Deutscher Bundestag Entschädigungsleistungen für während des Nationalsozialismus verfolgte Sinti und Roma Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000-023/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 2 Entschädigungsleistungen für während des Nationalsozialismus verfolgte Sinti und Roma Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000-023/11 Abschluss der Arbeit: 21. März 2011 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Sinti und Roma als Opfer nationalsozialistischer Verfolgungen in Deutschland 4 2. Umgang mit den Opfern in Deutschland nach 1945 4 3. Entschädigungen für Sinti und Roma in der Bundesrepublik 6 3.1. Erstentscheidung nach dem BEG 1956 6 3.2. Historische Aufarbeitung und Veränderungen in der Rechtssprechung 7 3.3. Veränderungen in der Rechtsprechung 7 3.4. Umdenken gegen Ende der 1970er Jahre: „Härtefall-Fonds“ 8 4. Literatur 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 4 1. Sinti und Roma als Opfer nationalsozialistischer Verfolgungen in Deutschland Es liegt keine offizielle Statistik vor, wie viele Sinti und Roma sich nach Kriegsende 1945 in Deutschland aufhielten. Einer Schätzung aus dem Jahr 1950 zufolge waren von 18.339 „Zigeunern “, die im Mai 1940 im „Altreich“ gelebt hatten, „weniger als 5000 Menschen zurückgeblieben “. Von diesen Personen hatten 2.000 die Haft in den Konzentrationslagern überlebt, den übrigen 3.000 war es gelungen, einer KZ-Haft zu entgehen.1 Von denjenigen, die als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ hatten überleben können, wurden anderen Angaben zufolge bis 1943 etwa 500, von 1943 an etwa 2.000 bis 2.500 zwangsweise sterilisiert. Für die Betroffenen selbst war dies eine Katastrophe „kaum beschreibbaren Ausmaßes“, da viele Kinder für Sinti und Roma den Inbegriff von Glück und Ansehen darstellen.2 1940 waren etwa 2.800 „Zigeuner“ in das von Deutschland besetzte Polen deportiert worden. In den Jahren 1941 und 1942 starben schätzungsweise 5.000 Roma aus dem österreichischen Burgenland, die man in das Ghetto Lodz deportiert hatte, an Flecktyphus.3 Zwischen Februar 1943 und Juli 1944 wurden ca. 20.000 „Zigeuner“ aus dem Reichsgebiet nach Auschwitz deportiert. Insgesamt geht man von ca. 23.000 nach Auschwitz deportierten „Zigeunern“ aus, von denen über 60 Prozent aus Deutschland einschließlich der „Ostmark“ stammten.4 Im Frühjahr 1944 lebten von diesen noch ca. 6.000 im „Zigeunerlager“, das Anfang August 1944 liquidiert und dessen letzte Insassen ermordet wurden.5 2. Umgang mit den Opfern in Deutschland nach 1945 Im Zuge nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen wurden über den Kreis der Betroffenen ab 1935 vermehrt Akten angelegt. Insbesondere wurden von Mitarbeitern der 1935 neugegründeten „Rassenhygienischen und erbbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ (RHF) „gutachterliche Äußerungen“ verfasst. Verantwortlich für die Erstellung der „Rassegutachten“ waren hauptsächlich der Leiter der RHF, Robert Ritter, und seine Mitarbeiterin Eva Justin. Diese ca. 24.000 „Rassegutachten“ boten ein Kriterium für die Einbeziehung oder Nichteinbeziehung der Betreffenden in die Deportationen und damit in die Vernichtung. Das letzte, nicht überlieferte Gutachten wurde am 15. November 1944 ausgestellt.6 Nach 1945 gelang es Robert Ritter und Eva Justin, im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main tätig zu werden. Zwar wurde gegen beide ein Verfahren eröffnet, dieses aber wieder einge- 1 Neue Zeitung vom 15.3.1950, zitiert nach Margalit (2007), S. 483; vgl. zur Verlässlichkeit dieser Angabe ders., Die deutsche Zigeunerpolitik nach 1945, in: VfZ 45 (1997), H. 4, S. 557-588, hier S. 557, FN 2; vgl. zu den Zahlenangaben Michael Zimmermann (2007): Die Entscheidung für ein Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau, in: ders. (Hrsg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa das 20. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 392-424, hier S. 422. 2 Vgl. Zimmermann (2007) S. 423. 3 Vgl. Zimmermann (2007), S. 392. 4 Vgl. Zimmermann (2007), S. 415 5 Vgl. Peter Longerich (2008), Heinrich Himmler. Biographie, München: Siedler, hier S. 692. 6 Vgl. zur Verwendung dieser Akten nach 1945 Bauer, Stephan (2007): Von Dillmanns Zigeunerbuch zum BKA. 100 Jahre Erfassung und Verfolgung der Sinti und Roma in Deutschland, Heidenheim: Verlag Uwe Siedentop, S. 29ff; zur Aktenüberlieferung vgl. Fings, „Gutachterliche Äußerungen“, S. 427 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 5 stellt. Eine weitere ehemalige Mitarbeiterin der RHF, die Anthropologin Sophie Erhardt, war bis 1981 Professorin an der Universität Tübingen. Dort konnte sie ihre Beschäftigung mit dem Thema "Zigeuner" fortführen.7 Bis in die 1970er Jahre hinein wurden in der Bundesrepublik sowohl anthropologische Studien als auch polizeiliche Sondererfassungen unter Rückgriff auf die während der Zeit des Nationalsozialismus angelegten Akten betrieben.8 Aufgrund des Aktenmonopols gelang es den ehemaligen Angehörigen der RHF, sich gegenseitig vor Strafverfahren zu schützen. Weitere ehemalige Angehörige der Verfolgerinstanzen wie dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) traten zudem als „Gutachter“ in Entschädigungsverfahren9 von „Zigeunern“ 10 auf. Erst 1990 strebte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vor dem Oberlandesgericht Zweibrücken ein Verfahren an, in welchem der Verbleib dieser 24.000 „Rassegutachten“ geklärt werden sollte.11 7 Vgl. http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/voelker/sinti_und_roma/voelkermord_sinti_roma.jsp. 8 Vgl. Karola Fings: Die „gutachterlichen Äußerungen“ der Rassenhygienischen Forschungsstelle und ihr Einfluss auf die nationalsozialistische Zigeunerpolitik, in: Michael Zimmermann (Hrsg.) (2007): Zwischen Vernichtung und Erziehung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 425-462, hier S. 425; vgl. zur Überlieferungsgeschichte der Akten Karola Fings/Frank Sparing (1995): Vertuscht, Verleugnet, Versteckt. Akten zur NS-Verfolgung von Sinti und Roma, in: Christoph Dieckmann (Hrsg.) (1995): Besatzung und Bündnis. Deutsche Herschaftsstrategien in Ost- und Südosteuropa, Berlin /Göttingen: Schwarze Risse, S. 181-201. 9 Fings (2007), S. 426. Zitiert wird hier Romani Rose (1987): Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland, Heidelberg: ,S. 47. 10 Fings verwendet in ihrem Artikel den Begriff „Zigeuner“ im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung, da er als Objekt-Begriff aus der Perspektive der Verfolgerinstanzen und nicht als Subjekt-Begriff der Betroffenen zum Einsatz kommt; ein Rückgriff auf ethnisierende Bezeichnungen würde bedeuten, die Heterogenität der als „Zigeuner “ verfolgten Gruppe zu verwischen; außerdem bestünde die Gefahr einer Reproduktion der von der RHF vorgenommenen rassistischen Zuschreibungen, diese hatte nichts mit der Identität der Betroffenen gemein. Die Begriffe „Sinti“ und „Roma“ wurden hingegen von der Bürgerrechtsbewegung gegen den als diskriminierend empfundenen Begriff „Zigeuner“ weitgehend durchgesetzt. Der Begriff „Sinti“ bezeichnet die größte, seit rund 600 Jahren im deutschen Sprachraum lebende Gruppe, mit „Roma“ werden die seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Ost- und Südosteuropa immigrierten Gruppen bezeichnet, Fings (2007), S. 426, FN 7. 11 Vgl. Fings (2007), S. 425. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 6 3. Entschädigungen für Sinti und Roma in der Bundesrepublik 3.1. Erstentscheidung nach dem BEG 1956 Der Bundesgerichtshof fällte am 7. Januar 1956 ein Grundsatzurteil, in welchem er zu den Wiedergutmachungsansprüchen der „Zigeuner“ für während des Nationalsozialismus erlittenes Unrecht entschied:12 „Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Seßhaftmachung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“13 Das Gericht vertrat damit die Ansicht, die „rassische“ Verfolgung der „Zigeuner“ hätte erst mit dem Inkrafttreten des „Auschwitz-Erlasses“ am 1. März 1943 begonnen. In diesem hatte Heinrich Himmler, Reichsführer SS am 16. Dezember 1942 angeordnet, die auf dem Reichsgebiet lebenden sogenannten „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ in Konzentrationslager einzuweisen.14 Hingegen war „die im April 1940 durchgeführte Umsiedlung von Zigeunern aus der Grenzzone und den angrenzenden Gebieten nach dem Generalgouvernement“ für den BGH „keine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme aus Gründen der Rasse im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG)“.15 Ebenso wenig erfüllte die unberechtigt vorgenommene Inhaftierung von ca. 2.000 als „asozial“ stigmatisierten Sinti im Jahr 1938 für die Richter des BGH den Tatbestand einer spezifisch nationalsozialistischen Verfolgung. Das galt auch für das seit Beginn des Krieges für alle „Zigeuner“ geltende Verbot, ihren Wohnort zu verlassen. Diese Maßnahmen wurden statt dessen als Vorbeugungs- bzw. Sicherungsmaßnahmen im üblichen Rahmen polizeilicher Gewalt interpretiert. 16 Sinti und Roma waren als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung zwar nicht grundsätzlich von Wiedergutmachungsleistungen ausgeschlossen. Es erfolgte jeweils eine Einzelfallprüfung durch die Behörden, die diese sehr unterschiedlich handhaben konnten. Generell stand den Verfolgten im Falle einer Entschädigung eine solche erst für den Zeitraum ab dem 1. März 1943 – dem Wir- 12 Vgl. zum Folgenden: Martin Feyen: „Wie die Juden?“ Verfolgte „Zigeuner“ zwischen Bürokratie und Symbolpolitik , in: Norbert Frei/José Brunner/Constantin Goschler (Hrsg.) (2010): Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte , Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 323-355, hier S. 330. 13 Vgl. Anrold Spitta (1989): Entschädigung für Zigeuner? Geschichte eines Vorurteils, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München: R.- Oldenbourg-Verlag, S. 385-401, hier S. 386; vgl. BGH-. Urteil vom 7.1.1956, Rechtsprechung zur Wiedergutmachung 7 (1956), H.1. 14 Vgl. zum „Auschwitz-Erlass“ Karola Fings: Eine „Wannsee-Konferenz“ über die Vernichtung der Zigeuner? Neue Forschungsergebnisse zum 15. Januar 1943 und dem „Auschwitz-Erlass“, in: Wolfgang Benz (Hrsg.) (2006): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15, Berlin: Metropol-Verlag, S. 303-334; vgl. zum Text des Dokumentes : Udo Engbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, Frankfurt (Main), S. 342–347. 15 Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 7 (1956), S. 113, zitiert nach Feyen (2010), S. 330. 16 Vgl. Feyen (2010), S. 331. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 7 kungsdatum des „Auschwitz-Erlasses“ – zu. Damit minderten sich die staatlichen Zahlungsverpflichtungen im Falle einer Entschädigung von vornherein ganz erheblich.17 3.2. Historische Aufarbeitung und Veränderungen in der Rechtsprechung Nach der Urteilsverkündung des BGH legte das bereits 1949 gegründete Münchener Institut für Zeitgeschichte ein Gutachten zur nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“ vor. Der Autor , Hans Buchheim, setzte den Beginn der rassistischen Verfolgungen im Gegensatz zu den Richtern des BGH auf den Dezember 1938. Demnach hätten die Nationalsozialisten die „wahre Grundlage“ ihrer Zigeunerpolitik bereits im Runderlass vom Dezember 1938 gefunden, in dem eine Regelung der Zigeunerfrage „aus dem Wesen der Rasse heraus“ angekündigt worden war.18 Der Freiburger Kriminologe Hans-Joachim Döring kam in seiner Dissertation zu dem Schluss, dass „im März/April 1940 grundsätzlich die Absicht bestanden haben [dürfte], die Zigeunerfrage durch Evakuierung auf das Generalgouvernement abzuwälzen“19 3.3. Veränderungen in der Rechtsprechung Der BGH hob mit dem Urteil vom 18. Dezember 1963 seine bisherige Rechtsprechung auf.20 Einerseits hatten neue historische Erkenntnisse dies nahegelegt. Hierzu zählt u.a. die Kenntnis der Denkschrift des Gauleiters der Steiermark, Tobias Portschy, über „Die Zigeunerfrage“ vom August 1938.21 Andererseits führten Veränderungen im gesellschaftlichen Klima und im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu dieser Entwicklung. So wurde am Rande des Frankfurter Auschwitz-Prozesses seit 1959 ein Ermittlungsverfahren gegen Eva Justin und weitere Mitarbeiter der RFH sowie der Kriminalpolizei wegen des Verdachts der Beihilfe zur Ermordung der „Zigeuner“ in Auschwitz geführt.22 Schließlich wurde 1965 in das Bundesentschädigungs-Schlussgesetz (BEG-SG) ein Passus aufgenommen , nach welchem „Zigeuner“, denen eine Entschädigung mit Berufung auf das BGH-Urteil von 1956 verwehrt worden war, noch einmal einen Antrag stellen konnten. Bestandteil des BEG- SG war zudem die sogenannte KZ-Vermutung. Personen, die mindestens ein Jahr im KZ inhaftiert gewesen waren, wurde generell eine Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit von 25 Prozent zuerkannt . Diese Regelung kam insbesondere vielen Sinti zugute. Als entschädigungsfähig wurden im Rahmen der Wiedergutmachungsrechtsprechung aber nur physische Schäden anerkannt. Psychische Störungen wurden hingegen meistens nicht in Erwägung gezogen. Grundsätzlich nicht „ent- 17 Vgl. Feyen (2007), S. 331. 18 Hans Buchheim (1958): Die Zigeunerdeportationen vom Mai 1940, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte , München: Selbstverlag des Instituts für Zeitgeschichte, S. 51-59, hier S. 51. 19 Hans-Joachim Döring (1964): Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat, Hamburg: Kriminalistik-Verlag, S. 419. 20 Vgl. Feyen (2010), S. 340. 21 Vgl. Tobias Portschy, Die Zigeunerfrage. Denkschrift des Landeshauptmannes für das Burgenland, August 1938: http://www.kurt-bauer-geschichte.at/PDF_Lehrveranstaltung%202008_2009/E11_Portschy_Zigeunerfrage.pdf. 22 Vgl. Feyen (2010), S. 341. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 8 schädigungsfähig“ waren Zwangssterilisationen, die aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorgenommen worden waren. Seit 1933 waren allerdings gerade „Zigeuner “ überdurchschnittlich oft dieser Verfolgungsmaßnahme zum Opfer gefallen.23 Als „rassisch“ motivierte Verfolgungsmaßnahmen wurden Sterilisationen jedoch nur dann anerkannt, wenn sie ohne gesetzliche Grundlage vorgenommen worden waren. In diesem Falle erfolgte eine finanzielle Entschädigung, allerdings auch erst dann, wenn eine mindestens 25-prozentige Erwerbsfähigkeitsminderung vorlag. Auch nach dem BEG-SG blieben viele Sinti von der Wiedergutmachung ausgeschlossen, da sie es versäumt hatten, bereits in den 1950er Jahren einen Antrag zu stellen. Die Anzahl dieser Personen ist nicht zu unterschätzen, da viele Angehörige dieser Opfergruppe traditionell gegenüber staatlichen Institutionen um Distanz bemüht waren. Hinzu kam die Unkenntnis vieler Betroffener über das Wiedergutmachungsverfahren und dessen einzelne Regelungen. Wenn die Betroffenen dann aber Wiedergutmachungsansprüche stellten, mussten sie feststellen, dass diese erst gar nicht überprüft wurden, weil die zeitlich gesetzten Fristen inzwischen überschritten worden waren .24 3.4. Umdenken gegen Ende der 1970er Jahre: „Härtefall-Fonds“ Die Debatte um die Entschädigungen für „Zigeuner“ wurde Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre wieder neu aufgenommen. Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung hatten Romani Rose, seinerzeit Vorsitzender des „Verbandes deutsche Sinti“, und Tilman Zülch sowie die unter seiner Leitung stehende „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV). Gemeinsam wurden eine Reihe öffentlichkeits- und medienwirksamer Aktionen durchgeführt, deren Auftakt am 27. Oktober 1979 eine Gedenkveranstaltung auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen- Belsen bildete. An dieser Veranstaltung nahm auch Simone Veil teil, Präsidentin des Europäischen Parlaments, die als Jüdin selbst in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz- Birkenau deportiert worden war und den Todesmarsch nach Bergen-Belsen überlebt hatte. Kurz darauf, im November 1979 forderten Sinti-Verbände und die GfbV in einem Memorandum von der Bundesregierung eine offizielle Anerkennung des Völkermords an den „Roma/Sinti“. Eine weitere Forderung dieses Papiers bestand in einer „Blockreparation“, die sich an dem Luxemburger Abkommen zwischen Deutschland, Israel und der Jewish Claims Conference orientieren sollte. Auch wurde gefordert, dass „die abgelaufenen Anspruchsfristen für die individuelle Wiedergutmachung ausgesetzt, und die noch lebenden Roma/Sinti endlich ihrem Schicksal angemessen entschädigt werden“.25 Von großer nationaler und internationaler Aufmerksamkeit wurde im April 1980 ein Hungerstreik von 13 Sinti in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau begleitet. 23 Vgl. Hansjörg Riechert (1995): Im Schatten von Auschwitz. Die nationalsozialistische Sterilisationspolitik gegenüber Sinti und Roma, Münster/New York. 24 Feyen (2010), S. 346. 25 Vgl. Memorandum der Romani-Union (Weltverband der Zigeuner) und des Verbandes deutscher Sinti an die Bundesregier ung und die Regierungen der Länder, in: GfbV (1980), S. 135, zitiert nach Feyen (2010), S. 348. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 9 Kurz nachdem sich der an jüdischem Vorbild orientierende „Zentralrat der deutschen Sinti und Roma“ gegründet hatte, empfing Bundeskanzler Helmut Schmidt im März 1982 dessen Vorsitzenden Romani Rose. Schmidt setzte ein politisches Zeichen, indem er sich zur Verantwortung der Bundesrepublik für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung bekannt. Bereits ein dreiviertel Jahr zuvor, am 26. August 1981, war eine Härtefallregelung für nichtjüdische Verfolgte in besonderer Notlage in Kraft getreten. Das Procedere folgte demjenigen, wie es bei Härtefallregelungen für jüdische Verfolgte durchgeführt wurde.26 Betroffene aus dem Personenkreis der nichtjüdischen Verfolgten konnten demnach unter bestimmten Bedingungen eine einmalige Beihilfe von bis zu 5.000 DM beantragen. Während jedoch in der Durchführung der Härtefallregelung für jüdische Verfolgte die Claims Conference zuständig war, lag die Bearbeitung der Anträge nichtjüdischer Verfolgter bei den deutschen Behörden. Der für die Bearbeitung dieses Fonds in erster Linie zuständigen Bezirksregierung Köln27 standen bis zu 80 Millionen DM zur Verfügung. Im Zuge der Anwendung der Härtefallregelung für nichtjüdische Verfolgte durch die Bezirksregierung Köln konnten genauere Einsichten in die zahlenmäßige Zusammensetzung der Gruppe der Betroffenen gewonnen werden. So waren unter der einen Hälfte der ca. 26.000 Antragsteller Sinti, Roma sowie Zigeuner anderer Herkunft. Bis zum Sommer 1986 waren von der Bezirksregierung Köln etwa 47 Millionen DM an nichtjüdische Verfolgte des Nationalsozialismus aus diesem Fond ausgezahlt worden. Die dem Bundesfinanzministerium für diesen Personenkreis zur Verfügung stehenden Mittel wurden hingegen in der Auszahlung restriktiver gehandhabt. Aus dessen 20-Millionen-Fonds war in den ersten fünf Jahren lediglich eine halbe Million DM ausgezahlt worden. An positiven Bescheiden ergingen aus dem Bundesfinanzministerium in diesem Zeitraum 52. Mit einem Erlass des Bundesfinanzministeriums vom 3. Dezember 1980 konnten schließlich auch jene Betroffenen auf Entschädigung hoffen, die zwischen 1933 und 1945 aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes zwangsweise sterilisiert worden waren, deren Leiden aber den Voraussetzungen einer Entschädigung, wie sie das BEG bzw. das Allgemeinen Kriegsfolgengesetz vorsahen, nicht genügten. Dieser Personenkreis konnte, falls nicht schon anderweitige Leistungen zur Auszahlung gebracht worden waren, nun endlich auch eine einmalige Beihilfe erhalten. Diese betrug entweder einmalig 5.000 DM oder laufende Leistungen in Höhe von 100 DM monatlich. 26 Vgl. zum Folgenden: Goschler, Constantin (2005): Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen: Wallstein Verlag, hier S. 345ff. 27 Vgl. zur Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus in Köln Fings, Karola/Sparing, Frank (2005): Rassismus – Lager – Völkermord. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln, Köln: Emons. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 10 4. Literatur Bauer, Stephan (2007): Von Dillmanns Zigeunerbuch zum BKA. 100 Jahre Erfassung und Verfolgung der Sinti und Roma in Deutschland, Heidenheim: Verlag Uwe Siedentop. Buchheim, Hans (1958): Die Zigeunerdeportationen vom Mai 1940, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München: Selbstverlag des Instituts für Zeitgeschichte, S. 51-59. Döring, Hans-Joachim (1964): Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat, Hamburg: Kriminalistik -Verlag. Feyen, Martin: „Wie die Juden?“ Verfolgte „Zigeuner“ zwischen Bürokratie und Symbolpolitik, in: Norbert Frei/José Brunner/Constantin Goschler (Hrsg.) (2010): Die Praxis der Wiedergutmachung . Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 323-355 Fings, Karola: Die „gutachterlichen Äußerungen“ der Rassenhygienischen Forschungsstelle und ihr Einfluss auf die nationalsozialistische Zigeunerpolitik, in: Michael Zimmermann (Hrsg.) (2007): Zwischen Vernichtung und Erziehung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 425-462. Fings, Karola: Eine „Wannsee-Konferenz“ über die Vernichtung der Zigeuner? Neue Forschungsergebnisse zum 15. Januar 1943 und dem „Auschwitz-Erlass“, in: Wolfgang Benz (Hrsg.) (2006): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15, Berlin: Metropol-Verlag, S. 303-334. Fings, Karola/Sparing, Frank (2005): Rassismus – Lager – Völkermord. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln, Köln: Emons. Fings, Karola/Frank Sparing (1995): Vertuscht, Verleugnet, Versteckt. Akten zur NS-Verfolgung von Sinti und Roma, in: Christoph Dieckmann (Hrsg.) (1995): Besatzung und Bündnis. Deutsche Herschaftsstrategien in Ost- und Südosteuropa, Berlin/Göttingen: Schwarze Risse, S. 181-201. Goschler, Constantin (2005): Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS- Verfolgte seit 1945, Göttingen: Wallstein Verlag. Lehmann-Richter, Arnold (2007): Auf der Suche nach den Grenzen der Wiedergutmachung. Die Rechtsprechung zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag. Longerich, Peter (2008), Heinrich Himmler. Biographie, München: Siedler. Ludyga, Hannes (2008): Die juristische „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland, in: Rechtstheorie 39, S. 573-586. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000-023/11 Seite 11 Margalit, Gilad: Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs im Deutschland der Nachkriegszeit, in: Michael Zimmermann (Hrsg.) (2007): Zwischen Vernichtung und Erziehung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 483-509. Riechert, Hansjörg (1995): Im Schatten von Auschwitz. Die nationalsozialistische Sterilisationspolitik gegenüber Sinti und Roma, Münster/New York.