte Ende 1943 schließlich nur noch ein Ghetto in Łódź (dt. Litzmannstadt), dessen letzte Bewohner im August 1944 deportiert wurden.“16 Bereits am 21. Juni 1943 hatte Heinrich Himmler die Auflösung der Ghettos im „Reichskommissariat Ostland“angeordnet.17 Es lassen sich jedoch auch Beispiele anführen, in denen Ghettos über diese Zäsur hinaus Bestand hatten – bis hin zu den letzten Ghettoneubildungen in Ungarn ab dem 19. April 1944.18 Als letztes Ghetto, das bei Kriegsende intakt war, kann möglicherweise Theresienstadt (Terezín) gelten, das erst am 5. Mai 1945 der Verwaltung des Roten Kreuzes überstellt und drei Tage später von der Roten Armee befreit wurde.19 Allerdings wird mit Theresienstadt ein in vielerlei Hinsicht besonderer Ausnahmefall herangezogen, dessen Einordnung zwischen Ghetto und Durchgangslager unter Historikern umstritten ist.20 6. Fazit Auch wenn eine genaue Datierung von Beginn und Ende der Ghettos im nationalsozialistischen Einflussbereich kaum möglich ist, scheint es in der Forschung unumstritten, dass die meisten Ghettos zwischen Herbst 1939 und Sommer/Herbst 1943 existierten. Exemplarisch dafür steht das Ghetto Piotrków Trybunalski in Zentralpolen. 15 Vgl. Pohl, Dieter: Ghettos. In: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München 2009, S. 184. 16 Ebd., S. 170. 17 Ebd. 18 vgl. Pohl, in: Zarusky 2010, S.47. 19 vgl. Benz 1995, S. 91. 20 Vgl. Klein, Peter: Theresienstadt. Musterghetto und Musterarbeit? In: Hensel, Jürgen/Lehnstaedt, Stephan (Hrsg.): Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos. Osnabrück 2013, S. 321 ff.