© 2021 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 021/20 Die Essener Rede des Zentrumspolitikers und DGB-Vorsitzenden Adam Stegerwald vom 21. November 1920 Hintergründe und Auswirkungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 2 Die Essener Rede des Zentrumspolitikers und DGB-Vorsitzenden Adam Stegerwald vom 21. November 1920 Hintergründe und Auswirkungen Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 021/20 Abschluss der Arbeit: 19. Oktober 2020 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Adam Stegerwald – Kurzbiographie 4 2. Die Essener Rede vom 21. November 1920 6 3. Die Bewertung der Essener Rede Stegerwalds in der Geschichtswissenschaft 19 4. Literatur 28 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 4 1. Adam Stegerwald – Kurzbiographie Adam Stegerwald wurde am 14. Dezember 1874 als Sohn kleiner Landwirte im unterfränkischen Greußenheim geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, besuchte die Volkschule und erlernte das Schreinerhandwerk. Früh engagierte er sich im Kolpingverein, einem katholischen Gesellenverein für das Handwerk. Nach seinen Wanderjahren entschied er sich im Jahr 1894, sich in München niederzulassen. Dort nahm er an Kursen katholischer Arbeitervereine teil, setzte sich seit 1896 im Arbeiterwahlverein der Zentrumspartei vornehmlich für den Aufbau einer christlichen Gewerkschaftsbewegung ein und war im Jahr 1899 Mitbegründer und erster Vorsitzender des „Christlichen Holzarbeiterverbandes“.1 Von 1900 bis 1902 war Stegerwald Gasthörer an der Universität München u.a. bei Lujo Brentano, wo er sich die Grundlagenkenntnisse der Volkswirtschaftslehre und speziellen Nationalökonomie aneignete. Im Jahr 1902 wurde er zum Generalsekretär der christlichen Gewerkschaften gewählt . Zwischen 1903 und 1905 besuchte er Vorlesungen an der Handelshochschule Köln. Mit seiner „Tatkraft, Verantwortungsfreudigkeit und seinem Organisationstalent“2 wurde Stegerwald schon bald einer der führenden Vertreter der frühen christlichen Arbeiterbewegung. Zwischen 1903 und 1929 war er Generalsekretär des Gesamtverbandes der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands und wirkte an führender Stelle im „Deutschen Arbeiterkongress“, einem Zusammenschluss christlicher Gewerkschaften, mit. In den Jahren 1908 bis 1914 konnte Stegerwald in seiner Tätigkeit als Sekretär der Internationalen Konferenz der Christlichen Gewerkschaften internationale Kontakte knüpfen. Er vertrat eine antisozialistische Gesellschaftspolitik und unterstützte die deutsche Kolonialpolitik. Mit dem von ihm forcierten Aufbau des Deutschen Arbeiterkongresses als Dachorganisation evangelischer und katholischer Arbeitervereine verband er die Hoffnung, den freien Gewerkschaften innerhalb der Arbeiterbewegung eine starke konkurrierende Kraft entgegensetzen zu können. Während des Ersten Weltkriegs unterstützte der kaisertreue Stegerwald den Kriegskurs der Regierung. In dieser Zeit übernahm er erstmals auch bedeutende politische Ämter: 1916 erfolgte seine Berufung in den Vorstand des Kriegsernährungsamtes ; 1917 wurde er als erster Arbeitervertreter Mitglied des Preußischen Herrenhauses.3 Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches war Stegerwald als führender christlicher Gewerkschafter , Parlamentarier und Regierungspolitiker maßgeblich am Aufbau der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland beteiligt. 1918 wurde er Vorsitzender des von ihm gegründeten „Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (DGB), einem Zusammenschluss der Christlichen Gewerkschaften mit nichtsozialistischen Arbeiterverbänden. Als solcher war er Mitunterzeichner des so genannten Stinnes-Legien-Abkommen, mit dem die Arbeitgeberverbände u.a. die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft und als Tarifpartner anerkannten sowie der Einführung von Betriebsräten und der Durchsetzung des Achtstundentags zustimmten. Als Mitglied der deutschen Nationalversammlung (1919-1920) und der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung (1919-1921) war er sowohl an den parlamentarischen Beratungen für die neue Reichsverfassung als auch für die neue preußische Landesverfassung beteiligt.1919 übernahm Stegerwald 1 Vgl. Herde (1987), S. 246f.; Möhler (1995), S. 7; Forster (2013), S. 1. 2 Vgl. Herde (1987), S. 247; Möhler (1995), S. 7. 3 Vgl. Herde (1987), S. 247-249; Möhler (1995), S. 7f; Forster (2013), S. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 5 auch das Amt des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt, das er bis 1921 wahrnahm. In dieser Funktion war er maßgeblich an der Reorganisation der preußischen Verwaltung beteiligt. Nach dem Rücktritt Otto Brauns (SPD) übte er von April bis November 1921 auch das Amt des preußischen Ministerpräsident aus. Stegerwald, der 1920 auch zum stellvertretenden Vorsitzenden der Zentrumspartei aufgerückt war, stellte in einer vielbeachteten programmatischen Rede auf dem 10. Kongress der christlichen Gewerkschaften Deutschlands am 21. November 1920 einen umfassenden christlich-sozialen Politikansatz zur Lösung der grundlegenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme vor und plädierte für die Gründung einer neuen Partei, „die eine antisozialistische und überkonfessionelle Sammlung durchführen sollte.“4 Die Debatten und Entscheidungen des Reichstags der Weimarer Republik, dem Stegerwald von 1920 bis 1933 ohne Unterbrechung als Abgeordneter der Deutschen Zentrumspartei angehörte, hat er mit seinen aus christlich-sozialer Sicht entwickelten politischen Konzeptionen und Vorstellungen maßgeblich beeinflusst, insbesondere im Bereich der Sozialgesetzgebung. Stegerwald, der eher dem rechten, konservativen Flügel seiner Partei zugerechnet wurde, übernahm im Januar 1929 den Vorsitz der Zentrums-Reichstagsfraktion, bevor er im April desselben Jahres als Verkehrsminister in die Reichsregierung des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller eintrat. Dem seit März 1930 amtierenden, auf Basis präsidialer Notverordnungen agierenden Kabinett seines Parteifreundes und ehemaligen Referenten Heinrich Brüning gehörte er als Reichsarbeitsminister an. Er warnte schon damals vor dem wachsenden Einfluss rechter und linker Parteien und Bewegungen und befürchtete auf kurz oder lang starke Einschnitte in der Sozialpolitik.5 Nach Hitlers Machtübernahme beteiligte sich Stegerwald an den Verhandlungen über die Zustimmung der Zentrumsfraktion zum Ermächtigungsgesetz, das am 23. März 1933 schließlich mit den Stimmen der Zentrumsfraktion beschlossen wurde. Danach zog er sich aus dem aktiven politischen Leben zurück. Er wohnte zunächst noch in Berlin, bevor er nach der Ausbombung 1944 in seinen Geburtsort Greußenheim übersiedelte. 1934 war er als Vorstandsmitglied des Volksvereins für das katholische Deutschland zusammen mit anderen ehemaligen führenden Zentrumspolitikern Mitangeklagter im später eingestellten Prozess gegen den Kölner Volksverein-Verlag. Zur Absicherung seines Lebensunterhalts arbeitete u.a. als Hausvogt zweier Frauenklöster und als Teilhaber einer Torfverwertungsgesellschaft. Zur Altersabsicherung erwarb er 1935 mit den Übergangsgeldern aus seiner Ministerzeit ein Mietshaus. Im Zuge der Verfolgung der Attentäter vom 20. Juli 1944 wurde Stegerwald verhaftet und für einige Wochen inhaftiert.6 Unmittelbar nach Kriegsende wurde Stegerwald von den amerikanischen Besatzungsbehörden zum Regierungspräsidenten von Unterfranken berufen. Er war maßgeblich an der Gründung der Christlich Demokratischen Union in den Westzonen und der bayrischen Christlich Sozialen 4 Vgl. Herde (1987), S. 249f.; Möhler (1995), S. 8; Forster (2013), S. 1f. 5 Vgl. Herde (1987), S. 250 u. 252-254; Möhler (1995), S. 8; Forster (2013), S. 1f. 6 Vgl. Herde (1987), S. 254-259; Möhler (1995), S. 8; Forster (2013), S. 2; Stegerwalds Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime ist nicht frei von Widersprüchen. Laut Morsey (1966), S. 378, habe er „noch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs gegenüber dem NS-Staat eine bemerkenswert entgegenkommende Haltung eingenommen .“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 6 Union als christliche Volksparteien beteiligt. Die Verwirklichung seiner seit Jahrzehnten mit großer Beharrlichkeit verfolgten Vision von der Bildung einer konfessionsübergreifenden, antisozialistischen , christlichen Sammlungspartei hat Adam Stegerwald nicht mehr erlebt. Am 4. Dezember 1945 verstarb er in Würzburg an Herzversagen.7 2. Die Essener Rede vom 21. November 1920 In seiner Grundsatzrede, die Adam Stegerwald auf dem 10. Kongress der christlichen Gewerkschaften Deutschlands am 21. November 1920 in Essen hielt, unterwirft der Generalsekretär des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands die aktuelle politische, gesellschaftliche und ökonomische Situation Deutschlands nach Ende des Ersten Weltkriegs einer tiefschürfenden Diagnose und umreißt die aus seiner Sicht notwendigen Schritte und Maßnahmen für eine Lösung der von ihm thematisierten schwerwiegenden Probleme und Krisenerscheinungen . Einleitend betont Stegerwald, dass christliche Gewerkschaften sich nicht auf Lohn-, Tarifund Arbeitsrechtfragen beschränken dürfen, sondern das Recht und die Pflicht auf der Grundlage „unsere[r] christlichen Ideale, unsere[r] Liebe zum Vaterlande und unser[es] soziale[n] und politische [n] Gewissens“ an den „brennendsten Gesamtfragen des Volkes“ mitzuwirken.8 Deshalb appelliert er an seine Gewerkschaftskollegen, „mit dem unbedingten Glauben an die heilende Kraft des Christentums […] die Masse dorthin [zu] bringen, wo Freiheit und Wiedergenesung von Volk, Staat und Gesellschaft zu verwirklichen sind.“9 Im ersten Kapitel thematisiert Stegerwald die soziologischen und sozialpsychologischen Hintergründe der von ihm als „Krise“ bzw. „Weltkatastrophe“ apostrophierten zeithistorischen Situation . Die Krise ist seiner Ansicht das Resultat „schnellster wirtschaftlicher Entwicklungen und größter Gegensätze in der Menschheit“. Der rasante naturwissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Fortschritt und die damit einhergehende immer rigidere Einbindung in organisatorisch -ökonomische Zwänge und Vorgaben habe die Möglichkeiten der Menschen, sich auf sich selbst zu besinnen, drastisch eingeschränkt und zur Vernachlässigung der „inneren seelischen Entwicklung“ der Menschen beigetragen. Die „Mechanisierung und Materialisierung der ganzen Welt“ habe, so seine Diagnose, nicht nur eine „dumpfe Spannung in den Völkern“ erzeugt, „die zu einer gewaltigen Entladung dräng[te]“, sondern auch den Frustrationsgrad der von dieser Entwicklung betroffenen Individuen erhöht. Bedauerlicherweise suchten diese, so Stegerwald, bei der Suche nach einer Lösung für ihre Schwierigkeiten nicht Zuflucht bei den „tiefen Weisheiten“ der Religion, die in früheren Zeiten die Entwicklung organischer, auf Zusammenhalt basierender Vergemeinschaftungen herbeigeführt hatten und „Grundlage für stetigen Fortschritt“ waren, sondern bei den von „falschen Propheten“ verkündeten, „unmittelbare Heilung von allem Leid“ versprechenden „äußeren Maßregeln. Als weitere durch dem wissenschaftlich-technischen Fortschritte beförderte Krisensymptome führt er u.a. an: die Zerstörung der alten Gemeinschaftsformen durch die beschleunigte Verstädterung, die dadurch bewirkte Vereinzelung und psychische Verunsicherung der Individuen sowie die damit einhergehende schwere Erschütterungen des 7 Vgl. Herde (1987), S. 260-287; Möhler (1995), S. 8f.; Forster (2013), S. 2. 8 Vgl. Stegerwald (1995). S. 58. 9 Stegerwald (1995), S 58. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 7 kirchlichen und religiösen Lebens, die Auflösung der alten Werksgemeinschaften und persönlichen Beziehungen zwischen Fabrikherrn und Arbeitern, die Entkoppelung der in der Produktion tätigen Arbeiter von Managern und Aktionären, die raschen und nicht selten schwerwiegenden negativen Rückwirkungen von Preisschwankungen und Krisen auf den internationalen Märkten auf die kleinsten Produktionseinheiten im lokalen Umfeld sowie die Verschärfung der sozialen und politischen Gegensätze.10 Auch wenn der Staat versucht habe, mit immer tiefer in das Leben der Menschen eingreifenden Maßnahmen der Krisensymptome Herr zu werden, seien dessen Bemühungen angesichts der rasanten und sprunghaften Wirtschaftsentwicklung letztlich nicht von wirklichen Erfolgen gekrönt gewesen. Hinzu komme, dass sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg auch die Krisensymptome auf internationaler Ebene immer stärker virulent wurden: zunehmender wirtschaftlicher Konkurrenzkampf, steigende Bevölkerungszahlen, Erschütterungen der internationalen Ordnung, Wettrüsten, „hemmungsloser Materialismus“ und „egoistische Wirtschaftsbrutalität “, die wachsende Akzeptanz oberflächlicher und herabwürdigender Agitationsphrasen sowie die nachlassende Überzeugungskraft religiöser Grundeinstellung sind für Stegerwald entscheidende Entwicklungen und Merkmale, die „zur Kriegskatastrophe geführt“ hätten.11 Neben den verheerenden wirtschaftlichen Verwerfungen zählt Stegerwald insbesondere – als Folge der Auszehrung „der Widerstandskraft des Volkskörpers“ durch „die furchtbare Anspannung der Kriegszeit“ – die tiefgreifende Erschütterung des „seelischen Gleichgewichts“ der Menschen zu den schwerwiegendsten Folgen des Krieges. Diese äußere sich in der Entfaltung des „rücksichtslosesten Egoismus“, der in Verkennung der existenziellen Bedeutung der Gemeinschaft für jeden Einzelnen an die Stelle von Gemeinsinn und gesellschaftlicher Verantwortung getreten sei. Während „der Pseudosozialismus der Kriegswirtschaft […] nur zu einer grenzenlosen Bereicherung des Handelskapitals geführt“ habe, hätten „die enttäuschten radikalisierten Massen“ am Ende des Krieges zur gewaltsamen und „sofortigen Verwirklichung der […] marxistischen Doktrinen“ gedrängt.12 Für Stegerwald ist die Überwindung der Krise mit ihrer von Egoismus, Radikalisierung und politischer Gewaltbereitschaft gekennzeichneten Geistesverfassung nur durch eine Rückbesinnung auf die christlichen Wurzeln möglich. In einer laut Protokoll von stürmischem Beifalls begleiteten Passage heißt es somit: „Die Rettung kann nur durch eine Wiedergeburt im Geiste des Christentums kommen.“13 Nur die Erneuerung des christlichen Glaubens könne eine „glücklich Zukunft “ verbürgen, da nur so dem Volk „sittlicher Halt“ und der „Glauben an seine Zukunft“ gegeben werden könne. Gesetzlichen Maßnahmen, neue Einrichtungen und Organisationen steht er dagegen skeptisch gegenüber. Zwar seien sie durchaus geeignet, einzelne Zwecke zu realisieren, aber ihre Fundierung in einem „mechanischen und materialistischen Denken“ könne nicht dazu beitragen, das „Volk, das so von der Höhe seiner Erfolge heruntergeschmettert“ wurde, wiederaufzurichten . Der von ihm gegeißelten „Organisierungswut“ und Überproduktion von Gesetzen 10 Stegerwald (1995), S. 59-62. 11 Vgl. Stegerwald (1995), S. 62f. 12 Stegerwald (1995), S. 63f. 13 Stegerwald (1995), S. 65. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 8 und Verordnungen stellt er die Forderung entgegen, „dass zunächst jeder Einzelne wieder einfach , wahrhaft und ehrfürchtig im Lichte des Christentums wird.“ Dies sei unabdingbare Voraussetzung für die Wiederbelebung des „Ideals der christlichen Familie“, ohne die die ganze Gesellschaft nicht gesunden könne. Dies könne nur erreicht werden, wenn auch das öffentliche Leben von „Einfachheit, Klarheit und Wahrhaftigkeit, Treue, Opferwilligkeit, Nächstenliebe“ bestimmt werde und „wenn wieder die Ehrfurcht vor dem organisch Entwickelten, wenn die Bereitwilligkeit zur Anpassung und Einfügung in das Ganze wieder im Volke dominieren und der blinde Glaube an die mechanischen Auswirkungsmöglichkeiten und allein bestimmende Kraft ökonomischer Prinzipien geschwunden ist.“14 Stegerwald sieht in der sich als Gesinnungsgemeinschaft verstehenden „christlich-nationalen Arbeiterbewegung “, die stets „wirtschaftliche und Standesforderungen […] dem stärksten Verantwortlichkeitsgefühl für die Allgemeinheit“ unterordnete, diejenige Organisation, die mit ihrer an den beiden Leitmotiven „Christentum und Vaterland“ ausgerichteten Programmatik schon immer die von ihm jetzt als Ausweg aus der Krise geforderten Werte vertreten habe und die deshalb mit ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Idealen und Vorstellungen nach jahrelangen Abwehrkämpfen nun in die Offensive gehen müsse.15 Im Sinne dieser Programmatik fordert Stegerwald die Errichtung eines „christlichen Staats“, den er als eine über den Individuen stehende „Schicksals- und Lebensgemeinschaft“ versteht und sich dadurch auszeichne, dass er „alle Anschauungen, die aus dem rationalistischen und mechanistischen Denken der französischen Aufklärungszeit des 18. Jahrhunderts erwachsen sind“, grundsätzlich ablehne. Ein solcher Staat handele nicht als „jeweiliger Vollstrecker einer zufälligen Majorität von Individuen“, sondern respektiere „Freiheit und Rechte der Minderheiten ebenso […] wie die der Majoritäten“. „Gesinnung und Einrichtungen“ in einem christlichen Staat garantierten, dass staatliches Handeln die „lebenskräftigen Tendenzen der Völker“ maßgeblich berücksichtige, die „christliche Tradition der Kultur“ achte sowie die Gewissensfreiheit des Einzelnen und das elterliche Erziehungsrecht anerkenne. Seine Autorität fuße „auf dem Boden christlichen Glaubens und christlicher Sitte“.16 Entsprechend der Programmatik der christlichen Gewerkschaft ergänzt Stegerwald seine Überlegungen zum christlichen Staat um eine nationale Komponente. Für ihn ist „Deutschland […] die unzerstörbare Schicksalsgemeinschaft, die auf die Dauer kein Bajonett, keine Handgranate , kein Geld und keine Niedertracht zerreißen kann.“ Und dies bedeute in Notzeiten wie der aktuellen Krise auch, dass Deutschland eine „Leidens- und Opfergemeinschaft“ bilde. Demzufolge seien für alle Deutschen gegenseitige Anteilnahme und Solidarität mit den von unterschiedlichen existenziellen Krisen und Erschütterungen (wie Besatzung und gewaltsame Aufstände ) betroffenen Landesteilen Deutschlands ebenso verpflichtend wie „der unerschütterliche Glaube an die staatliche und nationale Wiedergeburt.“ Gemäß seiner Definition von ‚deutsch‘ als das, „was durch Jahrhunderte hindurch das Wesen unserer nationalen Kultur war“, fordert Stegerwald eine Verfassungs- und Rechtsordnung, die sich an den Traditionen der deutschen Demokratie der Selbstverwaltung orientiert, wohingegen er die Übernahme von Elementen ausländischer Staatsordnungen, z.B. aus der „formalen Demokratie des französischen Zentralismus“, ablehnt . Träger der Wiederbelebung des nationalen Gedankens müsse seiner Überzeugung nach die 14 Vgl. Stegerwald (1995), S. 65f. 15 Vgl. Stegerwald (1995), S. 66f. 16 Vgl. Stegerwald (1995), S. 67f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 9 Arbeiterschaft sein, ohne dass dies – wie in der Vergangenheit – zum Ausschluss anderer Gruppen und Schichten von der nationalen Gemeinschaft führen dürfe. Um dies zu vermeiden müsse die Einsicht in die „Mängel der deutschen Natur in politischer Beziehung“ gestärkt werden, um zukünftig eine Wiederholung des „augenblicklichen Unglücks“ zu verhindern.17 Bevor Stegerwald sich in seiner Rede den aus seiner Sicht drängendsten Problemen der Zeit zuwendet , resümiert er noch einmal die grundlegenden Fehlentwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte, die seiner Ansicht zu den vom ihm beklagten katastrophalen Krisen der damaligen Zeit führten. Das Grundübel ist für ihn in diesem Zusammenhang, dass die „vergangenen Generation , die seelischen Kräfte über dem Materiellen in der Wirtschaft […] vergessen“ haben. Dies sei trotz „aller mechanischen und materiellen Hemmungen“ ursächlich für die eruptiven irrationalen Entladungen und Massenpsychosen der Kriegs- und Revolutionszeit gewesen. Der zweite, durch die Vernachlässigung des Seelischen beförderte Fehler sei gewesen, dass der sowohl vom Marxismus wie auch von der Kriegswirtschaft beförderte Irrglaube, „die wirtschaftlichen Verhältnisse [ließen sich] durch Verordnungen beliebig umstellen oder umorganisieren“ bei Intellektuellen wie den „breiten Massen“ wachsenden Anklang gefunden habe.18 Nach Ansicht Stegerwalds hätten beide Fehler, die Vernachlässigung des Seelischen und unrealistische Vorstellungen von den wirtschaftlichen Gegebenheiten, nirgendwo sonst so starken Niederschlag gefunden wie im Versailler Vertrag, dessen Auswirkungen er als erstes in der Reihe der von ihm angeführten drängendsten Probleme anspricht. Der Versailler Vertrag, der für ihn die „Kodifizierung des militaristischen und mechanischen Denkens einer vergangenen Epoche“ darstellt , verfolge in erster Linie den Zweck, Deutschlands Wiederaufstieg zu verhindern. Dies sei vor allem dem Einfluss der führenden französischen Politiker zu verdanken, die gemäß ihrer plutokratischen Denktradition die Versklavung der deutschen Bevölkerung, die Beherrschung und Ausbeutung der deutschen Wirtschaft sowie einen Bevölkerungsdezimierung durch „Massensterben und Massenaushungerung“ angestrebt hätten. Dass diese Bestrebungen letztlich Frankreich selbst schaden könnten, da in einer arbeitsteilig organisierten und vernetzten Weltwirtschaft die wirtschaftlichen Entwicklungen in den einzelnen Staaten sich wechselseitig beeinflussen, hätten die französischen Unterhändler bei der Durchsetzung der für Deutschland harten Bestimmungen nicht berücksichtigt. Die gefährlichsten Auswirkungen des Versailler Vertrags sieht Stegerwald jedoch darin, dass dessen Vorschriften die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Politik umfassend einschränke und keine Spielräume zur Bewältigung der vielfältigen Krisensymptome zulasse . Deshalb könnten die drängenden Probleme letztendlich „nur in langer, zäher Arbeit“ überwunden werden.19 Unter der Überschrift „Die innerstaatlichen Probleme“ thematisiert Stegerwald als zweites drängendes Problem das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und Preußen, das als größtes deutsches Land mehr als zwei Drittel der Fläche des Deutschen Reichs umfasst. Dieses Verhältnis , das seiner Ansicht nach aufgrund einer nur mangelhaften Berücksichtigung der historisch gewachsenen kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Weimarer Verfassung nur 17 Vgl. Stegerwald (1995), S. 68-70. 18 Vgl. Stegerwald (1995), S. 70f. 19 Vgl. Stegerwald (1995), S. 70-74. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 10 suboptimal gelöst wurde, könne nur durch einen lang anhaltenden Reformprozess der Verwaltungen von Reich und Ländern verbessert werden. Obwohl er eine stärkere Verschlankung und Vereinfachung der Verwaltungsorganisationen ausdrücklich befürwortet, hält er eine Auflösung der preußischen Verwaltung „zugunsten einer schematischen Vereinheitlichung“ noch nicht für möglich. Deshalb übt er auch heftige Kritik an der von Seiten der Reichs bereits betriebenen Aufbaus von administrativen Parallelstrukturen. Die hieraus resultierende Flut von teils widersprüchlichen oder unklaren Verordnungen und Gesetze hätte nicht nur bei den Bürgern und Behörden vor Ort zu Vertrauensverlust und Unwillen geführt, sondern auch die Ausführung von Gesetzen durch die zuständigen Exekutivbehörden sowie die diesbezüglich Rechtsprechung stark beeinträchtigt. Um die ordnungsgemäße administrative Arbeit sicher zu stellen, aber auch um die Reichseinheit gegen aufkeimende Autonomiebestrebungen und Zersplitterungstendenzen zu wahren, spricht sich Stegerwald – der zum Zeitpunkt seiner Rede auch preußischer Minister für Volkswohlfahrt und als solcher für die Organisation der preußischen Verwaltung zuständig war – für eine Reform der preußischen Verwaltung auf Basis der Prinzipien „Selbstverwaltung unter Beteiligung aller Volksschichten“ und Subsidiarität aus. Die Durchführung dieser Reform, aber auch die Beendigung der Besatzung und die Sicherung des „gute[n] Erbteil[s] an der preußischen Verwaltung für alle Zeiten“ sind für ihn unumgängliche Voraussetzung, um eine Aufteilung Preußens in kleinere staatliche Einheiten ins Auge zu fassen. Um die Funktionsfähigkeit der Verwaltung und damit das Überleben des Deutschen Reiches zu gewährleisten, sieht er in einer Verbesserung des Zusammenwirkens der Verwaltungen von Reich und Ländern (insbesondere Preußens ) die vordringlichste Aufgabe. Dabei müsse unbedingt auf „äußerste Sparsamkeit und Vereinfachung des Betriebes auf allen Verwaltungsgebieten und sorgfältige Auswahl der Beamten“ geachtet werden.20 Als drittes widmet sich Stegerwald der Wirtschaft, die „heute unter allen Umständen das Primäre sein“ müsse. Angesichts des Verlusts von einem Zehntel der Bodenfläche, einer durch den Raubbau der Kriegswirtschaft verursachten einschneidenden Schwächung der „Urproduktion“ sowie des weitgehenden „Verfalls des Systems der internationalen Arbeitsteilung auf dem Weltmarkt “ und jährlicher Tributleistungen von 24 Millionen Tonnen Kohle sieht er die Ernährung der 60 Millionen Deutschen als vordringlich zu lösende Aufgabe im Bereich der Wirtschaft an. Um die Ernährung der Bevölkerung auch nur einigermaßen sicherzustellen, hält Stegerwald eine massive Steigerung der Produktion für unabdingbar. Diese will er erreichen über „rigorose Sparsamkeit in den staatlichen Ausgaben“, „absolute Einschränkung des Luxuskonsums“ (die notfalls auch mit Zwang durchgesetzt werden muss), Rationalisierung und Effizienzsteigerung der Produktion sowie „Ausschaltung“ der nicht produktionsfördernder Formen des Zwischenhandels. Im Agrarsektor soll durch geeignete Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Nahrungsmittelproduktion gesteigert wird, eine größere Zahl von Menschen in der landwirtschaftlichen Produktion verbleibt und das Anlagevermögen des Großgrundbesitzes nicht dem Produktionsprozess entzogen wird. Des Weiteren fordert er eine „Reform der staatlichen Betriebsverwaltung“ sowie eine Produktivitätssteigerung bei Post und Bahn. Auch die Mittel der Erwerbslosenfürsorge sollen für die notwendige Produktionssteigerung etwa für das Baugewerbe oder die Aufschließung neuer Braunkohlefelder verwendet werden. Forderungen nach einer Verlängerung der Arbeitszeiten lehnt er ab. Stattdessen spricht er sich für Maßnahmen aus, die zur „Hebung der Arbeitsfreudigkeit “ beitragen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sollen aber nach Stegerwalds Überzeugung der Wirtschaft nicht mit einem staatlich vorgegebenen detaillierten Plan „aufoktroyiert“ werden. 20 Vgl. Stegerwald (1995), S. 74-84. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 11 Dagegen spräche sowohl die Vielfalt der Maßnahmen, die zudem nur partiell staatlich gesteuert werden können, als auch der aktuell stark „desorganisierte“ staatliche Verwaltungsapparat, der nur unvollkommen in der Lage wäre, die betreffenden Vorhaben umzusetzen. Vor allem würde eine umfassende staatliche Wirtschaftssteuerung zu einer Überbürokratisierung führen, die der Wirtschaft die für eine langfristige Erholung notwendige „Elastizität“ nehmen würde, um rasch und angemessen auf sich täglich verändernde Bedingungen reagieren zu können. Vor diesem Hintergrund sieht er zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen der ersten demokratischen Reichsregierung überaus skeptisch. Seine Kritik zielt u.a. auf planwirtschaftliche Ansätze in der Wirtschaftspolitik, verschiedene finanzpolitische Maßnahmen wie z.B. die Einführung einer neuen Besitzsteuer sowie die staatlich verordnete Preispolitik und Zwangsbewirtschaftung auf dem Energie-, Nahrungsmittel- und Immobilienmarkt. Obwohl die entsprechenden staatlichen Vorhaben in bester Absichten getroffen worden wären, seien sie vielfach wirkungslos geblieben oder hätten sogar geschadet, da die wirtschaftlichen Gegebenheit und Gesetzmäßigkeiten, z.B. die fehlende wirtschaftliche Substanz für die Besteuerung, außer Acht gelassen worden wären. Stattdessen plädiert er für eine „schrittweise allmähliche Anpassung“ und sorgfältig durchdachte Veränderungen der Wirtschaftsorganisation, die nach Möglichkeit zusammen mit den paritätisch besetzten Beratungs- und Selbstverwaltungsgremien der Wirtschaft geplant und durchgeführt werden sollte.21 Allerdings ist sich Stegerwald auch sicher, dass letztlich alle in Deutschland selbst unternommenen Anstrengungen zur Stärkung der Wirtschaftsleistung vergeblich seien, wenn die wirtschaftliche Konsolidierung Russlands und der südosteuropäischen Länder nicht erfolgt sei und das System der internationalen Arbeitsteilung wieder Vorkriegsniveau erreicht habe.22 In der Sozialpolitik, dem vierten und letzten in seiner Rede behandelten Problemfeld, fordert Stegerwald in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien christlicher Sozialpolitik eine grundlegende Aufwertung der Stellung der Arbeiter in den Betrieben durch „Anerkennung ihrer Arbeit im Sinne der sittlichen Anschauungen eines tief erfassten Christentums“. Arbeiter sollen nicht mehr länger bloßes Objekt der Wirtschaft sein, sondern durch gezielte Reformmaßnahmen zu deren Subjekt und Mitträger werden. Ansatzpunkte, um „die Persönlichkeit des Arbeiters im Betriebe auf eine andere Basis zu stellen“, sieht Stegerwald insbesondere in einer angemessenen praktischen Anwendung und im weiteren Ausbau des Betriebsrätegesetzes sowie in einer Beteiligung der Arbeiter an ihren Betrieben und deren Gewinne. Das unter Stegerwalds Mitwirkung bereits in der Revolutionszeit“ verabschiedete Betriebsrätegesetz – das beschlossen worden sei, um der „wilden Räteherrschaft ein Ende zu machen – könne seiner Ansicht nach trotz einer gewissen Ergänzungsbedürftigkeit zur „grundsätzlichen Umwertung der Stellung des Arbeiters“ beitragen. Das Gesetz beende die Rolle des Arbeiters als willfähriges Werkzeug im „technisch-kapitalistischen Großbetrieb“ und garantiere die „Sicherstellung und Anerkennung seiner persönlichen Rechte“. Zudem eröffne das Betriebsrätegesetz die Chance zur Überwindung der Klassengegensätze . Ob das Gesetz die erwartete positive Wirkung tatsächlich entfalten könne, hänge wesentlich von den Führungspersönlichkeiten auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ab. Zudem müsste die Nutzung der Betriebsräte als „Instrumente des Terrors“ gegen die Betriebsleitungen und andersdenkende Kollege durch radikale Arbeitnehmervertreter wirksam unterbunden werden . In der Frage der betrieblichen Vermögens- und Gewinnbeteiligung der Arbeiter lehnt Stegerwald eine vollständige Überführung der Produktionsmittel in der Besitz der Allgemeinheit oder 21 Vgl. Stegerwald (1995), S. 84-89. 22 Vgl. Stegerwald (1995), S. 86. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 12 der Arbeiter ab, da die damit einhergehende Bürokratisierung die für den Wettbewerb benötigten unternehmerischen Freiheiten zu stark beschränke sowie insbesondere in Krisenzeiten die Konkurrenzfähigkeit und Rentabilität der Betriebe allzu sehr beeinträchtige. Zudem stehe auch die krisenbedingte erhebliche Steigerung des Kapitalbedarfs einer Vergesellschaftung der Betriebe entgegen. Da eine reine Gewinnbeteiligung der Beschäftigten Stegerwald ebenfalls nicht ausreichend erscheint, um die betriebliche Rolle und Verantwortung der Arbeiter aufzuwerten, befürwortet er unter Verweis auf die positiven Erfahrungen in England eine stärkere Kapitalbeteiligung der Arbeitsnehmer, indem diese vermehrt Aktien ihrer eigenen Betriebe erwerben. Voraussetzung seien allerdings gesetzliche Regelungen, die 1. die Transparenz des Finanzgebarens der einzelnen Betriebe sicherstellen, 2. eine „Kollektivvertretung der Arbeiteraktionäre in den Betrieben “ (die von Volksbanken unterstützt werden) vorsehen und 3. die Beteiligung des Reichs und anderer öffentlicher Institutionen am Kapital und an den Aufsichtsräten der Betriebe gewährleisten . Auch wenn Stegerwald zugesteht, dass eine Umformung der Wirtschaft im Interesse einer Aufwertung der Arbeitnehmerrolle in den Betrieben mit größten Schwierigkeiten verbunden sei, hält er die Anstrengungen zur Erreichung dieses Ziels nicht nur aus ökonomischen und christlich -moralischen Überzeugungen für lohnenswert, sondern auch aus nationaler Verantwortung für zwingend geboten. Aus den genannten Gründen stünden die christlichen Gewerkschaften trotz aller Widrigkeiten weiterhin zu der Idee der Arbeitsgemeinschaften von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.23 Im dritten und umfangreichsten Abschnitt seiner Rede, der mit „Wege und Mittel zur Durchführung der Aufgaben“ überschrieben ist, befasst sich Stegerwald mit der Frage, wie die von ihm skizzierten Lösungsansätze zur Bewältigung der großen politischen Herausforderungen, vor den Deutschland stehe, umgesetzt werden könnten. Dabei richtet sich sein Blick vor allem auf die politischen Parteien. Auch wenn diese aufgrund von Schwerfälligkeiten sowie Rücksichtnahmen auf Traditionen, Stimmungen, Empfindlichkeiten oder Spezialinteressen nur eingeschränkt handlungsfähig sein können, sind sie für ihn die einzigen Institutionen, die die Vielzahl der unterschiedlichen Interessen und Meinungen bündeln, in einheitliche Positionen übertragen und in einer bearbeitbaren Form dem politischen Entscheidungs- und Ausführungsprozess zuführen können. In der aktuellen Krisensituation könnten sie diese Aufgabe jedoch nur dann angemessen wahrnehmen, wenn sie bereit und in der Lage seien, sich grundlegend zu verändern, indem sie ihr Selbstverständnis und ihre Arbeitsweise in angemessener Weise auf die Anforderungen des neuen parlamentarischen Systems ausrichteten. Nur wenn diese „Kernfrage unserer heutigen politischen Lage“ einigermaßen zufriedenstellend gelöst werden kann, sei nach seinem Verständnis ein „Wiederaufstieg Deutschlands“ denkbar. 24 Allerdings stimmt ihn der aktuelle Zustand der politischen Parteien und des Parteiensystems in Deutschland eher skeptisch. So habe sich Deutschland bei Einführung des parlamentarischen Regierungssystems nicht nur in einem „Zustand der Ermattung und Zerrüttung“ befunden, sondern sei auch mit einem Parteiensystem ausgestattet gewesen, das weder programmatisch-organisatorisch noch in seinem Politikverständnis auf die Herausforderungen der neuen Regierungsform vorbereitet gewesen sei. Die politischen Bedingungen des Kaiserreichs prägten auch nach dessen Untergang immer noch in starkem Maß 23 Vgl. Stegerwald (1995), S. 89-93. 24 Vgl. Stegerwald (1995), S. 93f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 13 Organisation, Aufgabenverständnis und politisches Handeln der Parteien, obwohl der inzwischen vollzogene Systemwechsel einer vollständigen Neuausrichtung der Parteien erfordert hätte.25 Während die gewachsenen „sehr alten Traditionen“ und die „kirchtumspolitische“ parteipolitische Orientierung der Kaiserzeit immer noch das Denken und Handeln der vor der Revolution gegründeten Parteien in starkem Maße beeinflusse, habe bei den Parteineubildungen der Revolutionszeit „Zufälligkeiten und Personalfragen“ eine entscheidende Rolle gespielt. Dies habe u.a. dazu beigetragen, dass in den bürgerlichen Parteien „ein Konglomerat der verschiedenartigsten Anschauungen, besonders in sozialer Hinsicht,“ vertreten werde, während die linken Klassenparteien sich in Personal- und inhaltlichen Auseinandersetzung verzehren und ihren potentiellen Wählern keine Orientierung bieten könnten. All diese Entwicklungen hätten innerhalb der Parteiführungen dazu geführt, dass die Befassung mit den großen politische Leitlinien und den langfristig gebotenen Maßnahmen zugunsten eines rein taktischen, auf kurzfristige Erfolge zielenden Verhaltens vernachlässigt worden sei. Dies habe zur Folge, dass die Parteien „den Überrumpelungen der Straße Konzession auf Konzession machen“ müssten und die Durchsetzung eigener Interessen zu erreichen suchten, während die Bearbeitung der dringend zu lösenden Probleme und die Verfolgung langfristiger Ziele hintangestellt würde. Im „Flimmersystem unserer bisherigen parlamentarischen Politik“ mit ihren „wechselnden Koalitionen von gleich starken Parteigruppen “ könne weder die für jede konstruktive Politik benötigte „Stetigkeit“ und „konstante Linie “ entstehen noch „nachhaltige und befriedigende“ Lösungen in den von ihm angesprochenen großen Aufgabenbereichen erzielt werden. 26 Um die durch häufige Koalitionswechsel hervorgerufene politische Instabilität sowie die damit einhergehenden anhaltenden politischen Richtungswechsel zukünftig zu vermeiden, spricht sich Stegerwald für die Bildung eines breiten politischen Blocks ähnlich gerichteter politischer Kräfte aus, der kraft seines politischen Gewichts eine einheitliche politische Linie vorgeben und die Bewahrung des bereits Erreichten verbürgen kann: „Wir brauchen eine starke, einheitliche aktive parlamentarische Gruppe, die die Innehaltung einer einmal eingeschlagenen Marschroute garantiert .“ Eine parlamentarische Kraft, die für einen längeren Zeitraum über eine breite parlamentarische Mehrheit verfügte, wäre zunächst eine zentrale Voraussetzung für die Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik. Sie könnte das bisher vorherrschende, wenig zielführende Gemisch von außenpolitischer Apathie der Regierungsparteien, passiver Resistenz des diplomatischen Korps und dilettantischen, zusammenhanglosen Einzelinitiativen überwinden, die personelle Kontinuität an der Spitze des Auswärtigen Amtes gewährleisten und das notwendige Vertrauen des Auslands in die Konsolidierung und Zuverlässigkeit der deutschen Außenpolitik sicherstellen.27 Aber auch für die Konzeption und Durchsetzung von Lösungen auf den anderen von Stegerwald benannten Hauptproblemfeldern böte die Existenz einer „großen einheitlichen Kraft im Parlamente “ gewichtige Vorteile. Sie könnte in der Frage der Neuaufteilung des Reichsgebiets zur Aufhebung der gegenseitigen Blockade von „extremen Zentralisten und radikale Föderalisten“ beitragen , in der Wirtschaftspolitik das unheilvolle Lavieren zwischen „planwirtschaftlichen und freiwirtschaftlichen Extremen“ beenden sowie durch Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit 25 Vgl. Stegerwald (1995), S. 93. 26 Vgl. Stegerwald (1995), S. 95f. 27 Vgl. Stegerwald (1995), S. 97f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 14 und der Stetigkeit der politischen Entwicklung die bereits erreichten sozialpolitischen Errungenschaften absichern.28 Eine „große, von einem einheitlichen Willen getragene Partei“ reduziere zudem den hohen Aufwand für die zahlreichen und komplexen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zwischen Regierung und Parteiführungen und verhindere, dass taktische Überlegungen sachliche Argumente allzu sehr überlagern.29 Die von Stegerwald angestrebte „Konsolidierung unseres Parteiensystems“ müsse durch eine „gemäßigte Partei“ erfolgen, die über eine ähnliche politische Stärke wie die Mehrheitssozialdemokratie verfügt. Um langfristig bestehen zu können und erfolgreich zu sein, dürfe sie aber nicht allein auf der Vertretung spezifisch wirtschaftlicher und berufsständischer Interessen oder die Fähigkeit einzelner erfahrener Politiker beruhen, sondern müsse auch gesinnungsmäßig in ihrer Wählerschaft verankert sein. Für Stegerwald als langjährigem dezidiert christlich orientiertem Politiker ist klar, dass sich die neu zu gründende Sammlungspartei allein auf der „Grundlage positiv christlicher Gesinnung“ aufbauen lässt, da nur die „Durchdringung des ganzen öffentlichen Lebens mit einem wahrhaft christlichen Geist“ eine Überwindung der Krise ermöglichen könne. Das Wählerpotential, das für eine solche Partei mobilisiert werden könnte, verortet Stegerwald bei den zahlenmäßig großen kirchlich gebundenen, aber konfessionell und auch politisch gespaltenen christlichen Bevölkerungsgruppen. Auch um der von der schroffen politischen Trennung beider Konfessionen ausgehenden Gefahr einer weiteren Entfremdung von und zunehmender Spannungen bis hin zur offenen Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten zu entgehen, fordert er, „alle christlichen Kräfte auch zu politischer Stoßkraft zusammen[zu]raffen, solange es noch Zeit ist“. Gerade angesichts der großen drängenden Probleme, mit denen Deutschland konfrontiert sei, hält er einen politischen Zusammenschluss der „positiven christlichen Kreise“, die aufgrund ihrer historischen Tradition und ihrer Verwurzelung „im Glauben an die Autorität“ als „Träger eines wahrhaft nationalen Gedankens […] dessen Wesen heute mehr denn je in der Opferbereitschaft bestehen muss“, geradezu prädestiniert seien, für dringend geboten.30 Um die von ihm avisierten Wählergruppen von seinem Projekt zu überzeugen, sollte die zu gründende überkonfessionelle christliche Sammlungspartei ausgesprochen demokratisch und sozial ausgerichtet sein. Entsprechend seinen Vorstellungen von einer „organischen Demokratie“, die Stegerwald dezidiert den „scheindemokratischen“ Systemen der westeuropäischen Staaten entgegensetzt , soll das Volk durch ausgedehnte Möglichkeiten zur Teilnahme an der lokalen und regionalen Selbstverwaltung zu einem positiven Staatsverständnis erzogen und in das neue politische System integriert werden. Die neue Partei könne zudem nur erfolgreich sein, wenn sie eine aktive (christlich inspirierte) Sozialpolitik nicht nur als taktisches Instrumentarium ansehe, sondern zum Kernbestand ihrer politischen Programmatik erhebe.31 Dies bedeute allerdings nicht, dass es ihm um die Gründung einer neuer Arbeiterpartei gehe: „Was wir wollen, ist die Zusammenfassung der vaterländischen, christlichen, volkstümlich und wahrhaft sozial denkenden Kreise aus allen Volksschichten, besonders auch aus den intellektuellen.“ Grundsätzlich gibt es 28 Vgl. Stegerwald (1995), S. 97f. 29 Vgl. Stegerwald (1995), S. 99. 30 Vgl. Stegerwald (1995), S. 99f.; vgl. Morsey (1966), S. 371. 31 Vgl. Stegerwald (1995), S. 101; vgl. Morsey (1966), S. 371. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 15 für Stegerwald in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen konstruktiv denkende, und handelnde Gruppen, „mit denen man verständig politisch arbeiten kann“. Dagegen lehnt er eine Zusammenarbeit mit Kreisen, die sich lediglich in negativ-abwertender Weise über die bestehenden Verhältnisse äußern, ohne selbst Alternativvorschläge zu präsentieren, ebenso ab wie ein Zusammengehen mit dem „spekulativen Großkapital“: „mit diesem Kapital und all denen, deren Denken restlos in der Berechnung spekulativer Gewinnmöglichkeiten aufgeht und die alles nur von hier aus orientiert haben wollen, gibt es heute nie eine Verständigung.“32 Der Ausschluss der Großkapitalisten ist für Stegerwald nicht nur aus ökonomisch-gesellschaftspolitischen Erwägungen ausgeschlossen, sondern auch aus strategisch-taktischen Gründen unvermeidlich , da die neue christliche Sammlungspartei nur unter dieser Voraussetzung ihre Hauptaufgabe , die Auseinandersetzung mit dem „Marxismus“, erfolgreich erfüllen könne. Offensichtlich schätzte Stegerwald die Chancen für eine erfolgreiche Austragung dieses Kampfes zum Zeitpunkt seiner Rede als durchaus günstig ein. Denn er ging, wie seinen Ausführungen zu entnehmen ist, damals davon aus, dass der „ganze deutschen Sozialismus“ in eine schwere Krise geraten sei. Dies sei zum einen eine Folge der abschreckenden Wirkung der russischen Oktoberrevolution , die mit ihrem Versuch, den „Marxismus in Russland zu verwirklichen“, das Land an den Rand des Zusammenbruchs geführt habe. Zum anderen sei mit der deutschen Revolution von 1918/1919 der Staat, dessen „absolute Negation und Bekämpfung“ zumindest aus Sicht ihrer Anhängerschaft im Vordergrund des politischen Kampfes der Sozialdemokratie stand, verschwunden und damit auch die jahrzehntelang im Vordergrund stehende, alle innerparteilichen Gegensätze überwindende Zielorientierung. Dies habe Stegerwalds Beobachtungen zufolge zu einer grundlegenden Veränderung in der Stimmungslage der „marxistisch gesinnten Massen“ geführt, die u.a. in wachsender Enttäuschung und Resignation sowie einer „Abkehr vom Politischen“ und der „Verzweiflung an der materialistischen Weltauffassung“ zum Ausdruck komme. Schließlich zeige sich insbesondere die Führung der Mehrheitssozialdemokratie den Herausforderungen der Krise und des Wiederaufbaus nicht gewachsen. So sei keine Führungspersönlichkeit zu erkennen , die in der Lage wäre, die alten Denkmuster zu überwinden und die Partei und ihre Anhängerschaft zur Anerkennung der neuen politischen Wirklichkeit zu bewegen. Stattdessen zöge sich die sozialdemokratische Parteiführung aus der politischen Verantwortung für die anstehenden schwierigen staatspolitischen Aufgaben zurück, um kraft ihres parlamentarischen Gewichts im Hintergrund umso mehr informellen Einfluss auf die politischen Entscheidungen auszuüben. Für die Bewältigung der aktuellen Krise fehle ihr der politische Horizont und die Kraft, zumal sie aufgrund permanenter Rücksichtnahme auf ihre für radikale Politikangebote anfällige Anhängerschaft in ihrem Handlungsradius stark eingeschränkt sei. 33 Angesichts des Versagens der Mehrheitssozialdemokratie beim staatlichen Wiederaufbau und der allgemein kritischen Lage, in der sich die marxistisch orientierten Parteien befänden, hält Stegerwald die Zeit für günstig, die deutsche Arbeiterbewegung inhaltlich neu, nämlich im Sinne des „positiven Christentums“ auszurichten. Entsprechende Bemühungen seien umso naheliegender, als mit der inzwischen vollzogenen Trennung von Staat und Kirche, Kirche und Christentum nicht wie vor der Revolution „für politische, wirtschaftliche und soziale Missstände künstlich 32 Vgl. Stegerwald (1995), S. 101f.; vgl. Morsey (1966), S. 371. 33 Vgl. Stegerwald (1995), S. 102-105 u. 106. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 16 mitverantwortlich“ gemacht werden könnten. Zudem könnten seine programmatischen Forderungen nach Aufwertung der politischen und wirtschaftlichen Rolle der Arbeiterschaft sowie nach einer Veränderung der geistigen Grundlagen des deutschen Gemeinschaftslebens dazu beitragen , die Schlagkraft einer sozialistischen Klassenpartei langfristig zu schwächen.34 Auch die deutsche Gewerkschaftsbewegung bedürfe trotz steigender Mitgliederzahlen nach Stegerwalds Auffassung grundlegender Reformen. Dabei weist er den christlichen Gewerkschaften eine wichtige Rolle zu. Sie müssten ihren Charakter als „ideelle Gesinnungsgemeinde“, der sie neben ihrer Rolle als wirtschaftliche Interessenvertreter schon immer ausgezeichnet habe, noch stärker unterstreichen, indem sie diesen nicht nur negativ als Ausschluss von Aktivitäten, die gläubige Christen nicht mittragen können, definiere, sondern ihre Ideale positiv gegenüber dem mechanistisch-materialistische Denken und der grassierenden „Unmoral“ hervorhebe. Dazu sollten sich die christlichen Gewerkschaften „auf den Boden der alten deutschen christlichen Volkskultur “ stellen und aktiv für deren Popularisierung einsetzen. Hierzu und zur Verbreitung weiterer ideeller und politischer Positionen der christlichen Gewerkschaften spricht sich Stegerwald für die Gründung einer neuen Zeitschrift aus, die einen ähnlichen Einfluss ausüben soll wie der sozialdemokratische Vorwärts.35 Des Weiteren mahnt Stegerwald die Gewerkschaften, sorgsam darauf zu achten, dass sie angesichts der Umgestaltung der Wirtschaft u.a. durch die wachsende Einflussnahme des Staats sowie die Einführung von neuen Formen der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Arbeitsgemeinschaften und Betriebsräten sich nicht in einer Vielzahl von Organisationsformen „verzetteln“, sondern „ihre große Erfahrung, ihre bedeutende Erziehungskraft und ihre bewährten Organisationen behalten“. Darüber hinaus fordert er auch, die wirtschaftliche Selbsthilfe der Gewerkschaften, die z.B. mit ihren Konsumvereinen und Versicherungsorganisationen die „Härten der kapitalistischen Entwicklung“ abgemildert und damit wesentlich zur Besserung der Lage der Arbeiter beigetragen habe, durch Gründung von Banken, die die wachsenden Aufgaben und Geschäfte der wirtschaftlichen Aktivitäten der Gewerkschaften abwickeln sollen, zu ergänzen.36 Auch hinsichtlich der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in den Parlamenten sieht Stegerwald Veränderungsbedarf. Mit einer gewissen Resignation stellt er fest, dass sich der von der christlichen Gewerkschaftsbewegung – allein schon wegen der konfessionellen Spaltung – von Beginn an vertretene „absolute parteipolitische Neutralitätsgedanke“ nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen entwickelten Industrieländern nicht habe durchsetzen lassen. Insbesondere die sozialdemokratischen Gewerkschaften hätten die gewerkschaftliche Neutralitätsidee vor allem „kampftaktisch“ zur Erhöhung ihrer „organisatorischen und agitatorischen Schlagkraft gegenüber der Gesellschaft und ihrem Unternehmertum“ verwendet. Nachdem mit der Revolution jedoch jahrzehntealte politische Forderungen und die politische Gleichberechtigung der Arbeiterschaft realisiert worden seien und die Arbeiterschaft zur konstruktiven 34 Vgl. Stegerwald (1995), S. 104f. und 106f. 35 Vgl. Stegerwald (1995), S. 107f. 36 Vgl. Stegerwald (1995), S. 108f. Bereits auf einer Konferenz des Reichsausschusses der Zentrumspartei Anfang November 1920 hatte Stegerwald die Gründung einer auch Landwirten offenstehenden gewerkschaftseigenen Bank angekündigt, mit der „das jüdische Bankenwesen" unterhöhlt werden soll; vgl. Forster (2003), S. 278; Morsey (1966), S. 367. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 17 Mitarbeit auf den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern aufgerufen sei, seien rein kampftaktische Haltungen nicht länger akzeptabel.37 Zwar hatte Stegerwald in einer vorherigen Redepassage beklagt, dass Angehörige des Deutschen Gewerkschaftsbunds im Reichswirtschaftsrat – einem berufsständisch zusammengesetzten Beratungsgremium für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen mit Gesetzes-Initiativrecht – in einer Fraktion vereinigt sind und einheitlich agieren, während sie zeitgleich als Reichstagsabgeordnete unterschiedlicher Parteien, die zudem auch noch in Regierungs- und Oppositionsparteien getrennt sind, aus zumeist rein taktischen Gründen gegeneinander votierten (was zur Irritation der Gewerkschaftsmitglieder und zur Schwächung der gewerkschaftlichen Kampf- und Durchsetzungskraft führe).38 Aber die Gründung einer eigenen Partei für die Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbunds lehnt er entschieden ab. Trotz des vorhandenen Wählerpotentials für eine derartige Partei würde diese als weitere klassenspezifische Arbeiterpartei die extremen klassenpolitischen Gegensätze und Risse der Vorkriegszeit nur noch weiter verschärfen. Stattdessen spricht er sich auch in parteipolitischer Hinsicht für die Schaffung eines „einheitlichen Volkstums“ auf „dem Boden der sozialen Gerechtigkeit“ und „eines tiefgreifenden Gemeinschaftsgefühls“ aus – als Voraussetzung für die Hervorbringungen einer „einheitlichen nationalen Denkweise“ des deutschen Volks.39 Diesen übergeordneten Zielsetzungen soll nach Stegerwalds Vorstellung die Gründung einer neuen Volkspartei den Boden bereiten. Diese sollte als „möglichst geschlossene politische Einheitsfront“ die „um den Gewerkschaftsbund gruppierten Kreise und die allerbreitesten Volksschichten in Stadt und Land, […] die gesamte schaffende Arbeit [sowie] alle Schichten , die sich auf den Boden der alten deutschen christlichen Kultur stellen“, umfassen. Diese Partei muss, so Stegerwald, aufgrund ihrer politischen Stärke und einer „positiven“ Programmatik in der Lage sein, die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen, sowie durch eine „soziale“ und „volkstümliche“ Ausrichtung eine ausreichend große Anhängerschaft für sich gewinnen können. Sofern es tatsächlich gelänge, die „politisch zusammengehörigen Kräfte des deutschen Volkes“ in diese Partei zu integrieren, ergebe sich eine politische Übereinstimmung mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund in wesentlichen politischen Fragen „ganz von selbst“.40 Den programmatischen Kerngehalt der neuen Partei, mit dem der langfristige Wiederaufstieg Deutschlands erreicht werden soll, bringt Stegerwald mit der „einfachen“ und „zündenden“ Losung „deutsch, christlich, demokratisch, sozial“ auf den Punkt. „Deutsch“ stehe dabei für den politischen Kampf gegen die harten Bedingungen des Versailler Vertrags, das Streben nach einem unabhängigen freien Deutschland sowie nach politischer Einigung auch mit Deutsch-Österreich, die Besinnung auf „bodenständige Kultur“ und „echtes Volkstum“ sowie die „Achtung vor den Eigenarten der deutschen Stämme und dem historisch Gewordenen“. Mit dem Etikett „christlich “ werde programmatisch „die Anerkennung der christlichen Kultur als Grundlage des Staates “ unterstrichen. Dies heißt für Stegerwald nicht nur die entschiedene Bekämpfung der „materialistischen und mechanistischen Geschichtsauffassung einer unchristlichen Kulturepoche“, 37 Vgl. Stegerwald (1995), S. 109f. 38 Vgl. Stegerwald (1995), S. 105f. 39 Vgl. Stegerwald (1995), S. 110. 40 Vgl. Stegerwald (1995), S. 110f.; Morsey (1966), S. 371. Zur ideologischen und parteipolitischen Fragmentierung des DGB und der christlichen Gewerkschaft vgl. auch die Ausführungen von Jones (1979), S. 5-12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 18 sondern auch der Einsatz für die „ausgleichende Gerechtigkeit im Leben der Völker zueinander“. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, versteht er unter „demokratisch“ in erster Linie die staatliche, wirtschaftliche und soziale Selbstverwaltung. Demokratie ohne Selbstverwaltung „nach französischem Muster“ sei dagegen ein „Zwangsinstitut“, die mit der „Willkürherrschaft“ zufälliger Parlamentsmehrheiten, der „Schablonisierung“ und der „Bürokratisierung aller Beziehungen des Einzelnen zur Gesamtheit“ einhergehe. Mit der „sozialen“ Ausrichtung soll – in Abgrenzung zum „atomisierenden Individualismus“ und „mechanisierenden Zwangssozialismus“ – schließlich die „organische Auffassung von Staat und Gesellschaft“ als „lebendige Verankerung jedes einzelnen im Ganzen“ als Programmziel festgeschrieben werden. Sozial bedeute auch „die prinzipielle Anerkennung des Arbeitnehmers als Subjekt und gleichberechtigten Trägers der Produktion mit allen Konsequenzen“. Stegerwald zeigt sich überzeugt, dass diese von ihm vorgetragenen programmatischen Ziele nicht nur dem Geist wahren Christentums entspreche und eine angemessene Antwort auf die fundamentale Krise des deutschen Volkes sei, sondern auch auf breite Resonanz in allen „sozial“, „zukunftsfroh“ und „positiv denkenden“ Kreisen des deutschen Volk stoßen werde. Zudem sei eine derart programmatisch ausgerichtete Volkspartei am besten geeignet, gute Beziehungen zu den überseeischen Ländern, insbesondere den USA, aufzubauen und dort die für den deutschen Wiederaufbau dringend benötigte politische und wirtschaftliche Unterstützung zu mobilisieren.41 Im Schlussteil seiner Rede unterstreicht Stegerwald noch einmal die zentrale Bedeutung eines Zusammenschlusses der „positiven Kräfte“ des evangelischen und katholischen Volksteils (die beide für sich allein genommen zu schwach für dem Aufbau einer starken Mittelpartei seien) in einer christlichen Volkspartei als unabdingbare Voraussetzung für den staatlichen, wirtschaftlichen , sozialen und kulturellen Wiederaufbau Deutschlands. Die christlichen Gewerkschaften, in denen Arbeiter beider Konfessionen sich gemeinsam für eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation einsetzten, könnten nach seinen Vorstellungen als Vorbild für eine politische Kooperation der Angehörigen beider Konfessionen dienen. Auch deshalb sieht Stegerwald die christliche Arbeiterbewegung in besondere Weise aufgefordert, sich mit aller Energie und all ihren Möglichkeiten für das gemeinsame politische Vorgehen beider Konfessionen einzusetzen „und damit die Grundlage für ein glücklicheres neues Deutschland [zu] schaffen“. Als erste Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels schlägt er den Teilnehmern des christlichen Gewerkschaftskongresses vor, ein „parlamentarisches Aktionskomitee“ zu wählen, das zunächst auf ein politisches Zusammenwirken der gleichgesinnten, aber in unterschiedlichen Parteien organisierten Kräfte hinwirken soll, um in einem späteren Stadium mit Nachdruck deren organisatorischen Zusammenschluss vorzubereiten. Publizistisch begleitet werden sollen diese Bemühung durch die Gründung einer „führende[n] Tageszeitung“, die die im deutschen Volk verbreitete marxistisch verengte „klassenpolitische […] Denkweise“ zugunsten eines „starke[n] soziale[n] und nationale [n] Gemeinschaftsgefühl[s]“ zurückdrängt. Mit der Gründung einer „Volksbank“ sollen schließlich die „wirtschaftlichen Kräfte der christlich-nationalen Arbeiter, Angestellten und Beamten und sonstiger diesen nahestehenden Kreise“ für den deutschen Wiederaufbau zusammengefasst und verwendet werden.42 41 Stegerwald (1995), S. 111-113; vgl. Morsey (1966), S. 371. 42 Stegerwald (1995), S. 115; vgl. Morsey (1966), S. 371. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 19 3. Die Bewertung der Essener Rede Stegerwalds in der Geschichtswissenschaft Die historische Parteienforschung ist sich weitgehend einig, dass Stegerwald in seiner Essener Rede die wesentlichen Leitideen für eine antimarxistische Konfessionen- und Klassen-übergreifende christlichen Sammlungs- und Volkspartei konzeptionell entworfen und ausgearbeitet hatte, die zwar in der Weimarer Republik keine organisatorischen und programmatischen Folgewirkungen zeitigten, aber nach Ende des zweiten Weltkriegs die Gründung der Unionsparteien maßgeblich mitbestimmten. Im Folgenden wird eine Auswahl wissenschaftlicher Bewertungen der Essener Rede wiedergegeben. Bernhard Forster rekonstruiert in seiner 2003 erschienen Dissertation auch die Vorgeschichte von Stegerwalds Rede von November 1920. Demnach hatte Stegerwald seit der Revolution von 1918/1919 wiederholt die Zersplitterung der bürgerlichen Parteien, die sich auch in der Mitgliedschaft der DGB-Gewerkschaften niederschlug, beklagt und vergeblich ein stärkeres politisches Zusammengehen der christlichen Kräfte in einer neu zu gründenden christlichen Mittelpartei gefordert . Als einflussreichster Vertreter der christlichen Gewerkschaftsbewegung wirkte er darauf hin, dass christliche Gewerkschaften und DGB im Verlauf des Jahres 1920 in mehreren Resolutionen ihren Absicht bekundeten, ihren durch Mitglieder- und Einflusszunahme erweiterten Handlungsspielraum für eine Neuordnung des Parteienwesens nutzten und sich für eine Einigung des gesamten „christlich, national, demokratisch und sozial denkenden Teils des deutschen Volkes" einsetzten.43 Während Stegerwald und sein damaliger Mitarbeiter und spätere Reichskanzler (1930-1932) Heinrich Brüning im DGB schon im Frühjahr 1920 damit begonnen hatten, die programmatischen Grundlagen einer den Wiederaufstieg Deutschlands forcierenden „antimarxistischen , interkonfessionellen und sozialen Volkspartei“ auszuarbeiten, warb Stegerwald vor allem im Vorfeld der Reichstagswahlen von Juni 1920 innerhalb der Zentrumspartei nachdrücklich für eine Öffnung der Partei gegenüber den Protestanten, z.B. durch Einbindung evangelischer Arbeiter und Intellektueller, die bislang noch der national-konservativen DNVP oder der rechtsliberalen DVP zuneigten.44 Nach den Reichstagswahlen von Juni 1920, bei denen das Zentrum wie auch die beiden anderen Parteien der Weimarer Koalition, SPD und DDP, herbe Stimmenverluste hinnehmen mussten, erschien ein vertrauliches, mutmaßlich von Heinrich Brüning (in enger Abstimmung mit Stegerwald) verfasstes DGB-Papier über das Verhältnis von „Arbeiterbewegung und Politik“, das für die Gründung einer „wahren Volkspartei“ warb, die von einem „sozial erneuerten und organisatorisch gestrafften Zentrum“ herbeigeführt werden sollte und die christlich -nationale Arbeiterschaft als Kernklientel avisierte. Die Gründung dieser Partei zielte nicht zuletzt darauf ab, die weitere Abwanderung gemäßigter Arbeiter zu USPD und KPD zu verhin- 43 Vgl. Forster (2003), S. 268-270; Morsey (1966), S. 363. 44 Vgl. Forster (2003), S. 270 u. 274; Altenhöfer (1965), S. 71 u. 77f.; Morsey (1966), S. 363; Eykmann (1995), S. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 20 dern und Mitglieder der freien Gewerkschaften für die christlichen Gewerkschaften zu gewinnen .45 Das Papier bildete den Kern des ebenfalls von Heinrich Brüning maßgeblich ausgearbeiteten Redeentwurfs, der Stegerwalds Rede auf dem Essener Gewerkschaftskongress zugrunde lag.46 Auch in den maßgeblichen Gremien der Zentrumspartei bemühte sich Stegerwald, für seine Vorstellungen einer christlichen Sammlungspartei der Mitte zu werben, in der Politiker beider Konfessionen auf der Grundlage einer – in den christlichen Gewerkschaften bereits realisierten – gemeinsamen „christlichen Volkskultur“ zusammenarbeiten. Für Stegerwald stand es deshalb außer Frage, dass den christlichen Gewerkschaften aufgrund der bei ihnen bereits praktizierten jahrelangen Zusammenarbeit von Protestanten und Katholiken auch bei der angestrebten Parteireform eine führende Rolle zukommen müsse. Zur Begründung für seine parteipolitische Vision verwies er u.a. auf den dringenden Reformbedarf der seit 1918 von einem schleichenden Erosionsprozess erfassten Zentrumspartei, der durch die Stimmenverluste der Partei bei der Reichstagswahl von 1920 noch einmal deutlich zu Tage getreten war. Auch könne nur eine überkonfessionelle Mittelpartei die parteipolitische Zersplitterung der in den christlichen Gewerkschaften organisierten Parlamentarier überwinden sowie langfristig die ethische, wirtschaftliche und politische Einheit der christlichen Gewerkschaften und deren Rolle als Gegengewicht zu den freien Gewerkschaften gewährleisten. Hinzu komme, dass die gegenwärtig politische Lage für die von ihm ins Auge gefasste Parteireform besonders günstig sei, denn die durch die Revolution herbeigeführte Trennung von Staat und Kirche lasse darauf hoffen, dass sich Protestanten und auch bisherige SPD-Anhänger für das Projekt begeistern ließen. Zudem hätten auch die Kirchenführungen ihre Zustimmung zu der geplanten überkonfessionellen Parteibildung signalisiert.47 Bei den führenden Zentrumspolitikern stießen Stegerwalds Parteireformvorstellungen jedoch größtenteils auf Ablehnung. Abgesehen davon, dass eine Debatte über eine derart weitreichende Parteireform in dieser für das Zentrum schwierigen Zeit von den meisten Mitgliedern der Zentrums-Führungsebene – teilweise empört – abgelehnt wurde, teilten diese weder Stegerwalds Optimismus hinsichtlich der Einbindung und Mitarbeit nennenswerter protestantischer Kräfte in der geplanten neuen Partei noch wollten sie den von Stegerwald erhobenen Führungsanspruch der christlichen Gewerkschaften uneingeschränkt akzeptieren.48 Angesichts des damaligen Stands der innerparteilichen Debatte kam Stegerwalds Essener Rede, mit der er seine parteipolitischen Reformpläne erstmals öffentlich machte, für viele nicht gewerkschaftlich gebundene Zentrumspolitiker ziemlich überraschend.49 Während die Teilnehmer des 45 Vgl. Forster (2003), S. 274f.; Jones (1979), S. 12f.; Morsey (1966), S. 366 u. 369., weist auf den in der Forschung zumeist übersehenen erheblichen Anteil hin, den Stegerwalds Parteifreund, der Zentrumspolitiker und Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns auf die Ausgestaltung des Essener Programms hatte. 46 Vgl. Forster (2003), S. 275; Altenhöfer (1965), S. 78; Morsey (1966), S. 363; Jones (1979), S. 13; Weinacht (1995), S. 22; Eykmann (1995), S. 32. 47 Vgl. Forster (2003), S. 277f.; Morsey (1966), S. 363f. u. 366; Eykmann (1995), S. 31. 48 Vgl. Forster (2003), S. 278f.; Morsey (1966), S. 363-369; Jones (1979), S. 14f. 49 Vgl. hierzu die von dieser allgemein verbreiteten Einschätzung abweichende Bewertung durch Morsey (1966), S. 369f. u. 376, der davon ausgeht, dass die Führungsebene über Stegerwalds Absichten in vollem Umfang informiert war. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 21 Essener Gewerkschaftskongresses und der Großteil der Mitglieder der christlichen Gewerkschaften die Reformvorstellungen mit großem Beifall bedachten, gab es nicht nur bei der DNVP und der DVP, also den Parteien, auf die sich Stegerwalds Sammlungsbestrebungen in erster Linie richteten, sondern auch innerhalb der Zentrumspartei zumeist eher verhaltene bis skeptische Reaktionen . In ihren offiziellen Verlautbarungen beeilten sich die Spitzen der Zentrumspartei darauf hinzuweisen, dass Stegerwald mit seinem Vorschlag lediglich einen Beitrag zu der bereits in Gang befindlichen Programmdiskussion der Partei geleistet habe. Dabei konnte man vor allem Stegerwalds Idee, eine „Einheitsfront aller positivchristlichen und deutsch gerichteten Kräfte"50 gegen den Sozialismus zu bilden, einiges abgewinnen. Den bewährten Programmpunkten des Zentrums habe Stegerwald allerdings nichts essentiell Neues hinzugefügt, da die Partei sich schon immer als christlich-nationale Volkspartei verstanden habe. Im Übrigen habe die Partei bereits erste Schritte zu ihrer Konsolidierung eingeleitet. Ein für die Partei möglicherweise gefährliches Spaltungspotential vermochte die Parteiführung der Rede Stegerwalds nicht zu entnehmen, zumal dieser dezidiert ausgeschlossen hatte, durch Umwandlung des Zentrums oder durch Abspaltung eine neue Arbeiterpartei ins Leben zu rufen. In diesem Zusammenhang wurde ausdrücklich hervorgehoben, dass Stegerwald ein langfristiges Ziel für eine Parteireform entworfen habe, aber keine Aussagen dazu getroffen habe, wie die Bildung einer neuen christlich-nationalen Volkspartei konkret in die Wege geleitet werden sollte.51 Größere Bedenken erhoben wurden vor allem von den lokalen und regionalen Gliederungen der Zentrumspartei. Dort wurde u.a. die Frage diskutiert, ob Stegerwald eine Erweiterung oder – was entschieden abgelehnt wurde – eine grundlegende Erneuerung der Mitgliederbasis der Partei anstrebte . Auch die interkonfessionelle Ausrichtung von Stegerwalds Parteireformideen wurde mancherorts schroff abgelehnt. Der oberschlesisches Zentrumsvorsitzende Carl Ulitzka sah in einer Abkehr vom rein katholischen Charakter der Partei sogar eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben der überwiegend katholischen deutschen und polnischen Bevölkerungsgruppen in seiner Region. Auch eine Reihe von politisch nicht mehr aktiven Parteiveteranen wie Karl Bachem , Fürst Löwenstein oder Franz Seraph von Pichler sahen in den interkonfessionellen Bestrebungen eine „Verwässerung der bislang weltanschaulich homogenen Partei“. Zudem warfen nicht wenige Zentrumspolitiker Stegerwald vor, die Bedeutung bestimmter politischer Gegebenheiten wie die immer noch vorhandene starke konfessionelle Zerrissenheit und tiefe politische Spaltung der deutschen Gesellschaft erheblich zu unterschätzen. Es wurde daher sehr bezweifelt, dass die politische Stoßkraft der christlichen Gewerkschaften ausreichen werde, die von diesen Tatsachen zu erwartenden Widerstände gegen seine Parteireformpläne zu überwinden.52 Selbst innerhalb des Arbeiterflügels der Zentrumspartei gab es Kritik an Stegerwalds Reformideen. Insbesondere die Arbeitervereine um Josef Joos lehnten die von Stegerwald forcierte Politisierung der christlichen Gewerkschaften ab und beharrten darauf, dass Veränderungen des Parteiwesens 50 Kölnische Volkszeitung, Nr. 917 vom 23. November 1920, zit. nach Forster (2003), S. 283; vgl. Morsey (1966), 372. 51 Vgl. Forster (2003), S. 282-284; Jones (1979), S. 17; Weihnacht (1995), S. 22. Ausführlich geht Morsey (1966), S. 367f, 370f. u. 374 auf die innerparteilichen Debatten des Zentrums über die parteipolitischen Reformvorschläge Stegerwalds ein. 52 Vgl. Forster (2003), S. 284-285 (Zitat, S. 285); Morsey (1966), S. 371 u. 373. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 22 nur von der Zentrumspartei selbst ausgehen dürfe.53 Die von Stegerwald als mögliche Partner für sein parteipolitisches Sammlungsprojekt ins Auge gefassten Parteien DVP, DDP und DNVP gaben öffentlich keine Stellungnahme zu den Essener-Vorschlägen für eine Reform des Parteiwesens ab. Intern überwog aber die Besorgnis, dass insbesondere die führenden DGB-Mitgliedern dieser Parteien sich Stegerwalds Vorschläge zu Eigen machen und sich der neu zu gründenden Sammlungspartei anschließen könnten. Daher verwundert es wenig, wenn es innerhalb diese Parteien kaum Bestrebungen nach einer Umformung des Parteiwesens im Sinne Stegerwalds gab und entsprechende Initiativen schon nach kurzer Zeit im Sande verliefen.54 Wie Bernhard Forster in seiner Stegerwald-Biographie herausarbeitet, erwies sich insbesondere die Tatsache, dass sich Stegerwald sowohl in seiner Essener Rede als auch in der Zeit danach nur unklar, teilweise sogar widersprüchlich zur konkreten Umsetzung seiner Parteipläne geäußert hatte, als schwerwiegendes Hindernis für den Erfolg des Projekts. Die Unterzeichnung eines Aufrufs der Arbeiterzentrumswähler von Ende Dezember 1920 durch ihn, in dem das Zentrum als Partei charakterisiert wird, „von der wir zuversichtlich erwarten, dass sie nicht nur eifrig bemüht sein wird, den vaterländischen, wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten gerecht zu werden , sondern auch uneigennützig an der großen Reform des gesamten politischen Parteiwesens mithelfen wird“55, konnte, wie Forster feststellt, zwar die parteiinternen Skeptiker beruhigen, führte aber bei den christlichen Gewerkschaftern, die seine Reformplänen uneingeschränkt unterstützten , zu herber Enttäuschung. Nicht wenige christliche Gewerkschafter übten heftige Kritik an Stegerwald, der seinen Worten keinen Taten folgen lasse oder unfähig sei, sein Programm politisch durchzusetzen.56 Tatsächlich hat Stegerwald selbst schon Anfang 1921 seine parteipolitischen Reformpläne bei seinen politischen Auftritten nicht mehr weiter verfolgt. Über die Gründe hierfür lässt sich nur spekulieren. In einem Brief an den bereits erwähnten ehemaligen christlichen Gewerkschaftssekretär Johannes Albers von August 1945 deutet Stegerwald an, dass es offensichtlich führende Zentrumspolitiker und Gewerkschaftsfunktionäre waren, die seine parteipolitischen Reformpläne scheitern ließen. Seiner Ansicht nach lag dies nämlich daran, dass „die Centrumspartei die Vorsitzenden der einzelnen Verbände mit Mandaten bedacht hat, der damalige Mandatshunger im christlichen Gewerkschaftsleben zu groß war und ich dann schließlich 53 Vgl. Forster (2003), S. 285; Morsey (1966), S. 370 u. 406f., Anm. 42; Eykmann (1995), S. 32. 54 Vgl. Forster (2003), S. 283 u. 288f.; Jones (1979), S. 14 u. 16f. 55 Forster (2003), S. 286; Morsey (1966), S. 376; Eykmann (1995), S. 32. 56 Vgl. Forster (2003), S. 282f. u. 286. Wie Forster im weiteren Verlauf seiner Arbeit ausführt, scheint sich später auch Stegerwalds enger Mitarbeiter Heinrich Brüning diese Anschauung zu eigen gemacht zu haben, was zu einem ersten Zerwürfnis zwischen den beiden führenden DGB-Funktionären geführt haben soll, vgl. Forster (2003), S. 322. Nach Jones lasse sich die „allmähliche Distanzierung“ Stegerwalds „vom Ziel einer interkonfessionellen christlichen Volkspartei nur dadurch erklären, dass er nicht recht wusste, wie eine durchgreifende Reform und Umstrukturierung des deutschen Parteiensystems eigentlich erreicht werden sollte; Jones (1979), S. 25f.; vgl. Morsey (1966), S. 371 u. 375f.; Eykmann (1995), S. 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 23 ein Führer ohne Soldaten geblieben wäre.“57 Unabhängig davon, ob diese Einschätzung zutreffend war, lässt sich mit Forster konstatieren, dass das Essener Programm bereits wenige Monate nach seiner Präsentation „von der politischen Agenda“ verschwunden war.“58 Erst als nach dem vollständigen Zusammenbruch der staatlichen und politischen Ordnung des Deutschen Reiches im Frühjahr 1945 die Frage des Wiederaufbaus parteipolitischer Strukturen im Raum stand, griffen vor allem Politiker des so genannten bürgerlichen Lagers die von Stegerwald knapp 25 Jahre vorher bereits vorgestellten Reformpläne wieder auf und sondierten Möglichkeiten für die Bildung einer antisozialistischen, interkonfessionellen und schichtenübergreifenden christlichem Volkspartei. Stegerwald selbst, der angesichts des Untergangs der bürgerlichen Parteien der Weimarer Zeit die Gelegenheit für die Gründung einer christlichen Volkspartei nach seinen Vorstellungen für günstig hielt, setzte sich mit aller Kraft für die Realisierung seines seit langem gehegten parteipolitischen Ziels ein. Gegen die Versuche, Zentrum und Bayerische Volkspartei als Vertreter des politischen Katholizismus wiederzubeleben, plädierte er für eine überkonfessionelle Öffnung der zu bildenden Partei, da „demokratischer Staat und konfessionelle Minderheitspartei […] letzten Endes einander ausschließende Begriffe“ seien. Vielmehr müssten beide Parteien „ihre konfessionelle Beschränkung ablegen“ und mit den Protestanten als „Christliche Demokraten“ zusammengehen. Ein gewichtiges Motiv für seine interkonfessionellen Sammlungsbemühungen war nicht zuletzt der Aufbau einer umfangreichen Mitglieder- und Wählerbasis für die neue Partei, um ihr eine Machtbasis zu sichern, damit „sie bei der Gestaltung der Lebensfragen für Volk und Staat bei keiner Koalition ausgeschaltet werden kann.“59 Auch als Regierungspräsidenten von Oberfranken, zu dem ihn die amerikanische Militärverwaltung unmittelbar nach Kriegsende ernannt hatte, arbeitete Stegerwald gemeinsam mit ehemaligen Weggefährten aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung, die sich dem Essener Programm immer noch verpflichtet fühlten, sowie zahlreichen weiteren, an einer überkonfessionell ausgerichteten christlichen Volkspartei interessierten bürgerlichen Politikern aus der Gründergeneration der Unionsparteien unermüdlich für den Aufbau der neuen, gesamtdeutsch konzipierten christlichen Volkspartei. Stegerwald, der wesentlich in die programmatischen und organisatorischen Aufbau-, Konzeptions- und Koordinationsarbeiten für die neue Partei involviert war und dessen Tatkraft wesentlich zur erfolgreichen Gründung der beiden Unionsparteien beigetragen hat, war es nicht vergönnt, die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Er starb am Anfang Dezember 1945 an Herzversagen , wenige Wochen, bevor sich die verschiedenen regionalen christdemokratischen Organisationen (ohne Bayern) auf einem Reichstreffen in Bad Godesberg auf den gemeinsamen Parteinamen 57 Forster (2003), S. 655; vgl. Morsey (1966), S. 378 u. 407; Jones (1979), S. 17. 58 Vgl. Forster (2003), S. 289. Wie Jones (1979), S. 22, erwähnt, hat Stegerwald in einem Ende September 1921 erschienenen Artikel über die „Neuorientierung des Parteiwesens" offen eingestanden,“ dass der Zeitpunkt für die Gründung einer christlich-nationalen Volkspartei nach dem Modell des Essener Programms im Augenblick verpasst sei.“ Zwar befürwortete er weiterhin eine politische Zusammenarbeit von Christen beider Konfessionen, die Bildung einer neuen politischen Partei lehnt er zum damaligen Zeitpunkt aber explizit ab. 59 Zitate nach Forster (2003), S. 655f.; vgl. Jones (1979), S. 27. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 24 CDU einigten, knapp einen Monat vor der Lizensierung der CSU in Bayern durch die amerikanischen Militärbehörden sowie einem Vierteljahr vor Gründung der CDU in der britischen Besatzungszone unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer am 1. März 1946.60 Auf die visionäre Kraft von Stegerwalds Essener Rede von 1920 weist Ludwig Altenhöfer in seiner 1965 erschienen „Stegerwald Story“ hin: „Was Stegerwald wollte, war […] das Ziel, alle Kräfte zu sammeln, die bereit waren, einen Staat auf christlicher Grundlage zu errichten, in dem die Arbeiter von selbst ihren gleichberechtigten Standort gefunden hätten. Aber […] er war darin mit wenigen […] allein auf weiter Flur, seiner Zeit voraus. Der Essener Kongress der christlichen Gewerkschaften 1920 bildete einen Meilenstein auf dem Weg der christlich-sozialen Entwicklung . Damals erkannte man dies wahrscheinlich noch gar nicht wirklichkeitsgerecht, heute ist man schon wieder dabei, es zu vergessen. […] Man kann den Essener Gewerkschaftskongress 1920 die eigentliche Geburtsstunde der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Idee nennen, die leider erst nach dem Zusammenbruch 1945 Gestalt annahm, da die Menschen 1920 noch nicht fähig waren, die geniale Idee Stegerwalds zu begreifen. […] Damals hätte […] nach Stegerwalds Willen eine neue Partei als politische »Kampforganisation« entstehen sollen als Front aller christlichen, ja aller antisozialistischen Kräfte in Deutschland unter der Devise: »Christlich – deutsch, demokratisch – sozial.« Und […] diese Partei hätte die Forderungen der christlichen Gewerkschaften zu einem Bestandteil ihres Programms, ihrer Forderungen machen müssen. Damit wäre erreicht worden, was Stegerwald wollte: eine Sammlungsbewegung, die, auf christlicher Grundlage arbeitend, die neue Ordnung und Gleichberechtigung aller Schichten und vor allem der Arbeiterschaft als der gesellschaftlich bedeutendsten des 20. Jahrhunderts hätte anstreben und verwirklichen können. Alle Wünsche aller deutschen Bürger, die nicht sozialistisch regiert werden wollten, wären in einem solchen Programm verschmolzen worden. […] Wäre Stegerwalds Plan damals verwirklicht worden, wäre uns sicherlich der Nationalsozialismus mit allem durch ihn ausgelöstem Elend erspart geblieben“61 Ähnlich wie Altenhöfer sah auch der ehemalige Kölner Sekretär der christlichen Gewerkschaften , CDU-Mitgründer und stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion von 1951 bis 1957, Johannes Albers, im Essener Programm von 1920 die Grundlagen für die spätere Gründung von CDU und CSU vorgezeichnet. Altenhöfer zitiert aus dessen Rede auf dem Essener Kongress der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft von 1950: „Und doch war das, was damals in Essen verkündet wurde, nicht vergebens. Die Gedanken und das Wollen der Menschen aus der christlich-sozialen Bewegung lebten unter der Oberfläche ungebrochen weiter und hielten unsere Menschen in der Zeit der Unterdrückung und Verfolgung aufrecht im gemeinsamen Willen zur Abwehr und zu neuem Kampfe. Als daher 1945 – nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes – die politischen Kräfte aus dem christlichen Raum sich sammelten, um erneut an die Arbeit zu gehen, da wurde ihnen die wegweisende Parole von Essen zur Kraftquelle und zur Einsicht . Aus dem Geist von Essen ist die Christlich-Demokratische Union gegründet worden. In ihr sollte das verwirklicht werden, was damals nur Idee blieb. Die beiden Konfessionen haben sich zu gemeinsamer politischer Arbeit gefunden. Die christliche Arbeitnehmerschaft hat in dieser 60 Zur Rolle Stegerwalds bei der Gründung der Unionsparteien vgl. Forster (2003), S. 655-669. Die britische Militärregierung war die einzige Besatzungsmacht, die die Parteigründung auch auf Zonenebene genehmigte; vgl. Kaff (1981), S. 85 u. 92; Eykmann (1995), S. 32-39; Herde (1987), S. 250-286. 61 Altenhöfer (1965), S. 82-85. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 25 neuen Partei ihre politische Heimat gefunden und ist entschlossen, ihr soziales Wollen, das in den langen Jahren gewerkschaftlichen Einsatzes gehärtet worden ist, in dieser Partei und durch diese Partei zu verwirklichen.“62 In ihrem Aufsatz über die Gründung der CDU als Volkspartei weist Brigitte Kaff daraufhin, dass sich die Gründerväter der Partei explizit auf Stegerwalds Essener Forderungen nach Gründung einer christlich-nationalen Volkspartei bezogen haben: „Schwieriger [als bei SPD und KPD] gestaltete sich die Neuorganisation der Anhänger christlich, liberal, demokratisch und/oder national orientierter Vorstellungen, die in der Weimarer Zeit in eine Vielzahl von Parteien, Zentrum, DVP, DDP, DNVP, CSVD, BVP u.a. zerfallen waren. Zur Sicherung einer funktionierenden Demokratie und zur Abwehr der kommunistischen oder sozialistischen Weltanschauung erschien die Zusammenfassung dieser politischen Kräfte notwendig. Die Initiatoren knüpften dabei an die negative Erfahrung der Parteienzersplitterung in der Weimarer Zeit und an das Bewusstsein der verbindenden Gemeinsamkeiten im Kampf gegen das NS-Regime an. Ehemalige Zentrumspolitiker beriefen sich auf die bereits 1920 auf dem Essener Gewerkschaftskongress von Adam Stegerwald erhobene Forderung nach einer »Christlich-Nationalen Volkspartei« und auf die positive Erfahrung der Zusammenarbeit von Protestanten und Katholiken in den Christlichen Gewerkschaften. Nur eine Sammelpartei auf christlicher Grundlage, die die konfessionellen und sozialen Gegensätze überbrückte, konnte durch die breite Anhängerschaft im Volk eine Parteienzersplitterung verhindern und die christliche Ethik als Richtlinie politischer Tätigkeit verwirklichen. Freilich bedeutete die Gründung einer neuen Partei unter den damaligen Umständen ein besonders hohes Risiko, denn sie brachte nicht nur den Verzicht auf alte Parteitraditionen und -organisationen mit sich, sondern verstärkte die Ungewissheit, ob die frühere, treue Anhängerschaft den geplanten Zusammenschluss gutheißen und mitvollziehen würde. Doch überall in Deutschland bildeten sich spontan und unabhängig voneinander Gruppierungen, die dieses Ziel, die Schaffung einer interkonfessionellen Partei, als erfolgversprechend ansahen und schließlich die Gründung der CDU herbeiführte. […] Die Konzeption einer interkonfessionellen, christlichen Volkspartei fußte auf Vorstellungen der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit, die jedoch durch Befangensein in starren konfessionellen Bindungen oder nationalistischem Denken vielerlei Schattierungen in den 20er Jahren nicht verwirklicht werden konnten. Die Folge war eine Zersplitterung der gemäßigten Parteien, die einen kraftvollen Widerstand gegen den aufziehenden Nationalsozialismus unmöglich machte. Der gemeinsame Widerstand gegen das Hitler-Regime ließ alte Ressentiments und Unterscheidungen obsolet erscheinen. Nach der Beseitigung der NS-Herrschaft fand Adam Stegerwalds Aufruf des Jahres 1920 zu einer christlichen sozialen Sammlungspartei das gebotene starke Echo; eine auf sozialen Schranken beruhende erneute Zersplitterung wie auch die konfessionelle Spaltung in der Parteipolitik konnte durch die Gründung von CDU/CSU überwunden werden.“ 63 Auch Peter Herde unterstreicht in seinem Beitrag für ein Symposium, das anlässlich des vierzigjährigen Endes des Zweiten Weltkriegs im Oktober 1985 an der Universität Passau durchgeführt wurde, dass Stegerwald in seiner Essener Rede von November 1920 „programmatisch vieles vor- 62 Altenhöfer (1965), S. 86. 63 Kaff (1981), S. 71f. u. 98f. Im Abschnitt über die Gründung der bayerischen CSU bezeichnet Kaff Stegerwald, der die Führung der Unionsgründung in Bayern übernommen hatte, als „Vater des Unionsgedankens“; vgl. Klaff (1981), S. 86. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 26 wegnahm, was nach 1945 in der CDU/CSU realisiert wurde: er forderte die Schaffung einer interkonfessionellen , antisozialistischen Volkspartei «demokratischer und sozialer Prägung» im Sinne einer «organischen Demokratie», der zunehmenden Teilhabe des Volkes an der Selbstverwaltung . Diese neue Partei […] sollte zwar auf dem großen Stimmenreservoir der Arbeiterschaft basieren , aber keine Klassenpartei sein, sondern «eine Zusammenfassung der vaterländischen, christlichen, volkstümlichen und wahrhaft sozial denkenden Kreise aus allen Volksschichten, besonders auch der intellektuellen» darstellen, wobei Stegerwald unter «sozial» eine organische Auffassung von Staat und Gesellschaft versteht, dagegen den «atomisierenden Individualismus» und den «mechanisierenden Zwangssozialismus» ablehnt. Die Idee einer «Neuordnung des deutschen Parteiwesens» [war damals] eine Utopie, denn weder das Zentrum noch die Parteien mit vorwiegend evangelischem Wählerpotential waren bereit, auf fest verankerte Positionen zu verzichten ; erst der völlige Neubeginn von 1945 machte den Weg für eine interkonfessionelle Partei frei.“64 Wie Herde im weiteren Verlauf seines Beitrags detailliert ausführt, hat sich Stegerwald, der nach Kriegsende maßgeblich an der Gründung der CSU in Bayern mitgewirkt hatte, in der Frage der programmatischen und organisatorischen Ausrichtung der neuen Partei ausdrücklich auf das von ihm 1920 vorgestellte Essener Programm bezogen. Er und sein enger Mitstreiter Josef Müller „stimmten zunächst darin überein, dass die neue christliche Partei interkonfessionell sein müsse. Stegerwald brauchte dabei nur an seine damals 40 Jahre alten gewerkschaftlichen Bestrebungen und an sein ‚Essener Programm' von 1920 anzuknüpfen, wie er ausdrücklich betonte. Die Gründe hat er auf der konstituierenden Versammlung der Christlich-Sozialen Union in Würzburg am 13. Oktober 1945 und in einer daraus hervorgegangenen Schrift nochmals klar umrissen: eine Wiederherstellung des Zentrums komme nicht in Frage, da es «als Abwehrpartei entstanden» sei und «diesen Charakter bis […] 1933 nie abzustreifen vermocht» habe. «Jede Partei, die in einem demokratischen Staat einen Sinn haben soll, muss sich zum Ziele setzen, führende Partei, Mehrheitspartei zu werden. Ein solches Ziel war für die Zentrumspartei als konfessionelle Minderheitspartei gar nicht möglich. […] Demokratischer Staat und konfessionelle Minderheitspartei sind letzten Endes einander ausschließende Begriffe». Eng verbunden war damit sein Ziel, die Feindschaft zwischen den Konfessionen zu überwinden, sowohl den antikatholischen «Geist des evangelischen Bundes» als auch den «katholischen Integralismus, der […] die Katholiken im öffentlichen Leben lebenslänglich als Kinder behandeln und sie stacheldrahtartig von der übrigen Welt abtrennen wollte […]» […] Die evangelischen Angehörigen der CSU sollten nach Stegerwald «kein Anhängsel, sondern vollwertige Mitglieder» sein. In der Gründungs- und Übergangszeit sollten «in den überwiegend katholischen Bezirken in der Regel zweckmäßig Katholiken und in überwiegend evangelischen Bezirken selbstverständlich Evangelische an die Spitze der Orts- und Bezirksleitungen der Partei gestellt werden. Selbstverständlich ist überall auch die konfessionelle Minderheit in der Führung der Partei in allen Plätzen angemessen zu beteiligen».“ 65 In einem Beitrag zum 50. Todestag Adam Stegerwalds bewertet Karl-Ludwig Weinacht das „Essener Parteikonzept“ als eine Idee, „die erst fruchtbar werden konnte, als die Kriegsmaschine der Anti-Hitler-Koalition über Deutschland zum Stehen gekommen war und der moralische Ruin der nationalsozialistischen Politik im Innern einen gemeinsamen demokratischen christlichen Neuanfang verlangte. Dieser Neuanfang vollzog sich unter den Bedingungen der totalen Niederlage und des Besatzungsrechts. […] Der frisch ernannte Regierungspräsident nahm sofort Kontakt zu 64 Herde (1987), S. 250f. 65 Herde (1987), S. 263 u. 265. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 27 vormaligen Parteifreunden und Gewerkschaftlern auf: zu Hermes, Kaiser, Schlange-Schöningen, Albers – und er knüpfte dort an, wo er 1921 stehengeblieben war: bei der Idee einer christlichen Partei der Mitte […] « Mein Hauptbestreben», so schrieb er damals, «ist darauf gerichtet, das politische Parteiwesen in Deutschland neu zu formieren und es in den ersten Jahren parlamentarisch marschfähig machen zu helfen.» Ein Zwei-Parteien-System stand ihm vor Augen, zumindest aber wieder eine Sammlung der christlichen Bevölkerung. Sie müsse so gut organisiert sein, dass sie bei keiner Koalition übergangen werden könne. […] «Wir müssen eine Partei schaffen auf einer Basis, die bei allen Wahlen viel Volk hinter sich bringt.» […] Mit Freunden gründete er die Christlich-Soziale Union in Unterfranken. Warum nicht christlich-demokratisch? Dazu Stegerwald : «In der Parteifirma habe ich, soweit mein Einfluss reicht, mit Absicht das Wort 'demokratisch ' vermieden und an seine Stelle 'sozial' gesetzt, weil vorauszusehen ist, dass in Deutschland in nächster Zeit sich viele Menschen demokratisch tarnen und undemokratisch handeln werden .» Die Sammlungsidee, die den damaligen Programmbegriff der Union und den heutigen der Volkspartei bestimmt, wird im Gründungsaufruf Stegerwalds so beschworen: «Die CSU sammelt die Angehörigen aller Stände, Konfessionen und Altersklassen um sich; sie ist ein Spiegelbild der Volksgemeinschaft, die Verständigungsbrücke zwischen städtischem Bürgertum, Arbeiterschaft und Landwirtschaft, eine politische Verständigungsbrücke zwischen den Konfessionen, ein Schutz gegen Radikalismus und Zersplitterung.» Wenn etwas den Geist des Essener Programms von 1921 atmet, dann dieser volksparteiliche oder Brückengedanke. Er erlaubt es der CSU […] mit einer absoluten Mehrheit zu regieren. […] Für Stegerwald […] war es auch unstrittig , dass die neue interkonfessionelle christliche Partei gesamtdeutsch sein müsse. Für ihn als Mann des Zentrums und der christlichen Gewerkschaften war das selbstverständlich, zumal Ende 1945 trotz einer entsprechenden Mahnung Adenauers vom 21. August 1945 an [den Münchener Oberbürgermeister] Scharnagl der Sonderweg der bayerischen Christdemokraten noch nicht deutlich war.“66 Thomas Josef Möhler zufolge war die Rede vom 21. November 1920 auf dem 10. Kongress der christlichen Gewerkschaften Deutschlands in Essen „die politische Sternstunde Stegerwalds […]. Klar erkannte er die Wurzel des Übels, das das Parteienwesen der Weimarer Republik lähmte: seine konfessionelle und politische Zersplitterung. Auch seine eigene Partei, das Zentrum, sah er, da es konfessionell gebunden war, als zu eng an. Deswegen trat er mit Nachdruck für die Gründung einer neuen Partei ein, die eine antisozialistische und überkonfessionelle Sammlung durchführen sollte. Seine Losung lautete: «deutsch, christlich, demokratisch, sozial». Die Essener Rede stellt die eigentliche Geburtsstunde der christlich-sozialen Idee dar.“ Nach dem Krieg sah er „die Chance, seine Idee von der Sammlung auf gewerkschaftlichem und politischem Gebiet zu verwirklichen. Er knüpfte an seine Essener Rede an und entwarf das Programm für eine neue christliche Partei auf überkonfessioneller Grundlage, das am 13. Oktober 1945 für Würzburg- Stadt und -Land verkündet wurde. Diese Partei war die CSU. Mit ihr wollte er auf «der sittlichen und geistigen Grundlage des Christentums eine neue demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung aufbauen» und auf eine «grundlegende europäische Neuordnung hinsteuern». So erfüllte sich noch sein Lebenstraum vom großen Zusammenschluss der Christen in einer Volkspartei […].“67 66 Weinacht (1995), S. 22f. 67 Möhler (1995), S. 8f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 021/20 Seite 28 4. Literatur – Altenhöfer, Ludwig (1965). 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