Deutscher Bundestag Sozialpolitik aus christlicher Überzeugung? Eine Untersuchung des mutmaßlichen Einflusses von Zentrums-Partei und anderen christlich-sozialen Gruppierungen auf die „Kaiserliche Botschaft“ von 1881 und die aus ihr resultierende Errichtung und Organisation der Sozialversicherung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000/022/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 2 Sozialpolitik aus christlicher Überzeugung? Eine Untersuchung des mutmaßlichen Einflusses von Zentrums-Partei und anderen christlichsozialen Gruppierungen auf die „Kaiserliche Botschaft“ von 1881 und die aus ihr resultierende Errichtung und Organisation der Sozialversicherung Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000/022/12 Abschluss der Arbeit: 11.05.2012 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Christliche Wurzeln der Sozialpolitik 6 3. Die Rolle des Zentrums 7 3.1. Einflussnahme auf die „Kaiserliche Botschaft“ 8 3.2. Handschrift des Zentrums bei den Sozialgesetzen 1883-89 11 4. Andere christlich-soziale Einflüsse 14 5. Das Vorherrschen christlicher Anschauungen innerhalb der Ministerialbürokratie 16 6. Fazit 17 7. Literaturverzeichnis 20 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 4 1. Einleitung Nach den Parlamentswahlen 1881 in Deutschland wandte sich Kaiser Wilhelm I. (1871-1888) am 17. November in der feierlichen Eröffnungssitzung des Reichstags mit einer Ansprache an die Abgeordneten. Vorgetragen wurde die als „Kaiserliche Botschaft“ bezeichnete Rede von Reichskanzler Bismarck, der den kurz zuvor erkrankten Monarchen vertrat. Sie galt aber dennoch als authentisches Wort des Kaisers selbst. Dies machte sie ebenso bemerkenswert wie ihr eigentlicher Inhalt. Sie befasste sich überraschend mit der sog. „Sozialen Frage“, also der Gefahr einer Verelendung breiter gesellschaftlicher Schichten infolge der Industrialisierung, und enthielt erstmals ein klares Bekenntnis der obersten Reichsspitze, zur Behebung oder wenigstens Linderung dieses Problems staatliche Sozialpolitik betreiben zu wollen. So war explizit davon die Rede, „die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Zuge der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen1, sondern gleichmäßig aus dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen.“ Es sei, so weiter, „unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von neuem ans Herz zu legen“, womit darauf angespielt wurde, dass ein 1880 erstmals unternommener Anlauf zu einer solchen sozialen „Wende“ an äußeren Widerständen (auch parlamentarischer Art) gescheitert war und die Bemühung von höchster Stelle nun intensiviert würde, ein Positivergebnis zu erreichen. Denn: „Wir [würden] mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen , dem Vaterlande neue dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. In Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstags ohne Unterschied der Parteistellungen.“2 Mit diesen emphatischen Worten, die ihren Eindruck auf die Abgeordneten, aber auch auf die Öffentliche Meinung nicht verfehlten, begann in Deutschland eine Phase intensiver staatlicher Beschäftigung mit dem Wohl der Arbeiterschaft. Die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November, in der spätere Betrachter sogar die Magna Charta moderner Sozialpolitik erkennen wollten,3 war fraglos bedeutsam. Sie darf, trotz ihres noch zu schildernden Vorlaufs 1880/81, als der eigentliche Startpunkt jener Entwicklung betrachtet werden, die zuerst Deutschland und später auch andere Länder auf den Weg zu sozial motivierten staatlichen Eingriffen in das Wirtschaftsleben 1 Mit dieser Repression war das 1878 verabschiedete Sozialistengesetz gegen die vermeintlich „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ gemeint, das der Sozialpolitik vorausging und mit polizeistaatlichen Mitteln versuchte, das Aufkommen der Sozialdemokraten zu behindern. Vgl. Wege, Irrwege, Umwege, S.122ff. 2 Alle Stellen aus: Kaiserliche Botschaft (Hervorhebungen durch den Verf.). 3 Vgl. Tennstedt, S.663. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 5 brachte und die wegen des damit verbundenen qualitativen Wandels der Politik als Epocheneinschnitt angesehen werden kann.4 Unmittelbarste Frucht dieser Entwicklung waren drei binnen acht Jahren ausgefertigte Sozialgesetze mit dem Ziel, Risiken aus dem Arbeitsprozess zu mildern bzw. in ihren schädlichen Folgen wenigstens finanziell abzusichern. Den Auftakt bildete 1883 das Gesetz über die Einführung einer Krankenversicherung. 1884 kam als weiterer Zweig die Unfallversicherung hinzu. Zu guter Letzt beschloss der Reichstag am 22. Juni 1889 das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, aus dem die staatliche Rente wurde.5 Mit diesen drei Gesetzen setzte Bismarck alles um, was in den konkreteren Passagen der „Kaiserlichen Botschaft“ angekündigt worden war,6 ließ also keines der dort proklamierten Vorhaben unvollendet. Trotz der aus heutiger Sicht bestehenden Mängel (Fehlen von Arbeitsschutzregelungen oder einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit etwa7) stellt die Trias dieser ersten Sozialgesetze weltweit einen Meilenstein in der Entwicklung des modernen Staates dar, dessen Verdienste um eine Aussöhnung von Kapital und Arbeit kaum hoch genug eingeschätzt werden können.8 Eine in diesem Zusammenhang legitime, ja sich vermutlich aufdrängende Frage ist die nach der Motivation: Warum waren Kaiser Wilhelm und sein Reichskanzler entschlossen, zehn Jahre nach der Reichseinigung und am Ende einer Phase betont liberaler Wirtschaftspolitik den in der Botschaft skizzierten Weg verstärkter Intervention ins ökonomische Geschehen9 zu beschreiten? Welche Rolle spielten dabei christliche Überzeugungen? Und beeinflussten die sozialpolitischen Forderungen der Zentrumspartei oder anderer christlich-sozialer Gruppierungen den regierungsamtlichen Kurswechsel? 4 Vgl. Wege, Irrwege, Umwege, S.133 und Stolleis, S.1087. 5 Zu den – teilweise noch heute gültigen – Grundzügen dieser Gesetze vgl. die Darstellung „Bismarcks Sozialgesetzgebung“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Online-Link im Literaturverzeichnis). 6 Dort hatte es im unmittelbaren Anschluss an die eingangs zitierten Passagen geheißen: „In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im Reichstag stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Berathung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesammtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil werden können.“ Kaiserliche Botschaft (Hervorhebungen durch den Verf.). 7 Vgl. Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 94. 8 Für die verbreitete Positivbeurteilung vgl. z.B. Wege, Irrwege, Umwege, S.131, wo es heißt: „Diese Gesetzeswerke begründen ein für ihre Zeit ungemein modernes System sozialer Sicherheit und stellen insofern eine eminente politische Leistung dar.“ 9 Bismarck selbst beschrieb diesen Kurswechsel am 10. August 1881 als „Schutz der wirtschaftlich Schwächeren durch den Staat“ und betonte – mit einem polemischen Schlenker gegen die für Wirtschaftseingriffe des Staates nicht zu gewinnenden Liberalen –, dass nunmehr die Reichsleitung ihre „teilnahmlose Oberaufseherrolle aufgeben soll.“ Zit. nach: Tennstedt, S.687. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 6 Vorliegende Ausarbeitung versucht auf diese Fragen eine Antwort zu geben. 2. Christliche Wurzeln der Sozialpolitik Häufig ist in der Literatur von der vornehmlich taktischen Motivierung Bismarcks die Rede. Er habe sich nur deshalb zu den bahnbrechenden Schutzmaßnahmen für die Arbeiterschicht verstanden , um diese von einer Unterstützung der Sozialdemokratie abzuhalten.10 In einer gerne zitierten Stelle seiner „Gesammelten Werke“ (Friedrichsruher Ausgabe 1924, Band 9, S.195/196) scheint Bismarck diese Sicht zu stützen. Er spricht dort offen von einem „Bestechungsversuch“, den er bei der Arbeiterschaft unternommen habe, um diese Schicht im Staate ruhig zu stellen.11 Nun ist fraglos richtig, dass der als Diplomat ausgebildete, ideologisch flexible Bismarck zu taktischen Überlegungen dieser Art nicht nur fähig, sondern in hohem Maße auch bereit war. Einem Bonmot zufolge soll er Prinzipien jeder Art verabscheut und über sie gesagt haben, Grundsätze zu befolgen, sei für einen Politiker wie „mit einer Stange quer im Mund einen Waldlauf [zu] machen .“12 Dennoch ist Bismarcks Handeln insgesamt nicht ohne feste Grundsätze erklärbar. Und gerade der Entstehungszusammenhang der „Kaiserlichen Botschaft“, die Bismarck nicht nur vorgetragen , sondern auch redigiert hat, wäre durchaus unzureichend, ja falsch erklärt, wenn man deren Inhalt nur auf taktische Überlegungen zurückführte. Die Botschaft ist durchdrungen von religiösem Denken und Verantwortungsgefühl, dessen Ernsthaftigkeit nicht bezweifelt werden kann. Gottesbezüge finden sich gleich mehrfach. Und speziell bei der Begründung staatlichen Schutzes für Hilfsbedürftige heißt es explizit, für das Wohl der Arbeiter zu sorgen sei „eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens , welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht.“13 Auch spricht die Tatsache, dass Bismarcks engste Mitarbeiter in der Ministerialbürokratie, die für die Ausarbeitung der Sozialgesetze zuständig waren, überzeugte Christen gewesen sind, für die Verwurzelung der damaligen Sozialpolitik in christlichen Prinzipien.14 Zieht man schließlich noch in Betracht, dass Bismarck vor seiner Allianz mit den Liberalen (1866-1878) bereits intensiv und unter Berufung auf sein eigenes evangelisches Christentum so- 10 Vgl. Machtan, S.70 sowie Tennstedt, S.671. 11 So sahen es auch die Sozialdemokraten. Karl Grillenberger unterstellte Bismarck, das „berühmte Rennen um den armen Mann“ (zit. nach Machtan, S.70) zu veranstalten, also nur auf Stimmenfang aus zu sein, und Wilhelm Liebknecht bezeichnete Bismarcks Sozialpolitik bereits 1881, als sie erst in Grundrissen erkennbar war, als Danaergeschenk, das man doch besser nicht annehme. Vgl. Tennstedt, S.689. 12 Zit. nach: Clark, S.595. 13 Kaiserliche Botschaft (Hervorhebung durch den Verf.). 14 Zu diesen Vertretern der Ministerialbürokratie später mehr. Was den grundsätzlich fundamentalen Wert der christlichen Religion für die Sozialpolitik angeht, vgl. bestätigend Schmidt, Sozialpolitik, S.33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 7 zialpolitische Anläufe unternommen hatte (1863-65)15 und diese dann nur den Liberalen zuliebe, die Staatseingriffe in die Wirtschaft vehement ablehnten, für gut zwölf Jahre auf Eis legte16, kann man die Behauptung einer taktischen Motivation Bismarcks vollends entkräften, ja umdrehen. Denn nicht der Beginn sozialpolitischer Aktivitäten war demnach Ausdruck von Opportunitätsüberlegungen , sondern viel eher deren Hinauszögern.17 3. Die Rolle des Zentrums Bei dieser Rückbesinnung Bismarcks auf alte Überzeugungen und Grundsätze kam nun frühzeitig jene Partei des politischen Katholizismus ins Spiel, deren Stellung als zunächst zweitstärkste Fraktion im Reichstag sie vom Unterstützungspotential her zu einer denkbaren Alternative als Bündnispartner für Bismarck machte, nachdem dieser seine Kooperation mit den Liberalen 1878 beendete. Das Zentrum konnte auf eine längere Tradition sozialpolitischer Überlegungen, Vorschläge und Handlungsentwürfe zurückblicken als jede andere im Parlament vertretene Kraft. Namen wie Franz Josef Buß, Adolph Kolping und Franz Hitze zierten die lange Liste derer,18 die sich auf katholischer Seite um Antworten auf die seit 1830 virulente Soziale Frage bemüht hatten.19 Mit dem 1877 verstorbenen Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler, einem Studienfreund Kolpings, besaß sie sogar eine bis in evangelische Reihen ausstrahlende Galionsfigur des Bemühens , christlich begründete Hilfestellung für die Arbeiter zu leisten.20 Kettelers Neffe Graf von Galen brachte noch im selben Jahr 1877 im Sinne seines Onkels einen ersten großen Antrag sozialpolitischen Inhalts ins Parlament ein, der zunächst zwar wirkungslos blieb und die damals noch funktionierende Zusammenarbeit Bismarcks mit den Liberalen nicht erschütterte.21 Dennoch war hier ein geeigneter Anknüpfungspunkt für die Zukunft gegeben, auf den Bismarck zurückkommen konnte, als ihn seine Entschlossenheit zur Wiederaufnahme seiner eigenen sozial- 15 Vgl. Ritter, Bismarck, S.793. 16 Ebd. 17 Vgl. Zillessen, S.7/8. 18 Vgl. zu weiteren Namen dieser Liste Wattler, S.5ff. 19 Bismarck selbst datierte den Beginn der „Sozialen Frage“ auf die frühen dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, wenn er in seiner Parlamentsrede vom 2. April 1881 sagte: „Seit fünfzig Jahren sprechen wir von einer sozialen Frage.“ Zit. nach: Tennstedt, S.674. 20 Vgl. Heidemann, S.9/10 und Wattler, S.22. Zillessen bemerkt zur Rolle Kettelers: „Ketteler hat gewiß entscheidend mitgewirkt, die soziale Frage in das Bewußtsein weiterer und nicht nur katholischer Kreise zu heben. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß er damit auch der Sozialpolitik des Bismarckschen Reichs Anregungen gegeben hat…“ Zillessen, S.60. Zur Gesamtwürdigung Kettelers vgl. die kompletten Analysen bzw. Aufsätze von Iserloh und Glombik. 21 Vgl. Wattler, S.33-45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 8 politischen Aktivitäten ab 1879 nach parlamentarischen Unterstützern außerhalb des Lagers der Liberalen Ausschau halten ließ. Dass das Zentrum für Bismarck dabei keineswegs erste Wahl war, muss betont werden und ist aus der Situation heraus erklärbar.22 Zu frisch waren noch die auf beiden Seiten geschlagenen Wunden aus der Zeit des „Kulturkampfes“ (1872-75), als sich Reichsspitze und politischer Katholizismus in nahezu unversöhnlicher Feindseligkeit gegenüberstanden.23 Auch nach dem Abflauen der von liberaler Seite forcierten Kämpfe war eine gegenseitige Annäherung nicht automatisch möglich und erfolgte, wo es dann doch dazu kam, kaum aus echter Zuneigung. Das von Bismarck über den Zentrumsführer Ludwig Windthorst in Umlauf gebrachte Wort, dieser Hannoveraner diene ihm für den Hass so wie seine Ehefrau für die Liebe, beschreibt eindringlich das auch nach 1875 weiter vorhandene Misstrauen zwischen der in Bismarck verkörperten politischen Spitze des Reiches und der mitgliederstarken, aber als „ultramontan“ verdächtigten Parlamentsgruppierung . Dennoch sind damals mehr als nur tastende Versuche der gegenseitigen Annäherung unternommen worden, und den Beteiligten auf beiden Seiten war relativ rasch klar, dass es in sozialpolitischen Fragen mehr Verbindendes als Trennendes gab. Wenn es also noch unter Bismarck nach 1881 zumindest ansatzweise zu jener fruchtbaren Kooperation zwischen Reichsspitze und Zentrumspartei kam, die in späteren Jahren üblich wurde und den politischen Katholizismus ab etwa 1894 zu einer tragenden Säule der Regierungspolitik im Deutschen Reich werden ließ, so liegt dies ganz wesentlich an jenem Gebiet sozialen Engagements, auf dem sich am frühesten gemeinsame Schnittmengen ergaben. 3.1. Einflussnahme auf die „Kaiserliche Botschaft“ Bereits Bismarcks erster Anlauf zur Wiederaufnahme seiner ursprünglichen sozialpolitischen Überlegungen, die Einbringung einer ersten Vorlage für ein Unfallversicherungsgesetz ins Parlament (1880/81), wurde vom Zentrum, das sich damals noch zur Opposition rechnete, nicht ohne Sympathie begleitet. Es waren lediglich technische Fragen der Finanzierung (Staatszuschuss ja oder nein) oder Fragen des Organisationsprinzips (soll die als Träger der Versicherung geplante Versicherungsanstalt eine des Reichs oder eine der Länder sein?), bei denen das Zentrum anderer Ansicht als Bismarck war. Hier meldete die Fraktion, aber auch die publizistisch aktive katholische Presse,24 dringenden Nachbesserungsbedarf an und machte unter Betonung ihrer Vorliebe 22 Vgl. Tennstedt, S.691. 23 Vgl. Wattler, S.33. In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, dass Bismarcks anfänglicher Berater in Sozialfragen, der „Staatssozialist“ Hermann Wagener, ein vehementer Gegner des „Ultramontanismus“ war, den er im Zentrum verkörpert sah. Dies bremste von innen heraus die Bereitschaft Bismarcks, sich mit dem Zentrum einzulassen. Erst als Wagener nach 1873 seinen Einfluss auf Bismarck verlor, konnte sich ein Wandel vollziehen. Vgl. Ritter, Bismarck, S. 796/97. 24 Führende katholische Zeitungen bzw. Zeitschriften waren etwa die „Germania“, die „Historisch-Politischen Blätter“ und die „Kölnische Volkszeitung“. Vgl. dazu Wattler, S.78ff. und Heidemann, passim, der die Zentrumspresse in ihrer Haltung zur Sozialen Frage ausgewertet hat. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 9 für dezentrale, föderalistische Lösungen ihre Unterstützung der Vorlage von der vorherigen Berücksichtigung ihrer Änderungswünsche abhängig. In der vom Reichstag daraufhin eingesetzten Kommission zur Überprüfung der Bismarckschen Vorlage kam dem Zentrum dann die Führungsrolle zu, die es auch bewusst wahrnahm. Dies veranlasste Beobachter zu der Einschätzung, ohne das Zentrum sei Sozialpolitik unmöglich.25 Mag das auch übertrieben gewesen sein, ist doch so viel richtig, dass es im konkreten Fall das vornehmliche Verdienst des Zentrums war, mit seiner positiven Grundhaltung den zusehends fraglichen Erfolg des Gesetzes doch noch ermöglicht zu haben. Tatsächlich drohte die von den meisten anderen Parteien, vor allem von den Manchester-Liberalen und den Sozialdemokraten, abgelehnte , ja heftig bekämpfte Vorlage im Parlament zu scheitern und wurde nur dank der Unterstützung des Zentrums im Parlament in dritter Lesung am 15. Juni 1881 angenommen.26 Bismarck selbst freilich war darüber zunächst durchaus unglücklich. Infolge der vom Zentrum durchgesetzten Änderungen in Richtung weniger Zentralismus27 hielt er das Gesetz für verwässert . Er mochte sich damit nicht identifizieren und stoppte es daraufhin durch ein von ihm selbst herbeigeführtes Veto im Bundesrat. Seine Hoffnung war, nach den am 27. Oktober 1881 stattfindenden Reichstagswahlen mit einer vielleicht „gefügigeren“ Parlamentsmehrheit auf seinen Ursprungsentwurf in reinerer Form zurückkommen zu können. Gleichzeitig registrierte er die damals offenkundig werdende potentielle Unterstützerrolle des Zentrums durchaus positiv. Und als die Wahlen schließlich für Bismarck völlig enttäuschend verliefen und ausgerechnet das Zentrum 1881 Gewinne verzeichnete, ja zur stärksten Fraktion avancierte,28 akzeptierte der Reichskanzler diese neue Lage klaglos mit der ihm nachgesagten taktischen Flexibilität, die hier freilich mit seinen Überzeugungen auch weitestgehend konform ging. Bei seinem nächsten Vorstoß gesetzgeberischer Art, eben jener erwähnten „Kaiserlichen Botschaft “ vom 17. November aus Anlass der Wiedereröffnung des Parlaments, machte er bereits unverkennbare Konzessionen in Richtung Zentrum. Dessen Zustimmung hatte er nun nötiger als zuvor,29 suchte sie jetzt aber auch, anders als noch vor der Wahl, aktiv.30 So war z.B. folgender 25 Vgl. Wattler, S.102. 26 Vgl. Heidemann, S. 40/41, Tennstedt, S.682 und Ritter, Bismarck, S.813. 27 So war der vom Zentrum als „Staatssozialismus“ abgelehnte Reichszuschuss als Teilgrundlage zur Finanzierung der Versicherung ebenso gestrichen worden wie die Einführung einer Reichsanstalt. Im ersten Falle setzte das Zentrum alternativ eine auf Arbeitgeber und Arbeiter beschränkte Prämienzahlung durch, im anderen wurden die von ihr aus föderalen Gründen gewünschten Landesversicherungsanstalten zum Träger der Versicherung bestimmt. Vgl. Tennstedt, S.682. 28 Ebd., S.687. 29 Da nur die 50 Konservativen und 28 Reichsparteiler der Regierung unbedingt ergeben waren, hing die Mehrheitsbildung im neuen Reichstag „von den 100 Zentrumsleuten ab, die auf die 18 Polen, 10 Welfen, 15 Elsaß-Lothringer und 2 Dänen bestimmt rechnen konnten.“ Ebd. 30 Diesem Ansinnen stimmte auch Kaiser Wilhelm zu, der trotz seiner eigenen großen Vorbehalte gegen den Katholizismus am 9. November 1881 Bismarck schrieb: „Ich bin ihrer politischen Absicht beigetreten, um durch Milde den Kulturkampf [Ausdruck Wilhelms für das Zentrum, Anm. des. Verf.] zu bewegen, seinerseits…uns entgegen zu kommen…“ Zit. nach: Ebd., S.698. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 10 Passus der „Kaiserlichen Botschaft“, der sich an die bereits zitierten Stellen unmittelbar anschloss , eine Art verbaler roter Teppich, den Bismarck gleichsam lockend vor dem Zentrum ausrollte und als verklausuliertes Angebot zur Zusammenarbeit verstanden wissen wollte.31 Hier stand ausdrücklich zu lesen: „Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens [eine Anspielung auf die Arbeiterschaft , aber auch auf das Zentrum, Anm. d. Verf.]32 und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt a l l e i n in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde.“33 Hiermit verzichtete Bismarck auf sein ursprüngliches Konzept einer staatlich zentralisierten Behörde als Versicherungsträger und bot, ganz wie es dem föderal gesinnten Zentrum34 vorschwebte , die Organisationsform dezentraler, korporativer Genossenschaften mit Selbstverwaltungsmöglichkeiten als Alternative an,35 um sein Lieblingsprojekt einer verpflichtenden Unfallversicherung für alle Arbeiter endlich auf den Weg zu bringen.36 Damit war eine erste Basis der Zusammenarbeit geschaffen, und Windhorst versäumte es nicht, trotz persönlicher Abneigung gegen Bismarck diesen für sein Engagement zu loben: „Sie haben mir viel Böses im Leben erzeigt, aber dafür, gestehe ich, muß ich Ihnen als deutscher Patriot Dank wissen, daß Sie nach all den großen politischen Taten unseren kaiserlichen Herrn bewogen haben, auf diese Bahn der Sozialreform einzulenken.“37 Der als „Kleine Exzellenz“ bekannte Zentrumsführer, einer der größten Parlamentarier Deutschlands ,38 wies fortan wiederholt darauf hin, dass er und seine Partei zur Kooperation mit der Reichsleitung in Sozialpolitikfragen nun bereit seien. Es gebe zwar weiter Meinungsverschieden- 31 Vgl. Wattler, S.104. 32 Vgl. dazu Tennstedt, S.703. 33 Kaiserliche Botschaft (Hervorhebungen durch den Verf., Sperrung im Original). 34 Vgl. Wattler, S.97 35 Der Gedanke einer „korporativen Organisation der christlichen Berufsstände“ war dem Zentrum wichtig, ebenso die Möglichkeit einer dezentralen Selbstverwaltung (hier war man sich mit den Konservativen einig). Dies lag, wie Wattler, S.91, vermutet, an den positiven Erfahrungen des Zentrums mit der Selbstverwaltung in Knappschaftskassen. Da diese Forderung nun übernommen wurde, vermutet Tennstedt zurecht, dass „mit der Kaiserlichen Botschaft der zögernde Einstieg des Zentrums in die Sozialpolitik des Staates [beginnt]...“ Tennstedt, S.704. 36 Vgl. Ritter, Bismarck, S.811. 37 Zit. nach: Tennstedt, S.706. 38 Vgl. dazu die komplette Würdigung Windhorsts durch Volker Ullrich in der ZEIT vom 13.01.2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 11 heiten in Detailbereichen.39 „In den großen Grundzügen aber, das wiederhole ich nochmals, sind wir“, so Windhorst gegenüber Bismarck, „in der Sozialpolitik mit Ihnen einverstanden.“40 3.2. Handschrift des Zentrums bei den Sozialgesetzen 1883-89 Wie positiv der Kanzler dieses Angebot zur Zusammenarbeit aufnahm und wie entgegenkommend er darauf reagierte, zeigen seine vor dem Hintergrund der Kulturkampferfahrungen erstaunlichen Überlegungen, führende Zentrumspolitiker nun in verantwortliche Ämter im Regierungsapparat zu berufen, also in seine unmittelbare Nähe als Berater zu holen. So bot er zwei der führenden Sozialpolitiker des Zentrums den Unterstaatssekretärsposten bzw. die Stelle des leitenden Beamten im Reichsamt des Inneren an, 41 das zusammen mit dem Handelsministerium federführend beim Entwurf der Sozialgesetzesvorlagen war. Damit signalisierte er dem Zentrum deutlich seine Offenheit für Vorschläge von katholischer Seite. Der von Windthorst 1875 zum Sprecher in Sozialpolitikfragen ernannte Freiherr von Hertling42, später bayerischer Ministerpräsident und 1917/18 erster vom Zentrum gestellter Reichskanzler, wurde von Bismarck in dieser Zeit sogar privat empfangen, um sozialpolitische Fragen zu erörtern , was ein besonderes Zeichen der Wertschätzung für die wenige Jahre vorher noch verfemte Partei war.43 Kein Wunder, dass unter diesen Voraussetzungen die zwischen 1883-89 entstandenen Gesetze „in direkter Annäherung an die Wünsche des Zentrums“44 erarbeitet wurden, wie Bismarck selbst zugab, und damit unverkennbar die Handschrift des zu positiver Mitarbeit eingeladenen politischen Katholizismus trugen.45 Dies ist vielleicht der beste Beweis für die Stellung der Unverzichtbarkeit, die das Zentrum damals im politischen Spektrum als Unterstützer für den Reichskanzler erlangt hatte. 39 Vgl. Heidemann, S.8. 40 Zit. nach: Tennstedt, S.706. Von dieser Ansicht rückte Windthorst nicht mehr ab und sagte noch 1889, bei der Vorlage des letzten der drei Reformgesetze, feierlich: „Meine Herren, es ist mir noch niemals ein Gesetzentwurf vorgekommen so ernst wie dieser, den ich für noch wichtiger halte als die gesamte politische Verfassung, weil er die menschliche Gesellschaft in ihren Fundamenten umwälzt.“ Zit. nach: Ritter, Bismarck, S.789. 41 Es handelte sich um die beiden Zentrumspolitiker Moufang und Hammerstein. Windthorst selbst kam infolge seiner persönlichen Abneigung gegen Bismarck nicht in Frage und wurde vom Reichskanzler, der ebenso fühlte, bewusst übergangen. Vgl. Vogel, S.61 und Heidemann, S.86. 42 Georg von Hertling, seit 1914 Graf, Lebensdaten: 1843-1919. 43 Vgl. Heidemann, S.86/87. 44 So Bismarck in seinem Gespräch mit Hertling vom 7. April 1883. Zit. nach: Tennstedt, S.701 und Heidemann, S.116. 45 Zur historischen Einschätzung vgl. Heidemann, S.114. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 12 Entsprechend stolz zeigte sich die katholische Publizistik dieser Zeit. Zur 1884 erfolgten Verabschiedung der neuen Fassung des Unfallversicherungsgesetzes etwa bemerkte die katholische Zeitschrift „Germania“, das offizielle Sprachorgan des Zentrums,46 zufrieden: „Das Schmerzenskind der sozialpolitischen Bestrebungen seit mehr als drei Jahren, die Unfallversicherung von rund zwei Millionen Arbeitern meist der gefährdetsten Betriebe, hat gestern endlich in verhältnismäßig gesundem Zustand aus langwieriger und oft bedenklicher Behandlung entlassen werden können und kann jetzt hinausgehen zu wirken und sich zu bewähren.“ 47 Die „Germania“ nannte dies einen „gewaltigen Sieg“, den der vom Zentrum vertretene „korporative berufsständische Sozialismus“ über den „Staatskommunismus“ [i.e. Bismarcks mehr zentralistischen Ansatz, Anm. d. Verf.] errungen habe. Und auch die katholische „Kölnische Volkszeitung “ bemerkte, dass es einzig dem hartnäckigen Beharren des Zentrums auf seinen wirklichkeitsnäheren Forderungen zuzuschreiben gewesen sei, wenn es überhaupt zu diesem Erfolg habe kommen können.48 Abgesehen vom triumphalen Ton dieser Berichte, der übertrieben scheint und sich wohl nur aus der Genugtuung der Katholiken erklärt, den Makel des Ausgestoßenseins durch diesen Erfolg abgewaschen und mit seiner Hilfe die aus der Kulturkampfzeit stammenden Vorwürfe angeblicher „Reichsfeindlichkeit“ gleichsam schlagend widerlegt zu haben, war die in den Artikeln gebotene Beschreibung des Sachverhalts angemessen und rein inhaltlich zutreffend. Das Zentrum hatte in der Tat auf dem Gebiet der Sozialpolitik mehr als auf jedem anderen Sektor gestalterisch tätig werden können49 und der skeptischen Reichsleitung seine grundsätzlich konstruktive Rolle im Nationalstaat der Deutschen glaubhaft demonstriert. Dies war für die Weiterentwicklung der Partei zur künftigen Regierungsstütze „par excellence“ (so etwa unter den Kanzlern Hohenlohe und Bülow 1894-1909) wichtig, ja entscheidend. Dabei muss einschränkend gesagt werden, dass es zu dieser Verbesserung der Parteistellung nur schrittweise kam und das Ergebnis als solches in den achtziger Jahren noch keineswegs absehbar war, geschweige denn feststand. So verlief beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen Bismarck und dem Zentrum auch weiterhin alles andere als reibungslos,50 und die gegenseitige 46 Ebd., S.3. 47 Zit. nach: Wattler, S.144/45. 48 Ebd. 49 Ohne sich freilich in allen Fragen vollständig durchzusetzen. Beispielsweise wurde im Krankenversicherungsgesetz das dort berücksichtigte Verursacherprinzip nicht um den vom Zentrum gewünschten Passus erweitert, dass eine Zahlung des Krankengeldes bei unehelichen Geburten unterbleiben sollte. Lediglich bei „Trunkfälligkeit“, „geschlechtlichen Ausschweifungen“ und bei „schuldhafte[r] Betheiligung bei Schlägereien oder Raufhändeln“ sollte das Krankengeld verweigert werden können, was zwar ebenfalls vom Zentrum gefordert worden, aber durchaus communis opinio aller Befürworter sozialpolitischer Aktivitäten des Staates war, also auch von Konservativen, der Reichspartei und dem rechten Flügel der Nationalliberalen. Vgl. Ritter, Bismarck, S.802, Wattler, S.95 und Heidemann, S.103. 50 Windthorst räumte dies Bismarck gegenüber 1884 ausdrücklich ein: „Im einzelnen werden die Meinungen ja auseinandergehen, und Sie müssen uns nicht übelnehmen, wenn wir da nicht überall gleich Ihnen folgen“, hob dann aber noch einmal die grundsätzliche Übereinstimmung mit dem Kanzler hervor. Tennstedt, S.705/06. Zu Bismarcks gelegentlichem Unmut über die Änderungswünsche des Zentrums vgl. Heidemann, S.86. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 13 Annäherung ging viel holpriger vonstatten, als es im Rückblick den Anschein hat.51 Auch sollte ferner die Pluralität der sozialpolitischen Überzeugungen innerhalb des Zentrums nicht übersehen werden, die innerparteiliche Diskussionen durchaus schmerzhafter Art auslöste52 – etwa zwischen Hertling und Hitze53 – und es eigentlich verbietet, von einem kohärenten Einfluss d e s Zentrums zu sprechen. So schrieben etwa die dem Zentrum nahestehenden „Historisch-Politischen Blätter“ in ihrer Ausgabe 92 von 1883 überspitzt, aber im Kern zutreffend, dass das Zentrum als solches eigentlich überhaupt kein sozialpolitisches Programm besitze: „Das Zentrum entscheidet sich kluger Weise von Fall zu Fall. Könnte man aber von einem Programm desselben reden, so würde es sich wohl in die zwei Worte zusammenfassen lassen: die selbstverwaltende Korporation der Berufsgenossen.“54 Tatsächlich war dieser Aspekt der Selbstverwaltung, der den Erfahrungen des katholischen Vereins - und Knappschaftswesens entsprach, der einzig allgemein verbreitete Anschauungspunkt bei den Mitgliedern, also eine Art sozialpolitischer Minimalkonsens innerhalb der Partei. Über eine größere Bandbreite der Ansichten verfügten allein einzelne Persönlichkeiten der Führungsspitze des Zentrums. Sie waren es, die mit Bismarck verhandelten und ihn mit Vorschlägen in Atem hielten, dabei mal beschleunigend, häufig aber auch retardierend wirkten und den Reichskanzler bisweilen mit detaillierten Änderungswünschen so verärgerten, dass er wiederholt Ermattungserscheinungen zeigte55 und mehrfach äußerte, beinahe die Lust an seiner Sozialpolitik zu verlieren.56 Aufs Ergebnis gesehen gilt aber doch, dass von keiner Gruppierung so viel positiver Stimulus in sozialen Fragen ausging wie vom Zentrum. Es wurde in dieser Hinsicht tatsäch- 51 So vermochte es das Zentrum beispielsweise trotz wiederholter Versuche nicht, Bismarck zu einer Politik des aktiven Arbeitsschutzes zu bewegen. Bismarck sah in diesem eine unstatthafte Einmischung in die Rechte des Fabrikbesitzers und beharrte bis ans Ende seiner Amtszeit auf seiner ablehnenden Haltung. Das Zentrum, das den Arbeitsschutz an sich für wichtiger als die Versicherungsgesetze hielt (nach der Devise „vorbeugen ist besser als heilen“), musste sich mit Bismarcks Haltung zähneknirschend abfinden und auf die Zeit nach seinem Abgang hoffen. Als dieser dann 1890 erfolgte, brachte man die Forderungen wieder vor und hatte nun Erfolg. Binnen Jahresfrist konnte der Arbeitsschutz im Sinne des Zentrums und anderer Befürworter beschlossen werden. Vgl. Heidemann, S.64 und Zillessen, S.44. 52 Vgl. Heidemann, S.2. Wattler, S.18, spricht sogar von schweren inneren Kämpfen, die das Zentrum auszuhalten hatte. 53 Vgl. zum Gegensatz Hertling-Hitze Wattler, S.61-74 und Heidemann, S.71-75. 54 Zit. nach: Wattler, S.111. 55 So betrachtete er nach aufreibenden Verhandlungen bereits das erste gemeinsam vereinbarte Gesetz über die Krankenversicherung von 1883 nicht nur, aber auch infolge der vom Zentrum durchgesetzten Änderungen, als „untergeschobenes Kind“ und war vom Resultat anfänglich ziemlich enttäuscht. Vgl. Tennstedt, S.702. 56 Vgl. Zillessen, S.42f. Schon 1881 hatte ihn die Bemühung des Zentrums, der Sozialpolitik seinen Stempel aufzudrücken, zu der Bemerkung veranlasst (die sich freilich auch, ja mehr noch auf die grundsätzlichen Gegner der Sozialpolitik, also auf die Liberalen bezog), im „Parlament habe man mit lauter Verrückten zu tun, nirgends eine Stütze.“ (So Bismarck gegenüber Lucius von Ballhausen am 12. Juni 1881, zit. nach: Tennstedt, S.683.) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 14 lich zum unentbehrlichen Verbündeten Bismarcks und darf an dessen Pionierrolle in Sachen staatlicher Sozialpolitik einen maßgeblichen Anteil beanspruchen.57 4. Andere christlich-soziale Einflüsse Neben dem Zentrum gab es weitere Gruppen mit christlich-sozialer Ausrichtung, die auf die „Kaiserliche Botschaft“ und die von ihr ausgehende Sozialpolitik Einfluss nahmen. Keine von diesen besaß eine dem Zentrum vergleichbare parlamentarische Schlagkraft, was ihre Wirkmöglichkeiten von vornherein begrenzte. Dennoch dürfen sie in ihrem Tun nicht unterschätzt werden . So ist beispielsweise die evangelische Innere Mission um Johann Hinrich Wichern zu nennen, die sich ähnlich frühzeitig wie die katholische Kirche mit Lösungsansätzen zur Behebung der Sozialen Not beschäftigte.58 Sie verdient als mindestens latent höchst wirksamer Einfluss Erwähnung , insofern als sie bedeutende Repräsentanten der Staatsführung für die Sozialpolitik gewann. Insbesondere Kaiser Wilhelm I. fühlte sich dieser religiösen Strömung persönlich verpflichtet. Er schloss sich nicht zuletzt ihretwegen Bismarcks Ansinnen sozialpolitischer Initiativen an, was wiederum für Bismarck wichtig war. Wilhelm gab der Politik seines Kanzlers entscheidende Rückendeckung , indem er sein Prestige als populärer Monarch zu Bismarcks Gunsten in die Waagschale legte.59 Diese Unterstützung durch die Krone war keineswegs selbstverständlich. Immerhin hatte Wilhelms Sohn, Kronprinz Friedrich, gänzlich andere Auffassungen. Er hätte, als Anhänger des Manchesterliberalismus, Bismarcks Kurs kaum unterstützt, wäre er damals schon Kaiser gewesen.60 Wilhelm hingegen, der sich unter dem Einfluss Wicherns in sozialer Hinsicht auf einer Wellenlänge mit seinem Kanzler befand, räumte für ihn gerne wichtige Hindernisse aus dem Weg und dankte Bismarck einige Tage nach der „Kaiserlichen Botschaft“ im November 1881 eigens und mit spürbarer Rührung für die Worte, die ihm dieser in den Mund gelegt habe. Wilhelm war natürlich aufgefallen, dass Bismarck, wie bereits erwähnt, bewusst auf Wendungen christlicher Art zurückgegriffen hatte, die dem Duktus Wicherns und seiner auf praktische Nächstenliebe zielenden Theologie genau entsprachen. Damit wurde jene christliche Motivation betont, die bei Bismarck selbst zwar auch vorlag,61 für den in Religionsfragen weit emotionaleren Kaiser aber geradezu zwingende Voraussetzung für sein Plazet zum Gesamtprojekt war. 57 Vgl. Wattler, S.301-305. 58 Vgl. Vogel, S.62/63. 59 Vgl. Tennstedt, S.700, der bemerkt, mit der Autorität des Kaisers im Rücken habe Bismarck seinem Sozialprojekt „eine höhere Legitimität“ verliehen. Ebenso Vogel, S-62/63. 60 Vgl. Tennstedt, S.701 und 707. 61 Bismarck selbst beschrieb seine Bestrebungen auf dem sozialen Gebiet am 2. April 1881 im Reichstag als „praktisches Christentum, aber sans phrase, wobei wir die Leute nicht mit Reden und Redensarten bezahlen, sondern wo wir ihnen wirklich etwas gewähren wollen.“ Zit. nach: Tennstedt, S. 678, vgl. auch ebd., S.667/68 und Ritter, Bismarck, S.791. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 15 Ähnliches gilt für andere evangelische Gruppen, die sich im Parlament vor allem in den Reihen der Konservativen und der Bismarck generell verpflichteten Reichspartei (den sog. Freikonservativen ) fanden. Auch sie unterstützten die Sozialpolitik des Kanzlers aus christlicher Gesinnung vehement. Allerdings verfügten sie über eine viel zu geringe Wählerbasis, um mehr als nur Juniorpartner Bismarcks bzw. des Zentrums bei den praktischen Verhandlungen sein zu können.62 Mehr Einfluss hätte möglicherweise von einer konservativen Neugründung jener Jahre ausgehen können, wenn das Konzept ihres Gründers Adolf Stoecker aufgegangen wäre. Der Berliner Hofprediger schuf 1878 die Partei der „Christlich-Sozialen“ als Ergänzung zu den ihm als zu elitär erscheinenden Konservativen. Ihm schwebte eine volkstümliche protestantische Partei mit Massenbasis ähnlich dem katholischen Zentrum vor, und er betätigte sich zu diesem Zweck lautstark als Verfechter eines sozialen Engagements des Staates.63 Da er sich indes auch antisemitischer Argumente bediente, die damals virulent waren, schadete er seinem Ansinnen und galt auch selbst als zu elitär, ja „höfisch.“ Seine „Christlich-Sozialen“ blieben deshalb während der Bismarck -Zeit eine unbedeutende Randerscheinung, deren Einfluss auf die damalige Sozialpolitik vernachlässigt werden kann.64 Bedeutender waren die sog. „Kathedersozialisten“ um Lujo Brentano, Adolph Wagner, Albert Schäffle und Gustav Schmoller, die sich bereits 1872 im „Verein für Socialpolitik“ zusammengeschlossen hatten.65 Diese Nationalökonomen, die mit dem Manchesterliberalismus ihrer Zunft brachen und schon früh die Notwendigkeit betonten, dass sich der Staat sozial betätige, waren in ihrem Denken stark vom christlichen Staatsethos Lorenz von Steins beeinflusst, eines Verfechters der Lehre vom „Sozialen Königtum“, und gehören deshalb, trotz ihrer wissenschaftlich-säkularen Ausrichtung, auch in den Kontext christlich verwurzelter Sozialpolitik im Bismarck-Reich.66 Die eigentliche Wirksamkeit der „Kathedersozialisten“ war indes, wie bei Wichern, ausschließlich persönlicher Natur und bestand in ihrem Falle in direktem Einfluss auf Bismarck. Sie fundierten seine Politik quasi wissenschaftlich und bestärkten den Kanzler in seiner Ansicht, sozialpolitisch aktiv zu werden. Bismarck versuchte diese Unterstützung teilweise zu institutionalisieren , indem er etwa Wagner drängte, für den Reichstag zu kandidieren und sein professorales Know How dort einzubringen, wo nach Bismarcks Ansicht zu wenig Sachkompetenz versammelt war.67 Doch wegen des Scheiterns dieser Bemühungen (Wagner errang das erhoffte Mandat 62 So hatten die Freikonservativen etwa nur 27 bzw. 28 Mitglieder im Reichstag. Vgl. Heidemann, S.57 und Tennstedt, S.687. 63 Vgl. Vogel, S.65/66. 64 Ebd. Vgl. auch Zillessen, S.55/56. Erst unter Wilhelm II. fand Stoecker mehr Anklang und konnte auf die frühen Maßnahmen des „sozialen“ Kaisers spürbaren Einfluss nehmen. Das fällt aber in die Zeit nach Bismarcks Sturz 1890 und sprengt den Zeitrahmen dieser Untersuchung. 65 Vgl. Vogel, S.71. 66 Vgl. Zillessen, S.7 und S.28/29. 67 Vgl. Tennstedt, S.686/87. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 16 nicht68) ist es kaum möglich, das genaue Ausmaß seines Einflusses oder des Einflusses der übrigen „Kathedersozialisten“ auf den Gang der Sozialpolitik genau zu beziffern.69 5. Das Vorherrschen christlicher Anschauungen innerhalb der Ministerialbürokratie Dies geht am ehesten noch bei jenen Ministerialbeamten, die als Bismarcks Hauptratgeber während der achtziger Jahre anzusehen sind und bei denen es sich ausnahmslos, wie eingangs erwähnt , um ebenfalls ausgesprochen christlich orientierte Akteure handelte. Sie waren ebenso wie das Zentrum intensiv an der Formulierung und Ausgestaltung der Bismarckschen Sozialpolitik beteiligt und sind daher neben diesem als eine der Haupteinflussquellen in diesem Zusammenhang anzusehen. Theodor Lohmann70 beispielsweise, ein tiefreligiöser Lutheraner, dessen sozialpolitische Vorstellungen jenen des Zentrums sehr nahe kamen und die gute Meinung erklären, die er vom sozialen Engagement des politischen Katholizismus hatte, 71 beriet Bismarck bis 1883. Als zuständiger Ministerialbeamter im Reichsamt des Inneren hatte er maßgeblichen Anteil an der Formulierung der Sozialgesetze. Er agierte jedoch für Bismarcks Geschmack etwas zu selbstständig und überwarf sich wegen einiger Detailfragen mit dem Kanzler, sodass er von ihm kaltgestellt wurde.72 Sein Vorgesetzter Robert Bosse,73 Direktor im Reichsamt des Inneren, handelte diplomatischer und behielt, bei ähnlicher Grundanschauung wie Lohmann, dadurch das Vertrauen des Kanzlers. Er blieb bis zur Verabschiedung des Alters- und Invaliditätsgesetzes, also des Schlusssteins der Bismarckschen Sozialversicherungen, in verantwortlicher Position.74 Wenngleich er in seiner eigenen Erinnerung einen höheren Einfluss auf den Gang der Dinge gehabt zu haben glaubte, als es wohl der Realität entsprach (so war er keineswegs der eigentliche Autor der „Kaiserlichen Botschaft“, wie er selbst behauptete75), ist doch fraglos sein Anteil an der Formulierung der Sozialgesetze beträchtlich gewesen und wurde von einem breiteren Publikum damals auch anerkennend vermerkt. Theodor Fontane etwa bezog sich auf den guten Ruf Bosses als Sozialrefor- 68 Ebd., S.687. 69 Dies gilt um so mehr, als es etwa zwischen Schmoller und Wagner Rivalitäten gab und sie sich in ihrem Bemühen um Zugang zu Bismarck teilweise eher behinderten als unterstützten. Vgl. Tennstedt, S.687. 70 Lebensdaten: 1831-1905. 71 Vgl. Wattler, S.91/92, der insbesondere die Kongruenz der Vorstellungen Lohmanns und Hertlings aufzeigt. Eine ausführliche Würdigung der Gemeinsamkeiten zwischen Lohmann und weiteren führenden Zentrumspolitikern findet sich in dem entsprechenden Kapitel bei Zitt, S.216-23. 72 Vgl. Ritter, Bismarck, S.810 und Vogel, S.92. 73 Lebensdaten: 1832-1901. 74 Vgl. Tennstedt, S.692, Fußnote 76. 75 Ebd., S.692, mit etwas anderem Akzent auch Mihr, S.11. Eigentlicher Autor war in letzter Konsequenz Bismarck selbst, der die redaktionelle Hauptarbeit leistete und die „Botschaft“ „situationsgerecht“ ausformulierte. Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 17 mer, als er am 23. Juni 1891 über den Direktor im Reichsamt schrieb: „Bosse gilt für eine Glanznummer und ist es glaube ich wirklich.“76 Dies gilt auch für den Dritten im Bunde, Lohmanns und Bosses gemeinsamen Vorgesetzten Karl Heinrich von Boetticher.77 Der Staatssekretär des Inneren gestaltete insbesondere die Alters- und Invaliditätsversicherung wesentlich mit und schöpfte dabei wie Bosse und Lohmann aus seinem christlichen Glauben Kraft und Orientierung, sodass es erlaubt, ja notwendig ist, auch in seinem Fall von einer vorwiegend christlichen Motivation auszugehen.78 6. Fazit Fraglos gab es verschiedene Gründe für die soziale Wende zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, darunter sicher auch taktische: Immerhin war die Sorge vor einem Anwachsen der als Bedrohung empfundenen Sozialdemokratie nicht nur beim Kanzler spürbar.79 Selbst Zentrumsführer Windthorst sprach offen aus, dass in Deutschland eine Art Bürgerkrieg drohe und es allein schon aus Gründen der Revolutionsprophylaxe notwendig sei, den berechtigten Anliegen der bisher vernachlässigten Arbeiterschaft durch eine positive Sozialpolitik entgegenzukommen , also rechtzeitig vor einem Abdriften dieser Volksklasse auf den Weg des sozialen Umsturzes.80 Dennoch hätte diese Motivation bei weitem nicht ausgereicht, jenen grundlegenden Wandel in der Staatsauffassung auszulösen, der sich mit der „Kaiserlichen Botschaft“ 1881 ankündigte. Um den Staat von einem „teilnahmlosen Oberaufseher“81, wie er der Auffassung der Liberalen entsprach , in einen fürsorglichen Beschützer mit erheblichen Eingriffsrechten zu verwandeln, wie es Bismarck und seine Verbündeten für nötig hielten, bedurfte es einer positiven Grundentschlossenheit zur Sozialpolitik. Und diese Grundentschlossenheit kam, dies kann keinem Zweifel unterliegen, bei allen Beteiligten aus der Religion. Schon bei Bismarck, der von allen Akteuren über das höchste Maß an taktischer Flexibilität verfügte und sich im Zweifel eher auf die Staatsräson berief als auf seinen Glauben,82 spielte die 76 Zit. nach: Mihr, S.26. Vgl. auch das exzellente Personenregister dieses Buches, das Lebensdaten und Kurzbiographien der sozialpolitisch Handelnden der Zeit bietet und Querverbindungen zwischen ihnen erlaubt, die vor dem Hintergrund der Frage christlicher Fundierung der Sozialpolitik als erhellend zu betrachten sind. Mihr, S.387-411. 77 Lebensdaten: 1833-1907. 78 Vgl. Tennstedt, S.695. 79 Ebd., S.671. 80 Windthorst sagte 1884, „ich sehe mit Furcht auf die entsetzliche Gährung in den Arbeiterklassen in den großen Städten“ und ergänzte, „der einzige Weg, der noch zum Frieden führen kann, ist der eingeschlagene [i.e. Sozialpolitik zu betreiben].“ Zit. nach: Tennstedt, S.706, vgl. auch Heidemann, S.1. 81 So Bismarck über den Staat vor 1880. Zit. nach: Tennstedt, S.687. 82 Vgl. dazu grundsätzlich Stürmers Aufsatz „Bismarck: Sozialpolitik als Räson des Machtstaats.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 18 Religion als Urgrund der Sozialpolitik eine dominierende Rolle. Das vom Kanzler selbst verwendete Wort vom „praktischen Christentum in gesetzlicher Betätigung“,83 mit dem er seine Gesetze von 1883-89 beschrieb und sie gegen Kritiker verteidigte, belegt dies unzweideutig.84 Deutlicher noch als bei Bismarck ist die Verwurzelung im Christentum bei den verschiedenen Verbündeten feststellbar, die der Reichskanzler auf sozialpolitischem Gebiet hatte. Ob es sich um Kaiser Wilhelm handelte oder um Mitarbeiter innerhalb der Ministerialbürokratie. Überall lassen sich religiöse Überzeugungen als handlungsleitende Motive nachweisen. Dies gilt auch für den vermutlich wichtigsten Verbündeten überhaupt, das Zentrum. Bei dieser Partei stand eine lange Tradition kirchlich-religiöser Beschäftigung mit der Sozialen Frage im Hintergrund und beeinflusste das Handeln ihrer Protagonisten nachhaltig. Trotz der zurückliegenden Auseinandersetzungen mit der Reichsleitung in der Zeit des Kulturkampfs wurde das Zentrum deshalb, fast könnte man sagen notwendigerweise, zu einem unverzichtbaren Ansprech- und Kooperationspartner Bismarcks, als dieser nach 1878 zu seiner Sozialpolitik entschlossen war. Dabei gelang es dem Zentrum in bemerkenswertem Maße, der bis 1889 konkret betriebenen legislativen Arbeit ihren Stempel aufzudrücken, indem es einige nennenswerte Veränderungen am ursprünglichen Konzept Bismarcks vornahm. Dass etwa im Unfallversicherungsgesetz dem Gedanken der dezentralen Organisation beim Aufbau der Verwaltungseinrichtungen Rechnung getragen wurde, ist vornehmlich dem Zentrum zuzuschreiben. Bismarck selbst hätte eine in Berlin konzentrierte Reichsversicherungsanstalt bevorzugt, konnte sich mit diesem Konzept aber nicht durchsetzen. Er musste sich mit den vom föderalistischen Zentrum geforderten Landesversicherungsanstalten abfinden. Darin sahen Windthorst und seine Kollegen einen erfolgreichen ersten Schritt in Richtung des von ihnen angestrebten Mittelwegs zwischen sozialpolitisch inaktivem „Nachtwächterstaat“ liberaler Provenienz , den sie wie der Reichskanzler überwinden wollten, und dem übermächtigen „Kasernenstaat “ Bismarckscher Vorstellung, der ihres Erachtens zu sehr ins andere Extrem zentraler Machtballung tendierte und ebenfalls verhindert werden musste.85 Auch die Frage der Finanzierung wurde zugunsten des Zentrums beantwortet. Der Vorschlag Bismarcks, die Kosten zu dritteln und neben Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeiter auch einen Staatszuschuss einzuführen, stieß auf vehemente Ablehnung von katholischer Seite. Windthorst fand, dass ein solcher Zuschuss, mit dem sich der Staat in die Sozialpolitik „eingekauft“ hätte, schädlich sei. Seines Erachtens fördere dieser die schon beim vorherigen Punkt angedeutete ge- 83 So Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 02.04.1881, zit. nach: Tennstedt, S.679. 84 Bismarck wollte ausdrücklich, „daß ein Staat, der – wenn Sie auch die Benennung ´christlicher Staat´ perhorreszieren – doch in seiner großen Mehrheit aus Christen besteht, die Grundsätze der Religion, zu der wir uns bekennen, namentlich in Bezug auf die Hilfe, die man dem Nächsten leistet, in Bezug auf das Mitgefühl mit dem Schicksal, dem alte, leidende Leute entgegengehen, sich einigermaßen durchdringen läßt.“ (Reichstagsrede vom 02.04.1881, zit. nach: Tennstedt, S.681.) 85 Vgl. Wattler, S.82 und Zillessen, S.45, der Bismarcks Ziel einer staatlichen Machtkonzentration betont. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 19 fährliche „Staatsomnipotenz“86 und vernachlässige darüber hinaus die Eigenverantwortung der Arbeiter. Schädlich sei der Staatszuschuss vor allem aber deshalb, weil, so Windthorst, von ihm die Gefahr einer finanziellen Überforderung des Reichs ausgehen könne. Habe sich der Staat nämlich erst einmal darauf eingelassen, Sozialkosten zu übernehmen, würde das Verlangen danach stetig zunehmen und damit langfristig vermutlich die Finanzkraft des Staates übersteigen. Die Folge wäre ein unter der Last seiner Verantwortung im Sozialbereich zusammenbrechender Staat.87 Diese Skepsis, deren Formulierung teilweise wie ein Vorgriff auf moderne Warnungen vor zu großen Staatsausgaben wirkt und an aktuelle Schuldenbremsenkonzepte denken lässt,88 fand Eingang in die Sozialgesetze und belegt die hier schon fast prophetische Fähigkeit des Zentrums , weit in der Zukunft liegende Probleme vorauszuahnen. Ein drittes Element, das die Handschrift des politischen Katholizismus erkennen lässt, ist die Betonung genossenschaftlicher Elemente und des Grundgedankens der Selbstverwaltung. Auch hier konnte das Zentrum einiges vom originären Gedankengut seiner Protagonisten einbringen und etwa die Positiverfahrungen mit dem blühenden, auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung gründenden christlichen Vereinsleben eher umsetzen als Bismarck seine anders gelagerten, dirigistischeren Vorstellungen.89 Trotz dieser dem Kanzler abgerungenen Zugeständnisse darf Bismarck in bilanzierender Rückschau weiter als der Hauptakteur auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung angesehen werden, und seine Selbsteinschätzung von 1885: „Ich darf mir die erste Urheberschaft der ganzen sozialen Politik vindizieren, einschließlich des letzten Abschlusses davon“,90 erscheint nicht unangemessen . Dennoch ist nach dem Ausgeführten hervorzuheben, dass Bismarck ohne Verbündete kaum etwas ausgerichtet hätte. Er brauchte Hilfe, um sein Werk überhaupt beginnen zu können, und erst recht, es zu vollenden. So gesehen hatte seine Sozialpolitik nicht nur einen Schöpfer, sondern viele Väter. 91 86 Bezeichnung Windthorsts für Bismarcks zentralistischen Ansatz. Zit. nach: Wattler, S.97. 87 Vgl. Tennstedt, S.682 Fußnote 49. 88 Dies galt schon für Passagen aus der „Kaiserlichen Botschaft“, die, wie oben gezeigt, verbale Verbeugungen vor dem Zentrum beinhaltete. So wurde etwa im Zusammenhang mit der Frage, wer für die Kosten der Sozialpolitik aufkommen solle, auf die Notwendigkeit solider Kalkulation verwiesen, denn „ihre Wirkung auf politischem Gebiete“ solle allein die sein, „dass wir kommenden Generationen das neu entstandene Reich gefestigt durch gemeinsame und ergiebige Finanzen hinterlassen.“ Die semantische Ähnlichkeit mit heutigen Aufrufen zur nachhaltigen Finanzpolitik zugunsten künftiger Generationen ist unverkennbar und verweist auf eine direkte Traditionslinie in dieser Frage vom Zentrum zur CDU. Vgl. Kaiserliche Botschaft. 89 Vgl. Tennstedt, S.703/704. 90 Zit. nach: Zillessen, S.35. Zur Berechtigung dieser Einschätzung aus historischer Sicht vgl. Ritter, Bismarck, S.818. 91 Insofern ist nichts falscher als die von der Bismarck-nahen Zeitung „Grenzboten“ damals vertretene Ansicht, es sei alleine der Kanzler gewesen, dem man die Soziale Wende zu verdanken habe. Nicht der von der Zeitung zur Unterstreichung dieser Behauptung verwendete polemische Ausruf „Hier Herakles und dort die Pygmäen!“ beschreibt angemessen das Zusammenspiel von Bismarck und den Parteien im Reichstag, sondern eher die Metapher „Jason gemeinsam mit den Argonauten.“ Denn sie betont, bei gleichem Rückgriff auf die damals beliebte griechische Mythologie, weit treffender den kooperativen Charakter des Gemeinschaftswerks, das Zusammenagieren verschiedenster Partner auf gleicher Augenhöhe, ohne dabei Bismarcks Rolle als zurecht Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 20 Und einer davon, keineswegs der unbedeutendste, war das Zentrum, das sich vor diesem Hintergrund durchaus berechtigt fühlen durfte, die Bezeichnung „soziale Partei par excellence“ für sich zu beanspruchen. 92 7. Literaturverzeichnis Bismarcks Sozialgesetzgebung (1881-1889) (2012), Online-Text auf der Seite „In die Zukunft gedacht. 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Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/022/12 Seite 21 Machtan, Lothar (Hrsg.) (1994), Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Campus. Mihr, Volker; Tennstedt, Florian; Winter, Heidi (Hrsg.) (2005), Sozialreform als Bürger- und Christenpflicht: Aufzeichnungen, Briefe und Erinnerungen des leitenden Ministerialbeamten Robert Bosse aus der Entstehungszeit der Arbeiterversicherung und des BGB (1878- 1892), Stuttgart: Kohlhammer. Ritter, Gerhard A. (1998), Bismarck und die Grundlegung des deutschen Sozialstaates, in: Ruland, Franz; von Maydell, Bernd Baron; Papier, Hans-Jürgen (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, Heidelberg: Müller, S.789-820. Schmidt, Manfred G. (1998), Sozialpolitik: historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 2. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag. 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