WD 1 - 3000 - 023/17 (20. November 2017) © 2018 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Sowohl in den Niederlanden als auch in Belgien erleben die Parlamente häufiger Zeiten, in denen eine Regierung geschäftsführend im Amt ist und keine Parlamentsmehrheit hat.1 In Belgien gab es etwa 2010/11 rund 18 Monate keine Regierungsmehrheit im Parlament. Dennoch stand die Parlamentsarbeit nicht still. Studien in Belgien haben ergeben, dass, je länger die Regierungsbildung dauerte, umso größer die Aktivität des Parlaments wurde.2 Am Ende der 18monatigen Interimszeit gab es beinahe genauso viele Sitzungen und Abstimmungen wie unter „normalen“ Bedingungen . Gesetzgebung und Ausschüsse In den Niederlanden arbeiteten die Ausschüsse während der zuletzt siebenmonatigen Sondierungsphase der Regierung3 ebenfalls weiter, allerdings kennt man hier – anders als in Belgien – keine Diskontinuität. Grundsätzlich bleiben die Ausschüsse nach Wahlen eingesetzt, während Gesetzesvorhaben der alten Regierungen normalerweise „entbunden“ werden.4 Im Falle von langanhaltenden Regierungsbildungen gibt es jedoch ein sechsstufiges Verfahren, nach dem Gesetzesvorhaben vom Parlament auf Vorschlag der Ausschüsse als kontrovers oder als unstrittig eingestuft werden.5 1 In den Niederlanden gab es seit 2002 fünf geschäftsführende Regierungen mit einer Dauer von zwei bis sieben Monaten. 2 Vgl. X. Baeselen/S. Toussaint/J.B. Pilet/N. Brack: Quelle activité parlementaire en période d’affaires courantes ?.S. 18 http://www.pfwb.be/le-travail-du-parlement/doc-et-pub/publications/cahier-de-lulb-pfwb-ndeg1- quelle-activite-parlementaire-en-periode-daffaires-courantes 3 Vgl. https://www.parlement.com/id/vhnnmt7j3lxp/demissionair_kabinet 4 Vgl. M van Kessel: Controversieelverklaringen. Tijdschrift voor Constitutioneel Recht 5 (2014) S. 206. 5 https://www.tweedekamer.nl/debat_en_vergadering/uitgelicht/controversi%C3%ABle-onderwerpen WD 1 Geschichte, Zeitgeschichte, Politik Kurzinformation Arbeitsweise der Parlamente in den Niederlanden und Belgien in Zeiten geschäftsführender Regierungen Kurzinformation in Zeiten geschäftsführender Regierungen Fachbereich WD 1 (Geschichte, Zeitgeschichte, Politik) Zeitgeschichte, Politik Seite 2 Kontroverse und unstrittige Gesetzesvorhaben Unstrittige Gesetzesvorhaben können in den Ausschüssen beraten und im Plenum verabschiedet werden. Auch Enquete-Kommissionen setzen ihre Arbeit fort. Die Zahl der als kontrovers klassifizierten Gesetzesvorhaben ist in den letzten zwanzig Jahren allerdings stark gestiegen: Während nach den Wahlen 1998 lediglich acht Gesetzesvorhaben als kontrovers eingestuft wurden, waren es zu Beginn der jüngsten Regierungsbildung, die erst Ende Oktober 2017 nach sieben Monaten abgeschlossen wurde, 250 Gesetzesvorhaben. Diese werden nicht auf die Tagesordnung des Plenums gelangen. Allerdings kann das Parlament die Klassifizierung wieder aufheben und über das Vorhaben doch noch abstimmen, etwa wenn es sich um dringende EU-Angelegenheiten handelt oder sich die Fraktionen auf eine veränderte Fassung des Vorhabens geeinigt haben. Seit 1989 wird die Liste der „Kontroversen Vorhaben“ veröffentlicht, zuvor konnte die Öffentlichkeit lediglich aus dem Plenarprotokoll entnehmen, welche Vorhaben nicht besprochen werden sollten. Ein wichtiges Kriterium für die Klassifizierung ist, ob ein Vorhaben gesellschaftlich umstritten ist. Nicht immer besteht darüber Einigkeit: So zogen 2012 zwei Abgeordnete vor das Verfassungsgericht, da sie die Billigung des ESM-Vertrages als gesellschaftlich umstritten und damit kontrovers einstufen lassen wollten. Die Richter lehnten dies ab, da das Vorhaben parlamentarisch nicht umstritten sei. Offensichtlich sei gesellschaftlich umstritten nicht gleichzusetzen mit parlamentarisch kontrovers, hieß es.6 Die Liste wird von den Ausschüssen erarbeitet und ins Plenum zur Abstimmung eingebracht. Die geschäftsführende Regierung und die Fraktionen machen hierzu Vorschläge. Auch Minderheitenvoten können Berücksichtigung finden, das heißt, das Plenum kann Vorschläge als kontrovers deklarieren, die von einer Minderheit oder einzelnen Fraktionen eingebracht wurden. Parlamentarische Gepflogenheiten Weder in den Niederlanden noch in Belgien sind die Regeln für das Handeln der Parlamente in Zeiten geschäftsführender Regierungen in der Verfassung oder in der Geschäftsordnung festgelegt . Sie folgen vielmehr parlamentarischen Gepflogenheiten. Dazu gehört beispielsweise in Belgien , dass die Ausschüsse eingesetzt und die geschäftsführende Regierung dringende Gesetzesvorhaben ins Parlament einbringen kann. Fragestunden werden zwar nicht angesetzt, jedoch können schriftliche Anfragen an die Regierung gestellt werden. Das Plenum tagt regelmäßig, zu Beginn noch in längeren Abständen. Je länger die Regierungsbildung jedoch dauert, desto häufiger gibt es Sitzungen. 6 M. van Kessel: Vgl. M van Kessel: Controversieelverklaringen. Tijdschrift voor Constitutioneel Recht 5 (2014) S. 198. Kurzinformation in Zeiten geschäftsführender Regierungen Fachbereich WD 1 (Geschichte, Zeitgeschichte, Politik) Zeitgeschichte, Politik Seite 3 Die Erfahrungen in Belgien zeigten zudem, dass die Abgeordneten zunächst ihre Rollen als Regierungs - und Oppositionsabgeordneten beibehielten. Je länger die Interimszeit dauerte, desto mehr weichten die Trennlinien jedoch auf, sodass neue inhaltliche Allianzen möglich wurden.7 Insgesamt wird die Zeit der geschäftsführenden Regierung in Belgien für das Parlament eher verhalten positiv bewertet. Es habe aus seiner zuvor eher schwachen Rolle ein wenig heraustreten können. Es sei pro-aktiver geworden, während die Kluft zwischen Regierung und Opposition kleiner geworden sei.8 7 Vgl. Vgl. X. Baeselen/S. Toussaint/J.B. Pilet/N. Brack: Quelle activité parlementaire en période d’affaires courantes ?.S. 38 http://www.pfwb.be/le-travail-du-parlement/doc-et-pub/publications/cahier-de-lulb-pfwb-ndeg1- quelle-activite-parlementaire-en-periode-daffaires-courantes 8 Peter van Aelst/Tom Louwerse: Parliament without Government: The Belgian Parliament and the the government formation processes of 2007-2011. In: West European Politics, 37:3, S. 475.